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1. Modernisierung und Massenarmut 

 

 

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Der letzte klägliche Rest eines dumpfen Geschichtsbewußtseins, den die Marktwirtschaft übriggelassen hat, ist ihre eigene Legende: daß sie nämlich grund­sätzlich "wohlfahrtssteigernd" sei. 

Demnach hätte die Menschheit vor der marktwirtschaftlichen Modernisierung im Elend verschmachten müssen. In Wirklichkeit verhält es sich für die große Mehrheit der Weltbevölkerung genau umgekehrt. 

Zwar hat der Kapitalismus zweifellos die Produktivkräfte verwissenschaftlicht und ihre Entwicklung ungeheuer beschleunigt. Die Steigerung der Wohlfahrt war damit jedoch merkwürdigerweise immer nur zeitweilig verbunden, begrenzt auf bestimmte soziale Segmente und Weltregionen. Denn der Kapitalismus ist ein brutales Gewinner-Verlierer-Spiel, dessen totalitärer Charakter die pure soziale und selbst die physische Existenz als Einsatz nicht ausspart; und er hat von Anfang an mehr Verlierer als Gewinner hervorgebracht.

Die Gesamtbilanz ist nicht nur negativ, sondern verheerend. Der Wirtschaftshistoriker Immanuel Wallerstein und sein Team am Fernand Braudel Center for the Study of Economics der State University in New York haben aus ihren Untersuchungen Ende der 70er Jahre den Schluß gezogen: "Langfristig sinkt der Wohlstand des Weltsystems und der Gesamtheit der Arbeits­kräfte der Erde – entgegen einer sehr verbreiteten Annahme steigt er nicht" (Hopkins/Wallerstein 1979, 184 f.). Das mag dem vielseitig konsumierenden westmittel­europäischen "Fußgängerzonen-Menschen" (Diedrich Diederichsen) heute immer noch überraschend und unglaubwürdig vorkommen, obwohl er sich selber schon längst wieder auf dem absteigenden Ast des Lebens­standards befindet. 

Aber "Gesamtbilanz" heißt eben, daß erstens nicht nur die jüngste Vergangenheit der Nachkriegs­geschichte mit ihren zeitweilig hohen Konsum-Gratifikationen, sondern die Modernisierungs­geschichte insgesamt mit dem Leben all ihrer Generationen berück­sichtigt werden muß. 

Zweitens können selbstverständlich nicht nur die Menschen des hoch- und postindustriellen Nordens in die Rechnung eingehen, sondern die gesamte Weltbevölkerung von gegenwärtig nahezu 6 Milliarden Menschen mit ihren wirklichen Lebens­verhältnissen muß in der Bilanzierung vorkommen. 

Drittens ist es ganz unzulässig, das Pro-Kopf-Ein­kommen in Dollar als Indikator zu nehmen, wie dies gewöhnlich die nationalen und internationalen Institutionen sowohl bei historischen Reihen als auch bei aktuellen Untersuchungen nicht ohne üble Absicht tun. Denn dieser abstrakte Durchschnittswert läßt völlig unberücksichtigt, daß der Marktwirtschaft grundsätzlich die Tendenz innewohnt, die Gesellschaft zu polarisieren.


Diese Tendenz ist nur in wenigen Gewinnerländern zeitweilig gemildert worden, und sie bricht heute selbst in diesen wieder ungehemmt durch. Aus obszönem Geldreichtum einerseits und massenhafter Verarmung oder sogar Verelendung andererseits den statistischen Durchschnitt als Maß der gesellschaftlichen Wohlfahrt zu ziehen, heißt der sozialen Wahrheit ins Gesicht schlagen. Wenn z.B. die Armutsgrenze bei einem Monatseinkommen von 100 Dollar liegt und 99 von 100 Menschen unter dieser Grenze mit 90 Dollar im Monat bzw. 1080 Dollar im Jahr vegetieren müssen, während der eine hunderste 5 Millionen Dollar im Jahr einnimmt, dann läge das "durchschnittliche Prokopf-Einkommen" bei sage und schreibe mehr als 51.000 Dollar pro Jahr und man müßte jene hundert "im Durchschnitt" zu den Glücklichen dieser Erde zählen. Sowohl die historische als auch die aktuelle Realität der wunderbaren Marktwirtschaft ist gar nicht so weit weg von diesem fiktiven Beispiel, wenn auch die gesamte Verteilung und besonders der "Mittelstandsbauch" der Statistik je nach Land und Epoche sehr unterschiedlich ausfallen.

Viertens werden, und das ist mittlerweile allgemein bekannt, die Kosten der vom globalen Marktsystem verursachten ökologischen Zerstörung entweder gar nicht berücksichtigt oder sie gehen sogar als positive Größen in das Bruttosozialprodukt ein; etwa wenn die Kosten von Verkehrsunfällen und ihren Folgen, von Boden- und Wasserverseuchung, Luftverschmutzung usw. (ebenso wie übrigens die kapitalistische Armutsverwaltung) als "Einkommen" erscheint. Ein nicht unerheblicher Teil der kapitalistischen Menschheit verdient seinen Lebensunterhalt mit den Schäden, die das System anrichtet. Ganz zu schweigen davon, daß die Gefräßigkeit der Marktwirtschaft im Verlauf ihrer Geschichte jeden freien, unentgeltlichen Zugang der Menschen zu den Naturreichtümern abgeschnitten und durch die "Privatisierung der Welt" die gesamte menschliche Naturbeziehung den Zwängen des Kaufens und Verkaufens untergeordnet hat.

 

Marktwirtschaft macht arm 

Daß der Kapitalismus einige wenige reich, die Masse aber bettelarm macht, das ist eine historische Grunderfahrung. Der großen Mehrzahl der Menschheit ist es sowohl in der kapitalistischen Frühgeschichte seit dem 16. Jahrhundert als auch in dem Viertel­jahrtausend von 1750 bis heute in nahezu jeder Hinsicht schlechter gegangen als im 14. und 15. Jahrhundert.

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Alle, die heute von der "Alternativlosigkeit" der Marktwirtschaft sprechen (und das ist nach dem Untergang des Staatssozialismus auch ein Großteil der Linken), gehören zur winzigen und immer weiter schrumpfenden historischen Minderheit der (relativen) Gewinner und zu den zynischen Rechtfertigungs­ideologen einer ebenso absurden wie antihumanen Gesellschaftsform.

Und dieser Zynismus wird inzwischen gar nicht mehr groß bemäntelt. Die Damen und Herren Realisten "stehen dazu". Sie sind sozial und historisch zu Autisten geworden, die keine andere Realität mehr an sich heranlassen als ihre eigene. Über die Armut reden sie nur unter den axiomatischen Bedingungen der Marktwirtschaft, also bestenfalls im Sinne einer technokratischen Regulation. Aber die Geschichte kehrt zurück. Deswegen ist es nicht unnütz, die Rechnung aufzumachen, die von diesem System und seinen Apologeten noch bezahlt werden muß.

Am Anfang war das massenhafte Elend; aber das bereits frühkapitalistisch erzeugte. In der frühmodernen Epoche vor der Industrialisierung hatte sich ganz Europa in eine Dante'sche Hölle der Verelendung verwandelt, die in ihrer Dichte und Ausdehnung historisch beispiellos war und nur mit den Zuständen im heutigen Afrika (ebenfalls einem Schreckensprodukt des Kapitalismus) vergleichbar ist. So unsicher und lückenhaft die damaligen statistischen Angaben auch sein mögen, die historische Sozialwissenschaft kann heute trotzdem einigermaßen fundierte Aussagen über die gähnend auseinander­klaffende Sozial­struktur des vorindustriellen Kapitalismus im 16., 17. und 18. Jahrhundert machen:

"In Spanien bildeten im 16. Jahrhundert die oberen Einkommensschichten (einschließlich des Adels, der Bischöfe und der Angehörigen der freien Berufe, die zwischen 5 und 7 Prozent der Bevölkerung ausmachten, und der selbständigen Handwerker, die weitere 10 bis 12 Prozent ausmachten) etwa ein Fünftel der Bevölkerung, während die übrigen 80 Prozent Arme waren. Zu Ende des 17. Jahrhunderts gab Gregory King eine stärker ins einzelne gehende Darstellung der Vermögensverteilung in England [...] Auch hier bildeten die Reichen einen kleinen Teil der Gesellschaft und die Armen rund 50 Prozent, wovon die Hälfte in erschreckender chronischer Armut vegetierte. Zur selben Zeit lebten [...] fünf Neuntel der französischen Bevölkerung in Armut. Im frühen 18. Jahrhundert fanden sich in Deutschland, Schätzungen zufolge, in den geistlichen Besitztümern unter jeweils 1.000 Einwohnern 50 Geistliche und 260 Bettler, während Köln in einer Bevölkerung von 50.000 damals angeblich 20.000 Bettler zählte" (Minchinton 1983, 60).

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Der absolute und relative Verfall der materiellen Wohlfahrt durch marktwirtschaftliche Modernisierung, ganz zu schweigen vom Verfall der immateriellen Wohlfahrt durch die Zersetzung selbstbestimmter sozialer Zusammenhänge, über große historische Zeiträume hinweg taucht in sozial- und wirtschafts­geschichtlichen Studien immer wieder auf, wird aber selten systematisch und in seiner ganzen Schärfe dargestellt.

Ziemlich unbestritten ist immerhin, daß die fremdbestimmte Arbeitszeit der Massen während der Modernisierungsgeschichte im Vergleich zu allen vorkapitalistischen Gesellschaften exorbitant* erhöht wurde.

Nach Immanuel Wallerstein haben verschiedene Sozialhistoriker anhand mittelalterlicher Urkunden heraus­gefunden, daß im damaligen England ein Arbeitstag "von Sonnenaufgang bis Mittag" ging und daß ein wichtiger Aspekt der sogenannten marktwirtschaftlichen Entwicklung schon früh in der "allmählichen Ausdehnung der Arbeitsstunden in der Landwirtschaft" zu sehen ist (Wallerstein 1986/1974, 75 f.). 

Aus einem Erlaß von König Wenzel II. im Jahr 1300 geht hervor, daß die Schichtdauer im böhmischen Bergbau täglich 6 Stunden betrug, wie eine Dokumentensammlung zu Arbeitszeitfragen zeigt (Otto 1989, 33). Ebenso kommt der Sozialhistoriker Wilhelm Abel zu dem Schluß, daß beim Vergleich des Lebensniveaus von Bauhandwerkern "für das Spätmittelalter [...] zwei Feiertage in der Woche angenommen" werden können, während Arbeiter derselben Kategorie im Jahr 1800 nicht nur einen Tag mehr arbeiten, sondern wegen niedrigerer Löhne sogar in der Regel ihr Einkommen "durch Gelegenheitsarbeiten an Sonn- und Feiertagen aufbessern" mußten (Abel 1981, 63). 

Heute noch arbeiten die Lohnabhängigen trotz aller mühselig errungenen Arbeitszeitverkürzungen (die gegenwärtig schon wieder zurückgenommen werden) selbst in den kapitalistischen Kernländern länger und intensiver als die meisten Leibeigenen des Mittelalters.

Dieselbe negative Entwicklung gilt für die materielle Reproduktion, heute in kapitalistischer Terminologie als "Reallöhne" bezeichnet. In der Sozialgeschichtsschreibung werden diese wegen der Kontinuität des Maßstabs meistens in Getreidemaßen ausgedrückt. Wilhelm Abel kommt zu einem erschütternden Ergebnis bei seinem Vergleich zwischen dem 14. und dem beginnenden 19. Jahrhundert:

* (u2007:)  exorbitant: außerordentlich, übertrieben 

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"Für das ausgehende Mittelalter wurde ein Würzburger Zimmerer herangezogen, für die Jahre um 1800 wird ein Berliner Maurer gewählt. Zimmerer und Maurer erhielten zumeist den gleichen Lohn [...] Der Würzburger Zimmerer sollte nach einer Polizeiverordnung vom Jahre 1387, die sicherlich nicht unterschritten, eher überschritten wurde, einen Tageslohn im Gegenwert von etwa 26 kg Roggen erhalten. Das bedeutet je Konsumtag bei zwei arbeitsfreien Tagen in der Woche 18,6 kg Roggenäquivalente. Der Berliner Maurer erhielt je Arbeitstag, der nunmehr mit dem Konsumtag gleichgesetzt werden soll, den Gegenwert von 6,7 kg Roggen" (Abel, a.a.O., 63).

Eine wirklich grandiose "Steigerung der Wohlfahrt" nach Jahrhunderten marktwirtschaftlicher Modernisierungsschübe. Man muß wahrhaftig ziemlich undankbar sein, um die Qualität dieses "Fortschritts", der den Reallohn beinahe auf ein Drittel abgesenkt hat, nicht zu würdigen. Für andere Länder kommen Wirtschafts- und Sozialhistoriker zu demselben Ergebnis. Nach Angaben des Agrarhistorikers Slicher van Bath hat Wallerstein dazu eine entlarvende Tabelle bezüglich des Reallohns eines englischen Zimmer­manns pro Tag (in Kilogramm Weizen) vom 13. bis zum 19. Jahrhundert zusammengestellt:

(u2007:) Eine kleine Tabelle. (Quelle Wallerstein 1986/1974)

 

Es ist ein Hohn: Im glorreichen 19. Jahrhundert der Industrialisierung erreichte der Lebensstandard gerade einmal wieder das Niveau des hohen Mittelalters, ohne auch nur im entferntesten an den spätmittel­alter­lichen Standard des 15. Jahrhunderts heranzukommen. Die gesamte Geschichte des Frühkapitalismus ist durch einen steilen Absturz des Lebensniveaus gekenn­zeichnet. Dabei haben wir es hier mit einem gerade zur ersten Weltmacht aufgestiegenen Land und mit einem besser­gestellten Handwerker zu tun. Um wieviel tiefer muß der soziale Absturz infolge der Modernisierung für einfache Tagelöhner und für periphere Länder gewesen sein. Selbst heute noch liegt das Lebensniveau in vielen Ländern der Dritten Welt weit unter dem ihrer vorkolonialen und vorkapitalistischen Geschichte.

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Natürlich ist Armut immer relativ. Auch gibt es Unterschiede in der Struktur des Lebensstandards, die jedoch kaum als Entlastungsgründe für die Marktwirtschaft dienen können. Ich habe mit eigenen Augen brasilianische Favelas gesehen, wo die Menschen in besseren Hundehütten leben und die Kinder chronisch unterernährt sind, deren Antennenwald aber die Existenz zahlloser Fernsehgeräte anzeigt. 

Waren vormoderne Freisassen, die alle Grundbedürfnisse reichlich befriedigen konnten und deren soziale Verhältnisse vergleichs­weise stabil waren, etwa deswegen "ärmer", weil sie ihr Hirn nicht mit über die Mattscheibe flimmernden Seifenopern betäuben konnten? Ähnliches, wenn auch auf einem anderen Niveau, gilt für die von Staat und Markt und allen guten Geistern sozialer Geborgenheit verlassene alleinerziehende Mutter im zeitgenössischen Mitteleuropa, die zwar Telefon, Armbanduhr und Stereoanlage besitzt, sich aber die Schulsachen für ihre Kinder vom Mund absparen muß und auf dem Sozialamt von genervten Beamten weitaus schlimmer und entwürdigender als ein mittelalterlicher armer Bittsteller bei seinem Feudalherren, also wie der letzte Dreck behandelt wird.

Um Mißverständnisse zu vermeiden: Ich will keineswegs bestreiten, daß die kapitalistische Modernisierungs­geschichte die menschlichen Potenzen über alles frühere Maß hinaus gesteigert hat; nicht bloß die technischen Fähigkeiten, sondern in vieler Hinsicht auch das Abstraktions- und Reflexionsvermögen. Hier steht jedoch etwas anderes zur Debatte, nämlich die Frage des Lebensstandards, der Mußezeit und des Wohlbefindens der Mehrheit. Der Kapitalismus war niemals imstande, die von ihm hervorgebrachten Potenzen für eine Verbesserung des Lebens aller Menschen anzuwenden, die er unter sein Gesetz gezwungen hat. Dieses Defizit ist bis heute nicht kleiner, sondern im Gegenteil hinsichtlich der gesamten Weltbevölkerung immer größer geworden. Deshalb kann es sich dabei um keinen bloß zufälligen, äußerlichen Zusammenhang handeln, sondern es muß zum Wesen der Marktwirtschaft gehören, daß sie mit ihren eigenen Potenzen nichts besseres anzufangen weiß.

Es kann also gewiß nicht darum gehen, sich in irgendeine unwiederbringliche Vergangenheit zurückzuwünschen oder deren Mängel reaktionär zu verklären. Selbstverständlich gab es in der vormodernen Gesellschaft feudale und patriarchalische Unterdrückung, Seuchen, Kriege, Unwissenheit und blutsverwandtschaftliche Beschränktheiten. Aber das ist es ja gerade: selbst gegenüber diesen keineswegs üppigen und erbaulichen Zuständen hat die Marktwirtschaft im historischen Ganzen eine enorme Verschlechterung der sozialen Lebensverhältnisse gebracht. Jede auch nur halbwegs ehrliche historische Gesamtbilanz muß ihr eine grundsätzlich "wohlfahrtssteigernde" Wirkung rundweg absprechen.

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Die wenigen Episoden relativer Prosperität, an die sich heute die westliche Erfahrung klammert, haben stets nur gemildert und zu einem bescheidenen Teil wieder gut gemacht, was die Marktwirtschaft vorher selber an Elend und Katastrophen erzeugt hatte.

Der vorindustrielle Kapitalismus, dem die ökonomischen Prinzipien der modernen Marktwirtschaft ja auch schon inhärent waren, kannte allerdings weder Gnade noch zeitweilige Milderung, sondern nur permanente Senkung des Lebensstandards – über mehr als drei Jahrhunderte hinweg. Wenn wir etwa hören, daß einfache Handwerker mit einigermaßen gesichertem Lebensunterhalt bereits zu den "Reichen" gezählt wurden, können wir uns vielleicht annähernd vorstellen, was Armut in dieser Zeit bedeutet haben muß. Das gilt gerade für die Grundbedürfnisse und ganz besonders für das Niveau der Ernährung. Um zu begreifen, wie ungeheuerlich der Armutsschub war, muß man Essensgewohnheiten und Essensrationen vergleichen. Fernand Braudel hat in seiner großen Sozialgeschichte der Modernisierung dazu die nötigen Quellen zusammengetragen; auch dieser Vergleich blamiert alle Marktwirtschafts- und Modernisierungs­ideologen:

"In Deutschland befahl ein Erlaß der Herzöge von Sachsen 1482: <Denen Werkleuten sollen zu ihrem Mittags- und Abendmahl nur 4 Essen: an einem Fleischtag eine Suppe, zwei Fleisch und ein Gemüse; an einem Freitag und andere Tage, da man nicht Fleisch isset, ein Essen, grüne oder dürre Fische, zwei Zugemüse; so man fasten muß, fünf Essen, eine Suppe, zweierlei Fisch, zwei Zugemüse. Dazu morgens und abends noch Brod>, außerdem Kofent (Dünnbier) vorgesetzt werden. Eine Handwerker­mahlzeit, die man schon fast als bürgerlich bezeichnen kann.

Und wenn 1429 im elsässischen Oberhergheim der zur Fron herangezogene Bauer nicht mit den anderen auf dem Meierhof essen wollte, mußte ihm der Meier ›zwei Stück Rindfleisch, zwei Stück Braten, ein Maß Wein und Brot für zwei Pfennige schicken‹ [...] Je weiter wir uns jedoch vom ›Herbst‹ des Mittelalters entfernen, desto spürbarer verschlechtert sich die Lage - ein Trend, der bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, in bestimmten Gegenden Osteuropas, v.a. auf dem Balkan, sogar bis ins 20. Jahrhundert anhält. In Europa zeigen sich die Einschränkungen schon ab Mitte des 16. Jahrhunderts.

In Schwaben hat sich laut Heinrich Müller (1550) die Ernährung des Landvolks drastisch verschlechtert. Anstelle der reichlichen Mahlzeiten von einst, die täglich Fleisch umfaßten und an Festtagen wie Kirchweih zur Schlemmerei ausarteten, machen sich überall Teuerung und Mangel bemerkbar. Selbst die Kost der reichsten Bauern, so der Autor, ist fast schlechter als die der Tagelöhner und Knechte von anno dazumal. Zu Unrecht haben die Historiker die immer wiederkehrenden Zeugnisse dieser Art als krankhaftes Bedürfnis der Menschen zur Verherrlichung vergangener Zeiten abgetan." 

(Braudel 1990/1979,198 ff.).

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Die Verschlechterung und Verminderung des Essens, das die expandierende Marktwirtschaft den Menschen noch zugestand, ging ununterbrochen weiter und hat in vielen Weltregionen bis heute nicht aufgehört. Man muß nicht übermäßigen Fleisch- und Alkohol­konsum befürworten, um zu erkennen, daß für die meisten Menschen nicht einmal der elementare Anspruch auf gutes und reichliches Essen mehr als gesichert gelten konnte. 

Selbst in den europäischen Kernländern war noch die Literatur des 19. Jahrhunderts voll von Schilderungen eines kapitalistisch erzeugten Hungerelends auf dem flachen Land und in den Randzonen der wuchernden städtischen Agglomerationen. Friedrich List, der bekannte Nationalökonom und Protagonist einer deutschen Indus­trialisierung, beschrieb im Jahr 1844 mit schaudernder Ironie die einschlägigen Verhältnisse in vielen Gegenden Deutschlands:

"Ich habe Reviere gesehen, wo ein Hering, an einem an der Zimmerdecke befestigten Faden mitten über den Tisch hängend, unter den Kartoffelessern von Hand zu Hand herumging, um jeden zu befähigen, durch Reiben an dem gemeinschaftlichen Tafelgut seiner Kartoffel Würze und Geschmack zu verleihen. Man nannte das schon Wohlstand, denn in schweren Zeiten mußte man sich diesen Hochgenuß, ja sogar den des Salzes versagen" (List 1928/1844, 307).

Nicht zufällig war hinsichtlich des Lebensstandards seither dauernd vom Essen die Rede, denn jede Bedürfnis­befriedigung, auch die primitivste, verlor ihre Selbstverständlichkeit. Naturkatastrophen und Mißernten waren an dieser Verelendung höchstens sekundär beteiligt, denn vor der frühkapitalistischen Modernisierung hatte es selbst bei schlechteren Produktionsbedingungen zwar "arme Leute" und gelegentlich Krisen durch Naturkatastrophen (Mißernten), aber niemals eine derartig ausufernde und tiefgehende "strukturelle" Massenarmut auf der Ebene der Grundbedürfnisse gegeben. 

Wie war dieser krasse soziale Abstieg gegenüber allen bekannten Jahrhunderten der Antike und des Mittelalters trotz steigender wissenschaftlicher Kenntnisse möglich?

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