Kunert-2018
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Manche Völker haben ihre schmutzige Vergangenheit noch vor sich.
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Er war ein Promiskuitäter - entging aber der Strafe, auf einem Traualtar geopfert zu werden.
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Brecht muss ein enormes Vertrauen zu mir gehabt haben, da er Stalin den »Verdienten Mörder seines Volkes« nannte und DDR-Funktionäre nur als »die Verbrecher« titulierte. Gut, er war geschützt durch seinen Ruhm und durch seinen österreichischen Pass, den er auf nicht ganz saubere Art und Weise bekommen hat. Der Komponist namens von Einsiedel hatte ihn gebeten, für Salzburg ein zeitgenössisches »Jedermann«-Stück zu schreiben. Dafür verlangte Brecht die österreichische Staatsbürgerschaft, die er auch postwendend erhielt. Nur den »Jedermann« lieferte er nicht, sodass bis heute das bereits klassische Spektakel von Hugo von Hofmannsthal in jener musealen Stadt über die Freilichtbühne geht.
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Um einmal einen Buchtitel von Theodor Lessing zu paraphrasieren: Schicksal als Sinngebung des sinnlosen Daseins.
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Ich wurde früh zu einem Sympathisanten, Anhänger, Mitläufer, Interessenten, Freund und Süchtigen der Archäologie gemacht, entdeckte den Ursprung dieser unstillbaren Neigung jedoch erst später. Dadurch, dass ich als Kind die Zerstörung meiner Umwelt und das Verschwinden meiner Verwandten erleiden musste, suchte ich in allen Relikten und Rudimenten des Vorgestern nach meiner eigenen, einstigen Vergangenheit.
Bereits nach dem Kriegsende kroch ich in Berlin in Ruinen herum, ohne zu wissen, was ich dort zu finden hoffte. Ich stieg in stinkende Keller und tappte durch zerstörte Häuser, ein Pfadfinder meiner selbst. Und es begann eine Sammelleidenschaft, die sich auf altes Blechspielzeug richtete, eindeutig die Kompensation der verlorenen Kindheit. Später, als es mir möglich wurde, zu reisen, wanderte ich halb in Trance durch unzerstörte Altstädte wie Amsterdam oder Prag, aufgewühlt, fiebrig, mit Herzklopfen, ziellos und unbewusst solche Entdeckungsfahrten, denn das Unbekannte und Nebulöse entzog sich ja dem Anblick, ganz gleich ob im Mietshaus der Anne Frank oder in der Altneu-Synagoge, auf deren Dachboden Egon Erwin Kisch den Golem gesucht hatte. Bei all meinen Reisen erwachten an den Orten Assoziationen schlimmster und tröstlichster Art. Ich spürte vergangenem Leben nach, lebte mich in gewesenes Dasein hinein, das doch ganz anders gewesen sein musste und das ich mir einfach anpasste wie ein fremdes Hemd, in dem ich mich dennoch wohlfühlte. Wohin ich auch kam, ich geriet stets in eine Vergangenheit, die mit mir zu tun hatte, Iund sei es eine nur einstmals durch Bücher erfahrene. Insofern fühlte ich mich in sämtlichen Trümmern der antiken Welt daheim, da sie mir ja schriftlich nahgebracht worden war. Und selbst noch im fernen Neu-Mexiko in einem einsamen Pueblo innerhalb eines Reservats bei einer alten Indianerin fühlte ich mich nicht fremd, weil unendliche Zeilen von Buchstaben und Sätzen mich mit
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allem, worauf ich traf, bekannt gemacht hatten. Wie wird man Weltbürger? Dadurch, dass einem früh die Heimat gestohlen wird.
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Sich selbst als lebendes Puzzle zu erkennen ist eine späte Einsicht. Und diesen Umstand auch noch zu akzeptieren, dazu gehört schon etwas Kraft oder bloß Resignation. Sich so anzunehmen, wie man wurde, bedeutet schließlich auch die Anerkennung aller daraus entstandenen und entstehenden Konsequenzen - selbst der übelsten.
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Brächte man fünf Leute zusammen, die sich an einen gemeinsamen Freund oder Bekannten erinnern sollten, wäre man wohl erstaunt über die unterschiedlichen Signalements, die man zu hören bekäme. Spreche ich mit einem Bekannten über einen Jemand, mit dem wir zu unterschiedlichen Zeiten zu tun hatten, ist es, als redeten wir über verschiedene Personen. Das ist nicht verwunderlich, weil unser Wahrnehmungsvermögen (Binsenweisheit) ja individuell ein- oder ausgerichtet ist. Eine Meinungseinigung findet nur im Gröblichsten statt. Dass unser Bekannter einen Bart trug und eine Brille, einen schlecht sitzenden Anzug, und dass er gewisse Ansichten hatte, doch das wird schon wieder strittig, weil wir ihn nicht gleichermaßen verstanden haben. Je länger wir über diesen Menschen reden, desto fremder wird er dabei, bis wir zu dem Schluss kommen, ihn eigentlich überhaupt nicht gekannt zu haben. Gewiss hatte er Geheimnisse wie jedermann. Und Lebensphasen, von denen wir weder etwas wussten noch ahnten.
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Ein wahrheitsgetreuer Nachruf erwiese sich als unmöglich, wobei solche Nachrufe ohnehin nie das Licht der Öffentlichkeit erblicken. Man beschränkt sich auf das Allgemeine, das immer richtig ist und nie anstößig. Und auf diese Art und Weise gehen wir miteinander um, indem wir uns freundlich verkennen und uns herzlich fremd sind.
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Jedes Erinnern gleicht einem Netz voll unzähliger Leerstellen, voller Lücken. Ein völlig nahtloses Erinnern wäre ein zweites Nachleben des ersten - also eine Unmöglichkeit. So muss ich auch darauf verzichten, von unserer ersten Begegnung zu sprechen. Darüber weiß ich nichts mehr. Das Erinnern hebt damit an, dass ich in der Christburger Straße, in der auch ich wohne, auf einen Hinterhof trete und den »Yankee-Doodle« pfeife: unsere Erkennungsmelodie, ein Signal, das auch besagt, es Ihätten bereits erste Treffen zwischen uns stattgefunden. Rasch kommt mein Freund aus dem dritten Stock in den Hof, wir machen uns auf den Weg, wo soll es hingehen, heute nach Treptow in den Park, weil dort ein Rummel seine Zelte aufgeschlagen hat. Wir werden mit der Achterbahn fahren, wobei mein Freund, noch ängstlicher als ich, vor Aufregung seinen Kaugummi verschluckt und sich nun Sorgen um seinen Stuhlgang macht. Wird nicht alles zugeklebt? Wir gehen in ein großes Zelt, das eine anatomische Ausstellung beherbergt. Unter Glas lauter widerliche Wachsglieder, ausgeblichen vom Licht, und da, übel, übel, eine Vagina, umrundet von lilafarbenen Wachsfurunkeln und gleich daneben ein abgehackter Wachspenis, ebenfalls mit Aussatz dekoriert. Solchen Anblick haben wir nicht verdient und ziehen uns in
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bekömmlichere Parkgefilde zu einem dünnen Bier zurück. Eigentlich trafen wir einander fast jeden Tag. Ich als ungelernter Mensch, berufslos und Herrscher meiner Zeit, er schon Musik studierend, doch mit Maßen: Klarinette. Nach seinem Abschluss und nach Anerkennung als Musikus heuerte er in der Tanzkapelle »Igel« an, um in diversen Gaststätten im Berliner Bezirk Friedrichshain den Paaren zum Tanze aufzuspielen. Nie bin ich zu einer seiner Veranstaltungen gegangen. Manchmal trat er auch mit der Kapelle im Zirkus auf, von wo er, wie nach seiner Hochzeit seine Frau bemerkte, Elefantenflöhe mit heimbrachte. Das sollte aber erst noch kommen. Vorerst waren wir ja frei, standen mit anderen Jungen in Hauseingängen herum, rauchten und pfiffen den vorbeigehenden Mädchen hinterher.
Unser etwas verquastes Judentum hatten wir rasch entdeckt. Bei ihm war es der Vater, bei mir die Mutter, bei uns beiden die nur noch erinnerten Verwandten, und trotz unserer Traumatisierung durch die eben militärisch beendete Vergangenheit waren wir lustvoll heiter und steckten voller Gelächter, als wollte das Überlebthaben sich auf diese Weise bemerkbar machen. Weil wir beide noch einen geringen Wortschatz des Jiddischen hatten, beschlossen wir Naivlinge, ein Wörterbuch des Jiddischen anzulegen, bis wir schockhaft feststellen muss-ten, dass die »Mammeloschen« mit für uns rätselhaften hebräischen Lettern gedruckt wurde. Da kapitulierten wir vor der restaurativen, selbstgestellten Aufgabe.
Ich hatte inzwischen angefangen zu schreiben, was, wie ich später merken sollte, einen verheerenden Einfluss auf meinen Freund haben sollte. Vorerst zogen wir durch die Trümmerwelt Berlins, heiter und fast unbeschwert.
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Ich schrieb für die satirische Zeitschrift »Ulenspiegel«, die es im um sich greifenden Stalinismus immer schwerer hatte. Der Herausgeber Herbert Sandberg wollte wohl der Entwicklung sein Scherflein zollen, und als die »Diktatur des Proletariats«, das gestern noch aus lauter »Volksgenossen« bestanden hatte, immer aktueller wurde, entsandte er mich in eine Fabrik, die Seife und Kosmetik herstellte, damit in seinem Blatt eine Reportage über die tüchtige und unentwegt fortschreitende Arbeiterklasse stünde. Mein Freund fuhr mit mir in die Provinz, obwohl er sich eben erst hatte beschneiden lassen und in jeder öffentlichen Toilette blutige Binden von seinem Penis abwickeln musste. Ja, wir hatten ja nach Israel ausreisen wollen, waren auch bei der entsprechenden Dienststelle gewesen, wo man uns skeptisch beäugte und versprach, dass man uns baldigst von der Möglichkeit, ins Land der Väter heimzukehren, verständigen würde. Die Nachricht kam nie, und mein Freund hatte sich ganz umsonst seiner Vorhaut entledigt. Alles Gründe, sich in Heiterkeit und Spott zu ergehen. Zwi-chendurch heirateten wir auch noch, ohne dass unsere 'reundschaft sich dadurch lockerte, obwohl ja einstmals \icholsky das prophezeit hatte. Seine Ehe ging nicht ;ut, meine dauerte lange, wobei ich sie hin und wieder seitensprungartig zu unterbrechen pflegte. So lebten wir vor der Mauer und nach der Mauer mehr oder minder röhlich dahin. Mir wurde nicht bewusst, wie stark mein iinfluss auf den Freund eigentlich war; dass ich der dominierende Teil in unserem Zusammensein gewesen bin, war mir schon klar, doch dass dieses Verhältnis bei ihm sich tief in seine Psyche eingegraben haben musste, ahnte ch nicht.
Seine musikalischen Unternehmungen ließen
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nach, er verlor wohl das Interesse an der Unterhaltungsmusik und fing irgendwann an zu schreiben.
Dass ich das unwillentlich und unbewusst zu verantworten hatte, wurde mir erst später klar. Ich muss für ihn und seine Interessen prägend gewesen sein. Und als ich die DDR verlassen hatte, hielt es ihn dort auch nicht länger. Während die »Anführer der Arbeiterklasse« - wobei die Doppelbedeutung des Wortes »anführen« peinlich zutraf - uns, die »Dissidenten«, die Unruhestifter, die Verfälscher der reinen Lehre, die Pessimisten und Verächter des sozialistischen Reimlexikons, in den Westen ziehen ließen, sah und fühlte sich auch der Freund betroffen und beantragte seine Ausreise. Unter größeren Komplikationen als den mich betreffenden gelang ihm der Umzug. Wir konnten einander wieder treffen und sprechen. Aber wir waren beide gealtert, waren inzwischen andere Wege gegangen, ich war weltläufig und weltsüchtig geworden, während für den Freund sich das Tor zu spät geöffnet hatte. Nun spielte die Musik keine Rolle mehr in seinem Leben, sondern die Literatur. Er schrieb für den Funk, er schrieb Rezensionen und vor allem: Er schrieb Aphorismen von enormer Eindringlichkeit. Was uns beide einst fast brüderlich verbunden hatte, der Witz, fast möchte ich meinen: Der Vater- und Mutterwitz jüdischer Provenienz, dieser Witz grundierte nun seine knappen kritischen Einfälle zur Zeitgeschichte, zu den Deutschen, zum sogenannten Menschen überhaupt. Diese Aphorismen wurden kaum beachtet, weil wir in einer Epoche leben, in der die scharfsinnige Geistigkeit verlorengegangen ist.
Was einst Karl Kraus repräsentierte, Alfred Kerr, Kurt Tucholsky, Felix Pollak - das war ausgerottet worden, und ein verändertes Publikum besaß nicht mehr den Sinn
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für diese besondere Form des intellektuellen Blitzlichtes, das schlagartig eine Wahrheit darbietet.
Hitler hat mit dem Unfug der Vernunft gründlich aufgeräumt und für eine literarische Besonderheit eine Brache hinterlassen, auf der kaum etwas nachwächst. Mein Freund, der, wie ich, außer der platten Volksschule keine andere Ausbildung haben durfte, stand mit seiner Ironie, seinen bissigen Formulierungen menschlicher und gesellschaftlicher Debakel so ziemlich allein unter den Deutschen, die sich ihrer besten Köpfe entledigt hatten, ohne danach den Verlust zu merken. Einer der zufällig unbeschädigten Köpfe war der meines Freundes.
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Information ersetzt Wissen. Aber Informiertheit bedeutet nicht, etwas wirklich zu wissen, denn Wissen ist etwas, das den psychischen Kern unseres Selbst berührt. Ich weiß, dass ich sterblich bin, ist etwas anderes als zu wissen, alle Menschen sind sterblich, also auch ich. Das Wissen ist stets der Emotionalität verbunden. Nicht zufällig spricht man davon, dass dieser oder jener schon geahnt habe, sein Dasein werde übel enden. Sind Vorahnungen ein unbewusstes Wissen ? Eine unbegründ-bare Gewissheit, von der man gehört hat? Ach, die berüchtigten Dinge zwischen Himmel und Erde! Der alte Adam respektive Homo erectus war sich seines Gehirns nie ganz sicher. In diesem Teil des Körpers fanden (und finden) merkwürdige, natürlich den modischen Neuronen zugeordnete Beziehungen statt, derer wir nicht unbedingt kundig werden. Lope de Vegas »Das Leben ein Traum« wirkt, je länger man den Stücktitel bedenkt, immer realistischer.
Was denn ging mit einem zeit seines
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Lebens vor? Lauter Irrationalitäten. Zufälle über Zufälle. Und dazu die feste falsche Überzeugung, man sei Herr seines Schicksals. Wer hat denn dem Fötus vorausgesagt, dass er General der Infanterie wird oder Massenmörder oder ein talentloser Geiger im Cafehaus? Alle Philosophie, bemüht um eine endgültige Klärung, Erklärung, um ein für alle Mal das Objekt Mensch in seinem Wesen zu erkennen, ist für die Katz, die aber das Mausen als ständige Reflexion ihrer Selbst nicht lässt.
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Ein neues Jahr, von Menschenmassen in den Großstädten frenetisch begrüßt. Feuerwerk allerorten. Gläser geschwenkt auf den Straßen. Lärm, Trubel, Böllerknallen. Als handele es sich bei diesem neuen Jahr um die Eröffnung eines neuen, uns alle beglückenden Zeitalters, und scheint doch nichts anderes zu sein als eine kurzfristige Betäubung, ein Kurzurlaub für ein paar Stunden von den Katastrophen der Gegenwart, die sich nicht an den Kalender halten. Besorgnisse werden für einen Abend und eine Nacht ignoriert, doch in der grauen Frühe des nächsten Morgens sind sie erneut präsent, und vor ihrer Drohung wirken unser Jubel und unsere Fröhlichkeit unecht, als gälte es, für einen Moment das nahende Unheil aus dem Bewusstsein zu verbannen, wenigstens für einen Augenblick so zu tun, als wäre die Welt noch intakt, als wäre alles in Ordnung, als wären die düsteren Vorzeichen vorübergehende Schatten, auf die erneut Licht folge. Das Vergnügtsein macht einen verzweifelten Eindruck.
Und wie rasch aus der Belustigung Schrecken und Tod werden können, demonstrieren die den Jahreswechsel Feiernden im fernen Schanghai, die sich durch Zusammenballung
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umbringen und verletzen.
Flüchtlingsschiffe irren durchs Mittelmeer, Hungernde ziehen durch verödende Gebiete, die Migranten genannten Menschen klopfen an Europas Türen, Ströme von Individuen, eine Sintflut, die Gegenreaktionen hervorruft, Ängste der Einheimischen, Sorgen und Hass. Hundertsechzigtausend landeten im vorigen Jahr in Italien - ist das nicht erst der Anfang? Der einst romantisierte Orient ist zum Inferno geworden, über dem in Flammschrift steht RETTE SICH, WER KANN. Und wenn die Bürgerkriege, wenn der Terror neue Motive und Ursachen finden, und das blutige Muster sich auch über Europa ausbreitet - wohin fliehen dann die Betroffenen? Die allerorten an dem letzten Abend des Jahres 2014 aufleuchtenden Wunderkerzen betonen nur die Dunkelheit, die sich, im übertragenen Sinne, auch in unseren Regionen ausbreitet.
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Werfen Sie Ihre Stimme in eine Urne, aber vergessen Sie nicht, Ihre Asche hinzuzufügen!
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Zu fragen wäre, inwiefern die in Westeuropa lebenden Moslems bereit zu einer Kollaboration mit den Islamisten sind. Die unscheinbaren Schneider und Bäcker, die Handwerker und Geschäftsleute, die sich mehr oder weniger in die demokratische Gesellschaft integriert hatten, werden, des bin ich gewiss, von den Radikalen vor die Frage gestellt, ob sie bereit sind, im Namen Allahs oder Mohammeds sich mit ihren extremen Glaubensbrüdern zu solidarisieren.
Man denkt da an jene Zeit vor 1933, da ter nazistische Terror in Deutschland blühte und brave, aber national gesinnte Bürger zögerlich, doch über Bedenken hinweg, bei der Machtergreifung direkt und indirekt mitwirkten.
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Wie es eine schleichende Nazifizierung in Deutschland gab - erleben wir jetzt eine schon kaum mehr schleichende Islamisierung? Würden sich »unsere« Moslems Forderungen und Erpressungen der Radikalen verweigern oder aus Furcht vor den Konsequenzen ihren Anteil an der Zunahme des Terrors leisten? Bei dem Anschlag auf die Türme des World Trade Center in New York durften amerikanische Moslems noch guten Gewissens das Attentat verurteilen, da es ungezielt verübt worden war. Das Attentat von Paris aber richtete sich wahrlich gegen etwas Essenzielles: gegen das skeptische Denken überhaupt. Doch Denken, Nachdenken, denkend eine Sache betrachten, ohne den Ansatz des Zweifels, ist unmöglich. Wo Zweifel verboten sind und von der Polizei verfolgt werden, verliert sich Denken in einen Circulus vitiosus, es kreist nur um sich selbst, ohne aus dieser Gefangenschaft im einmal Vorgefassten ausbrechen zu können. Das Denkverbot im Islam, auch im gemäßigten, hat jene von ihm beherrschten Länder zu Almosendieben gemacht, die, könnten sie sich nicht aus der Wundertüte der Industriezivilisation bedienen, in tradierter Stagnation verharren würden. Doch was an »Fortschritt« sichtbar wird, besteht nur in der Kopie weltweit gültiger Technologie. Innovativ findet nichts statt, der Geist ist gelähmt, da ihm ja Skepsis und Zweifel, die beiden Motoren der Entwicklung, untersagt sind. Ein Gerichtshof für Menschenrechte in Dubai? Eine Möglichkeit, den Staat zu verklagen, in Teheran?
Der Bereich, in dem Aufklärung stattfand, ist, global betrachtet, minimal und soll namens der unaufgeklärten Mächte weiter schrumpfen, bis der Bodensatz zivilisatorischen Werdeganges erreicht ist. Absolutismus - und das impliziert der Islam - ist nur machbar, wenn alle Köpfe gleichgeschaltet werden oder die abgehauen, bei denen das nicht gelingt.
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In einem Wissenschaftsblatt lese ich, wir lebten im »Anthropozän«, also in einem vom Menschen bestimmten und von ihm geprägten Zeitalter. Diese Formulierung, ja Formel, erregte sofort meinen Verdacht. Ist es nicht an dem, dass, sobald eine von der Paläontologie benannte Phase als wissenschaftlich gesichert erscheint, diese schon als so gut wie abgeschlossen gilt, im Ausklingen begriffen?
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Der Altgewordene merkt irgendwann, dass ihm die Gegenwart entgleitet und zur Gegenwart der Anderen, Jüngeren wird. Auf einmal liest er Namen von Politikern, die er vordem nie gehört hat. Autoren von Büchern, die er nicht liest, Innovationen technischer und wissenschaftlicher Art, die er nicht versteht. Er vernimmt eine Sprache, die des elektronischen Zeitalters, das er, so könnte man es nennen, analog existierend, wegen ihres digitalen Kauderwelsches nicht mehr kapiert. Ein gesellschaftlicher und mentaler Schrumpfungsprozess. Denn der Altgewordene stellt fest, dass vieles, was ihn gestern noch erregt oder empört hätte, ihn heute kalt lässt. Er ist nicht mehr an dem Getriebe beteiligt, was er mit Resignation oder Ablehnung quittiert.
Emotional lebt er im Gestern, in seinem Gestern, in einer ständig
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rascher versinkenden Vergangenheit, mit der zusammen er aus der aktuellen Gegenwart verschwindet. Man könnte sagen, er, der Altgewordene, ist real nur noch teilweise und in einem immer geringeren Maße vorhanden, da seine Teilnahme am täglichen und alltäglichen Treiben auf ein Minimum reduziert ist, bis auch dieses, bedingt durch den körperlichen Verfall, nicht mehr zu leisten ist.
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Die meisten Menschen erhoffen von der Zukunft, dass sie der Gegenwart gleiche. Doch diese Hoffnung schwindet angesichts der globalen und der regionalen Entwicklung. Man ahnt: Nichts wird morgen sein, wie es eben noch gewesen ist. Unsicherheit breitet sich aus, diffuse wie konkrete Ängste, da eine Perspektive, wie sie noch das späte neunzehnte Jahrhundert beherrschte, nämlich die Fortschrittszuversicht, durch die Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts widerlegt worden ist und keine Renaissance erleben kann, da man inzwischen eine enttäuschende Lektion gelernt hat: Alle scheinbar erfreulichen Neuerungen und Entwicklungen zum Wohle des Menschen zeigen diesem nun ihre tödliche Kehrseite. »Die Welt wird schöner mit jedem Tag / man weiß nicht, was noch kommen mag ...« Das wurde einst hingeschrieben, im Stande der Unschuld, die selber dem Unheil Vorschub leistete.
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Mit dem Alter kehrt die Kindheit zurück. Zuerst als Erinnerung, dann als Verhalten.
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Müsste man nicht beleidigt sein, sobald man seinen altgewordenen Körper im Spiegel sieht? Es handelt sich um eine Beleidigung unserer Person, die sich (ohne Spiegel) ganz anders sieht. Und ist es nicht ebenso eine Erniedrigung für unseren Schöpfer, dass ihm sein Produkt derart missraten ist, dass es schon vor Ablauf der Garantiefrist Schäden und Verbrauchsspuren zeigt? Und warum zeigt die zweihundert Jahre alte Riesenschildkröte im Zoo nicht ebensolche Defekte? Da spreche mir einer von Gerechtigkeit und den Wundern der Natur.
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Sind nicht alle Mythen und Legenden Gleichnisse, gerichtet an Empfänger, die vielleicht auf andere Weise unerreichbar sind? Ich habe jedenfalls die alten Erzählungen so gelesen, wie zum Beispiel die von Ikarus, dessen bewundernswertes Ingenium zu seinem Untergang führte. Enthielt der Stoff nicht die Warnung vor dem Gebrauch technischer Innovationen, deren Kehrseite stets dem zuerst gefeierten Aufschwung widersprach? War die Ikarus-Geschichte nicht eine Vorwegnahme des wissenschaftlichen Höhenfluges der Väter der Kernenergie, der in Hiroshima und Tschernobyl endete? Es ist, jedenfalls mir, unmöglich, die überlieferten Mythen naiv zu lesen. Ich spüre hinter dem Berichteten das drohende Dunkel, das unerwartet hervorbricht und den stolzen Anfang konterkariert. Doch ist wohl das erst dem zwanzigsten Jahrhundert zuzuschreiben, das - und wir mit ihm - gründlich seine Unschuld auf immer verloren hat.
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Die Ortschaften verlieren Stätten der Einkehr, innerer wie äußerlicher: Ich meine die kleinen Läden. Überwältigt von Kaufhallen, darin sich die Menschen grußlos verlieren, schwanden Treffpunkte der Geruhsamkeit und des Gesprächs. Das Tempo zur Endstation des seiner selbst bewussten Lebens hat zugenommen. Wir haben Eile anstelle von Muße, doch die Geschwindigkeit des Daseins erbringt den gleichen Effekt wie die Autofahrt mit 180 Stundenkilometern: Alles Sehenswerte und Erlebenswerte, alles Bewusstseinsprägende und Anrührende fliegt vorbei, ohne intensiv wahrgenommen zu werden. Die Reise hat sich beschleunigt, ohne dass das Ziel die Erlösung von der Hetzjagd brächte. Wir sind in jeder Hinsicht unaufhaltsam geworden, ein Schicksal, halb selbst gewählt, halb aufgezwungen.
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Berlin, Alexanderplatz, ein vom Krieg lädiertes Bürohaus. Zeit: vor der Mauer. Im zweiten Stock besagten Gebäudes befand sich eine Sammelstelle für die Möbel und sonstigen Trödel der ohne Erben Verstorbenen sowie das unbewegliche Eigentum jener, die gen Westen verschwunden waren. Das Nachlasslager. Auf einen Hinweis von Heiner Müller ging ich dorthin und betrat eine düstere, sich weit über eine Etage erstreckende Höhle, bewacht von einem verschlafenen Kustos, dem ich bei meinen weiteren Besuchen stets eine Flasche Wodka überreichte. Ich strich durch ein unheimliches Museum, die Dinge ließen noch die geisterhafte Anwesenheit ihrer vormaligen Besitzer spüren, und es ging mir mehr um die eigenartige Stimmung als um den Kauf von zerfledderten, belanglosen Büchern.
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Doch eines Tages rief mich der Zerberus an: Ein alter Genosse sei gestorben, vielleicht würden mich seine Bücher interessieren - und so erschien der Wächter des ärmlichen Hades bei mir zu Hause, beladen mit Säcken voller Bücher, die mich beim ersten flüchtigen Blick in Aufregung versetzten. Stück zwei Mark (Ost) war der Preis. Ich zahlte und gab mich hemmungslos dem Schatz hin, den mir der Zufall zugespielt hatte. Ich, der sowieso mit Tentakeln an die Zwanziger Jahre gebunden war, fand in den Bänden linker Verlage, Malik etwa, oder dem Internationalen Arbeiter-Verlag (Moskau) die verlorene Zeit wieder.
Da kam Ernst Ottwalt ans Licht, F. C. Weiskopf, Friedrich Wolf, Isaak Babel, Larissa Reissner, Upton Sinclair, Theodor Plievier, alle, die einst hoffnungsvoll für eine neue Welt geschrieben hatten und dafür ermordet oder verjagt wurden, breiteten ihre Werke vor mir aus, gut erhalten, manche noch mit dem papierenen Schutzumschlag wie ungelesen. Aladin kann nicht verwunderter und emphatischer gewesen sein als ich, der blätterte und blätterte, Zeilen las, Abschnitte, gefangen von einer untergegangenen Epoche, die mir ihre Zeugnisse, ihre Spuren übereignete. Der »alte Genosse«, dem ich zu danken hatte, dass er das Wunder vollbrachte, die Bücher über die Nazizeit zu retten, ahnte vermutlich kaum, ein Schriftsteller würde einmal das von ihm gehütete Erbe antreten: Es war wie durch ein Wunder in die richtigen Hände gekommen.
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In Spanien in einem Dom, der das dreifache Format des Kölner Doms hatte. In dem gewaltigen Innenraum der Blick nach oben erreichte kaum das Innere der Kuppel. Menschenmassen in Bewegung, Besucher, Touristen,
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wogende Menge. Ich mit einer Begleiterin und unser beider Auftraggeber am Fuß einer riesenhaften Säule. Der Mann öffnete eine Reisetasche und reichte mir eine Pistole, die ich in die Hand nahm. Mein Befund: zu klein. Ich gab sie zurück, und er reichte mir eine Walther PPK 88, ein ziemlich schweres Stück. Er verschwand, nachdem er uns unseren Auftrag mitgeteilt hatte: einen verschwundenen Mann zu suchen. Wir beide zogen los, uns durch die Menschenmassen windend, ich mit der Pistole in der Hand, was mir dann doch zu auffällig erschien. Ich steckte sie in die Hosentasche und kaschierte den Kolben mit einem Taschentuch. Der Innenraum des Doms schien endlos. Einst war ich (in der Realität) im Petersdom gewesen, aber dieser Traumdom war weitaus größer. Schließlich fanden wir uns am Ausgang wieder, wo eine kleine, dicke Greisin mit ihrem Stock auf mich zu gehumpelt kam und fragte, wo sich denn die Mosaiken befänden. Ich verwies sie auf eine Reiseführerin mit der Bemerkung, diese spreche auch Deutsch. Bevor wir das monströse Gebäude verlassen konnten, geriet ich in die Wirklichkeit meines Bettes zurück, und ich erinnerte mich an manche Träume von Räumlichkeiten unterschiedlichen Formats, Landschaften bis zum fernen Horizont, Blicke wie über die halbe Erdkugel, dann wieder Treppenaufgänge in alten, verfallenden Berliner Häusern, Menschenleere, Stille, wie überhaupt die meisten Träume sich geräuschlos vollziehen, bestenfalls von Stimmen unterbrochen, die mir etwas mitteilen wollen oder mich bedrohen. Alle diese nächtlichen Ausflüge enden, sobald »Gefahr im Verzuge« ist.
Unvermittelt gerate ich ins sichere wache Dasein, in dem es weniger bedrohlich zugeht als in manchen Halluzinationen der
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ungesteuerten Psyche.
Eine der laut Brecht völlig ungeklärten Fragen wäre, inwieweit das unkontrollierte und wechselnde Raumempfinden im Traum Einfluss auf religiöse Vorstellungen haben könnte oder haben kann. Neuere Traumforschung entzieht den nächtlichen Hirnerlebnissen die Begründung, gänzlich fantasmagorisch zu sein, und rückt sie näher an die Wachheitserfahrungen - was mir weniger wissenschaftlich erklärbar als vielmehr dem wuchernden Realitätssinn geschuldet zu sein scheint. Unsere fortwährend eingeschränkte Fantasie nimmt dem Traum etwas weg, was einem geistigen Mo-vens gleichzukommen vermag, dadurch, dass das imagi-nierte Geschehen ans echte herangerückt wird.
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Auf sonderbare Weise anheimelnd: die alten Berliner Häuser, ehe sie renoviert wurden und aufgeputzt. Ihr unehrwürdiges Alter war es gewesen, das mich anzog und bannte. Sie kehren in ihrem vormaligen Zustand in meinen Träumen wieder: die Keibelstraße mit den Bauten aus dem 19. Jahrhundert, und zwar solche, die nicht für eine wohlhabende Bürgerschicht gedacht waren. Keibelstraße war das »Scheunenviertel«, bewohnt von armen Juden, erst polnischen, später berlinischen, die aus anderen Stadtvierteln hierher vertrieben und hierher umgesiedelt worden waren, bevor man sie gänzlich Iaus dem Weg schaffte. Hier gab es Ein-Zimmer-Wohnungen, in der einen hauste Tante Auguste, in einer anderen Tante Marie, beide Schwestern meines Großvaters, nur undeutlich in meinem Gedächtnis vorhandene alte Damen, von deren Verschwinden ich als Kind nichts erfuhr.
Hier wohnte die Familie Falckenstein, das Ehepaar
Fuß und ein Stockwerk höher unter dem Dach in einer fast möbellosen Wohnung eine Frau mit zwei Kindern, einer Tochter meines Alters und einem kleinen Jungen, der auf dem nackten Fußboden herumkroch.
Einmal war ich bei ihnen zu Gast, aus der Falckensteinwohnung heraufgeschickt, vielleicht weil ich bei Beratungen störte. Doch ich verstand ohnehin kaum etwas von dem, was die Erwachsenen sich erzählten; oftmals sprachen sie in Andeutungen oder mit täuschenden Bezeichnungen. Diese Häuser sind nur dreistöckig gewesen, abgewohnt, verschlissen. Die Stufen auf- oder abwärts ausgetreten. Auf jedem Stockwerk die Außentoilette, die zu benutzen man einen unmäßig großen Schlüssel bekam, an dem an einer Schnur ein ausgehöhlter Knochen baumelte. Zu handlichen Quadraten geschnittene Zeitungen hingen an einem Haken in dem Kämmerchen, darin man auf einer planen Fläche mit dem notwendigen Loch Platz nahm. Im Treppenhaus war es totenstill, als gäbe es keine Mieter. An den Wohnungstüren klebte jeweils ein papierner Davidstern, damit sich wohl später die Abtransportierer nicht irrten. Solche Häuser besuche ich manchmal nachts in Abwesenheit meines Bewusstseins, aber niemals treffe ich dabei auf Menschen, wie denn auch, da sie ja abgeholt wurden. Nur die ausgetretenen Stufen sehe ich, das von vielen Händen abgegriffene Geländer, die schweigenden Wohnungstüren, und eben die ungeheuerliche Stille, die mich umgibt, bis ich dort erwache, wo es außer meinem kein anderes Erinnern gibt.
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Jene Erinnerungen an Vorgänge, derer man sich schämt, sind von besonderer Intensität. Das klägliche Versagen
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von einst ist nicht zu löschen und meldet sich im ungeeigneten Moment erneut an. Peinlichkeiten haften lebenslänglich. Und zu bereuende Handlungen lassen sich durch die immer verspätete Reue nicht löschen. Vermutlich existiert kein Mensch, der nicht an derart schmerzlichen Wiederkünften von vergangenem Geschehen laboriert, ohne sich derer entledigen zu können. Man würde jetzt gerne ein falsches Wort zurücknehmen, es ungesagt sein lassen, eine Absage rückgängig machen, eine Lüge korrigieren, die Missachtung eines einem doch Nahestehenden widerlegen, doch es hilft einem keine gute Fee, kein Zauberer, die eigene Biographie von mehr oder minder großen Flecken zu reinigen und alle Verfehlungen aus dem mittelmäßigen Buch unseres Lebens zu streichen.
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Ich war nicht im Kriege, zumindest nicht als Soldat, nur als Schlachtenbummler bei den Zerstörungen des Luftkrieges, beim Beschuss Berlins durch die Rote Armee, ein zufällig Überlebender, dem alle brachialen Geschehnisse eine Lehre für den Rest seiner Existenz waren. Soweit die Präambel zu einer Überlegung nach der Lektüre von Erwin Strittmatters Tagebüchern. Ich finde bei ihm kaum einen Rückbezug zum Kriege, was mich verwundert. Er war älter als ich, eingezogen oder freiwillig, das ist unbekannt, in einem Polizeibataillon, Gebirgsjäger in Kärnten, was sich, da heute Urlaubsgebiet, friedlich anhört. Doch zu seiner Zeit war Kärnten ein Partisanengebiet, ein Schlachtfeld der slowenischen Widerstandsgruppen, von denen Strittmatter zumindest gewusst haben musste. Dass da kein Rückbezug zu dem eigenen Gestern sich meldete, scheint mir verwunderlich. Alles verdrängt?
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Oder verschwiegen? Heute danach zu fragen ist müßig, aber es beschäftigt mich doch, weil, was man als jüngerer Mensch erlebte, das Leben zu prägen vermag. Es ist in beiden deutschen Ländern zu lange geschwiegen worden, zumindest von denen, die an Orten des Schreckens gewesen waren.
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Sind nicht die animalischen Momente im Leben die besten? Im Sommer an einem einsamen Strand in der Sonne zu liegen, nichts anderes zu hören als eine gemächliche Brandung oder den Schrei einer Möwe, die salzige Luft einzuatmen, fern aller Bedrängnis - entsteht dabei nicht ein tierisches Wohlbehagen, wie es allen uns verwandten Geschöpfen eigen ist? Ist das die Vorahnung von Glück?
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Man besitzt Erinnerungen, oftmals nichtige, deren Konsistenz absolut klebrig ist. Momente von außerordentlicher Dürftigkeit, die einem immer wieder einfallen, ohne einen übergeordneten Sinn zu stiften. Ich sitze mit Rudi St. in einem Cafe, er trägt Volksarmeeuniform, höherer Dienstgrad, wir trinken irgendetwas und reden, worüber weiß ich nicht mehr. Die Szene kehrt ungerufen wieder, durch nichts Besonderes aufgerufen, und doch ist sie da, ohne Sinn und Zweck oder sonst eine Notwendigkeit. Ein Tableau: zwei Männer, der eine militärisch herausgeputzt, der andere zivil gekleidet, als Gegenüber verpaart, im Hintergrund schattenhaft Gäste, sonst nichts. Nicht loszuwerden dieses völlig überflüssige Bild im Kopf, der doch eigentlich für Besseres bestimmt ist.
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Werden wir von der Zivilisation so zugerichtet, dass unser kindliches Sensorium, unsere Empfindsamkeit und Ahnungsbereitschaft für Verborgenes, uns Verheimlichtes abstumpft und verschwindet ? Immer wieder kehre ich zu Benjamins »Kindheit um neunzehnhundert« zurück, weil der erwachsene Autor sich etwas bewahrt hat, das die allermeisten verloren. Erinnert sei an den Text über das Telefon in der Diele der elterlichen Wohnung, ein Inszenator der Fantasie, ein Gerät, weit über Technisches hinaus, ein Etwas, dem Metaphysisches zu eigen ist, das sich genauer Definition entzieht und das ein ferner Verwandter von Kafkas zieharmonikaähnlicher Spukgestalt ist. Kinder haben eine »Antenne« für Numinoses, das sie meist für sich behalten, denn die Erwachsenen nehmen sie nicht ernst und würden, selber längst formiert, über das hinweggehen, was für ihren Nachwuchs von lebenslanger Bedeutung sein kann. Bei manchen Schriftstellern regt sich das einst als sonderbar Erfahrene und meldet sich zwischen den Zeilen, wie wenn es endlich, endlich für alle sichtbar werden wolle.
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Eine Gedichtzeile und zwar die letzte. Unmöglich zu schlafen. Unstimmig, was da geschrieben steht. Sind mir die Worte leichtfertig aufs Papier entglitten ? Nichts passt zu dem virulenten Gedanken. Die Unruhe hält an. Die Zeile sagt nicht das, was es zu sagen gilt. Was stimmt daran nicht? Nachts zwischen zwei und drei Uhr wird ein Wort ausgewechselt und erinnert mich wieder an den alten Witz, da ein Dichter gefragt wird, was er gestern getan habe, worauf er erwidert: Er habe ein Komma gesetzt. Und heute? Heute habe er es wieder ausradiert.
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Die Arbeit an einem Gedicht ist nur Lyrikern verständlich, für die Autoren fünfhundertseitiger Schwarten unbegreiflich. Der »Wortwechsel« aber hat nicht genügt. Noch immer sträubt sich der Irrtum besagter Zeile, einer besseren, einer passenden, der richtigen überhaupt, Platz zu machen. Ausprobieren von Sätzen und Wendungen. Goldwäscherarbeit. Immer wieder die Pfanne schwenken auf der Suche nach der gesuchten Substanz im Sand der Sprache. Das mag dauern, manchmal Tage, manchmal Wochen, manchmal ohne Ergebnis enden. Verstehst du, warum ich das tue? Nein? Ich auch nicht.
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Die Bombenschützen sahen unter sich in der Tiefe nur das Aufblitzen nach dem Abwurf, dann Rauchwolken, nichts sonst, ohne innere Beteiligung wahrscheinlich. Sie hatten die andere Optik, die durch Fantasie und Vorstellungsvermögen nicht verändert werden kann. Was wir aus der Ferne sehen, findet kaum unsere innere Beteiligung. Schon der Abstand von hundert Metern reicht aus, einen tödlich Getroffenen weniger grausig erscheinen zu lassen. Im Flugzeug oder hinter dem Geschütz weiß man, dass man Menschen umbringt, doch das ist ein abstraktes Wissen, das den Verursacher nicht erschreckt. Der Tod findet fern von ihm statt. Erst die Nähe würde eine seelische Erschütterung verursachen. Waren aber die Piloten der Bomber noch auf eine mittelbare Art am Massenmord beteiligt, so tritt mit der Technik der Fernraketen und der Drohnen eine weitere Distanz zwischen Täter und Opfer, die es dem Täter noch mehr erleichtert, seine »Pflicht« zu tun. Die Satelliten funken die Bodenansichten in die Zentrale, die Drohne zeigt unter sich bebautes Gelände,
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der Knopfdruck findet ohne Reflexion des Auslösenden statt, der sich vielleicht an die Computerspiele seiner Jugend erinnert. Etwas Ähnliches ereignete sich ja auch bei den Massenmorden durch die Nazis, die feststellten, dass die direkten Erschießungen von Menschen den Schützen Schwierigkeiten bereiteten, die oftmals mit Alkohol überwunden werden mussten. Aus dieser Überlegung heraus entstanden die Gaskammern. Man sah, wenn man es nicht wollte, die Menschen nicht sterben. Man trieb die Lebenden in die entsprechenden Räume, aus denen sie jedoch andere Gefangene herausholen und verbrennen mussten. Der Abstand der Mörder zu ihren Opfern war auch in den Vernichtungslagern von Psychologen einkalkuliert. Die Rückkehr vieler traumatisierter Soldaten beruhte auf dem Umstand, dass in Afghanistan die Distanz zwischen den in Feindschaft Beteiligten geschrumpft war: Die deutschen und amerikanischen Soldaten waren nun mit dem Sterben ihrer Kameraden konfrontiert, was sich als psychisch unbekömmlich zeigte. Wo die auf nah eingestellte Optik den Blick fokussiert, fällt das Töten schwerer - falls man nicht durch seinen Glauben oder seine Ideologie gänzlich abgestumpft ist.
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Neulich erschien in meinem Traum eine sehr schlanke Frau, die ich umarmte, obwohl mich in der Realität schlanke Frauen überhaupt nicht anziehen. Wieso im Traum? Das war keine »Traumfrau«, mit der ich es ziemlich intim zu tun hatte. Verlangte das Unterbewusst-sein nach einem Kontrast, ähnlich dem unerwarteten Verlangen nach einer anderen, ungewohnten Speise im Restaurant?
Die Unkenntnis der eigenen Psyche ist ein Schutz vor schlimmen Einsichten.
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Doch wenn solch Schutzmechanismus für alle Menschen gilt, muss man ihn auch für Psychiater annehmen, die fremde Seelen aufblättern sollen, vor der eigenen jedoch kapitulieren. Diese modernen Beichtväter wissen vielleicht weniger von ihren Zeitgenossen als einstmals die kirchlich beamteten von ihren Sündern. Die gebeichtete Sünde war wohl dem Pater näher als dem Psychiater das Geständnis seines Patienten über sexuelle Eigenheiten. Gab es nicht früher eine, obwohl oftmals fatale Ganzheit des Individuums, die in unserer alles atomisierenden Gesellschaft abhandengekommen ist? Das Spezialistentum in der Seelenkunde reduziert seine »Kunden« gleichermaßen auf ein Sammelsurium von Komplexen, wobei der Zustand des Hilfesuchenden, auch er eine divergente Mischung aus vielerlei Einflüssen, dem Schubladendenken des Untersuchenden entgegenkommt. Manchmal hat man bei der Lektüre von Psychoanalyseberichten das Empfinden, hier agiere der Blinde gegen den Lahmen.
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Seitdem der echte Terror über uns gekommen ist, spricht kein Mensch mehr vom »Konsumterror«.
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Letzte Nacht in New York gewesen. In einem Lokal am Tisch mit Siegfried Unseld und einem berühmten Schriftsteller, eventuell Max Frisch. Später ein paar andere Leute dabei. Ich redete und redete viel zu anhaltend und zu viel. Überlegte dabei, ob ich nicht, angesichts der uns umgebenden Metropole, meinen amerikanischen Führerschein (Driver's license) zeigen sollte, unterließ es jedoch aus Bedenken, für prahlerisch gehalten zu werden. Bald darauf erhoben sich meine Zuhörer, ich hielt einen Schlüssel mit (recht europäischer) Holzbommel mit der Nummer 39 in der Hand, woraus ich entnahm, ich logiere im 39. Stockwerk. Verließ den Speisesaal und erblickte draußen im Gang Unseld, den Berühmten, und andere auf einer Bank sitzend, was mir vorkam, als wären sie vor mir geflohen. Ich ging beiläufig grüßend an ihnen vorbei, bestieg den Fahrstuhl, der zur U-Bahn mutierte, und fuhr davon. Mir wurde klar, dass ich mich mit dem 39. Stockwerk geirrt hatte und eigentlich Zimmer 39 gemeint gewesen sei. Die Bahn fuhr und fuhr. Plötzlich war ein kleines Mädchen in der Größe eines Eichhörnchens zu meinen Füßen. Wir sprachen miteinander, bis sie unter einen Holzvorsprung schlüpfte. Draußen vor dem Fenster verlassene Fabrikgebäude, unbeleuchtet und leicht verfallen. Weit hinten am Horizont die Skyline von Manhattan. Ich nahm mir vor, auf dem nächsten, nun oberirdischen, Bahnhof umzusteigen und zurückzufahren, wusste aber nicht, in welchem Hotel eigentlich mein Zimmer 39 sich befinden mochte. Einstmals tatsächlich in New York war ich nur ein einziges Mal mit der U-Bahn gefahren, und geblieben ist die Erinnerung an einen roh betonierten Bahnhof, dessen technische Eingeweide offenlagen, als wäre die gewaltige Höhle, in die scheinbar aus allen Richtungen Züge einfuhren, unfertig dem Verkehr übergeben worden. Wie so vieles in den USA den Eindruck des Unfertigen machte, als plante man schon den Abriss, um etwas Neues zu bauen.
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