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Nachwort des Herausgebers Hubert Witt

  wikipedia  Hubert_Witt  *1935 in Breslau bis 2016 

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»Auskunft für den Notfall« — mit diesem Buchtitel widerlegt Günter Kunert gleich mehrere Vorurteile, an deren Verbreitung er selber beteiligt ist. Er pflegt nämlich gern zu sagen, eigentlich schreibe er für sich selber und nicht für Leute. Und die Hoffnung, mit seinen Texten etwas bewirken zu können, habe er aufgegeben.

Dabei konnte man es besser wissen. Kunert gibt in Gesprächen und Interviews gern und häufig Auskunft über sich, seinen Werdegang, seine Arbeitsweise, seine Ansichten und Befürchtungen. Und er folgt Theodor Lessing in der Meinung, Literatur werde vor allem geschrieben, um einen Mangel zu kompensieren, eine Not zu wenden.

Dieser Band versammelt Auftragsarbeiten, die verschiedenen Anlässen zugedacht und für die baldige Veröffentlichung bestimmt waren: Festreden, Essays, Feuilletons, die zumeist in Zeitschriften, Zeitungen oder im Rundfunk publiziert wurden. Doch Kunert nutzt die Anlässe und Gelegenheiten, um seinen ureigenen Themen und Thesen voranzuhelfen. Der äußere Auftrag korrespondiert mit einem inneren, und meistens greift das Ergebnis der Tagesschrift­stellerei über den Anlaß und über den Tag hinaus.

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Kunert sah zwei Reiche zusammenbrechen, die für die Dauer gemacht schienen: das 1000jährige der Nationalsozialisten, und das sozialistische Lager, das sich vorgeblich auf dem Weg in die klassenlose Gesellschaft befand. Er entging ihren »Abtötungsverfahren« (wie er einen seiner berühmtesten Gedichtbände nennt) und ließ sich 1979 in der Bundesrepublik, im idyllischen Kaisborstel nieder.

Als er 1989 gefragt wurde: »Ist der Sozialismus am Ende?«, sang er nicht das Siegeslied der freien Marktwirtschaft, sondern schrieb (Die Zeit vom 13.10.89): 

»Falls man gewillt ist, in den Kategorien von Sieg und Niederlage zu bleiben, würde ich sagen: Etwas Drittes hat gewonnen. Wir erleben mit dem Zusammenbruch feudal-sozialer Strukturen im Ostblock den Triumph der Megamaschine, die, als einzige, kein Vaterland kennt, keine nationalen Prioritäten, Vorurteile und Feindschaften, sondern einzig und ausschließlich Effizienz. Dieser Megamaschine ist der Sozialismus archaischer Prägung erlegen: sie ist der große globale Gleichmacher ... Die totale Instrumentalisierung des Individuums ist das Ziel«. 

Und er spricht von einem »Pyrrhussieg ... der westlichen Industriezivilisation, deren weltweiter Erfolg auch ihren eigenen Untergang einschließt...«

Über Theodor Lessing meint Kunert: »Er war, mit einem aktuellen Klischee gesagt: ein Querdenker. Und er war, was ihm Feindschaft bis weit übers Grab hinaus eintrug, ein prophetischer Aufklärer, ein unkorrumpierbarer Mahner, ein Satiriker von hohen Graden, eine Gestalt, die, dank ihrer Vorahnungen und Weitsicht, der eigenen Epoche unerhört weit vorausgewesen ist.«

Wir fügen hinzu: Er war Kunert in vielem verwandt.

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»Paradoxie als Prinzip« — er beschrieb sie anhand seiner Gedichte. Aber er könnte sie für all sein Leben und Schreiben geltend machen. Auch für seine Essays und Feuilletons.

Bei Kunert gilt nicht der aufgelöste, der erlöste Widerspruch, seine »Aufhebung« als die höhere Form der Antithetik, sondern das Paradoxon: Skepsis, Aporie, die Ataraxie aus Zweifel.

Eine so absurde, verkehrte Welt, in die er geworfen war, schien ihm nicht beschreibbar, ohne Paradoxien zu nutzen. Aus angeborenem Widerspruchsgeist, später durch vielerlei Herausforderungen geschult und angestachelt, wurde er ein Dialektiker von hohen Graden.

Mehrfach dementiert Kunert den Hölderlinvers: bei Gefahr wachse das Rettende auch. Denn angesichts riesiger Katastrophen erscheint es als eine sehr hilflose Hoffnung, auf die niemand bauen kann, zumal soviel Rettendes immer wieder selbst zur Gefahr wurde.

Aber Kunerts eigene Erfahrungen böten manche Exempel wundersamer Wendungen.

Daß er als Sohn einer Jüdin auf der Warteliste des Todes stand, half ihm das Leben retten — der »Wehrunwürdige« blieb von Kriegdienst und Volkssturmeinsatz verschont.

Daß er oft dem Schulunterricht entging, verschaffte ihm die Möglichkeit, durch ausgiebige Lektüre eine reiche und alternative Bildung zu erwerben.

Oder ein Beispiel aus DDR-Zeiten, eines von vielen: um den aufsässigen Autor abzustrafen und einzuschüchtern, kündigte ihm sein DDR-Verlag alle Verträge. Kunert nutzte die Chance (eine damals noch bestehende Gesetzeslücke), um alle seine Texte künftig auch in der BRD herauszubringen, was seinem wachsenden Ruhm zugute kam.

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Die in Verruf geratene, weil in Sackgassen führende Utopie hat Kunert abgetan. Nicht aber Dialektik, die ebenfalls wieder einmal ins Gerede gekommen war (wie so oft seit Heraklits Zeiten). Man wirft ihr vor, Herrschaftsinstrument gewesen zu sein, und man tut es mit Recht. Aber herrschaftliche Dialektik, als Rhetorik von Demagogen, ist eine Kümmerform dieser Kunst, nicht vergleichbar mit jener, die Intellektuelle als Instrument der Schwachen gegen übermächtige Goliaths verwenden.

Natürlich ergeben sich mancherlei Parallelen zu Dialektikern vor Kunert, die geeignet sind, seine Verfahren zu erhellen. Heraklit: »Es gehört sich, daß man weiß, daß der Krieg [Kampf] etwas Allgemeines ist, und das Recht Zwiespalt, und daß alles geschieht in Übereinstimmung mit Zwiespalt, und so auch verwendet wird.« — »Des Menschen Verhalten [oder: Charakter] ist sein Schicksal.«

Laudse: Der Weise »handelt nicht und vollendet doch«. — Der Nutzen des Rades, des Topfes oder des Hauses liege im Nichts, das darin verborgen ist. — Das Härteste in der Welt, bezwungen wird es vom Geschmeidigsten.

Sebastian Franck, Autor eines »Paradoxa« genannten Buches (in dem »Paradoxa« übrigens mit »Wunderreden« übersetzt wird), versammelt viele Sprüche, denen Kunert zustimmen könnte: »Der Sieg ist bei den Überwundenen.« — »Alle Dinge stehen in einer Wegscheide«. — »Zwei Menschen sind in einem jeden Menschen«. — »Die das Gesetz übertreten, halten es.« — »Die Wahrheit ist eine aufwiegelnde Sache.« — »Die Welt steht mit sich selbst im Widerspruch.«

Kunert wehrt sich gegen geschlossene Denksysteme, das heißt auch: gegen die Herausbildung eines eigenen Systems. Über Günther Anders schrieb er: »Sein Selbstverständnis nimmt die eigene Widersprüchlichkeit an als den Reflex umfassenderer Widersprüche und verwahrt sich gegen die Systematisierung, in der die Fülle des Widersprüchlichen und Gegensätzlichen verarmen würde.«

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In einem der Texte beschreibt Kunert, wie Theodor Lessing seine Themen umkreist: Die Systematik des betreffenden Buches verlaufe nicht einbahn­straßenartig, sondern spiralförmig, so daß ständig immer neue Facetten des Themas hervorträten: psychologische, soziale, philosophische, ökonomische, philologische, ein lebendiges Kreisen um den Stoff. Ähnliches kann man von vielen der Kunertschen Essays und Feuilletons sagen.

 

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Kunerts Sicht auf Utopien hat sich in den Jahren, aus denen die vorliegenden Texte stammen, deutlich gewandelt.

»Utopia« — das Nirgendwo und Niemandsland — galt in der DDR als ein Gegenstück zum »wissenschaftlichen Sozialismus«, und wurde befehdet oder belächelt. Kritische Intellektuelle nutzten längere Zeit utopische Wunschvorstellungen als Gegenentwurf zu den herrschenden Imaginationen und zur realen Misere. Immerhin hatte dies zur Folge, daß die DDR-Oberen den Slogan vom »real existierenden Sozialismus« erfanden, um all die Erwartungen der Utopisten abzuwehren.

In der Ablehnung der Utopie waren sich Ideologen des Ostens und Meinungsmacher des Westens seltsam einig, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

Kunert hat sich sehr entschieden von diesem Tagtraum abgewandt. 1983 schrieb er noch: In der Sprache der Literatur stecke eine Potentialität der andernorts abgestorbenen Utopie, weil nur noch durch sie alternatives Reden und Denken praktizierbar sei. 1992 nennt er Utopie die letzte, tödlichste Droge des Intellekts.

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Zum Teil ist es eine Frage der Sprachregelung. Von Theodor Lessing stammen die Sätze: »Die treibende Macht der Geschichte heißt... Utopie. Und zwar wirkt Utopie im zweifachen Sinne, indem sie als Motivkraft Geschichte macht und indem sie als Norm Geschichte denkt.« Lessing nutzt den Begriff synonym für Gesichte, Leitbilder, Hoffnungen, Ideale.

Mithilfe der Utopie »Wir sind das Volk« wurden die Herrschenden der DDR zur Abdankung gezwungen. »Wir sind das Volk!« Welch eine Utopie!? Aber damals eine wirkungsmächtige und erfolgreiche.

 

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Lordkanzler Francis Bacon, der neben Montaigne als Stammvater des Essays gilt, hatte sich einst dem Kampf gegen Idole verschrieben, hatte Trugbilder und Vorurteile der Kritik unterzogen. Ähnliches versucht auch Kunert in seinen Essays.

Seine Skepsis, die so vieles in Zweifel stellt, richtet ihre Schärfe nicht gegen die literarische Arbeit. Zwar beklagt der Autor die sinkende Resonanz, die geringer werdende Wirkungsmöglichkeit. Aber hier scheint ein Grundvertrauen am Werk zu sein.

Der Literatur mißt er innerhalb der Kultur eine zentrale Funktion bei: Nur sie vermag es, Denk- und Artikulationsvermögen zu entwickeln, und die Fähigkeit, Buchstaben in Bilder verwandeln zu können, sei entscheidend für die Herausbildung der Phantasie.

Das Medium: die literarische Sprache, die Denkweise, das poetische Verfahren werden, neben den Themen und Inhalten, zu einer Hauptbotschaft seines Werkes.

Aufgabe des Autors sei es, eine »authentische Stimme im Redegewirr der Gegenwart« zu sein. Zur seiner Arbeit gehört es, Licht ins Zwiedenken zu bringen und gegen die Vernutzung von Begriffen, ihre Aushöhlung, Umstülpung, Ummünzung anzuschreiben.

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Eine Gegenposition der Literatur entstünde 

»zuallererst dadurch, daß sie eine nicht ideologisch eingeschränkte Sprache vermittelt und somit die Artikulations- und Denkfähigkeit des Lesers erweitert und fördert, die von Barbarisierung, Verfall und Manipulation bedroht sind. Sprachmächtigkeit, also größerer Möglichkeiten der Sprache mächtig zu sein, heißt auch: seine Erfahrungsmöglichkeiten zu steigern, ja, sein Bewußtsein für Erfahrungen, nicht zuletzt für die Erfahrung des eigenen Selbst, zu öffnen. Die Sprache der Literatur enthält ihre Realitätsperspektive — und die ist allemal anders als die der Politik, welche die Wirklichkeit ausschließlich unter dem Gesichtspunkt ihrer Funktionalität, ihrer Beeinflußbarkeit, ihrer »Machbarkeit« wahrnimmt. Auf die Sprache der Literatur aber paßt sehr genau Marshall McLuhans Diktum: Das Medium ist die Botschaft... Wenn man sich erkühnen wollte und große Worte gebrauchen, so müßte man wohl vom Widerstand der literarischen Sprache gegen die Einvernahme der Gehirne durch öffentliche und offizielle Sprachregelungen reden.«

Dem Vorgang der Unterwerfung entziehe sich die Sprache der Literatur,

»übrigens zwangsweise, nämlich um Literatur bleiben zu können, aus der man vielleicht die Kraft und die Überlegungen zu einer ganz anderen Politik schöpfen könnte, die mit der aktuell betriebenen höchstens noch den Namen gemein hätte.« Und: »Die Literatur bildet in allen Ländern den Indikator für den Grad der vorhandenen Freiheit oder Unfreiheit.«

Günter Kunert setzt auf eine Stärkung der geistigen und psychischen Immunsysteme, die das Selberdenken, das Beharren auf eigenen Gefühlen und Erinnerungen stimulieren kann. Er setzt auf Freiheitswillen, auch gegen Einschränkungen, die der Freiheit im Namen der Freiheit auferlegt werden.

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Der Autor hat in vielen Kämpfen seinen Mann gestanden, auch in solchen, aus denen er nicht als Sieger hervorgehen konnte. Um die Rechtschreibreform, um deutsche Vereinigungs-Kollisionen, die Stasiproblematik etc. Aber es gehört zur Kassandrarolle, daß alle die Warnungen keinen Glauben und kein Gehör finden.

Viele Thesen und Fragen wären geeignet, als Menetekel an die Wände von Politikerbüros gepinnt zu werden. Leider will niemand verstehen, daß Bildungs­aufschwung nicht zu haben sein wird, wenn man gleichzeitig die Kultur minimiert. Daß der Abbau von Sprachkompetenz letztlich in die Barbarei führen wird. Daß die soziale Existenz des Menschen unauflöslich mit seiner kulturellen verknüpft ist. »Und jeder Trennungsversuch würde, dessen bin ich sicher, tödlich enden.«

Inzwischen haben reale Naturkatastrophen Kunerts düstere Prognosen oft schon eingeholt, ja überholt. Und verschiedene seiner Warnungen, die zunächst mit Befremden, gar mit Spott aufgenommen wurden, wird heute niemand mehr bestreiten.

Wenn endlich auch unter Politikern aller Parteien zunehmend Anzeichen eines allgemeinen Umdenkens zu entdecken sind, dann hat wohl auch die »männliche Kassandra von Kaisborstel« mit seinen hartnäckigen Warnungen einen gewichtigen Anteil daran.

Und wenn Kunert erklärt, daß es zu spät, und daß im Grunde Rettung schon unmöglich sei, ist außer Resignation und dem Topos Vergeblichkeit vielleicht auch die Absicht beteiligt, durch eine dramatische Verdeutlichung aufzuschrecken und die Abwehr der Not anzumahnen.

In seiner Preisrede auf den Philosophen Günther Anders sagt Kunert: Er

»demonstriert durch sein eigenes politisches Engagement auf besondere Weise jenen Widerspruch, der uns allen eingeboren scheint: sich in praxi nicht nach den eigenen Einsichten zu richten, und gegen sein besseres Wissen zu handeln. Günther Anders agiert namens seiner Hypothese höchst dialektisch, indem er sie aktiv zu widerlegen sucht.«

 

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Schreiben war und ist ihm Lebenselixier, und es hat ihn sehr lebendig gehalten. Fast täglich erweitert der Neunundsiebzigjährige sein »Work in progress«. Und er wehrt sich gegen den Status eines Klassikers, dem er doch mit den Jahren unvermeidlich näherkommt. Günter Kunert hegt noch immer Bedenken gegen Gesammelte Werke, wo er sich eingeschreint und museal verwahrt sähe.

Gleichzeitig aber werden die Texte Kunerts, außer in Einzelbänden des Hanser-Verlages, in den Katakomben des Marbacher Literaturarchivs versammelt, und Dr. Nicolai Riedel entwirft mit seiner großen Kunert-Bibliographie, gleichsam hinter Kunerts Rücken, eine virtuelle Gesamtausgabe. Er wird darin, trotz aller Endzeitbefürchtungen, vom Autor unterstützt.

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