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1  "Im Zeichen der Wahrheit"

Vorspiel in Greiz  

 

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Er kommt. Ja, er hat zugesagt. Er steht zwar mitten im heißen Wahlkampf, hält auch morgen wieder eine Rede in Leipzig, muß übermorgen nach Jena, und heute ist schon der 9. März, und am 18. sind die Volks­kammer­wahlen, und kein Tag vergeht ohne Interview. Aber er kommt.

Ibrahim for president. Ibrahim Böhme ist der Medienstar. Er ist der Mann, der 1990 ein Stück der alten DDR in die neue Welt hinüberretten will. Doch heute möchte er abschalten. Heute abend möchte er in Greiz sein bei all den treuen Seelen, die dort auf ihn warten. Und so fährt er denn zum erstenmal nach dreizehn Jahren wieder in die kleine Stadt an der Weißen Elster, wo er so viele Jahre gelebt hat.

Die alten Freunde haben einen Abend arrangiert. Wie früher. Sie haben in den «UT-Lichtspielen» gleich hinter dem Rathaus zu einer Lesung geladen. Wie früher. Es liest der Schriftsteller Jürgen Fuchs. Damals, als der junge Autor noch in Jena studierte und schon protestierte und verboten war im ganzen Land, damals hat ihn Böhme doch nach Greiz geholt. Zu einer Lesung. Heimlich. Was für Zeiten waren das.

Heute hat Günter Ullmann eingeladen, der Lyriker, der in der Kulturbehörde von Greiz arbeitet. Er ist der sanfte Freund, der in jenen Jahren so sehr an seinem Böhme hing, der ihm so ganz vertraute und der sie alle kannte damals, Jürgen Fuchs, Wolf Biermann, Robert Havemann, diese wahren Sozialisten, vor denen die spießigen Funktionärsgesellen erzitterten.

wikipedia  Günter_Ullmann  (1946-2009)

Ullmann, der soviel wußte und soviel erzählte. Dafür hat ihn die Staatssicherheit fast zerbrochen, hat ihn in den Wahnsinn getrieben. Und seinen Freund Böhme, den hatten sie doch auch schon abgeholt und ins Gefängnis gesteckt. Heute nun sehen sie sich alle wieder. Zum erstenmal in Freiheit. Und Fuchs wird Texte lesen aus der vergitterten Zeit. Für ihn hat Ullmann ein Gedicht geschrieben:

dein wort
verboten
eingekerkert
ausgewiesen
kehrt heim

die masken sind
zerbrochen

Die Musiker der Greizer Jazz-Kapelle «media nox» sollen ihn begleiten. Auch damals spielten sie improvisierte Jazz-Etüden um die Texte herum, die Böhme und seine Freunde lasen. Harald Seidel ist dabei mit der Baßgitarre. Der flog damals aus der SED, als er sich öffentlich für den ausgebürgerten Biermann einsetzte. Was hat Böhme nicht alles angestellt, um Schlimmeres zu verhüten. Und Rudolf Kühl mit dem Saxophon ist gekommen. Ihn vor allem liebte Ibrahim Böhme. Ihm hatte er nächtelang von Lenin erzählt und von Gespenstern.

Klaus Rohleder sitzt auch im Publikum, der Stücke-Schreiber, den sie in Greiz den «Beckett der Bauernhöfe» nennen. Einmal war Böhme ganz außer Atem bei ihm aufgetaucht, da oben auf seinem Hof hinter den Hügeln von Greiz. Gezittert hatte er und finstere Andeutungen gemacht und gefragt, ob der Freund etwas für ihn verstecken könne. Natürlich konnte Rohleder. Und so stopfte der denn ein Päckchen mit Böhmes Vorträgen und Gedichten auf dem Oberboden in eine leere Milchkanne, wo es die Mäuse nicht zernagen und Herren von der Stasi nicht vermuten konnten.

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Und Professor Gerhard Hartmann ist gekommen, der pensionierte Chirurg aus dem Krankenhaus. Wie oft hat er sich um Ibrahim gekümmert, wenn der irgendwo in der Stadt zusammengebrochen war und mit der Ambulanz in die Klinik gefahren wurde. Bei ihm und seiner Frau Dr. Regina Hartmann war Böhme Kind im Hause. Noch heute nennt er die beiden «meine Quasi-Eltern». Und es gab noch einen Arzt in Greiz, dem er vertraute, dem Sanitätsrat Dr. Burghardt Stadtmann. Seine Witwe, Charlotte Stadtmann, sitzt heute hier im Kino. Sie hat so manches Mal ihren Mann und seinen späten Gast, der immer so lange im Sprechstunden­zimmer saß, bis der letzte Patient versorgt war, zum späten Abendessen in die Stube gebeten. 

Und Böhme blieb gerne bis in die Nacht hinein und erzählte von der russischen Revolution. Frau Stadtmann berichtete von Reiner Kunze, dem die Staatssicherheit auf den Fersen war und der in ihrem Bauernhaus in Kottenheide Unterschlupf gefunden hatte, damit er arbeiten konnte. Der Dichter Reiner Kunze, aber ja, auch den mochte der Böhme doch so sehr, liebte dessen «Einladung zu einer Tasse Jasmintee».

Treten Sie ein, legen Sie Ihre 
traurigkeit ab, hier 
dürfen Sie schweigen

Wie oft hatten sie geredet. Und wie oft hatte der Kulturfunktionär Böhme dem Lyriker helfen können.

Heute, am 9. März 1990, fährt Ibrahim Böhme nun wieder ins kleine Greiz. Sein Fahrer biegt in die Straße des 1. Mai ein und hält vor dem Kino. Drinnen bespricht Günter Ullmann mit Jürgen Fuchs, wie der Abend ablaufen soll. Also, wir haben gedacht, die «media nox» spielt zwischen deinen Texten. Schön, sagt Fuchs. Find ich toll. Na ja, sagt Ullmann, und der Böhme will auch kommen. Ach, sagt Fuchs. Das ist ja interessant. Aber es stört ihn. Böhme ist im Wahlkampf. Und Fuchs will nicht auf einer Parteiveranstaltung lesen. Nein, sagt Ullmann, es ist keine Parteiveranstaltung. Böhme soll auch etwas vortragen. Also gut, sagt Fuchs. Er werde das jetzt nicht dramatisieren.

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Und dazu ist es auch viel zu spät, denn durch den Vorhang an der Tür tritt auf: Ibrahim Böhme. Er stürmt geradewegs auf Jürgen Fuchs zu, umarmt ihn, Applaus, Glückwünsche, es wird gefilmt, geblitzt, Freunde fallen sich um den Hals.

Der Heimgekehrte ist bewegt und setzt sich in die zweite Reihe neben Professor Hartmann. Ganz bescheiden sitzt er da in Cordhosen, weißem Rollkragenpullover und Sakko. Sie haben es doch immer gesagt: Aus dem Ibrahim wird noch mal was. Der ist intelligent, diplomatisch, bescheiden. Er plaudert mit seinem «Quasi-Vater». Aber ja, sagt er, es werde schon alles gutgehen. Er sei überzeugt vom Sieg der SPD. Und dann werde er sich Helmut Schmidt zum Berater nehmen. Ja, und noch zwei andere. Nein, kein Interview bitte, er schickt die «Volkswacht» fort, dies sei keine Wahlveranstaltung, sagt er.

Und dann ist es 19 Uhr 30, die «media nox» spielt, Jürgen Fuchs sitzt am Tisch mit weißem Tuch und liest aus seinen «Gedächtnisprotokollen», jenen Gesprächen, die er in den frühen siebziger Jahren mit der Obrigkeit der DDR geführt hat, mit der politischen Polizei, der Parteileitung, auch mit Freunden, Eltern, Arbeitern, auch mit dem Professor, für den die Prosastücke eine Ohrfeige sind: «Herr Professor, Sie sagen, diese Prosastücke sind ein Schlag ins Gesicht des Sozialismus und zeigen dabei auf Ihr Gesicht. Sie sind aber nicht der Sozialismus, Sie sind der Herr Professor K., Prorektor dieser Universität. Ich habe geschildert, wie mit Menschen gesprochen wird, wie sie verhört werden, wie mit ihnen umgesprungen wird, wenn sie ihre Meinung sagen und nach ihr handeln. Solche menschenfeindlichen Dialoge führt nicht der Sozialismus, sondern führen die Vertreter einer Bürokratie, die den Sozialismus fürchten, auch wenn sie vorgeben, ihn aufzubauen. Wenn diese Prosastücke schon ein Schlag sind, dann ins Gesicht dieser Bürokraten. Daß Sie sich angesprochen fühlen, sollte Sie sehr beunruhigen, Herr Professor.»

Jürgen Fuchs liest. Und vor ihm sitzt Ibrahim Böhme. Ich sehe noch sein Gesicht, sagt Fuchs. Sehr abwesend. Sehr merkwürdig. Lächelnd.

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Nach der Pause liest Ibrahim Böhme. Er deklamiert ein Jazz-Gedicht von Jens Gerlach, Lyriker aus der DDR, ein Gedicht, das Böhme und seine Freunde schon in den siebziger Jahren vorgetragen haben, sieben lange Strophen für «Django Reinhard».

«Nichts aber lähmt die Liebe, nichts die Zärtlichkeit:
Du wirst singen, geschundene Liebe, singen
In der Liebkosung der Liebenden, tanzen
Sollst du auf den Straßen der bunten Karawanen,
Durch die glitzernden Fäulnisbecken Südfrankreichs,
In den melancholischen Kellern des Quartier Latin,
Und immer wieder, unvermittelt stumm, auf namenlosen Wegen,
Getrieben von Sehnsucht und wandernd zu unbekanntem Ziel:
Ruhmreich geliebter Django.»

Ibrahim Böhme liest nicht ab. Er spricht das lange Gedicht auswendig. Er spricht es skandierend, rhythmisch, nicht ohne Pathos. Und man wunderte sich wieder, sagt Jürgen Fuchs später, wie gut er rezitieren kann. Danach wird diskutiert. Fuchs sagt, wir müssen über die Vergangenheit reden. Wir müssen ehrlich werden mit uns. Und Böhme, daran erinnert Fuchs sich gut, Böhme hat genickt und hat geschwiegen.

Die Veranstaltung ist kurz nach zehn Uhr beendet. Es gibt Blumen und Applaus. Der prominente Gast schenkt seinen Strauß Charlotte Stadtmann. Ich saß doch ganz vorne, sagt sie, weil ich nicht mehr so gut höre. Und Böhmi, so nannte sie ihn immer, der saß am Tisch und hat mir zugezwinkert. Und dann kam er mit den Blumen an.

Am Ende dieses Abends gibt es ein Essen in kleinem Kreis auf dem oberen Schloß von Greiz. Harald Seidel ist dabei, Professor Hartmann und Peter Schimmel, der treue Schüler aus der alten Zeit; und sie erzählen bis Mitternacht Geschichten von damals. Professor Hartmann wird in sein Tagebuch schreiben, daß es ein sehr schöner Abend war, ernst und doch entspannt. Er wird auch schreiben, daß Böhme sich eigentlich gar nicht verändert hat und daß sie sich an diesem Abend vielleicht zum letztenmal gesehen haben, weil er, der Kandidat, wohl am 18. März, also in neun Tagen, der Erste Mann in der DDR sein wird.

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Am 17. März erscheint in den «Ost-Thüringer-Nachrichten» ein Bericht von Günter Ullmann. Darin erinnert sich der Freund an seinen Freund: 

«Ich denke an Ibrahim Böhme, der in seiner Greizer Zeit vorbildlich den Kulturbund <Alexander von Humboldt> leitete und der mit mir und vielen anderen im Lyrikzirkel unsere Gedichte oder Probleme und Widersprüche im <real existierenden Sozialismus> diskutierte. Er wollte die Partei von innen heraus reformieren und führte einen zermürbenden Kampf mit den Betonköpfen. Nach dreizehn Jahren sollten wir uns wiedersehen. Eine Umarmung sagt mehr als viele Worte.» 

Für ihn, so endet der Artikel von Ullmann, sei der Abend wie ein Traum gewesen, weil er «ganz im Zeichen der Wahrheit» stand.

Einen Tag später ist der Freund politisch geschlagen. Die SPD verliert die Wahl. Acht Tage später, am 26. März, kommt die Wahrheit dann ans Licht. Ibrahim Böhme, so steht im «Spiegel», war ein Spitzel der Staatssicherheit. Ibrahim Böhme beteuert seine Unschuld. Doch am 11. April schreibt er ein Gedicht. Das nennt er «Schuld».

Bebend
wollte ich erheben
meinen gekrümmten Finger

Spannende Erwartung –
auch in mir.

Doch, enttäuschend
die Freunde,
machte ich mich schuldig,
schwieg im entscheidenden
Moment
und senkte
die Hände
zum Buch.

Es wird sich herausstellen, daß alle Freunde, die ihren lieben Böhme im Greizer Kino wiedertrafen, von ihm verraten worden sind: Jürgen Fuchs, Günter Ullmann, Professor Hartmann, Charlotte Stadtmann, Rudolf Kühl, Harald Seidel, Klaus Rohleder. Alle. Und noch viele mehr.

Ein halbes Jahr später erscheint ein Buch von Reiner Kunze. Es trägt den Titel «Deckname Lyrik». Darin sind Berichte enthalten, die mit «August Drempker» und «Paul Bonkarz» unterzeichnet sind, zwei der vier Decknamen von Ibrahim Böhme.

Böhme tritt von allen Ämtern zurück und taucht ab ins Schweigen.

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