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Kunert-2018

 

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Collagen weisen auf etwas weitaus Umfassenderes hin. Das Zusammengesetzte, das Zusammengestückelte wird erst im 20. Jahrhundert möglich und somit akzeptiert. Das heimliche Movens solcher Präsentation ist die Verschmelzung der zerbrochenen Welteinheit, zumindest der Vorstellung von ihrer Einheit, zu einem Bild von rätselhafter, zu interpretierbarer Bedeutung. Man kann die Welt nicht mehr als Eines denken, die Differenzen zwischen den Teilen sind schon unüberbrückbar geworden, krass wie die gegenwärtigen Gegensätze, ging es auf diesem Planeten nie vordem zu. Biedermeier neben Massenmord, konventionelles Dasein neben geflüchteten, flüchtigen Existenzen. Bindungen lassen sich keine mehr ausmachen, das Konträre, Widersprüchliche, nur gewaltsam, gewalttätig einander Begegnende bietet sich dem Betrachter noch dar. Kriege allerorten als Bürgerkriege inszeniert. Abermillionen Heimatvertriebene unterwegs nach Europa, zur Insel der vorgeblich Seligen. Die Städte quellen über von Fremden, sich fremd Fühlenden, Entwurzelten, wahrscheinlich nie wieder heimisch werdenden Menschen. Der Ruf nach Integration von Ausländern ein kläglicher Hilferuf. Wir selber, scheinbar hierzulande beheimatet, empfinden uns immer mehr in der Fremde, in einem uns sich entfremdenden Land. Das Unbehagen, die Angst, die Sehnsucht zurück in eine als heil empfundene Welt lassen sich nicht durch freundliche Worte, durch bemühtes Verständnis der aus ihrer Normalität Geworfenen überdecken. Die Abwehrhaltung gegenüber dem Eindringling nimmt zu und lässt für die Zukunft nichts Gutes befürchten. Keine Lösung des Problems in Sicht außer verdammt blutigen.

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Wer kennt sich schon selber? Aber diese fordernde Formel »Erkenne dich selbst« führt, falls man ihr gehorcht, meist zu keinem Ergebnis. Oder gar zu dem, dass da gar kein »Selbst« vorhanden ist? Dass die gesell­schaft­lichen Normen die »Normalität« einer Person, die das ihr Auferlegte verinnerlicht hat, ausmachen.

Wer oder was bin ich? Einst war die Antwort leichter, weil die verordnete Identität von außen abgesichert gewesen ist; nun, da sie nach jeweiliger politischer und staatlicher Großwetterlage ins Schwanken geraten ist, bedarf es immer neuer Mühen, seine Psyche, sein Denken veränderten Umständen anzupassen. Das gelingt nicht immer. Kennzeichen ist die Hartnäckigkeit von Nazis, ja von Nazimördern, denen solch Umschalten entweder gar nicht oder doch nur scheinhaft gelang. Das Bewusstsein ihrer eigenen Verbrechen würde sofort den Zusammenbruch der Identität herbeiführen. Also versteinern sie innerlich oder passen sich lügenhaft an.

So ist beispielsweise der Antisemitismus als ideologischer Bodensatz latent vorhanden und tritt bedingt durch die aktuelle Lage im vorderen Orient unverhohlen in Erscheinung. Unter dem Deckmantel des Antizionismus darf man dem Judenhass frönen. Man sieht also doch, was die Juden für bösartige Leute sind, indem sie die armen Palästinenser abschlachten. Hat nicht Hitler vielleicht doch recht gehabt - so die unausgesprochene Frage. Dabei wird die Identität der Israelis, die Stellung der versöhnlerischen Juden, die Haltung der europäischen, der deutschen Juden ausgeblendet oder nicht erkannt. Einsicht kann man zwar fordern, vom Dummerjan auf der Straße jedoch nicht erwarten. Zu kompliziert. Und mit komplizierten Problemen hat sich der deutsche Michel noch nie befasst. Weil er ist, wie er ist, meilenfern von der Erkenntnis über seine Person, aber immer lenkbar, mal von dem, mal von jenem. Das ist die Crux: der Mangel aus Selbstsicht, die Fäden, mittels derer man bewegt wird, zu übersehen.

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Nichts ist schwerer als vor sich selbst ehrlich zu sein. Ja, überhaupt zu Einsichten zu kommen, warum man dieses tut, gern tut, und jenes verabscheut. Warum bevorzuge ich die eine Speise und negiere die andere? Wo liegen die Wurzeln, wann ist der Schalter umgelegt worden - um es mal technisch auszudrücken. Es gehört ein Wille dazu, nachzuforschen, wieso man lieber füllige Frauen anschaut als schlanke; wieso einem irgendein Zeitgenosse sympathischer ist als ein anderer. Woher die Angst vor Spinnen oder Ratten, hingegen die Zuneigung zu Goldfischen oder Schlangen? Jede Sympathie oder Antipathie besitzt Gründe, die in uns oftmals verschüttet sind, übriggeblieben ist nur die Aversion oder die Empathie. Stammen die Ursachen aus unserer Kindheit, wie Freud meinte? Starke Eindrücke, Schreckerlebnisse, negative Erfahrungen, alles Prägestempel, die unsere Psyche bedecken.

Lange bevor ich Schäferhunde mit KZ-Wächtern und deren Verbrechen in Zusammenhang brachte, ward mir früh ein Trauma beschert. Ich war mit meinem Vater unterwegs, aus Notdurft mussten wir in die Toilette eines Restaurants, wo ein fetter Wächter hockte, neben sich einen Schäferhund an einer Leine. Während ich mich in ein Urinal erleichterte, meinte der Wächter heiter zu meinem Vater (und damit auch zu mir), ich solle aufpassen, dass sein Hund nicht meinen Pimmel abbeiße. Der Ursprung war installiert, durch den mein Verhältnis zu Tieren dieser Rasse für immer beschädigt war und mich die Nazigräuel, auf die Geschlechtsteile von Gefangenen dressierte Hunde einzusetzen, als ich davon erfuhr, nicht verwunderten. Vor mir saß der grinsende Fettkloß in seinem weißen Kittel, das knurrende Monster neben sich, das blieb als Schnappschuss meines Heimatbildes bis heute erhalten.

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Ein literarischer Topos, der todähnliche Schlaf (Dornröschen), aus dem man irgendwann wiedererweckt wird. Dieses wiederkehrende und unvergessliche Moment in Märchen und Erzählungen stammt wohl von der Redewendung her, jemand sei entschlafen. Das meint doch, in Analogie zu entkleiden und entbehren, dass man etwas ablegt oder nicht besitzt, dass Entschlafen doch den Schlaf eigentlich leugnet - wie eben besagte Märchen den Tod zu einem scheinbaren ernennen. Die Wiedererweckung im Märchen zieht sich durch Mythen und Legenden als Wunschdenken: Es möge der Tote zurückkehren und unter uns weilen. Und da diese Rückkehr nicht funktionieren will, imaginieren wir sie einfach und feiern ein fröhliches Osterfest, obwohl unsere Erfahrung es besser weiß.

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Auf eine dezente und wohl unnachahmliche Weise »Ich« zu sagen, entdeckt man bei Montaigne. Wenn er von sich spricht, wirkt es niemals peinlich. Er ist nicht nur Zeitzeuge, sondern zugleich das von der Geschichte bewegte Subjekt, das die Vorgänge im Frankreich seiner Zeit nicht nur registriert, vielmehr von ihnen zu jener Haltung veranlasst wird, die es überhaupt erst ermöglicht, davon Kunde zu geben.

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Auch Frankreich war eine geteilte Nation, wenn auch nicht durch Mauer und Stacheldraht, so doch durch Glaubensbekenntnis und Position. Derartige Verhältnisse lassen den bösen Kern der Menschen zutage treten. Hier sei ebenso an die bürgerkriegsähnlichen Kämpfe zur Zeit der Weimarer Republik erinnert und an den seinerzeit gängigen Spruch: Und willst du nicht mein Bruder sein / so schlag ich dir den Schädel ein ...

Diese Sucht nach Konformität wird zur Gewalt, wenn zugleich materielle Interessen ins Spiel kommen, von denen man nicht spricht, weil die Berufung auf Höheres, auf den rechten Glauben, für die simplen Gemüter wirksamer ist, als wenn man auf die materiellen Interessen verwiese. Diese stets anders verkleidete Methode hat nichts an Eindringlichkeit und Stärke eingebüßt, denn niemand ist wirklich in seinem Innersten ein Idealist, wie denn auch? Das jedoch zu erkennen ist bereits eine enorme Leistung.

Nahezu jedes fremde »Ich«, dem man begegnet, lädt nicht zur Verschmelzung mit ihm ein, weist trotz mancher Nähe hauptsächlich Anderssein auf. Darum und vielleicht nur darum ist mir Montaigne so nahe, weil er einen Zugang zu seinem Ich bietet wie kein anderer, und das noch dazu über Jahrhunderte hinweg. Starkes Gefühl von Nähe, fast von Verwandtsein, was auf eine nur mit Vorsicht zu benennende Art, nämlich durch Hinweis auf unsere gleichgearteten Mütter, möglich ist.

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Das Zwanghafte der menschlichen Existenz bleibt unüberwindbar. Selbst das, was man freiwillig zu tun glaubt, entspringt einem Muss. Unser physisches Sein bedarf des Erhalts, ansonsten würde es uns mit Hunger und Durst, Schmerz und Elend strafen. Nun gibt es die Ansicht, je weniger abhängig jemand von den Mitteln zu seinem Dasein wäre, desto freier von Zwängen sei er auch. Das halte ich für einen Irrtum. Denn selbst das Geringe, das man braucht, stammt aus dem System der Gesellschaft, die es sich leisten kann, Brosamen an Außenseiter und Aussteiger zu verteilen. Handelt es sich dabei nicht ebenfalls um eine Abhängigkeit? Zur Gänze auf sich allein gestellt, überlebte keiner einige Tage. Noch der Müll der Allgemeinheit erhält ihn am Leben. Von denen, die für ein Leben »von der Stange« ihre Kräfte, ihre Träume, ihre Hoffnungen hingeben müssen, gar nicht zu reden. Durch die Zivilisation anästhesiert, werden sie doch im frühesten Alter zu Schlafwandlern, die, falls ihnen das Schicksal hold ist, gegen Ende des Weges das Erwachen vermeiden dürfen. Oder wie ein platter Spruch weiß: Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist.

Ein Kriterium für gelungene Literatur wäre das Faktum, inwieweit es dem Autor gelang, sich seiner Person soweit zu nähern, dass diese eine gewisse Allgemeingültigkeit für den Leser bekäme. Dazu bedarf es eines Übermaßes an Ehrlichkeit, selbst unter der Maske von fiktiven Figuren, das schwer aufzubringen ist. Man lässt nicht gerne in seine Tiefen, in seine schmutzigen Ecken blicken, nicht mal unter Tarnung. Freilich besteht aber das Bedürfnis, sich seelisch zu entblößen, seine Defekte zu zeigen, alles, was in einem rumort und nach Aussage und Bekenntnis oder Geständnis verlangt.

Davon leben die Psychiater, das wissen wir längst, doch trotz unseres Wissens um die

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modernen Beichtiger und ihre Funktion nehmen wir sie in Anspruch. Nicht der Therapeut hilft seinem Patienten, sondern der sich selber, indem er den Zuhörenden als Abfallgrube für seinen psychischen Abhub benutzt. Freuds »Geniestreich« bestand darin, sich anstelle des amtlichen und örtlichen Erlösers in den Beichtstuhl zu setzen. Nur Buße konnte er nicht auferlegen. Insofern ist das Freud'sche Unternehmen als gescheitert anzusehen.

Das Gedächtnis, insbesondere da, wo sich Subjektives eingeprägt hat, ist zu fatalen Nebenwirkungen fähig. Gerade Peinlichkeiten, Irrtümer, Fehlhandlungen, falsches Verhalten verweigern sich dem Vergessen. In der Jugend das erste Versagen im Bett, eine Ejaculatio praecox; die Kränkung, die man einem Bekannten zugefügt hat; die unbewusste Beleidigung eines anderen; geldlicher Verlust aus Unüberlegtheit, ein Schaden, den man sich aus Leichtsinn selber zufügte - nichts davon lässt sich auslöschen. In den ungeeignetsten Augenblicken - und das sind in solchen Fällen alle - meldet sich jede von I einem sich selber verursachte innere Verletzung. Und erst recht jede, die einem zugefügt worden ist. Ein englisches Sprichwort sagt: Elephants and poets never for-get. Doch das gilt nicht nur für Poeten. Offenkundig ist das Gedächtnis an das Gewissen gekoppelt, in welchem unsere Missachtung anderer archiviert ist - so wir sie zu erkennen vermögen. Ein Radiergummi fürs Gehirn wäre das beste Geschäft, das sich einer nur wünschen kann.

Zwar ist das Erinnerungsvermögen der Menschen über das Persönliche hinaus ohnehin nichts wert, wie man täglich bemerkt, sobald sich im weltpolitischen Bereich

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die Analogien melden, doch eine Amnesie per Pille oder Apparat gehört immer noch zur heimlichen Sehnsucht.

Ach, könnte ich doch das ungeschehen machen. Oder wenigstens das Drandenken beseitigen! Ungeschehen kann man gar nichts machen, das Rad unseres Lebens lässt sich nicht rückwärts drehen, auch wenn wir es noch so innig verlangten. Und das Denken? Natürlich denkt man nicht unentwegt an seine Verfehlungen oder, noch schlimmer, an seine Missetaten. An letztere schon gar nicht als solche. Falls man je daran denken sollte, setzt sofort die Selbstrechtfertigung ein. Die Missetat wird als unausweichliches Geschehen verstanden. Aber ist das möglich ohne Beschädigung des je eigenen Menschentums ? Natürlich ist es möglich, weil der Mensch zu allem fähig ist, zu Mord und Totschlag, sobald er nur »gute« Gründe dafür findet, und die findet er immer, da das sein Gewissen verlangt und er auf diese Weise sein Erinnern zu ertragen imstande ist.

Wieso eigentlich Muttersprache und Vaterland statt Vatersprache und Mutterland, da man doch in einem das Ich bestimmenden Lande geboren wurde und dort die Sprache der Väter, vom Lehrer bis zum Chef, sprechen lernte? Die Mutterbindung ist doch wohl die engere, innigere: Die Mutter ist die erste, mit der man es zu tun hat; sie bringt einem die ersten Worte bei, ihre Stimme wiegt in den Schlaf, beruhigt, weckt, erzählt. Der Vater tritt erst später in Erscheinung, er ist ja anderweitig tätig; er ist der, der später, mit lauterer Stimme, seine Meinung kundtut, der anordnet, Weisungen erteilt; der der Erhalter der Familie ist, wie das Land, aus dem schließlich

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die Nahrung und alles Weitere kommt.

Das auch an uns Forderungen stellt, uns gesellschaftlich domestiziert. Das Land und die Sprache spiegeln das Familiensystem wider. Kein Wunder, dass der Dichter, der Schriftsteller sich in der Sprache heimischer und geborgener fühlt als in seinem Land, das er späterhin als ihm oftmals ungnädig erfährt. Befindet man sich in der Fremde, sei es in einem Nachbarland, freiwillig oder unfreiwillig, in der Ferne oder im Nirgendwo, es bleibt als Heimat die Sprache als Hüterin des Bewusstseins, das sich ja ständig selbst artikuliert und sich seiner selbst versichert. Unsere Staatsangehörigkeit können wir verlieren, unserer nationalen Identität entfremdet werden, unser gesichertes, sicheres Daheim besteht in uns fort. Keineswegs zufällig verlässt uns der Lebensmut, sobald uns unsere Sprache abhanden kommt, wenn wir in anderen Idiomen reden müssen, mit der uns nicht »angeborenen Zunge« zu parlieren gezwungen sind. Die Emigranten wissen ein trauriges Lied davon zu singen. Abseits des eigenen Sprachbereiches droht Verstummen oder ein ähnlich trostloses Ende.

Großer Artikel von Lars Brandt, dem Sohn des ehemaligen Bundeskanzlers, über das bedenkliche Wachstum des Faschismus in Europa, freilich ohne den Versuch einer Erklärung. Wahrscheinlich gibt es diverse Gründe, einer zumindest besteht in der Überalterung der europäischen Nationen. Altwerden heißt, sich vor Veränderungen, vor durchgreifendem gesellschaftlichem Wandel fürchten, heißt somit: Restauration, Konservierung, Hinneigung zu konservativen Versprechen. Die Zeit anhalten. Besser noch: die Uhr zurückdrehen.

Möge es so werden, wie es gewesen war.

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Dass Menschenströme (2013 nach Italien 75.000 schwarze Migranten) sich über Europa ergießen, treibt die Angst um den eigenen Status fortwährend ins Maßlose. Dazu die Hilflosigkeit dieser Entwicklung gegenüber, die Ratlosigkeit der Politik - das ist Wasser auf die Mühlen der Volksverführer, die radikale Lösungen versprechen und die doch nicht das in der Erinnerung vergoldete Gestern wiederherstellen können. Es wird ihnen aber ausreichen, an die Macht zu kommen, um ein ihnen genehmes totalitäres Regime zu errichten. Die Zukunft bringt die Diktatur der Demagogen.

»Der Kragenbär, der holt sich munter / einen nach dem andern runter.« Ein Meisterwerk von Robert Gernhardt (verstorben 2006), der nun eine besondere Ehrung erfahren soll. Ihm soll ein Denkmal errichtet werden, einen onanierenden Kragenbär darstellend. »Die fertige Bronzeskulptur, heißt es in Spiegel online, soll auf dem Robert-Gernhardt-Platz stehen - mitten in Göttingen, wo der Schriftsteller lange gelebt hat.« Natürlich wird der Spruch auf dem Sockel stehen und vom Geschmack und Kunstverständnis der Göttinger künden.

Im weiteren Verlauf derartiger Kulturleistungen sollte unbedingt ein Denkmal für Anton-Friedrich Krummhübel in Pritzwalk installiert werden; schließlich ist der Poet Krummhübel zwei Mal mit dem Motorrad durch Pritzwalk gefahren. Eine überlebensgroße Plastik sollte nach seinem Vers »Der Giraff ist ein starkes Tier / und zeigt's den Weibern dort wie hier: / treibt es in jeder Position / allein um puren Gotteslohn« von einem namhaften Bildhauer geschaffen werden.

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 Mit der Zustimmung der CDU-Ratsherrenfraktion ist zu rechnen, da in besonders intensivem Maße auf die Wichtigkeit der Bemühungen allein aus Glaubensgründen hingewiesen wird. Die deutsche Öffentlichkeit erwartet, dass Pritzwalk sich der Bedeutung solches Monuments bewusst ist und ohne Zögern ans Werk geht.
Auf Antrag von Frau Eva-Maria Krißwetz-Selbskorn (Grüne) wird auf der Rückseite des Werkes auf einer Plakette vermerkt werden, dass der Begriff »Weiber« keine Diskriminierung der Frau beinhaltet, sondern die Assoziation zu Shakespeares »Lustigen Weibern von Windsor« hervorrufen soll.

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Mich mit Seefahrt und Nautik zu befassen ist nicht meine Sache. Warum also heute Nacht dieser Traum, da ein junges hübsches Mädchen (schwarzhaarige Ponyfrisur) als Deckoffizier auf einem Kreuzer oder Ähnlichem Dienst tat. Alle ihr untergebenen Matrosen versuchten, ihre leibliche Gunst zu erwerben, was jedoch keinem gelang. Sie war kokett, anziehend, scheinbar einladend, gleich darauf aber abweisend, sobald ihr Verhalten als Einladung verstanden wurde. Immer noch schlafend, beschäftigte mich der Fall sehr. Ja, ich hoffte, dass doch einer aus der Mannschaft sie zum Beischlaf bringen könne, es wollte und wollte aber nicht klappen. Unmerklich wandelte sich das Traumbild ins Schriftbildliche, und ich las jetzt in einem Buch über diese Angelegenheit, wobei das Geschehen schattenhaft blieb. Die Geschichte wurde so mühselig, dass ich es endlich aufgab, mich auf die andere Seite drehte und der Marine die weitere Klärung der Sache überließ.

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Ein Mensch - wie hohl das klingt.

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Das Leben eines Schriftstellers besteht aus lauter Ersatzhandlungen.

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Ein Streit zweier betrunkener Russen über die jeweiligen Vorzüge von Poesie und Prosa hat ein tödliches Ende genommen: Die Diskussion der beiden Männer eskalierte so sehr, dass der Poetikverfechter den Prosa-Fan erstach, wie die Ermittler in der Region Swerdlowsk am Mittwoch mitteilten.
Es ist also doch wahr: Literatur bleibt nicht ohne Wirkung. Dass sie aber gleich so heftig sein muss, dafür besteht eigentlich keine Notwendigkeit. Man hatte eher gedacht, dass sie den Menschen bilde und verwandle, doch nicht ad hoc zur Leiche. Immerhin zeugt es doch von einer tiefen Bindung an die Literatur, wie wir sie in Mitteleuropa längst nicht mehr kennen. Nur Völker, bei denen sich, außer der Liebe zum Alkohol, auch eine zum bewegenden Wort erhalten hat, sind in der Lage, für Druckerzeugnisse ihr Leben zu wagen. Hut ab vor solchem Verhalten, auch wenn es uns frustrierten Zivilisationsprodukten etwas übertrieben erscheinen mag.

Oftmals lassen sich die Herkünfte von Träumen nicht enträtseln. So erlebte ich ein Pferderennen, teils als direkter Zuschauer, teils vor dem Fernseher, da ein kleiner Junge, vielleicht fünf- oder sechsjährig, sattellos auf

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einem Schimmel als Erster durchs Ziel ging.

Seltsames Gefühl von Zufriedenheit, fast Glück, beim Beobachten des kindlichen Sieges. Ich war mit allen Fasern bei dem Knaben, hoffte mit ihm, der, wollte ich eine analytische Abschweifung wagen, eine Projektion meines Ichs gewesen war. Doch woher solch Vorgang, solche Szene ihren Ursprung haben mochten, war mir unerklärlich, da ich weder Analoges gelesen noch gesehen noch von etwas Ähnlichem gehört hatte. Aus welcher Gehirnfalte das gekommen war, werde ich vermutlich nie erkunden können.

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Ist ein vielfältiges Talent nun von Vorteil oder eine Strafe der kunstzuständigen Götter? Beim Zeichnen oder Malen melden sich andere Gehirnbereiche als beim Schreiben, das ist binsenweise. Auch das tragende Empfinden ist unterschiedlich. Beim Zeichnen wächst mit jedem Strich sacht ein Bild heran; ein zumindest oberflächlicher Vorgang wie beim Entwickeln einer Fotografie im Entwicklerbad, da unter der hin und her schwappenden Flüssigkeit plötzlich langsam ein Gesicht auftaucht, eine Gestalt, eine Landschaft. Nur ist, was da auftaucht, nicht so zu eigen wie das Gezeichnete, dem etwas beigemengt ist, was sich aus der Psyche speist. Die Fotografie ist das Endgültige. Im Entstehen der Zeichnung sind Akzente möglich, Schattenvertiefungen, Abweichungen von der Idee, unerwartete Zusätze, einem Einfall entstammend. Solche Freiheit bietet das Schreiben nicht. Es läuft ebenfalls immer auf das Unabänderliche hinaus, manchmal unter dem Zwang der Form, manchmal unter dem des Gedankens, der schon zu Anfang das Ende bedacht hat.

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Immer aber ist die ganze Person beteiligt, die sich, gleich einem Fingerabdruck, unverwechselbar kenntlich und haftbar macht. Das so und nicht anders steckt das Ziel ab. Scheitern ist möglich, unterwegs erlahmen denkbar. Von der Strecke abkommen ebenso. Denn die Strecke ist ja keine Gerade, sondern ein verschlungener Pfad, doch es gibt keinen anderen. Tastend folgt man ihm wie ein Scout, der zwar Ähnliches hinter sich gebracht hat, ohne die vorhergehenden Verläufe passgenau wiederholen zu können oder zu dürfen. Da ankommen, wo man es sofort merkt, hier habe ich erreicht, was sich aus dem Vagen anbot, schafft eine Befriedigung, die bald abklingt und nach Wiederholung verlangt.

Das Gewebe, der Schleier, hinter dem sich das Ich verbirgt, ist so dicht, dass nur wenig nach Außen dringt. Nur bruchstückhaft sage ich Wesentliches über mich aus, das Meiste bleibt im Dunkel der Psyche, im Tresor des Erinnerns verborgen. Als weigere sich die Hand, das Text werden zu lassen, was die Scham versteckt hält. Freilich gibt es schreibende Exhibitionisten, die genussvoll ihre Peinlichkeiten und seelischen Defekte vor dem Leser als »Spanner« ausbreiten. Fritz J. Raddatz ist solch ein psychischer Masochist, dem es Lust bereitet, seine sexuellen Prioritäten und Unternehmungen einem entsprechenden Publikum zu dessen Ergötzen zu präsentieren. Vermutlich erregt ihn bereits die Niederschrift und die Vorstellung, wie gierig seine Episteln aufgenommen würden. Dass der Sexus ins Schreiben mit eingeht, ist unleugbar, doch dermaßen transformiert, dass er kaum auf die Person des Autors zurückzuführen ist.

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Mit einem Wort: Man gibt sich keine Blöße selbst dort, wo alle Körperlichkeit eine Rolle spielt. Stets bleibt eine Verhüllung bestehen, kein offenes Bekenntnis findet statt, nur im Prozess der Verwandlung wird vielleicht ahnbar, was den Autor selber im innersten Kern seines Wesens bewegt. Ein klares Geständnis, ein Offenlegen des Geheimsten würde dieses beschädigen und ihm die Triebkraft nehmen. Die selbstgezogene Grenze bietet auch einen Schutz, den aufzugeben fatale Folgen hätte, gar eine Einbuße von Identität, zu der nicht nur das Offensichtliche gehört, sondern auch und möglicherweise erst recht das zutiefst Versteckte.

23 Uhr 30. Von der Sitzbank zur Tür gehend, plötzliche Dunkelheit um mich. Im ganzen Haus Stromausfall. Kein Lichtschimmer zur Orientierung. Ohne Haltepunkt, Tisch, Sessel, Schrank, irgendetwas Gegenständliches, stand ich hilflos da, keines Schrittes mehr fähig, mit zitternden Beinen, einem Zittern, das den ganzen Körper ergriff. Nun erfuhr ich, was das Wort »schlottern« bedeutete. Panik. Ich rief nach meiner Frau, ich schrie, ich brüllte ins schwarze Nichts hinein und spürte, dass ich gleich umfallen würde, käme keine Hilfe. Der Schweiß brach mir aus. Der ganze Körper ein einziges Beben und Schwanken und die Gewissheit, in einer Sekunde zu stürzen. Und diese eine Sekunde vor der Katastrophe, eine endlose Zeit, reichte doch aus, dass ein Bewegungsmelder aufleuchtete, da meine Frau durch die Diele zu mir lief und mich in dem Moment festhielt, in dem ich kapituliert hätte.

Nach ein, zwei Minuten flammten die Leuchten auf, der Strom war zurück, das Unheil, eines, das ich noch

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nie erlebt hatte, überstanden, doch es brauchte Stunden, um mich zu beruhigen. Dieser Augenblick, das spürte ich, war mehr gewesen als eine plötzliche Blindheit; es war wohl ein Augenblick wie das Konzentrat aller Ängste und Befürchtungen erlebter Finsternis in der Kindheit, Schrecken vor etwas Unnennbarem, gegen das es keine Gegenwehr gibt. Ab jetzt würde ich eine Taschenlampe in greifbarer Nähe deponieren. Rückversicherung gegen das Numinose aus der Urzeit.

Gestern nach dem Mittagessen besuchte mich Reiner Kunze, fürsorglicherweise während ich schlief. Wir verstanden einander besser als zu Real-Zeiten.
Obwohl es unsinnig war, erklärte ich ihm, wie angenehm es sei, von meinem Schreibtisch aus ins Grüne zu blicken. Dabei wusste ich doch, dass er, wo er residierte, auf die Donau schauen konnte. Dennoch schwärmte ich so vor mich hin, was er mit Geduld anhörte. Über Literatur kein Wort. Auch keines über die Situation des Autors in Zeiten erotischer Bestsellerromane und elektronischer Spaße. Man hätte wohl einander viel zu sagen gehabt, doch er verschwand sacht, als mich kalter Wind von der offenen Terrassentür erreichte. Schade.

Schon seit längerem ist mein Interesse am Fiktionalen erloschen. Die Realität hat alle Fantasie übertroffen und aus dem Feld geschlagen. Tragödien und Komödien, Eifersuchtsdramen und Liebesverwirrungen - die Wirklichkeit beschreibt all das auf erschütterndere und erheiterndere Weise, als es ein Autor könnte.

Und was

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uns talentierte und schreibkundige Historiker zu bieten haben, ist spannender als jeder Kriminalroman. Denn man erfährt aus solchen fundierten Darstellungen des Gewesenen, warum das Heute so ist, wie es ist. Individuell betroffener kann man bei Belletristiklektüre nicht sein und nicht werden.

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Der kommentierende Chronist hechelt den Ereignissen hinterher. Kämpfe zwischen prorussischen Rebellen und dem kiewtreuen Militär. Kämpfe im Jemen. Kämpfe zwischen dem selbsternannten islamischen Staat und Kurden. Momentane Waffenruhe zwischen Gaza und Israel. Terroranschläge weltweit. Ebola-Epidemie in Afrika. Massenweiser Tod von Flüchtlingen im Mittelmeer. Kämpfe im Irak, in Syrien. Als laste über der Welt eine schwarze Wolke, die sich ausbreitet, und wir fürchten, dass sie sich bis zu uns ausbreitet, wobei nur eines klar wird: unsere Hilflosigkeit solchem Geschehen gegenüber.

Viele Frontsoldaten, die im Zweiten Weltkrieg für wenige Tage nach Hause in die Städte fahren durften, klagten über das Gefühl der Wehrlosigkeit bei Luftangriffen; ein Gefühl, das sie von der Front nicht kannten. Dort hatten sie, durch ihre Waffen, das Empfinden, sich wehren zu können, eine Illusion, die immerhin weniger zermürbend wirkte als das Eingesperrtsein im Luftschutzkeller, wo man nur auf sein Ende warten konnte.
Man kann alles, selbst das Ungeheuerlichste, beschreiben und benennen; ohne mehr als eine schwache Ahnung dessen zu vermitteln, wie das Beschriebene eigentlich ge-

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wesen ist. Auch die Bilder des Verderbens sind im Grunde nur Andeutungen, Schattenspiele, bei denen man als Akteur mitgewirkt haben muss, um zu begreifen, was da vorsichgegangen ist. Selbst die einstmals unmittelbar Beteiligten (wie ich etwa) haben nur Worte, hilflose Worte, um den Aufenthalt in einem Inferno zu schildern.

Jegliche Erzählung von schwarzen, ebenholzähnlichen Figuren auf der Straße, von einstigen Menschen, bleibt hinter der Realität zurück. Dabei begann das Unheil fast karnevalesk. 1939 ging in den Straßen deutscher Städte das Licht aus. Eilig kaufte man Rollos aus schwarzem Zeug, nagelte sie an die Oberteile der Fensterrahmen und zog bei einsetzender Dämmerung die Abschirmung zu, damit kein Licht nach außen dringe. Wer das nur nachlässig tat, hatte mit schweren Strafen zu rechnen, gar als feindliches Element, als Verräter, endbehandelt zu werden. Anfänglich schaltete man bei Fliegeralarm die Lampen aus, ließ das Rollo aufwärts schnellen, um neugierig das Spektakel am Nachthimmel bestaunen zu können. Scheinwerfer streckten gigantische Lichtsäulen nach oben, überkreuzten einander, um ein aufblinkendes Etwas zu erhaschen: ein Flugzeug. Dann schoss die Flak. Die berstenden Granaten zeigten sich als kurzlebige Sternchen. Nach einer Weile die Entwarnung. Man dichtete die Fenster erneut ab und ging zu Bett. War das alles gewesen? Ein rasches, kaum interessantes Schauspiel, wenig bedeutsam. Am folgenden Tage begann etwas, das damals noch nicht »Katastrophentourismus« hieß und doch einer war. Hier und da Schäden, ein zerbombtes Haus, davor die Schar der Neugierigen.

In einem dieser abrupt beseitigten Häuser betrieb mein Vater als sein eigener Chef und Handarbeiter eine

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Schreibblockproduktion, von der nun nichts mehr übrig war.

Mit der Zeit mehrten sich auch die Tagangriffe. Kaum war man im Kino, ertönte die Sirene. Das Publikum verließ die Vorführung, man stand auf der Straße und blickte in den blauen Sommerhimmel, über den ein Pulk von »Mosquitos«, von Jagdbombern, zog. Dumpfe Abschüsse von Geschützen, Rauchwölkchen, Entwarnung: Der Film lief nach der Unterbrechung weiter, als wäre der Vorgang normal gewesen. Man gewöhnte sich unmerklich an Erlebnisse dieser Art. Man staunte auch nicht länger über die seltsamen Dekorationen in den Treppenhäusern: Wassereimer, Eimer mit Sand, besenartige Stiele mit Scheuerlappen am Ende, sogenannte »Feuerpatschen« zur Brandbekämpfung: Wer sich sowas ausgedacht hatte, ahnte noch nichts vom entfesselten, vom »totalen« Krieg.

Als Großstadtbewohner hatte man jetzt ständig sein Kellergepäck parat, schleppte das Notwendigste an Dokumenten, Kleidungsstücken und sonstigem wertvollen oder wertlosen Kleinkram mit sich in die Unterwelt. Aufgereiht auf Stühlen oder Bänken sitzend, harrte man der Dinge, die da von oben kommen sollten - und sie kamen ja auch. Bombeneinschläge, näher und näher. Manchmal erlosch die Beleuchtung, waren Leitungen getroffen. Nahe Treffer brachten Kellerräume zum ungemütlichen Schunkeln. Kein Wort fiel. Die Angst verschluss die Münder. Ob wohl jemand in diesem Moment an Guernica dachte, an Warschau, an Rotterdam, an Coven-try? Eher nicht. Die Wenigsten stellen eine Verbindung zwischen den Untaten der eigenen Kriegsführung und der Rückkopplung her.

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Man hatte dem Reichsmarschall und Oberherrn der Luftwaffe, Hermann Göring, aufs Wort geglaubt, der seinem Volk zugesagt hatte, er wolle Meier heißen, wenn ein einziges feindliches Flugzeug über Deutschland erschiene. Das nun zu erwähnen wagte niemand. Nach der Entwarnung stieg man in seine Wohnung zurück, so sie noch vorhanden und betretbar war, versuchte noch etwas auszuruhen, ging zur Arbeit, falls es die noch gab, und nahm wortlos hin, was rundum geschah. Das Leben ging eben weiter, falls es nicht zufällig und heftig beendet wurde.

Es ging zwar weiter, doch nach einem anderen Rhythmus, den der Luftkrieg bestimmte. Die Nächte wurden kürzer, die Wege in den Städten immer länger, weil zerstörte oder wegen Blindgängergefahr abgesperrte Straßen Umwege nötig machten. Oder weil die öffentlichen Verkehrsmittel durch Trümmer blockiert oder lädiert worden waren. Dennoch und trotz allem blieb, soweit es ging, der Alltagsablauf gewahrt. Der »Katastrophentourismus« der Anfangszeit aber hatte aufgehört. Man brauchte nicht mehr weit zu laufen, um Ruinen zu besichtigen: Die kamen vermehrt in die eigene Wohngegend und mahnten täglich: Morgen bist du dran!

Die Atmosphäre jener Tage wiederzugeben ist schwierig. Ein Fatalismus breitete sich aus, jedoch verbunden mit einer gesteigerten Lebenslust. Als drängte die Umgebung, jede Stunde, die man noch existierte, voll auszunutzen. Man ignorierte, was verstören konnte. Dazu Inschriften an den rauchgeschwärzten Fassadenresten WIR LEBEN! ERNA WO BIST DU? MELDET EUCH BEI MÜLLERS!

Der Funkenflug von den Bränden verursachte auf der Kleidung Spuren, und auch die ertrug und trug man

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gleichgültig weiter - so wie man seine eigene Haut zum Markte trägt.

Andere moralische Barrieren fielen. Frauen und Männer, deren Anzahl ständig abnahm, fanden sich zusammen, als gälte es, ein letztes Mal die Lust zu genießen, Augenblicke, in denen man nicht an das ständige Elend denken musste. Es herrschte eine Stimmung wie bei einem Tanz auf dem Vulkan, und ein ungeheuerlicher Spruch machte die Runde: Genießt den Krieg, der Friede wird fürchterlich! Der besagte Fatalismus paarte sich mit Zynismus, ein Mittel der Verdrängung dessen, was man mitzuerleben und mitansehen zu müssen gezwungen war. Was konnte man denn sonst schon tun? Nichts. Machtlos, wehrlos, dem heimatlichen Terror ausgeliefert, würde ein falsches, also wahres Wort selbstmörderisch wirken.

Also schwieg man. Insofern ging die Rechnung von »Bomber«-Harris nicht auf, jenes Oberkommandierenden der alliierten Luftflotte, der meinte, durch das Flächenbombardement Deutschland zur Kapitulation zwingen zu können. Aber wer wohl sollte kapitulieren? Hitler und seine Clique waren sich des Umstandes bewusst, dass die Sieger sie vor Gericht stellen würden. Es kam nur noch darauf an, sein Leben auf Kosten von tausenden und abertausenden Leben zu verlängern, um noch einen Monat, noch eine Woche, noch einen Tag. Und die oftmals beschworene »Volksgemeinschaft« ? Eine domestizierte Masse Mensch, die ihrem Dompteur noch weithin anhing und entgegen besserer Einsicht seinen Versprechungen von »Wunderwaffen« und »Endsieg« glauben wollte; nicht zu vergessen die Angst vor der Rache der Sieger, geschürt von der Propaganda, ein Bindemittel des Regimes.

Von all dem wusste »Bomber«-Harris nichts; ein Militär wie alle,

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die ihre Kriege vom Schreibtisch her führten und siegten oder verloren. Menschenkunde ist solchen Personen immer fremd gewesen. Nun steht Harris als bronzenes Denkmal in London, freilich ohne die passende Inschrift, die darauf hinweisen müsste, dass dieser Mann die Verkörperung eines schrecklichen Irrtums gewesen ist.

Dass die Kriege nicht enden wollen, immer wieder die Gewalt zur Alleinherrscherin wird, spricht gegen die Verfassung des Menschen. Mordsüchtig wirken die waffenschwenkenden Gestalten unserer Tage, obwohl die der Vergangenheit nicht weniger tötungslüstern gewesen sind. Und es wohl bleiben werden.

Das Militärmuseum in Potsdam bat mich, für eine Ausstellung über die Zerstörung Dresdens, über den Luftkrieg, für den dazugehörigen Katalog, ein paar Worte zu schreiben, was ich als defensiver Teilnehmer am Berliner Inferno auch tat. Ausstellungen wie diese sind in ihrer Absicht lobenswert, doch über ihre Wirkungen dürfen wir nicht nachdenken. Auch geschieht ungewollt, dass derartige Ausstellungen durch die Präsentation der Vergangenheit diese historisieren. Sie rücken das einstige Geschehen in ein fernes Gestern, das dem Heutigen fremd und eigenartig vorkommen muss. Eine Verbindung zur Gegenwart stellt sich in den seltensten Fällen her. Das ist die Crux, unaufhebbar und dennoch stets aufs Neue hoffnungsvoll und friedensgläubig unternommen.

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Montaigne erteilt jedem Autor die gleiche Lehre: Das Biographische ist das einzige Pfund, mit dem man wuchern kann.

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Manche Völker haben ihre schmutzige Vergangenheit noch vor sich.

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Er war ein Promiskuitäter - entging aber der Strafe, auf einem Traualtar geopfert zu werden.

Brecht muss ein enormes Vertrauen zu mir gehabt haben, da er Stalin den »Verdienten Mörder seines Volkes« nannte und DDR-Funktionäre nur als »die Verbrecher« titulierte. Gut, er war geschützt durch seinen Ruhm und durch seinen österreichischen Pass, den er auf nicht ganz saubere Art und Weise bekommen hat. Der Komponist namens von Einsiedel hatte ihn gebeten, für Salzburg ein zeitgenössisches »Jedermann«-Stück zu schreiben. Dafür verlangte Brecht die österreichische Staatsbürgerschaft, die er auch postwendend erhielt. Nur den »Jedermann« lieferte er nicht, sodass bis heute das bereits klassische Spektakel von Hugo von Hofmannsthal in jener musealen Stadt über die Freilichtbühne geht.

Um einmal einen Buchtitel von Theodor Lessing zu paraphrasieren: Schicksal als Sinngebung des sinnlosen Daseins.

Ich wurde früh zu einem Sympathisanten, Anhänger, Mitläufer, Interessenten, Freund und Süchtigen der Archäologie gemacht, entdeckte den Ursprung dieser unstillbaren Neigung jedoch erst später. Dadurch, dass

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ich als Kind die Zerstörung meiner Umwelt und das Verschwinden meiner Verwandten erleiden musste, suchte ich in allen Relikten und Rudimenten des Vorgestern nach meiner eigenen, einstigen Vergangenheit. Bereits nach dem Kriegsende kroch ich in Berlin in Ruinen herum, ohne zu wissen, was ich dort zu finden hoffte. Ich stieg in stinkende Keller und tappte durch zerstörte Häuser, ein Pfadfinder meiner selbst. Und es begann eine Sammelleidenschaft, die sich auf altes Blechspielzeug richtete, eindeutig die Kompensation der verlorenen Kindheit. Später, als es mir möglich wurde, zu reisen, wanderte ich halb in Trance durch unzerstörte Altstädte wie Amsterdam oder Prag, aufgewühlt, fiebrig, mit Herzklopfen, ziellos und unbewusst solche Entdeckungsfahrten, denn das Unbekannte und Nebulöse entzog sich ja dem Anblick, ganz gleich ob im Mietshaus der Anne Frank oder in der Altneu-Synagoge, auf deren Dachboden Egon Erwin Kisch den Golem gesucht hatte. Bei all meinen Reisen erwachten an den Orten Assoziationen schlimmster und tröstlichster Art. Ich spürte vergangenem Leben nach, lebte mich in gewesenes Dasein hinein, das doch ganz anders gewesen sein musste und das ich mir einfach anpasste wie ein fremdes Hemd, in dem ich mich dennoch wohlfühlte. Wohin ich auch kam, ich geriet stets in eine Vergangenheit, die mit mir zu tun hatte, Iund sei es eine nur einstmals durch Bücher erfahrene. Insofern fühlte ich mich in sämtlichen Trümmern der antiken Welt daheim, da sie mir ja schriftlich nahgebracht worden war. Und selbst noch im fernen Neu-Mexiko in einem einsamen Pueblo innerhalb eines Reservats bei einer alten Indianerin fühlte ich mich nicht fremd, weil unendliche Zeilen von Buchstaben und Sätzen mich mit

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allem, worauf ich traf, bekannt gemacht hatten. Wie wird man Weltbürger? Dadurch, dass einem früh die Heimat gestohlen wird.

Sich selbst als lebendes Puzzle zu erkennen ist eine späte Einsicht. Und diesen Umstand auch noch zu akzeptieren, dazu gehört schon etwas Kraft oder bloß Resignation. Sich so anzunehmen, wie man wurde, bedeutet schließlich auch die Anerkennung aller daraus entstandenen und entstehenden Konsequenzen - selbst der übelsten.

Brächte man fünf Leute zusammen, die sich an einen gemeinsamen Freund oder Bekannten erinnern sollten, wäre man wohl erstaunt über die unterschiedlichen Signalements, die man zu hören bekäme. Spreche ich mit einem Bekannten über einen Jemand, mit dem wir zu unterschiedlichen Zeiten zu tun hatten, ist es, als redeten wir über verschiedene Personen. Das ist nicht verwunderlich, weil unser Wahrnehmungsvermögen (Binsenweisheit) ja individuell ein- oder ausgerichtet ist. Eine Meinungseinigung findet nur im Gröblichsten statt. Dass unser Bekannter einen Bart trug und eine Brille, einen schlecht sitzenden Anzug, und dass er gewisse Ansichten hatte, doch das wird schon wieder strittig, weil wir ihn nicht gleichermaßen verstanden haben. Je länger wir über diesen Menschen reden, desto fremder wird er dabei, bis wir zu dem Schluss kommen, ihn eigentlich überhaupt nicht gekannt zu haben. Gewiss hatte er Geheimnisse wie jedermann. Und Lebensphasen, von denen wir weder etwas wussten noch ahnten.

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Ein wahrheitsgetreuer Nachruf erwiese sich als unmöglich, wobei solche Nachrufe ohnehin nie das Licht der Öffentlichkeit erblicken. Man beschränkt sich auf das Allgemeine, das immer richtig ist und nie anstößig. Und auf diese Art und Weise gehen wir miteinander um, indem wir uns freundlich verkennen und uns herzlich fremd sind.

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Jedes Erinnern gleicht einem Netz voll unzähliger Leerstellen, voller Lücken. Ein völlig nahtloses Erinnern wäre ein zweites Nachleben des ersten - also eine Unmöglichkeit. So muss ich auch darauf verzichten, von unserer ersten Begegnung zu sprechen. Darüber weiß ich nichts mehr. Das Erinnern hebt damit an, dass ich in der Christburger Straße, in der auch ich wohne, auf einen Hinterhof trete und den »Yankee-Doodle« pfeife: unsere Erkennungsmelodie, ein Signal, das auch besagt, es Ihätten bereits erste Treffen zwischen uns stattgefunden. Rasch kommt mein Freund aus dem dritten Stock in den Hof, wir machen uns auf den Weg, wo soll es hingehen, heute nach Treptow in den Park, weil dort ein Rummel seine Zelte aufgeschlagen hat. Wir werden mit der Achterbahn fahren, wobei mein Freund, noch ängstlicher als ich, vor Aufregung seinen Kaugummi verschluckt und sich nun Sorgen um seinen Stuhlgang macht. Wird nicht alles zugeklebt? Wir gehen in ein großes Zelt, das eine anatomische Ausstellung beherbergt. Unter Glas lauter widerliche Wachsglieder, ausgeblichen vom Licht, und da, übel, übel, eine Vagina, umrundet von lilafarbenen Wachsfurunkeln und gleich daneben ein abgehackter Wachspenis, ebenfalls mit Aussatz dekoriert. Solchen Anblick haben wir nicht verdient und ziehen uns in

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bekömmlichere Parkgefilde zu einem dünnen Bier zurück. Eigentlich trafen wir einander fast jeden Tag. Ich als ungelernter Mensch, berufslos und Herrscher meiner Zeit, er schon Musik studierend, doch mit Maßen: Klarinette. Nach seinem Abschluss und nach Anerkennung als Musikus heuerte er in der Tanzkapelle »Igel« an, um in diversen Gaststätten im Berliner Bezirk Friedrichshain den Paaren zum Tanze aufzuspielen. Nie bin ich zu einer seiner Veranstaltungen gegangen. Manchmal trat er auch mit der Kapelle im Zirkus auf, von wo er, wie nach seiner Hochzeit seine Frau bemerkte, Elefantenflöhe mit heimbrachte. Das sollte aber erst noch kommen. Vorerst waren wir ja frei, standen mit anderen Jungen in Hauseingängen herum, rauchten und pfiffen den vorbeigehenden Mädchen hinterher.

Unser etwas verquastes Judentum hatten wir rasch entdeckt. Bei ihm war es der Vater, bei mir die Mutter, bei uns beiden die nur noch erinnerten Verwandten, und trotz unserer Traumatisierung durch die eben militärisch beendete Vergangenheit waren wir lustvoll heiter und steckten voller Gelächter, als wollte das Überlebthaben sich auf diese Weise bemerkbar machen. Weil wir beide noch einen geringen Wortschatz des Jiddischen hatten, beschlossen wir Naivlinge, ein Wörterbuch des Jiddischen anzulegen, bis wir schockhaft feststellen muss-ten, dass die »Mammeloschen« mit für uns rätselhaften hebräischen Lettern gedruckt wurde. Da kapitulierten wir vor der restaurativen, selbstgestellten Aufgabe.

Ich hatte inzwischen angefangen zu schreiben, was, wie ich später merken sollte, einen verheerenden Einfluss auf meinen Freund haben sollte. Vorerst zogen wir durch die Trümmerwelt Berlins, heiter und fast unbeschwert.

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Ich schrieb für die satirische Zeitschrift »Ulenspiegel«, die es im um sich greifenden Stalinismus immer schwerer hatte. Der Herausgeber Herbert Sandberg wollte wohl der Entwicklung sein Scherflein zollen, und als die »Diktatur des Proletariats«, das gestern noch aus lauter »Volksgenossen« bestanden hatte, immer aktueller wurde, entsandte er mich in eine Fabrik, die Seife und Kosmetik herstellte, damit in seinem Blatt eine Reportage über die tüchtige und unentwegt fortschreitende Arbeiterklasse stünde. Mein Freund fuhr mit mir in die Provinz, obwohl er sich eben erst hatte beschneiden lassen und in jeder öffentlichen Toilette blutige Binden von seinem Penis abwickeln musste. Ja, wir hatten ja nach Israel ausreisen wollen, waren auch bei der entsprechenden Dienststelle gewesen, wo man uns skeptisch beäugte und versprach, dass man uns baldigst von der Möglichkeit, ins Land der Väter heimzukehren, verständigen würde. Die Nachricht kam nie, und mein Freund hatte sich ganz umsonst seiner Vorhaut entledigt. Alles Gründe, sich in Heiterkeit und Spott zu ergehen. Zwi-chendurch heirateten wir auch noch, ohne dass unsere 'reundschaft sich dadurch lockerte, obwohl ja einstmals \icholsky das prophezeit hatte. Seine Ehe ging nicht ;ut, meine dauerte lange, wobei ich sie hin und wieder seitensprungartig zu unterbrechen pflegte. So lebten wir vor der Mauer und nach der Mauer mehr oder minder röhlich dahin. Mir wurde nicht bewusst, wie stark mein iinfluss auf den Freund eigentlich war; dass ich der dominierende Teil in unserem Zusammensein gewesen bin, war mir schon klar, doch dass dieses Verhältnis bei ihm sich tief in seine Psyche eingegraben haben musste, ahnte ch nicht.

Seine musikalischen Unternehmungen ließen

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nach, er verlor wohl das Interesse an der Unterhaltungsmusik und fing irgendwann an zu schreiben.

Dass ich das unwillentlich und unbewusst zu verantworten hatte, wurde mir erst später klar. Ich muss für ihn und seine Interessen prägend gewesen sein. Und als ich die DDR verlassen hatte, hielt es ihn dort auch nicht länger. Während die »Anführer der Arbeiterklasse« - wobei die Doppelbedeutung des Wortes »anführen« peinlich zutraf - uns, die »Dissidenten«, die Unruhestifter, die Verfälscher der reinen Lehre, die Pessimisten und Verächter des sozialistischen Reimlexikons, in den Westen ziehen ließen, sah und fühlte sich auch der Freund betroffen und beantragte seine Ausreise. Unter größeren Komplikationen als den mich betreffenden gelang ihm der Umzug. Wir konnten einander wieder treffen und sprechen. Aber wir waren beide gealtert, waren inzwischen andere Wege gegangen, ich war weltläufig und weltsüchtig geworden, während für den Freund sich das Tor zu spät geöffnet hatte. Nun spielte die Musik keine Rolle mehr in seinem Leben, sondern die Literatur. Er schrieb für den Funk, er schrieb Rezensionen und vor allem: Er schrieb Aphorismen von enormer Eindringlichkeit. Was uns beide einst fast brüderlich verbunden hatte, der Witz, fast möchte ich meinen: Der Vater- und Mutterwitz jüdischer Provenienz, dieser Witz grundierte nun seine knappen kritischen Einfälle zur Zeitgeschichte, zu den Deutschen, zum sogenannten Menschen überhaupt. Diese Aphorismen wurden kaum beachtet, weil wir in einer Epoche leben, in der die scharfsinnige Geistigkeit verlorengegangen ist.

Was einst Karl Kraus repräsentierte, Alfred Kerr, Kurt Tucholsky, Felix Pollak - das war ausgerottet worden, und ein verändertes Publikum besaß nicht mehr den Sinn

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für diese besondere Form des intellektuellen Blitzlichtes, das schlagartig eine Wahrheit darbietet.

Hitler hat mit dem Unfug der Vernunft gründlich aufgeräumt und für eine literarische Besonderheit eine Brache hinterlassen, auf der kaum etwas nachwächst. Mein Freund, der, wie ich, außer der platten Volksschule keine andere Ausbildung haben durfte, stand mit seiner Ironie, seinen bissigen Formulierungen menschlicher und gesellschaftlicher Debakel so ziemlich allein unter den Deutschen, die sich ihrer besten Köpfe entledigt hatten, ohne danach den Verlust zu merken. Einer der zufällig unbeschädigten Köpfe war der meines Freundes.

Information ersetzt Wissen. Aber Informiertheit bedeutet nicht, etwas wirklich zu wissen, denn Wissen ist etwas, das den psychischen Kern unseres Selbst berührt. Ich weiß, dass ich sterblich bin, ist etwas anderes als zu wissen, alle Menschen sind sterblich, also auch ich. Das Wissen ist stets der Emotionalität verbunden. Nicht zufällig spricht man davon, dass dieser oder jener schon geahnt habe, sein Dasein werde übel enden. Sind Vorahnungen ein unbewusstes Wissen ? Eine unbegründ-bare Gewissheit, von der man gehört hat? Ach, die berüchtigten Dinge zwischen Himmel und Erde! Der alte Adam respektive Homo erectus war sich seines Gehirns nie ganz sicher. In diesem Teil des Körpers fanden (und finden) merkwürdige, natürlich den modischen Neuronen zugeordnete Beziehungen statt, derer wir nicht unbedingt kundig werden. Lope de Vegas »Das Leben ein Traum« wirkt, je länger man den Stücktitel bedenkt, immer realistischer.

Was denn ging mit einem zeit seines

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Lebens vor? Lauter Irrationalitäten. Zufälle über Zufälle. Und dazu die feste falsche Überzeugung, man sei Herr seines Schicksals. Wer hat denn dem Fötus vorausgesagt, dass er General der Infanterie wird oder Massenmörder oder ein talentloser Geiger im Cafehaus? Alle Philosophie, bemüht um eine endgültige Klärung, Erklärung, um ein für alle Mal das Objekt Mensch in seinem Wesen zu erkennen, ist für die Katz, die aber das Mausen als ständige Reflexion ihrer Selbst nicht lässt.

Ein neues Jahr, von Menschenmassen in den Großstädten frenetisch begrüßt. Feuerwerk allerorten. Gläser geschwenkt auf den Straßen. Lärm, Trubel, Böllerknallen. Als handele es sich bei diesem neuen Jahr um die Eröffnung eines neuen, uns alle beglückenden Zeitalters, und scheint doch nichts anderes zu sein als eine kurzfristige Betäubung, ein Kurzurlaub für ein paar Stunden von den Katastrophen der Gegenwart, die sich nicht an den Kalender halten. Besorgnisse werden für einen Abend und eine Nacht ignoriert, doch in der grauen Frühe des nächsten Morgens sind sie erneut präsent, und vor ihrer Drohung wirken unser Jubel und unsere Fröhlichkeit unecht, als gälte es, für einen Moment das nahende Unheil aus dem Bewusstsein zu verbannen, wenigstens für einen Augenblick so zu tun, als wäre die Welt noch intakt, als wäre alles in Ordnung, als wären die düsteren Vorzeichen vorübergehende Schatten, auf die erneut Licht folge. Das Vergnügtsein macht einen verzweifelten Eindruck.

Und wie rasch aus der Belustigung Schrecken und Tod werden können, demonstrieren die den Jahreswechsel Feiernden im fernen Schanghai, die sich durch Zusammenballung

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umbringen und verletzen.

Flüchtlingsschiffe irren durchs Mittelmeer, Hungernde ziehen durch verödende Gebiete, die Migranten genannten Menschen klopfen an Europas Türen, Ströme von Individuen, eine Sintflut, die Gegenreaktionen hervorruft, Ängste der Einheimischen, Sorgen und Hass. Hundertsechzigtausend landeten im vorigen Jahr in Italien - ist das nicht erst der Anfang? Der einst romantisierte Orient ist zum Inferno geworden, über dem in Flammschrift steht RETTE SICH, WER KANN. Und wenn die Bürgerkriege, wenn der Terror neue Motive und Ursachen finden, und das blutige Muster sich auch über Europa ausbreitet - wohin fliehen dann die Betroffenen? Die allerorten an dem letzten Abend des Jahres 2014 aufleuchtenden Wunderkerzen betonen nur die Dunkelheit, die sich, im übertragenen Sinne, auch in unseren Regionen ausbreitet.

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Werfen Sie Ihre Stimme in eine Urne, aber vergessen Sie nicht, Ihre Asche hinzuzufügen!

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Zu fragen wäre, inwiefern die in Westeuropa lebenden Moslems bereit zu einer Kollaboration mit den Islamisten sind. Die unscheinbaren Schneider und Bäcker, die Handwerker und Geschäftsleute, die sich mehr oder weniger in die demokratische Gesellschaft integriert hatten, werden, des bin ich gewiss, von den Radikalen vor die Frage gestellt, ob sie bereit sind, im Namen Allahs oder Mohammeds sich mit ihren extremen Glaubensbrüdern zu solidarisieren.

Man denkt da an jene Zeit vor 1933, da ter nazistische Terror in Deutschland blühte und brave, aber national gesinnte Bürger zögerlich, doch über Bedenken hinweg, bei der Machtergreifung direkt und indirekt mitwirkten.

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Wie es eine schleichende Nazifizierung in Deutschland gab - erleben wir jetzt eine schon kaum mehr schleichende Islamisierung? Würden sich »unsere« Moslems Forderungen und Erpressungen der Radikalen verweigern oder aus Furcht vor den Konsequenzen ihren Anteil an der Zunahme des Terrors leisten? Bei dem Anschlag auf die Türme des World Trade Center in New York durften amerikanische Moslems noch guten Gewissens das Attentat verurteilen, da es ungezielt verübt worden war. Das Attentat von Paris aber richtete sich wahrlich gegen etwas Essenzielles: gegen das skeptische Denken überhaupt. Doch Denken, Nachdenken, denkend eine Sache betrachten, ohne den Ansatz des Zweifels, ist unmöglich. Wo Zweifel verboten sind und von der Polizei verfolgt werden, verliert sich Denken in einen Circulus vitiosus, es kreist nur um sich selbst, ohne aus dieser Gefangenschaft im einmal Vorgefassten ausbrechen zu können. Das Denkverbot im Islam, auch im gemäßigten, hat jene von ihm beherrschten Länder zu Almosendieben gemacht, die, könnten sie sich nicht aus der Wundertüte der Industriezivilisation bedienen, in tradierter Stagnation verharren würden. Doch was an »Fortschritt« sichtbar wird, besteht nur in der Kopie weltweit gültiger Technologie. Innovativ findet nichts statt, der Geist ist gelähmt, da ihm ja Skepsis und Zweifel, die beiden Motoren der Entwicklung, untersagt sind. Ein Gerichtshof für Menschenrechte in Dubai? Eine Möglichkeit, den Staat zu verklagen, in Teheran?

Der Bereich, in dem Aufklärung stattfand, ist, global betrachtet, minimal und soll namens der unaufgeklärten Mächte weiter schrumpfen, bis der Bodensatz zivilisatorischen Werdeganges erreicht ist. Absolutismus - und das impliziert der Islam - ist nur machbar, wenn alle Köpfe gleichgeschaltet werden oder die abgehauen, bei denen das nicht gelingt.

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In einem Wissenschaftsblatt lese ich, wir lebten im »Anthropozän«, also in einem vom Menschen bestimmten und von ihm geprägten Zeitalter. Diese Formulierung, ja Formel, erregte sofort meinen Verdacht. Ist es nicht an dem, dass, sobald eine von der Paläontologie benannte Phase als wissenschaftlich gesichert erscheint, diese schon als so gut wie abgeschlossen gilt, im Ausklingen begriffen?

Der Altgewordene merkt irgendwann, dass ihm die Gegenwart entgleitet und zur Gegenwart der Anderen, Jüngeren wird. Auf einmal liest er Namen von Politikern, die er vordem nie gehört hat. Autoren von Büchern, die er nicht liest, Innovationen technischer und wissenschaftlicher Art, die er nicht versteht. Er vernimmt eine Sprache, die des elektronischen Zeitalters, das er, so könnte man es nennen, analog existierend, wegen ihres digitalen Kauderwelsches nicht mehr kapiert. Ein gesellschaftlicher und mentaler Schrumpfungsprozess. Denn der Altgewordene stellt fest, dass vieles, was ihn gestern noch erregt oder empört hätte, ihn heute kalt lässt. Er ist nicht mehr an dem Getriebe beteiligt, was er mit Resignation oder Ablehnung quittiert.

Emotional lebt er im Gestern, in seinem Gestern, in einer ständig

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rascher versinkenden Vergangenheit, mit der zusammen er aus der aktuellen Gegenwart verschwindet. Man könnte sagen, er, der Altgewordene, ist real nur noch teilweise und in einem immer geringeren Maße vorhanden, da seine Teilnahme am täglichen und alltäglichen Treiben auf ein Minimum reduziert ist, bis auch dieses, bedingt durch den körperlichen Verfall, nicht mehr zu leisten ist.

Die meisten Menschen erhoffen von der Zukunft, dass sie der Gegenwart gleiche. Doch diese Hoffnung schwindet angesichts der globalen und der regionalen Entwicklung. Man ahnt: Nichts wird morgen sein, wie es eben noch gewesen ist. Unsicherheit breitet sich aus, diffuse wie konkrete Ängste, da eine Perspektive, wie sie noch das späte neunzehnte Jahrhundert beherrschte, nämlich die Fortschrittszuversicht, durch die Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts widerlegt worden ist und keine Renaissance erleben kann, da man inzwischen eine enttäuschende Lektion gelernt hat: Alle scheinbar erfreulichen Neuerungen und Entwicklungen zum Wohle des Menschen zeigen diesem nun ihre tödliche Kehrseite. »Die Welt wird schöner mit jedem Tag / man weiß nicht, was noch kommen mag ...« Das wurde einst hingeschrieben, im Stande der Unschuld, die selber dem Unheil Vorschub leistete.

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Mit dem Alter kehrt die Kindheit zurück. Zuerst als Erinnerung, dann als Verhalten.

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Müsste man nicht beleidigt sein, sobald man seinen altgewordenen Körper im Spiegel sieht? Es handelt sich um eine Beleidigung unserer Person, die sich (ohne Spiegel) ganz anders sieht. Und ist es nicht ebenso eine Erniedrigung für unseren Schöpfer, dass ihm sein Produkt derart missraten ist, dass es schon vor Ablauf der Garantiefrist Schäden und Verbrauchsspuren zeigt? Und warum zeigt die zweihundert Jahre alte Riesenschildkröte im Zoo nicht ebensolche Defekte? Da spreche mir einer von Gerechtigkeit und den Wundern der Natur.

Sind nicht alle Mythen und Legenden Gleichnisse, gerichtet an Empfänger, die vielleicht auf andere Weise unerreichbar sind? Ich habe jedenfalls die alten Erzählungen so gelesen, wie zum Beispiel die von Ikarus, dessen bewundernswertes Ingenium zu seinem Untergang führte. Enthielt der Stoff nicht die Warnung vor dem Gebrauch technischer Innovationen, deren Kehrseite stets dem zuerst gefeierten Aufschwung widersprach? War die Ikarus-Geschichte nicht eine Vorwegnahme des wissenschaftlichen Höhenfluges der Väter der Kernenergie, der in Hiroshima und Tschernobyl endete? Es ist, jedenfalls mir, unmöglich, die überlieferten Mythen naiv zu lesen. Ich spüre hinter dem Berichteten das drohende Dunkel, das unerwartet hervorbricht und den stolzen Anfang konterkariert. Doch ist wohl das erst dem zwanzigsten Jahrhundert zuzuschreiben, das - und wir mit ihm - gründlich seine Unschuld auf immer verloren hat.

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Die Ortschaften verlieren Stätten der Einkehr, innerer wie äußerlicher: Ich meine die kleinen Läden. Überwältigt von Kaufhallen, darin sich die Menschen grußlos verlieren, schwanden Treffpunkte der Geruhsamkeit und des Gesprächs. Das Tempo zur Endstation des seiner selbst bewussten Lebens hat zugenommen. Wir haben Eile anstelle von Muße, doch die Geschwindigkeit des Daseins erbringt den gleichen Effekt wie die Autofahrt mit 180 Stundenkilometern: Alles Sehenswerte und Erlebenswerte, alles Bewusstseinsprägende und Anrührende fliegt vorbei, ohne intensiv wahrgenommen zu werden. Die Reise hat sich beschleunigt, ohne dass das Ziel die Erlösung von der Hetzjagd brächte. Wir sind in jeder Hinsicht unaufhaltsam geworden, ein Schicksal, halb selbst gewählt, halb aufgezwungen.

Berlin, Alexanderplatz, ein vom Krieg lädiertes Bürohaus. Zeit: vor der Mauer. Im zweiten Stock besagten Gebäudes befand sich eine Sammelstelle für die Möbel und sonstigen Trödel der ohne Erben Verstorbenen sowie das unbewegliche Eigentum jener, die gen Westen verschwunden waren. Das Nachlasslager. Auf einen Hinweis von Heiner Müller ging ich dorthin und betrat eine düstere, sich weit über eine Etage erstreckende Höhle, bewacht von einem verschlafenen Kustos, dem ich bei meinen weiteren Besuchen stets eine Flasche Wodka überreichte. Ich strich durch ein unheimliches Museum, die Dinge ließen noch die geisterhafte Anwesenheit ihrer vormaligen Besitzer spüren, und es ging mir mehr um die eigenartige Stimmung als um den Kauf von zerfledderten, belanglosen Büchern.

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Doch eines Tages rief mich der Zerberus an: Ein alter Genosse sei gestorben, vielleicht würden mich seine Bücher interessieren - und so erschien der Wächter des ärmlichen Hades bei mir zu Hause, beladen mit Säcken voller Bücher, die mich beim ersten flüchtigen Blick in Aufregung versetzten. Stück zwei Mark (Ost) war der Preis. Ich zahlte und gab mich hemmungslos dem Schatz hin, den mir der Zufall zugespielt hatte. Ich, der sowieso mit Tentakeln an die Zwanziger Jahre gebunden war, fand in den Bänden linker Verlage, Malik etwa, oder dem Internationalen Arbeiter-Verlag (Moskau) die verlorene Zeit wieder.

Da kam Ernst Ottwalt ans Licht, F. C. Weiskopf, Friedrich Wolf, Isaak Babel, Larissa Reissner, Upton Sinclair, Theodor Plievier, alle, die einst hoffnungsvoll für eine neue Welt geschrieben hatten und dafür ermordet oder verjagt wurden, breiteten ihre Werke vor mir aus, gut erhalten, manche noch mit dem papierenen Schutzumschlag wie ungelesen. Aladin kann nicht verwunderter und emphatischer gewesen sein als ich, der blätterte und blätterte, Zeilen las, Abschnitte, gefangen von einer untergegangenen Epoche, die mir ihre Zeugnisse, ihre Spuren übereignete. Der »alte Genosse«, dem ich zu danken hatte, dass er das Wunder vollbrachte, die Bücher über die Nazizeit zu retten, ahnte vermutlich kaum, ein Schriftsteller würde einmal das von ihm gehütete Erbe antreten: Es war wie durch ein Wunder in die richtigen Hände gekommen.

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In Spanien in einem Dom, der das dreifache Format des Kölner Doms hatte. In dem gewaltigen Innenraum der Blick nach oben erreichte kaum das Innere der Kuppel. Menschenmassen in Bewegung, Besucher, Touristen,

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wogende Menge. Ich mit einer Begleiterin und unser beider Auftraggeber am Fuß einer riesenhaften Säule. Der Mann öffnete eine Reisetasche und reichte mir eine Pistole, die ich in die Hand nahm. Mein Befund: zu klein. Ich gab sie zurück, und er reichte mir eine Walther PPK 88, ein ziemlich schweres Stück. Er verschwand, nachdem er uns unseren Auftrag mitgeteilt hatte: einen verschwundenen Mann zu suchen. Wir beide zogen los, uns durch die Menschenmassen windend, ich mit der Pistole in der Hand, was mir dann doch zu auffällig erschien. Ich steckte sie in die Hosentasche und kaschierte den Kolben mit einem Taschentuch. Der Innenraum des Doms schien endlos. Einst war ich (in der Realität) im Petersdom gewesen, aber dieser Traumdom war weitaus größer. Schließlich fanden wir uns am Ausgang wieder, wo eine kleine, dicke Greisin mit ihrem Stock auf mich zu gehumpelt kam und fragte, wo sich denn die Mosaiken befänden. Ich verwies sie auf eine Reiseführerin mit der Bemerkung, diese spreche auch Deutsch. Bevor wir das monströse Gebäude verlassen konnten, geriet ich in die Wirklichkeit meines Bettes zurück, und ich erinnerte mich an manche Träume von Räumlichkeiten unterschiedlichen Formats, Landschaften bis zum fernen Horizont, Blicke wie über die halbe Erdkugel, dann wieder Treppenaufgänge in alten, verfallenden Berliner Häusern, Menschenleere, Stille, wie überhaupt die meisten Träume sich geräuschlos vollziehen, bestenfalls von Stimmen unterbrochen, die mir etwas mitteilen wollen oder mich bedrohen. Alle diese nächtlichen Ausflüge enden, sobald »Gefahr im Verzuge« ist.

Unvermittelt gerate ich ins sichere wache Dasein, in dem es weniger bedrohlich zugeht als in manchen Halluzinationen der

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ungesteuerten Psyche.

Eine der laut Brecht völlig ungeklärten Fragen wäre, inwieweit das unkontrollierte und wechselnde Raumempfinden im Traum Einfluss auf religiöse Vorstellungen haben könnte oder haben kann. Neuere Traumforschung entzieht den nächtlichen Hirnerlebnissen die Begründung, gänzlich fantasmagorisch zu sein, und rückt sie näher an die Wachheitserfahrungen - was mir weniger wissenschaftlich erklärbar als vielmehr dem wuchernden Realitätssinn geschuldet zu sein scheint. Unsere fortwährend eingeschränkte Fantasie nimmt dem Traum etwas weg, was einem geistigen Mo-vens gleichzukommen vermag, dadurch, dass das imagi-nierte Geschehen ans echte herangerückt wird.

Auf sonderbare Weise anheimelnd: die alten Berliner Häuser, ehe sie renoviert wurden und aufgeputzt. Ihr unehrwürdiges Alter war es gewesen, das mich anzog und bannte. Sie kehren in ihrem vormaligen Zustand in meinen Träumen wieder: die Keibelstraße mit den Bauten aus dem 19. Jahrhundert, und zwar solche, die nicht für eine wohlhabende Bürgerschicht gedacht waren. Keibelstraße war das »Scheunenviertel«, bewohnt von armen Juden, erst polnischen, später berlinischen, die aus anderen Stadtvierteln hierher vertrieben und hierher umgesiedelt worden waren, bevor man sie gänzlich Iaus dem Weg schaffte. Hier gab es Ein-Zimmer-Wohnungen, in der einen hauste Tante Auguste, in einer anderen Tante Marie, beide Schwestern meines Großvaters, nur undeutlich in meinem Gedächtnis vorhandene alte Damen, von deren Verschwinden ich als Kind nichts erfuhr.

Hier wohnte die Familie Falckenstein, das Ehepaar


Fuß und ein Stockwerk höher unter dem Dach in einer fast möbellosen Wohnung eine Frau mit zwei Kindern, einer Tochter meines Alters und einem kleinen Jungen, der auf dem nackten Fußboden herumkroch.

Einmal war ich bei ihnen zu Gast, aus der Falckensteinwohnung heraufgeschickt, vielleicht weil ich bei Beratungen störte. Doch ich verstand ohnehin kaum etwas von dem, was die Erwachsenen sich erzählten; oftmals sprachen sie in Andeutungen oder mit täuschenden Bezeichnungen. Diese Häuser sind nur dreistöckig gewesen, abgewohnt, verschlissen. Die Stufen auf- oder abwärts ausgetreten. Auf jedem Stockwerk die Außentoilette, die zu benutzen man einen unmäßig großen Schlüssel bekam, an dem an einer Schnur ein ausgehöhlter Knochen baumelte. Zu handlichen Quadraten geschnittene Zeitungen hingen an einem Haken in dem Kämmerchen, darin man auf einer planen Fläche mit dem notwendigen Loch Platz nahm. Im Treppenhaus war es totenstill, als gäbe es keine Mieter. An den Wohnungstüren klebte jeweils ein papierner Davidstern, damit sich wohl später die Abtransportierer nicht irrten. Solche Häuser besuche ich manchmal nachts in Abwesenheit meines Bewusstseins, aber niemals treffe ich dabei auf Menschen, wie denn auch, da sie ja abgeholt wurden. Nur die ausgetretenen Stufen sehe ich, das von vielen Händen abgegriffene Geländer, die schweigenden Wohnungstüren, und eben die ungeheuerliche Stille, die mich umgibt, bis ich dort erwache, wo es außer meinem kein anderes Erinnern gibt.

Jene Erinnerungen an Vorgänge, derer man sich schämt, sind von besonderer Intensität. Das klägliche Versagen

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von einst ist nicht zu löschen und meldet sich im ungeeigneten Moment erneut an. Peinlichkeiten haften lebenslänglich. Und zu bereuende Handlungen lassen sich durch die immer verspätete Reue nicht löschen. Vermutlich existiert kein Mensch, der nicht an derart schmerzlichen Wiederkünften von vergangenem Geschehen laboriert, ohne sich derer entledigen zu können. Man würde jetzt gerne ein falsches Wort zurücknehmen, es ungesagt sein lassen, eine Absage rückgängig machen, eine Lüge korrigieren, die Missachtung eines einem doch Nahestehenden widerlegen, doch es hilft einem keine gute Fee, kein Zauberer, die eigene Biographie von mehr oder minder großen Flecken zu reinigen und alle Verfehlungen aus dem mittelmäßigen Buch unseres Lebens zu streichen.

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Ich war nicht im Kriege, zumindest nicht als Soldat, nur als Schlachtenbummler bei den Zerstörungen des Luftkrieges, beim Beschuss Berlins durch die Rote Armee, ein zufällig Überlebender, dem alle brachialen Geschehnisse eine Lehre für den Rest seiner Existenz waren. Soweit die Präambel zu einer Überlegung nach der Lektüre von Erwin Strittmatters Tagebüchern. Ich finde bei ihm kaum einen Rückbezug zum Kriege, was mich verwundert. Er war älter als ich, eingezogen oder freiwillig, das ist unbekannt, in einem Polizeibataillon, Gebirgsjäger in Kärnten, was sich, da heute Urlaubsgebiet, friedlich anhört. Doch zu seiner Zeit war Kärnten ein Partisanengebiet, ein Schlachtfeld der slowenischen Widerstandsgruppen, von denen Strittmatter zumindest gewusst haben musste. Dass da kein Rückbezug zu dem eigenen Gestern sich meldete, scheint mir verwunderlich. Alles verdrängt?

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Oder verschwiegen? Heute danach zu fragen ist müßig, aber es beschäftigt mich doch, weil, was man als jüngerer Mensch erlebte, das Leben zu prägen vermag. Es ist in beiden deutschen Ländern zu lange geschwiegen worden, zumindest von denen, die an Orten des Schreckens gewesen waren.

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Sind nicht die animalischen Momente im Leben die besten? Im Sommer an einem einsamen Strand in der Sonne zu liegen, nichts anderes zu hören als eine gemächliche Brandung oder den Schrei einer Möwe, die salzige Luft einzuatmen, fern aller Bedrängnis - entsteht dabei nicht ein tierisches Wohlbehagen, wie es allen uns verwandten Geschöpfen eigen ist? Ist das die Vorahnung von Glück?

Man besitzt Erinnerungen, oftmals nichtige, deren Konsistenz absolut klebrig ist. Momente von außerordentlicher Dürftigkeit, die einem immer wieder einfallen, ohne einen übergeordneten Sinn zu stiften. Ich sitze mit Rudi St. in einem Cafe, er trägt Volksarmeeuniform, höherer Dienstgrad, wir trinken irgendetwas und reden, worüber weiß ich nicht mehr. Die Szene kehrt ungerufen wieder, durch nichts Besonderes aufgerufen, und doch ist sie da, ohne Sinn und Zweck oder sonst eine Notwendigkeit. Ein Tableau: zwei Männer, der eine militärisch herausgeputzt, der andere zivil gekleidet, als Gegenüber verpaart, im Hintergrund schattenhaft Gäste, sonst nichts. Nicht loszuwerden dieses völlig überflüssige Bild im Kopf, der doch eigentlich für Besseres bestimmt ist.

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Werden wir von der Zivilisation so zugerichtet, dass unser kindliches Sensorium, unsere Empfindsamkeit und Ahnungsbereitschaft für Verborgenes, uns Verheimlichtes abstumpft und verschwindet ? Immer wieder kehre ich zu Benjamins »Kindheit um neunzehnhundert« zurück, weil der erwachsene Autor sich etwas bewahrt hat, das die allermeisten verloren. Erinnert sei an den Text über das Telefon in der Diele der elterlichen Wohnung, ein Inszenator der Fantasie, ein Gerät, weit über Technisches hinaus, ein Etwas, dem Metaphysisches zu eigen ist, das sich genauer Definition entzieht und das ein ferner Verwandter von Kafkas zieharmonikaähnlicher Spukgestalt ist. Kinder haben eine »Antenne« für Numinoses, das sie meist für sich behalten, denn die Erwachsenen nehmen sie nicht ernst und würden, selber längst formiert, über das hinweggehen, was für ihren Nachwuchs von lebenslanger Bedeutung sein kann. Bei manchen Schriftstellern regt sich das einst als sonderbar Erfahrene und meldet sich zwischen den Zeilen, wie wenn es endlich, endlich für alle sichtbar werden wolle.

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Eine Gedichtzeile und zwar die letzte. Unmöglich zu schlafen. Unstimmig, was da geschrieben steht. Sind mir die Worte leichtfertig aufs Papier entglitten ? Nichts passt zu dem virulenten Gedanken. Die Unruhe hält an. Die Zeile sagt nicht das, was es zu sagen gilt. Was stimmt daran nicht? Nachts zwischen zwei und drei Uhr wird ein Wort ausgewechselt und erinnert mich wieder an den alten Witz, da ein Dichter gefragt wird, was er gestern getan habe, worauf er erwidert: Er habe ein Komma gesetzt. Und heute? Heute habe er es wieder ausradiert.

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Die Arbeit an einem Gedicht ist nur Lyrikern verständlich, für die Autoren fünfhundertseitiger Schwarten unbegreiflich. Der »Wortwechsel« aber hat nicht genügt. Noch immer sträubt sich der Irrtum besagter Zeile, einer besseren, einer passenden, der richtigen überhaupt, Platz zu machen. Ausprobieren von Sätzen und Wendungen. Goldwäscherarbeit. Immer wieder die Pfanne schwenken auf der Suche nach der gesuchten Substanz im Sand der Sprache. Das mag dauern, manchmal Tage, manchmal Wochen, manchmal ohne Ergebnis enden. Verstehst du, warum ich das tue? Nein? Ich auch nicht.

Die Bombenschützen sahen unter sich in der Tiefe nur das Aufblitzen nach dem Abwurf, dann Rauchwolken, nichts sonst, ohne innere Beteiligung wahrscheinlich. Sie hatten die andere Optik, die durch Fantasie und Vorstellungsvermögen nicht verändert werden kann. Was wir aus der Ferne sehen, findet kaum unsere innere Beteiligung. Schon der Abstand von hundert Metern reicht aus, einen tödlich Getroffenen weniger grausig erscheinen zu lassen. Im Flugzeug oder hinter dem Geschütz weiß man, dass man Menschen umbringt, doch das ist ein abstraktes Wissen, das den Verursacher nicht erschreckt. Der Tod findet fern von ihm statt. Erst die Nähe würde eine seelische Erschütterung verursachen. Waren aber die Piloten der Bomber noch auf eine mittelbare Art am Massenmord beteiligt, so tritt mit der Technik der Fernraketen und der Drohnen eine weitere Distanz zwischen Täter und Opfer, die es dem Täter noch mehr erleichtert, seine »Pflicht« zu tun. Die Satelliten funken die Bodenansichten in die Zentrale, die Drohne zeigt unter sich bebautes Gelände,

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der Knopfdruck findet ohne Reflexion des Auslösenden statt, der sich vielleicht an die Computerspiele seiner Jugend erinnert. Etwas Ähnliches ereignete sich ja auch bei den Massenmorden durch die Nazis, die feststellten, dass die direkten Erschießungen von Menschen den Schützen Schwierigkeiten bereiteten, die oftmals mit Alkohol überwunden werden mussten. Aus dieser Überlegung heraus entstanden die Gaskammern. Man sah, wenn man es nicht wollte, die Menschen nicht sterben. Man trieb die Lebenden in die entsprechenden Räume, aus denen sie jedoch andere Gefangene herausholen und verbrennen mussten. Der Abstand der Mörder zu ihren Opfern war auch in den Vernichtungslagern von Psychologen einkalkuliert. Die Rückkehr vieler traumatisierter Soldaten beruhte auf dem Umstand, dass in Afghanistan die Distanz zwischen den in Feindschaft Beteiligten geschrumpft war: Die deutschen und amerikanischen Soldaten waren nun mit dem Sterben ihrer Kameraden konfrontiert, was sich als psychisch unbekömmlich zeigte. Wo die auf nah eingestellte Optik den Blick fokussiert, fällt das Töten schwerer - falls man nicht durch seinen Glauben oder seine Ideologie gänzlich abgestumpft ist.

Neulich erschien in meinem Traum eine sehr schlanke Frau, die ich umarmte, obwohl mich in der Realität schlanke Frauen überhaupt nicht anziehen. Wieso im Traum? Das war keine »Traumfrau«, mit der ich es ziemlich intim zu tun hatte. Verlangte das Unterbewusst-sein nach einem Kontrast, ähnlich dem unerwarteten Verlangen nach einer anderen, ungewohnten Speise im Restaurant?

Die Unkenntnis der eigenen Psyche ist ein

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Schutz vor schlimmen Einsichten.

Doch wenn solch Schutzmechanismus für alle Menschen gilt, muss man ihn auch für Psychiater annehmen, die fremde Seelen aufblättern sollen, vor der eigenen jedoch kapitulieren. Diese modernen Beichtväter wissen vielleicht weniger von ihren Zeitgenossen als einstmals die kirchlich beamteten von ihren Sündern. Die gebeichtete Sünde war wohl dem Pater näher als dem Psychiater das Geständnis seines Patienten über sexuelle Eigenheiten. Gab es nicht früher eine, obwohl oftmals fatale Ganzheit des Individuums, die in unserer alles atomisierenden Gesellschaft abhandengekommen ist? Das Spezialistentum in der Seelenkunde reduziert seine »Kunden« gleichermaßen auf ein Sammelsurium von Komplexen, wobei der Zustand des Hilfesuchenden, auch er eine divergente Mischung aus vielerlei Einflüssen, dem Schubladendenken des Untersuchenden entgegenkommt. Manchmal hat man bei der Lektüre von Psychoanalyseberichten das Empfinden, hier agiere der Blinde gegen den Lahmen.

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Seitdem der echte Terror über uns gekommen ist, spricht kein Mensch mehr vom »Konsumterror«.

Letzte Nacht in New York gewesen. In einem Lokal am Tisch mit Siegfried Unseld und einem berühmten Schriftsteller, eventuell Max Frisch. Später ein paar andere Leute dabei. Ich redete und redete viel zu anhaltend und zu viel. Überlegte dabei, ob ich nicht, angesichts der uns umgebenden Metropole, meinen amerikanischen Führerschein (Driver's license) zeigen sollte, unterließ es jedoch aus Bedenken, für prahlerisch gehalten zu werden. Bald darauf erhoben sich meine Zuhörer, ich hielt einen Schlüssel mit (recht europäischer) Holzbommel mit der Nummer 39 in der Hand, woraus ich entnahm, ich logiere im 39. Stockwerk. Verließ den Speisesaal und erblickte draußen im Gang Unseld, den Berühmten, und andere auf einer Bank sitzend, was mir vorkam, als wären sie vor mir geflohen. Ich ging beiläufig grüßend an ihnen vorbei, bestieg den Fahrstuhl, der zur U-Bahn mutierte, und fuhr davon. Mir wurde klar, dass ich mich mit dem 39. Stockwerk geirrt hatte und eigentlich Zimmer 39 gemeint gewesen sei. Die Bahn fuhr und fuhr. Plötzlich war ein kleines Mädchen in der Größe eines Eichhörnchens zu meinen Füßen. Wir sprachen miteinander, bis sie unter einen Holzvorsprung schlüpfte. Draußen vor dem Fenster verlassene Fabrikgebäude, unbeleuchtet und leicht verfallen. Weit hinten am Horizont die Skyline von Manhattan. Ich nahm mir vor, auf dem nächsten, nun oberirdischen, Bahnhof umzusteigen und zurückzufahren, wusste aber nicht, in welchem Hotel eigentlich mein Zimmer 39 sich befinden mochte. Einstmals tatsächlich in New York war ich nur ein einziges Mal mit der U-Bahn gefahren, und geblieben ist die Erinnerung an einen roh betonierten Bahnhof, dessen technische Eingeweide offenlagen, als wäre die gewaltige Höhle, in die scheinbar aus allen Richtungen Züge einfuhren, unfertig dem Verkehr übergeben worden. Wie so vieles in den USA den Eindruck des Unfertigen machte, als plante man schon den Abriss, um etwas Neues zu bauen.

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