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2 «Ich wollte stark und zynisch sein»

Eine Jugend im Heim

 

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Die Sonne brennt auf den Prenzlauer Berg. Ich steige Stiegen hoch im dunklen Treppenhaus. Mürber Jugend­stil blättert von den Wänden. Ich klingele an der Tür mit dem anderen Namen, ein verabredetes Zeichen. Und da steht er, Ibrahim Böhme, im weißen Oberhemd, die Ärmel hochgekrempelt. Blaß sieht er aus, fast elend. Nur die Krawatte signalisiert Lebenslust. Lauter kleine bunte Smilies grinsen mich an, diese fröhlichen Mondgesichter. 

Kommen Sie rein, sagt er und geht voran in Filzpantoffeln. Der Tisch ist gedeckt. Die Kerze brennt. Er schenkt Kaffee ein, bietet Kekse an, entschuldigt sich für den häßlichen Aschenbecher. Den guten aus Kristallglas habe er gestern aus Wut über einen Besucher an die Wand geworfen.

Also jähzornig sind Sie auch?
Ja, aber nicht mehr so wie früher. Eher wütend, sagt er. Als er das Buch von Reiner Kunze las, «Deckname Lyrik», da habe er aus Wut Karten spielen gelernt. Und dann sagt er mit Süffisanz:
Ich werde Ihnen nachher jemanden vorstellen.
Wen?
Meinen Führungsoffizier.
Welchen, frage ich.

Das mag er nicht. Wenn hier einer zynisch ist, dann er. Und wischt die letzten Sätze weg, deckt sie mit Geplauder zu. Geputzt habe er gestern. Ja, für mich. Gebügelt habe er auch. Und dabei im Fernsehen Theo Lingen geguckt, einen ziemlich blöden Film.

Es ist pieksauber im Wohnzimmer. Der gelbe Kachelofen glänzt. Vier Stühle stehen stramm am Tisch. Papiere, Post und Akten liegen akkurat auf weißer Decke. Zwei Kissen auf der Couch sind streng geknickt. Nur die Bücher hinter den Scheiben im Schrank lehnen schief und krumm aneinander: die Lieder von Bulat Okudshawa, Lenin, Lassalle, Kopelew, Dostojewski, Lessings «Nathan» und der «Mephisto» von Klaus Mann.

«Mephisto» im Bücherbord ist nichts Ungewöhnliches. Aber hier, in dieser sehr überschaubaren Sammlung von Ibrahim Böhme, hier fällt er auf. Böhme war immer ein Schauspieler, haben mir seine Freunde gesagt. Möglich, daß er für die Staatssicherheit gearbeitet hat, um deren Macht von innen zu brechen. Möglich, daß er mit der Staatssicherheit gespielt hat. Seinem Freund Günter Ullmann hat er doch so manches Mal geheimnisvolle Andeutungen gemacht: Es gäbe Zeiten, da müsse man sich verstellen, müsse so tun als ob. Und einmal sagte er: Wer seine Träume verwirklichen will, muß durch die Hölle gehen.

Wie der Mephisto von Klaus Mann. Wie der Held des literarischen Portraits, das der Sohn von Thomas Mann 1936 im Amsterdamer Exil geschrieben hat. Ein leicht durchschaubarer Schlüsselroman. Hendrik Höfgen war Gustaf Gründgens, war «Mephisto», der im Dritten Reich als Intendant Karriere macht. Ibrahim Böhme also wie Hendrik Höfgen, der seinem Freund mit geheimnisvoll-gepreßter Stimme versichert, wie schrecklich es für ihn sei, sich so andauernd und konsequent verstellen zu müssen. «Aber ich habe mich nun einmal zu dieser Taktik entschlossen, weil ich sie für die richtigste und wirkungsvollste halte.» Und mit Verschwörerblicken hat Höfgen dann hinzugefügt: «Ich befinde mich mitten im Lager des Feindes. Von innen heraus unterhöhle ich seine Macht.»

So ähnlich, nur nicht ganz so offen, hat das Ibrahim Böhme auch immer mal wieder durchblicken lassen. Und nun sitzt er da in seiner Wohnung, klagt über Herzschmerzen und trinkt Kaffee und raucht Zigaretten, bis die Möbel im Nebel verschwinden.

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Über Taten will er nicht reden und schon gar nicht über Akten. Sitzt da wie der düstere Held von Klaus Mann, der am Ende, als er durchschaut ist, klagend fragt: «Was wollen die Menschen von mir? Weshalb sind sie so hart? Ich bin doch nur ein ganz gewöhnlicher Schauspieler!»

Ibrahim Böhme ist ein ganz ungewöhnlicher Geschichtenerzähler. Das fängt bei seiner Geburt an. Wie alt bist du eigentlich, Manfred, fragt Gabriele, die Tochter von Frau Stadtmann, ihren Lehrer. Das ist Ende der sechziger Jahre in Greiz, als der junge Böhme noch Manfred heißt und in der Erweiterten Oberschule <Theo Neubauer> unterrichtet. Den Namen Ibrahim hat damals noch niemand gehört.
Wie bitte? fragt Böhme, ich habe immer so geheißen. Meine Lehrerin im Kinderheim hat mich ja schon Ibrahim genannt.
Also, wie alt bist du, Manfred?

Er hat es uns nicht verraten, sagt Gabriele Stadtmann, die heute Kähler heißt und Ärztin ist im kleinen Carlow in Mecklenburg. Entweder hat er sich jünger gemacht oder älter. Und erzählt hat er, daß er von einem jüdischen Rechtsanwalt abstamme. Einmal hat er sogar gesagt, daß er in Sibirien geboren sei. Wir haben darüber gelacht und ihm kein Wort geglaubt. Und das wußte er auch, sagt sie.

Gabrieles Mutter, Charlotte Stadtmann, schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. In Sibirien? Also mir hat er gesagt, seine Mutter sei aus der Tschechoslowakei ausgewiesen worden, sei nach Deutschland gekommen und kurz darauf gestorben. Sein Vater sei jüdisch gewesen. Nicht seine Mutter.

Professor Hartmanns Tochter, Beate Schwämmle, die heute in Plietzhausen bei Tübingen lebt, hat eine weitere Variante anzubieten. Sie erzählt, daß Böhmes jüdische Eltern auf abenteuerlichen Wegen von Frankreich aus nach Mexiko gelangt sein sollen. So habe Manfred es ihr erzählt. In Mexiko sei er auch geboren. Und der Vater sei kurz darauf gestorben. Die Mutter soll dann mit dem Säugling gleich nach dem Krieg wieder in Leipzig aufgetaucht sein.

Ich frage Manfred Böhme, wann er geboren sei. 1944, sagt er. Das Jahr sei relativ sicher. Das Datum dagegen nicht. Aber der 18. November sei inzwischen der Tag, an dem er immer fortfahre, um sich den Gratulationen zu entziehen.

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Und wo sind Sie geboren?
In der Nähe von Leipzig, sagt Böhme.
Und Ihre Eltern waren Juden?
Ja.

Das erfuhren Sie erst, als Sie zwanzig Jahre alt waren. Wie haben Sie das empfunden?

Natürlich war das ein emotionaler Schock, sagt Böhme. Und natürlich gab es damals antisemitische Stimmungen in der DDR. So ist das, wenn Antifaschismus verordnet, wenn Vergangenheitsbewältigung verdrängt wird. Die Juden haben ein Martyrium erlebt. Also sind Juden gut. Per Dekret. So was kann ja nicht gutgehen.

Böhme, sage ich, ist der Name Ihres Stiefvaters. Wie hießen Sie denn wirklich?
Wahrscheinlich Urbij, sagt er. Ibrahim Urbij.

Ich wende ein, daß es für ein jüdisches Ehepaar kaum möglich gewesen sein dürfte, im Nazideutschland von 1944 in der Nähe von Leipzig ein Kind zu bekommen.

Nein, nicht Leipzig, sagt Ibrahim Böhme sehr ruhig, als hätte ich nur etwas falsch verstanden. Mit großer Wahrscheinlichkeit sei es so gewesen, daß seine Eltern 1938 von Leipzig über Österreich in die Tschechoslowakei gekommen seien, und weil ihnen der Braunauer Halbgebildete auch dort auf den Fersen war, seien die Eltern dann nach Südfrankreich geflohen, wo sie wahrscheinlich überlebt hätten. Genau könne man das heute nicht mehr sagen. Er habe seine Informationen vom Ehepaar Fiedler, die seine Eltern gekannt hätten und nun nicht mehr lebten. Von ihnen wisse er auch, daß sie jüdisch waren und sein Name Manfred Otto Ibrahim sei.

Und Ihre Eltern, wie hießen die mit Vornamen?
Meine Mutter Annie, mein Vater Walter.
Und Sie sind also in Frankreich geboren?

Ja, sagt er. Aber damit mache man keinen Wahlkampf, und darüber schreibe man auch kein Buch, es sei denn, man versetze sich in die Zeit von Charles Dickens und nenne sich Oliver Twist.

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Richtig. So ähnlich steht es dort ja auch: «In einer gewissen Stadt, die ich aus mancherlei Gründen vorsichtshalber nicht nennen will und der ich auch keinen erdichteten Namen beilegen mag, befindet sich unter anderen öffentlichen Gebäuden... ein Armenhaus. Und in diesem Armenhaus wurde – an einem Tage, dessen Datum zu erwähnen ich mir ersparen darf – jenes Stücklein Mensch geboren, dessen Name schon in der Überschrift dieses Kapitels genannt ist.»

 

Also ganz so wie bei unserem Manfred Böhme. Nur heißt der nicht Oliver Twist, sondern Ibrahim Urbij. Und das Armenhaus ist in unserer Geschichte ein Kinderheim. Zwei sogar. Das eine steht in Knittelholz bei Zeitz, das andere in Bad Dürrenberg. Da also wächst nun Manfred Böhme nach dem Zweiten Weltkrieg auf.

Stört es Sie, wenn ich ein Tonband anmache?
Nein, sagt Böhme. Warum?

Weil all seine Berichte für die Staatssicherheit Tonbandabschriften sind – denke ich und sage es nicht. Viel später wird mir Jürgen Fuchs erklären: Sie waren für ihn wie ein Führungsoffizier. Wenn das Tonband lief, redete er.

Seine Mutter, so erzählt er, lebt nun wieder bei Leipzig, der Vater ist tot, ein Herr Böhme taucht auf, Kurt Böhme, und der heiratet – sicher ist sich Manfred Böhme da allerdings nicht – die junge jüdische Witwe Annie Urbij, die ein Kind hat. Herr Böhme adoptiert den Jungen, die Mutter stirbt, das Kind kommt in ein Heim, später zu Pflegeeltern, die Zeltner heißen. Dort lebt er eine Weile. Zeltners lieben den kleinen Manfred und wollen ihn adoptieren. Das will Herr Böhme nicht, der ein hoher Funktionär bei den Leuna-Werken ist. Also kommt der Junge wieder nach Hause.

Der mag aber nicht zu Hause sein, mag diese kleine Gemeinschaft <Familie> nicht, mag auch Herrn Böhme nicht, der so schrecklich autoritär ist, auch die neue Frau, die der Stiefvater heiratet, ist ihm fremd. Und dann bekommen die Böhmes auch eigene Kinder, und es ist alles so entsetzlich eng, und es gibt Krach, und da kommt er wieder ins Heim. Er sagt: Da war ich glücklich. Und er sagt das mit Melancholie und Trotz in der Stimme.

Haben Sie Ihren Stiefvater denn nie nach Ihrer Mutter gefragt?

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Nein.
Warum nicht?
Das lag einfach an den Nachkriegsverhältnissen, die sehr wirr waren.
Aber es gab doch das Ehepaar Fiedler, das Ihre Eltern kannte.
Ich weiß nur, daß Herr Böhme immer verärgert war, wenn Fiedlers versuchten, mit mir zu reden.
Warum?
Na ja, Herr Böhme war eben ein hoher Funktionär. Und Fiedlers waren für ihn immer nur die Zigeuner.
Aber Sie hätten doch gerne gewußt, wie Ihre Eltern waren und wie sie dachten?
Nein. Wer im Heim aufwächst, für den überträgt sich der Elternbezug auf die Gemeinschaft.
Haben Sie denn mal ein Bild von Ihrer Mutter gesehen?
Nein.
Haben Sie Ihre Mutter vermißt?
Nein.
Das sagen Sie so schnell.

Das sage ich so schnell, weil es so ist, sagt Böhme. Und erzählt von den Tragödien, die er in Kinderheimen kennengelernt hat. Im Durchgangslager bei Leipzig, da hat er Schreckliches erlebt. Da sind Eltern in den Westen gegangen, und die Kinder blieben übrig. Standen da und waren verzweifelt. Die kamen doch alle ins Heim. Ein Junge, das hat er damals miterlebt, hat sich aufgehängt.

Sie sagen. Sie haben Ihre Mutter nicht vermißt. Sie nennen aber Ihre Nachbarin und die alte Dame von unten <Mutter>. Warum?

Ich benutze das so, wie es in Mecklenburg üblich ist, sagt Böhme. Da redet man ältere Menschen mit Vater und Mutter an.
Mögen Sie eigentlich umarmt werden?
Nein, nein, nein!
Der Gedanke scheint Ihnen ja schrecklich zu sein.
Ja, das ist er.
Sie mögen wohl überhaupt keine Nähe?

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Allzu große Nähe war mir nie angenehm.
Und im Heim waren Sie glücklich?
Ja, im Heim war ich glücklich.

Im Heim gibt es jeden Samstag nach dem Baden eine halbe Bockwurst und ein weißes Brötchen. Oder es gibt ein Stück Pferd vom Roßschlächter. Am Samstag dürfen die Kinder zum Essen schon in ihren Schlafsachen kommen. Die Besitzerin des Heims spielt in der Diele Klavier und singt dazu. Er erinnert sich auch an Holunderbeersuppe. Und wenn es Gries mit Pflaumen gibt, dann spuckt er auf seine Portion, damit kein anderer davon ißt.

Natürlich machen sie auch Streiche. Einmal graben sie Mäuse aus dem Stoppelfeld, schleichen in den Keller und setzen die Viecher zwischen die Kartoffeln. Ein anderes Mal buddeln sie nachts die Gartenzwerge des Heimleiters bis zum Hals ein. Und immer hat Manfred Böhme Angst vor Strafe. Vor Konsequenzen, sagt er, bin ich abgehauen. Immer. Und immer wird er gefaßt. Und bestraft. Nicht geschlagen. Eingesperrt. Stubenarrest ist das Schlimmste für ihn. Da muß er am Fenster sitzen und zusehen, wie die anderen spielen.

1956 kommt Manfred Böhme in die sechste Klasse und gründet eine Partei gegen die Lehrer. Er nennt sie <Gerechtigkeitspartei>. Wer petzt, kann was erleben. Als ihn einer anschwärzt und er zum Direktor muß, zu Dr. Werner Schlüter, da flieht er. Er kratzt sein Taschengeld zusammen und schleicht sich fort. Noch in Bad Dürrenberg wirft er seinen Ranzen in die Saale.

Am Bahnhof kauft er eine Fahrkarte. Sein Geld reicht von Bad Dürrenberg bis nach Groß Lehna. Aber er fährt eine Station weiter, weil ihn der Schaffner noch nicht kontrolliert hat, bis nach Markranstädt. Die restlichen 15 Kilometer bis Leipzig läuft er. Es ist spät am Abend, als er dort ankommt. Am Hauptbahnhof nimmt er für seine restlichen Groschen ein Bad. Im Querbahnsteig neben der Toilette gibt es damals Bäder für Fernreisende. Wenn schon fliehen, dann exklusiv. So hat Manfred Böhme immer gedacht. Deutsch 1. Betragen 4. Gut oder schlecht. Ich mag das Laue nicht, sagt er.

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Es ist Ende März, und es ist noch einmal sehr kalt geworden, daran erinnert sich Böhme genau. Und da steht er nun um Mitternacht schlotternd vor Kälte in den Trümmern, dort, wo heute das Hotel «Stadt Leipzig» steht. Und weil es so kalt ist, stellt er sich auf einen Gulli, aus dem Warmluft herauskommt. Plötzlich wird er von hinten in die Ruinen gezogen. Zwei Jungen bringen ihn zu einer Kinderbande, die in Kellerräumen haust.

Da lebt er ein paar Tage und lernt das Mausen. Gestohlen wird nachts im Hauptbahnhof, wo es in der West- und Ost-Halle durchgehend geöffnete Läden gibt. Du stellst dich an, sagt der Bandenchef, stellst dich ganz normal an, mit Zettel und Portemonnaie in der Hand, als hätte dir deine Mutti was aufgeschrieben. Wenn du dran bist, sagt der Boß, verlangst du das, was am entferntesten liegt. Egal, was es ist. Und wenn der Verkäufer sich umdreht, dann greifst du nach dem, was am nächsten liegt. Egal, was es ist, Kamme oder Würste. Wir brauchen alles. Verstanden? Natürlich hat Manfred Böhme das verstanden. Und ein paarmal geht es ja auch gut. Dann greift ihn die Transportpolizei auf.

Er wird in Leipzig in ein Durchgangslager gesteckt. Dort erhängt sich der Junge, dessen Eltern in den Westen getürmt sind. Und Manfred Böhme macht den Mund nicht auf. Er ist verstockt und schweigt. Schweigt vierzehn Tage lang, sagt er. Dann wußten sie, wer ich bin.

Er muß zurück zu den Stiefeltern. Eines Tages kommt er mit einem Rundschnitt vom Friseur zurück. Der Stiefvater tobt, findet die <Tango-Frisur> unmöglich, verhängt drei Wochen Stubenarrest. Da hat der Junge Sehnsucht nach dem Heim. Und ins Heim kommt er wieder, kommt auch zurück in seine alte Klasse.

Wer hat ihn damals verraten, als er die <Gerechtigkeits-Partei> gegründet hatte? Ein Freund, sagt er. Und fügt hinzu: Ich dachte wenigstens, er sei einer. Jedenfalls stehen sie vor dem Lehrerrat, der sogenannten pädagogischen Konferenz, und der Freund sagt: Manfred war's. Es war seine Idee mit der Partei. Ja, da sei er furchtbar enttäuscht gewesen.

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Ibrahim Böhme am Tag der Jugendweihe.

«Nein, nein, ich mag nicht umarmt werden. 
Schrecklich finde ich das.
Allzu große Nähe war mir nie angenehm.»

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Um Freunde, sagt Böhme, habe er oft geweint, im stillen, heimlich, man weinte ja nicht vor anderen. Wenn Freunde in ein neues Heim kamen, das war schrecklich. Und dann erinnert er sich an Lothar Schneider, der später mit ihm eine Maurerlehre macht. Lothar Schneider, ja, der war stark. Und er, Böhme, war doch eher schwächlich. Der Lothar, sagt er, der hat sich für mich geschlagen. Dafür hat er ihm dann die Aufsätze geschrieben. Und als dieser Lothar sich dann eines Tages einem anderen zuwendet, da weint Manfred Böhme bittere Tränen ins Kopfkissen. Richtig eifersüchtig sei er gewesen. Und da habe er etwas ganz Schlimmes getan, er habe den anderen verleumdet. Und als das rauskommt, wird er schrecklich verprügelt. Ohrfeigen bekommt er, und entschuldigen muß er sich. Und da lernt er, sagt er, daß man so was nicht tut.

Hat er auch von Lehrern Ohrfeigen bekommen? Ja, einmal, sagt er. Martha Wessler, die Bürgermeisterin von Bad Dürrenberg, hält eine Rede. Und in dieser Rede spricht sie auch über Niveau. Sie spricht das Wort aber falsch aus, sagt nicht <Nivo>, sondern <Niveau>. Da habe er gelacht. Und sein Lehrer, der dabei stand, der habe ihm eine schallende Ohrfeige gegeben. Später, sagt Böhme, habe er sich bei ihm entschuldigt und ihm erklärt, daß Martha Wessler eine einfache Frau aus der Arbeiterschaft sei. Und man mache sich nun mal nicht lustig über mangelndes Wissen anderer.

Die Ohrfeige hat gesessen. Nie mehr wird er jemanden auslachen, der weniger weiß als er. Peter Schimmel, der später in Leuna vom Lehrer Manfred Böhme unterrichtet wird, sagt: Er hat uns immer ernst genommen. Und Schimmels Frau Edith, die auf der Erweiterten Oberschule in Greiz Vorträge von Böhme hört, sagt: Wenn wir hinterher diskutierten, hat er nie über jemanden gelacht, hat sich nie über eine Frage lustig gemacht, hat immer korrigiert, erklärt, wiederholt. Das war doch, sagt sie, völlig untypisch für einen Lehrer damals.

Und wie sind die Lehrer, die Manfred Böhme erziehen? Da ist Fräulein Dietrich, eine liberale Frau, seine Deutschlehrerin. Ich haßte sie in Liebe, sagt er. Sie war lang wie die Woche und dürr wie die Lohntüte. Übrigens die erste, sagt er, die mich Ibrahim genannt hat. Ibrahim, was singen wir denn heute? fragte sie immer. Und Ibrahim wünscht sich <Es blies ein Jäger wohl in sein Horn>, dann sang Fräulein Dietrich nämlich die Oberstimme, und die ganze Klasse hat gefeixt.

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Gesungen habe er gern. Auch Bau-auf-Lieder, sicher, aber auch Neoromantisches von Johannes R. Becher. Den, sagt er, wollte man ja später nur noch als Hof-und-Magen-Dichter haben. Und dann sitzt Ibrahim Böhme da, sitzt im Sessel und fängt mit sehr klarer, schöner Stimme an zu singen: «Das Gewitter ist verzogen, und der Rauch, der ist verbrannt...»

Und Russisch mochte er gern. Einmal kommt sein Russischlehrer auf das Wort <chleb> zu sprechen. Chleb heißt Brot. Und ich weiß noch, sagt Böhme, wie er mich überrascht anguckte, als ich sagte: Herr Mischke, ich glaube nicht, daß bei den Russen chleb nur Brot heißt. Ich glaube, das heißt viel mehr. So, wie die Russen <rodina matj> sagen und Mutter Heimat meinen. Das ist pathetisch, ja, aber sie empfinden das so. So, wie ja auch alle zaristischen Offiziere, sofern sie noch lebten, sich 1941 unter Stalin freiwillig an die Front meldeten. Egal, ob einer dem Zaren oder Stalin näher stand, sagt Böhme. Wenn ein fremder Stiefel seine rodina matj, seine Heimat Erde betrat, verteidigte er die mit ganzer Seele.

Und dann die Appelle, sagt er. Einmal in der Woche ist großer Fahnenappell. Da zogen wir uns immer adrett an, weißes Hemd mit blauem Pioniertuch, und den Knoten haben wir besonders schön gebunden. Natürlich sei die Schule eine Kaderschmiede gewesen. Das war sie, und das sollte sie auch sein, sagt er. Für seine weltanschauliche Entwicklung habe er sich – trotz liberaler Geister in seiner Umgebung – nie etwas anderes vorstellen können, als Kommunist zu werden. Ich war rot bis auf die Knochen, sagt er.

Damals, als er in der achten und der neunten Klasse war, erschien ihm die SED viel zu schlapp, viel zu weich, viel zu wenig sozialistisch. Ich wußte doch, sagt er, daß es Mindestrenten gab von hundert Mark. Und die Leute hatten doch ihr Leben lang gearbeitet. Und ich sah doch, daß da schon wieder irgendwelche Bonzen in Villen einzogen. Abschreckend sei das für ihn gewesen.

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Und er merkte doch, daß Anfang der Sechziger die alten Beamtentitel wieder eingeführt wurden: Studienrat, Oberlehrer, Medizinalrat, Sanitätsrat, und jeder Titel war natürlich verbunden mit einer Gehaltsaufstockung. Das lehnte ich vollkommen ab, sagt Böhme. Damals sei er eben ein brauchbares Werkzeug für den Kommunismus gewesen – im Sinne von Gleichmacherei.

Daß er solch schlichtes Instrument auf Dauer nicht geblieben sei, das verdanke er Menschen, die ihn nach der Schule geprägt hätten. Robert Havemann, vor allem, gehöre dazu. Havemanns Humanismus habe ihn verändert. Und er sagt in einem Ausbruch von Melodramatik: Wer nicht bereit ist, unter Tränen und Schmerzen Ballast über Bord zu werfen, der wird am Ende selbstgerecht. Der wird ein Schuft. Und wenn die Schufterei nur darin besteht, daß er jemanden verrät, der dazugelernt hat.

Stille. Und in die theatralische Pause hinein sagt er wie hingeworfen: Ich habe darüber mal ein Gedicht geschrieben. Das würde ich gerne lesen, sage ich. Da steht er auf, geht ins Schlafzimmer und kommt mit einem Bündel Papier zurück. Hier, sagt er, können Sie mitnehmen. Das Gedicht, das er meint, heißt «Zwang des Werdens». Er hat es im März 1985 geschrieben.

Kann da
jemand
immer treu
sich bleiben, wenn
nicht still
steht
die Zeit?

Wer immer verhaftet
bleibt
seinen Vorstellungen,
verrät am Ende
sich selbst.

Ehre dem, 
der sich ändert,
auf daß 
neue Zeit 
werden kann.

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Welche literarische Figur hat den jungen Manfred Böhme begeistert? Sein Held der frühen Jahre sei der «Idiot» von Dostojewski. Mit dreizehn habe er ihn zum erstenmal gelesen und dann immer wieder, sechsmal, siebenmal. Er liebt den Fürsten Myschkin, der ihn, wie er sagt, verfolgt, bis heute verfolgt. Dieser Narr in Christus, der verrückt scheint und nicht verrückt ist, der sich auffällig benimmt, um den Menschen einen Spiegel vorzuhalten, liebevoll, hilfsbereit, überspannt, egoistisch und so sanft.

«Der Fürst», schreibt Dostojewski, «war nach dem Tode seiner Eltern als kleines Kind zurückgeblieben.» Wie Manfred Böhme. «Seine häufigen Krankheitsanfälle hätten ihn beinahe ganz zum Idioten gemacht.» Anfälle, die wird auch Böhme bekommen, später. Er wird befürchten, einen Tumor im Kopf zu haben.

Ja, er liebt den Fürsten, der voll Sehnsucht und voll Unruhe auf sein Schicksal zugeht, liebt den Phantasiebeladenen, der von einem erzählt, der im Gefängnis war. «Ich versichere Ihnen», sagt Myschkin zu Agiaja, «daß sein Leben sehr traurig war und jedenfalls nicht nach Kopeken berechnet werden könnte. Er verkehrte nur mit einer Spinne und mit einem Baume, der unter seinem Fenster wuchs.»

Den Freunden hätte Böhme damals nie von seiner Liebe zum «Idioten» erzählt. Der war doch viel zu schwach, sagt er. Und ich wollte doch stark sein. Stark und zynisch.
Weil Sie sich so schwach fühlten?
Nein, sagt Böhme, ich fühlte mich nicht schwach. Ich war damals sehr überzeugt von mir. Deshalb wollte ich ja auch Figuren, die so stark waren, daß sie gar nicht mehr siegen mußten, jedenfalls nicht um jeden Preis.
Zu welcher Figur hätten Sie sich denn offen bekannt ?
Zu Iwan Karamasoff, sagt er.

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Iwan hat eine interessante Maxime. Die heißt: Alles darf gedacht werden. Alles ist erlaubt. Und Iwan hat einen Halbbruder, Smerdjakoff. Der setzt die Gedanken des anderen in die Wirklichkeit um. Eiskalt. Mordet den Vater und bleibt ohne Schuldgefühl. Wie wäre das? Eine Mischung aus beiden?

Nein, so kann man Ibrahim Böhme nicht kommen. Wirklich nicht. Ein Schuldbekenntnis durch die Hintertür der Literatur. Er sieht kühl an mir vorbei und fragt: Wissen Sie, was der Name bedeutet? Smerdj ist der Tod. Sie können Smerdjakoff also mit <Totengräber> übersetzen oder mit <Töter>. Eine ziemlich armselige Figur. Nicht zynisch, auch nicht düster, nur armselig. Ich aber wollte stark sein, sagt Ibrahim Böhme. Ich wollte der Durchsteher sein. Das ist wohl mein Fehler gewesen. Wenn man anderen Wärme gibt, dann zeigt man Schwäche. Ja, so habe ich gedacht. Das war vielleicht falsch.

Und als sei er schon wieder einen Schritt zu schwach geworden, hält er sich einen Schild vor den Leib und sagt: Alexander Mitscherlich habe einmal gesagt, man solle nicht zu früh und nicht zu spät um sich selbst Bescheid wissen.

Und wo, glaubt er, steht er im Augenblick?
Ich würde sagen, sagt er, ich bin auf der Suche nach der verlorenen Zeit.

1961 schließt Manfred Böhme die Schule mit der mittleren Reife ab. Er ist 16 Jahre alt und macht in Leuna eine Maurerlehre. Es ist das Jahr, in dem die Mauer gebaut wird. Wie empfand er das?
Die Mauer, sagt er, war eine politische Konsequenz, eine schmerzliche Notwendigkeit.
Das klingt sehr theoretisch, sage ich. Dabei waren Sie doch nun eingesperrt.

Natürlich habe er mit vielen Leuten geredet. Er habe auch gesehen, wie schmerzlich Beziehungen auseinandergerissen wurden. Aber in der politischen Konsequenz sei er ein Befürworter der Mauer gewesen. Rigoros und ohne Abstrich.

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In Leuna lebt er im Internat. Er ist ehrgeizig und macht neben der Maurerlehre sein Abendabitur, wird Erzieher und darf schon bald unterrichten. Russisch und Geschichte. Er wohnt mit zwei anderen Lehrlingen in einem Raum im Lager A. Manchmal geht er ins Lager B zu seinen Schülern, kocht Kaffee und diskutiert mit ihnen.

Die Schüler hängen an ihrem jungen Lehrer. So einen haben sie noch nicht gehabt. Der gießt seine Wörter nicht in Beton, der erzählt Geschichten, wenn Geschichte auf dem Plan steht. Das mögen viele Lehrer nicht, daß da einer aus der Reihe tanzt. Ein paar versuchen, ihn rauszudrängen. Einer hieß Himmelreich, sagt Böhmes Schüler Peter Schimmel. Ich höre noch, wie der zu Manfred sagt:

Immer willst du der Schlaue sein. Und dem, sagt Peter Schimmel, hatte Böhme die Seminararbeit geschrieben.

Im Sommer des Jahres 1964 liest der fast zwanzigjährige Manfred Böhme zum erstenmal Texte von Robert Havemann, dem Physiker und Philosophen der Ost-Berliner Humboldt-Universität. Havemann, sagt Böhme, hat mich geweckt. Im Februar waren dessen Vorlesungen unter dem Titel «Dialektik ohne Dogma?» im Westen erschienen und vom Plenum des Zentralkomitees scharf verurteilt worden. Der Havemann behauptet also, ein kommunistisches Buch geschrieben zu haben, und ruft im selben Atemzug zum Widerspruch auf, zum Zweifel. «Nur durch den Zweifel am Alten», schreibt Havemann, «überwinden wir das Alte und bewahren uns doch seinen Reichtum, und nur durch den Zweifel am Neuen gewinnen wir das Neue und erhalten es am Leben.» Das ist zuviel für die Herren aus Pankow. Sie schlagen zu. Im März 1964 werfen sie Havemann aus der Partei. Die Humboldt-Universität darf er nicht mehr betreten.

In Leuna protestiert Manfred Böhme, so sagt er. Und er diskutiert mit seinen Schülern den Fall. Havemann sei Antifaschist. Er habe in der Todeszelle der Nazis gesessen, habe im Zuchthaus Brandenburg überlebt, war ein Zellengenosse von Erich Honecker. Und dieser Havemann schreibt über die Kluft zwischen Volk und Partei, macht sich stark für einen Dialog und stellt im philosophischen Disput die archaischen marxistischen Auffassungen von Wahrheits- und Führungsanspruch in Frage. Recht hatte er, sagt Böhme. Er sei beim Lesen dieser Texte geradezu Feuer und Flamme gewesen. Und auf einer öffentlichen Aktivtagung spricht er über Havemann. Danach sei er verhaftet worden.

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Robert Havemann ist für Manfred Böhme ein Vorbild. Gestern und heute, sagt er. Er hat Robert Havemann nicht gekannt. Aber er wird in Greiz jemanden kennenlernen, der mit dem Regimekritiker befreundet ist. Der wird ihm erzählen vom Eingeschlossenen in Grünheide, vom mutigen Havemann, der selbst im Hausarrest noch laut verkündet, daß es in finsteren Zeiten gelte, sich so zu verhalten, als sei man frei. 

Über diesen Mann, von dem er behauptet, er habe ihm die Augen geöffnet, schreibt er unter dem Decknamen «Paul Bonkarz» am 17. 6.1976 einen Bericht für die Staatssicherheit. Darin gibt er, akribisch und detailbesessen, das sehr private Gespräch eines Freundes wieder, der Robert Havemann besucht hat. Schreibt, wie Havemann sich für den im Gefängnis mißhandelten Siegmar Faust einsetzt. Schreibt, wie es Faust gelang, einen Kassiber aus der Haft zu schmuggeln. Schreibt, daß der Kassiber zu Havemann gelangte. Schreibt: «Ist noch in seinem Besitz.» Schreibt, daß sein Freund die Durchschrift eines Briefes gesehen habe, den Havemann an Erich Honecker geschickt, schreibt, daß Havemann dem Freund gesagt habe, Honecker verstärke den Personenkult und den Dogmatismus.

Am 28. Mai 1965 wird Manfred Böhme also, wie er sagt, wegen seines Havemann-Vortrags in Leuna verhaftet. Wie passiert das? Ich wurde am frühen Morgen abgeholt, als ich in die Bibliothek gehen wollte, sagt Böhme. Auf dem Weg dorthin sieht er das Auto, einen alten Wolga. Zwei Zivilisten kommen auf ihn zu: Herr Böhme? - Ja. - Folgen Sie uns unauffällig.

Das sei so auffällig gewesen, daß es gleich zwei Lehrer gesehen hätten, sagt er. Ihm wird vorgeworfen, er habe seine Schüler aufgehetzt, er habe die Partei in Leuna diskreditiert, er habe die jungen Menschen angestiftet, hinter dem Wohnheim ein Lagerfeuer zu entfachen. Bücher von Staatsführern seien dort verbrannt worden, also: Geheime Gruppenbildung plus Untergrundtätigkeit macht vier Wochen Haft.

Über die Haft, von der keiner seiner Freunde je gehört hat, möchte Ibrahim Böhme nichts erzählen. Er sagt nur, daß er vier Wochen saß. Vom 28. Mai bis zum 28. Juni.

Als er entlassen wird, weiß er nicht, wohin. Im Lehrlingsheim von Leuna darf er nicht mehr unterrichten. Da sagt ihm sein Schüler Peter Schimmel: Geh doch nach Greiz. Wenn du willst, kannst du in meinem Zimmer wohnen. Vielleicht haben meine Eltern sogar Arbeit für dich. Und ich komme am Wochenende zu Besuch.

So kommt Ibrahim Böhme nach Greiz. Und wenn ihn einer fragt: Manfred, wie bist du eigentlich nach Greiz gekommen, dann sagt er: Ich habe die Augen zugemacht und bin mit dem Finger auf der Landkarte gewandert.

Als er die Augen öffnet, steht sein Finger in Thüringen auf der kleinen Stadt an der Weißen Elster.

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