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3  «Lenin war viel zu weich» 

Der Aufrührer

 

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Am 30. Juni 1965 kommt Manfred Böhme am Bahnhof von Greiz an. Ich weiß das deshalb so genau, sagt er, weil überall in den Schaukästen Bilder von Walter Ulbricht hängen. Bilder und Blumen. Am 30. Juni hat Walter Ulbricht Geburtstag.

Böhme ist todunglücklich. Zum erstenmal in seinem Leben ist er allein. Ich war doch immer in der Gemeinschaft, sagt er, im Heim, in der Schule, im Internat. Und nun allein in einer fremden Stadt. Ich war wie abgenabelt, wie entwurzelt. Ich litt an der Anonymität.

In der Brückenstraße mietet er ein möbliertes Zimmer bei Peter Schimmels Großmutter. Das liegt in einem Hinterhaus mit bröckelndem Putz, dunklem Eingang, krummen Stiegen und Rissen im Gebälk. Es war ein furchtbares Zimmer, sagt Peter Schimmel. Sein Vater kann dem Freund wenigstens Arbeit verschaffen. Schon drei Tage nach der Ankunft meldet sich Böhme als Hilfsbibliothekar in der Bücherei. Natürlich wird seine Parteiakte nachgeschickt, sagt Böhme. Und natürlich wird die in der Bibliothek gelesen. Und dann nimmt ihn einer zur Seite und flüstert: Ich will Sie behalten, Sie arbeiten wirklich gut. Aber bitte, keine politischen Äußerungen.

Woher wissen Sie?
Ich habe das von Genossen gehört. Die warten nur darauf, daß Sie wieder etwas sagen.
Ich werde nichts sagen, sagt Böhme.

Aus Leuna kommen Briefe von seinen Schülern, die schreiben, daß sie ihn vermissen. Und er sitzt da in seinem schiefen Zimmer, einsam wie noch nie. Aber langsam wird sein Leben in Greiz lebendig. Die Großmutter des Freundes ist entzückt von ihrem wohlerzogenen Untermieter, der Handküsse verteilt wie ein polnischer Fürst. Die alte Dame vom Parterre ist ebenfalls angetan von dem jungen Mann, der so arm, so klug und so bescheiden ist. Und so kochen denn die beiden bald für den netten Herrn Böhme um die Wette, kochen ihm Thüringer grüne Klöße und auch mal ein Stückchen Fleisch und sonntags einen Nachtisch.

Nur darf die eine nicht wissen, wenn er bei der anderen ist. Also gehen die Türen leise auf, schscht... Herr Böhme, ich hab da was für Sie. Und eines Sonntags, als Schüler Schimmel seinen verehrten Lehrer abholt und die beiden gerade aus dem düsteren Hausflur treten, steht die enttäuschte Alte vom Parterre mit einem grünen Kunstwerk in der Tür und sächselt: Herr Böhme, Ihr Budding...

Herr Böhme regt sich. Und er pflegt sich. Er besitzt nur einen Anzug, nur eine Krawatte, aber immer ist er picobello, immer wie aus dem Ei gepellt, die Haare nicht zu lang, der Spitzbart ordentlich gebürstet, immer riecht er nach irgendeinem Wässerchen, und auf der Straße schwenkt er gerne seinen Stockschirm. Er hält den Damen die Tür auf, erhebt sich, wenn einer an den Tisch kommt, so was kennt man doch gar nicht in Greiz. Und so liebte ihn denn jeder, sagt Edith Schimmel, auch die Männer; und den Frauen, egal, ob häßlich oder schön, gab er das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Das, sagt sie, machte ihn zu etwas Besonderem.

Zu Hause hält Böhme sich bald eine Katze. Als Peter Schimmel ihn besucht, riecht es so merkwürdig im Zimmer. Was riecht hier so? fragt er. Da hat Böhme die Katze angesprüht. Spinnst du? sagt Schimmel. Das ist Tierquälerei. Aber Böhme findet, wer in seinem Zimmer rumläuft, muß ordentlich riechen.

Zwei Jahre sind vergangen, und seine Parteistrafe wird gelöscht, seine strenge Rüge. Ein Verweis, sagt Böhme, ist noch harmlos. Dann kommt die Rüge. Danach die strenge Rüge. Die hatte er. Zwei davon, und man fliegt aus der Partei. Nun ist er wieder sauber.

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Bald darauf kommt der Direktor der Erweiterten Oberschule von Greiz zu ihm. Der Geschichtslehrer sei erkrankt, ausgerechnet jetzt, sagt er, so kurz vor dem Abitur, und fragt, ob Böhme nicht stundenweise einspringen könne. Böhme kann. Und dort in der Schule lernt er die Kinder jener Eltern kennen, die für sein Leben so wichtig werden: Marcela, die Tochter des Lyrikers Reiner Kunze. Gabriele, die Tochter des Sanitätsrats Dr. Stadtmann. Beate und Rainer, die Kinder von Professor Hartmann, dem Chirurgen des Greizer Kreiskrankenhauses.

Ich glaube, sagt Edith Schimmel, die Mädchen damals waren alle in ihn verliebt. Wir hingen doch an seinen Lippen. Was er erzählte, stand in keinem Buch. Die anderen Lehrer, sagt sie, die lasen nur vor, ganz verkrampft. Die wollten alle keine Fehler machen. Aber Böhme? Kommt rein in die Klasse und legt los. Guckt in kein Buch, erzählt. Steht vorne am Pult und raucht und redet. Qualmt die Klasse voll und diskutiert. Das war völlig untypisch, sagt Edith Schimmel.

Mir hat er die Toleranz beigebracht, sagt Gabriele Kahler, die Tochter von Stadtmanns, die wie ihr Vater Medizin studiert hat. Meine Eltern sind Anthroposophen, ich bin nicht kommunistenfreundlich erzogen worden. Aber Manfred hat mir beigebracht, was ein Marxist ist, was ein wirklicher Genosse ist, nämlich einer, der an die Idee glaubt, ohne sich Vorteile zu erhoffen. Er wollte mich nicht zur Marxistin machen, sagt die Ärztin. Er wollte, daß ich Marxisten gegenüber tolerant bin. So gesehen sei Manfred Böhme für sie immer ein Vorbild gewesen.

Ein Vorbild, sagt Rainer Hartmann, der Sohn von Hartmanns, der Pfarrer ist und in Beutnitz lebt, ein Vorbild war er für mich nicht. Auch kein Idol. Dafür sei alles viel zu kompliziert gewesen zwischen ihm und dem zehn Jahre älteren Freund. Er sieht Böhme zum erstenmal im Kulturbund, wo er einen Vortrag hält. Welch eine schauspielerische Begabung. Der Schüler ist beeindruckt. Ich habe gesehen, daß eine ungeheure Kraft dahinter steckt, sagt Rainer Hartmann. Aber keine Kraft, die aus dem Unendlichen schöpft, sondern eine, die aus dem Willen kommt.

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Nach dem Vortrag nimmt er sich ein Herz, geht zu Böhme und fragt: Was hält dich eigentlich am Leben? Und Böhme antwortet: Ich jage einem Phantom nach, einem Phantom aber, das für mich Gestalt hat. Da habe ich gemerkt, sagt Rainer Hartmann, daß er mich ernst nimmt. Das beglückt den Schüler, und das macht ihn stolz. Er wird einer seiner treuesten Freunde werden.

Manfred Böhme arbeitet jetzt in der Bibliothek, unterrichtet an der Erweiterten Oberschule, gründet einen Philosophiezirkel, leitet den Jugendclub. Und da holte ich mir eine Gruppe ins Haus, sagt er, eine Laien-Musikgruppe, die Jazz spielte. Das förderte ich.

Wenn Manfred etwas wirklich gehaßt hat, sagt Rudolf Kuhl, der Saxophonist, dann war es Jazz. Jazz konnte er einfach nicht ausstehen. Er hat ihn nur akzeptiert, weil er wußte, wir wären sonst gegangen. Das wußte er.

Also Böhme holt sich diese jungen Leute ins Kulturhaus, den Werkzeugschlosser Rudolf Kühl mit dem Saxophon, den Maschinenbauer Harald Seidel mit der Baßgitarre, den Lyriker und Maurer Günter Ullmann am Schlagzeug, den Elektromechaniker Jürgen Kornatz an der Flöte. Die Band nennt sich «media nox», Mitternacht. Sie machen Musik, schreiben Gedichte, diskutieren, rezitieren, «o Phönix, sing dein Lied vom warmen Wald...», und aus der Tschechoslowakei weht sanft der warme Wind des Prager Frühlings zu ihnen herüber.

Und Manfred Böhme arrangiert, organisiert, macht Lesungen, Ausstellungen, sucht Künstler, besucht Elly-Viola Nahmmacher, die Holzschnitzerin aus Greiz, sitzt oft bei ihr in der schönen alten Villa, bringt seine neuesten Gedichte mit und erzählt Märchen aus seinem Leben. Er war doch ein Mensch ohne Vergangenheit, sagt sie. Ein Mensch ohne Identität. Sie erinnert sich noch genau, wie Böhme sich um den jungen Till-Armin kümmert, der wohnte bei ihr um die Ecke in der Elsterstraße. Mit sechzehn Jahren sei der an Krebs gestorben. Es war erschütternd, sagt sie, wie Böhme sich um diesen todkranken Jungen gekümmert, mit welcher Liebe er ihn betreut hat. Bis zum Ende. Wie ein Vater sein Kind.

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Einmal, sagt die Bildhauerin, bin ich ihm hier in unserer Straße begegnet. Da ging er ganz langsam. Ganz langsam. Und da sagte er: Ich bin krank. Und nach einer Weile: Ach, wie schön, daß man auch mal langsam laufen muß. Er hat nicht gesagt, was ihm fehlt. Er ist langsam weitergegangen. Das fand sie schon sehr merkwürdig.

Der Böhme, sagt Jürgen Kornatz, hat hier aus dem Nichts ein Kulturleben gestampft. Er hat gegründet und gegründet. Lyrikzirkel und Philosophiezirkel. Er lernt Böhme schon drei Wochen nach dessen Ankunft in Greiz kennen. Ein Arbeitskollege schleppt ihn damals an. Hier, sagt der, das ist der Manfred. Und Kornatz denkt noch, was ist denn das für ein komischer Vogel? So fein, so pingelig, küßt Hände und kann nicht Scheiße sagen und nicht rülpsen. Das macht er denn gern in seiner Gegenwart, und Böhme ist jedesmal geschockt.

Woher hatte er die feinen Manieren?
Ich weiß es nicht, sagt Kornatz. Es war doch alles Geheimnis um ihn herum. Er kam doch praktisch aus dem Nichts.

Damals, Ende der sechziger Jahre, sagt Rudolf Kuhl, da war das ganz schlimm mit Böhmes Mystizismus. Da habe er ihm auch erzählt, daß er im «Bund der Leninisten» arbeite. Was denn das schon wieder sei, habe Kuhl gefragt. Eine Organisation aller sozialistischen Länder, habe Böhme gesagt. So eine Art Stasi, die aber über dem Ganzen stehe. Eine Über-Stasi, die die Unter-Stasi reformieren wolle. So etwa.

Rudolf Kuhl spielt damals eine wichtige Rolle für Manfred Böhme. Der Mann am Saxophon ist sein Lieblingsjünger. Ja, sagt Kuhl, das klingt vielleicht gemein, aber es war so. Böhme brauchte immer jemanden, dem er total vertraute. Der mußte ihn dafür bewundern und ihm ergeben sein.

Ja, vor allem das. Böhme hat sich dann besondere Aufgaben ausgedacht, die man für ihn erfüllen mußte. Banale Sachen, die meist aber gar nicht real gemeint waren. Ich stehe irgendwo – und er kommt nicht. Ich soll was abholen – aber da ist niemand. Ich soll wo anrufen – aber die Nummer ist falsch.

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Böhme prüft seine Macht. Er probiert sich selbst aus. Guckt, wie weit er gehen kann, und das heißt, wie weit seine Freunde bereit sind, mit ihm zu gehen. Der kleine Diktator schlägt Pflöcke ein, steckt sein Reich ab. Dr. Regina Hartmann, die Frau von Professor Hartmann, erinnert sich an eine merkwürdige Begebenheit: Böhme geht mit Freunden auf der rechten Straßenseite und sagt, wie schön, daß man hier auch auf der linken Seite gehen darf. Pause. Verblüffung. Aber niemand widerspricht.

Kühl geht er mit der Macht um. Und weil er bluffen kann, scheint der Erfolg programmiert. Doch wehe, wenn Bewunderung über Berechnung siegt und Sentiment ins Spiel kommt. Manfred Böhme hat eine Schwäche für Dichtung. Er liest Puschkin, er schreibt für Heinrich Heine ein Poem, er greift immer wieder selber in die Leier und weiß am Ende doch, wo die wahren Dichter wohnen. Einer, den er so bewundert, wohnt damals ganz in seiner Nähe: Reiner Kunze.

Manfred Böhme vertont 1967 zwei Gedichte von ihm, die schickt er dem Lyriker, und der lädt ihn ein zu sich in die Franz-Feustel-Straße 10. Ach, Kunze, wie der dichten kann! So möchte Böhme dichten können. Und wenn er denn daheim in seinem Zimmer sitzt – er wohnt jetzt in der Thälmannstraße 10 bei der Witwe Herold –, dann greift er zur Feder, schreibt Verse, und die verteilt er gern, und er glaubt sich wohl langsam auch berufen.

Ja, sagt Reiner Kunze, er fühlte sich offenbar als Dichter. Und den, sagt der Lyriker, habe er überhaupt nicht wahrgenommen. Nicht, weil er ihn vielleicht schlecht fand, nein, er habe ihn nicht ernstgenommen, weil er nie etwas Ernsthaftes von ihm gesehen habe. Ich wußte ja nicht mal, daß er Gedichte macht, sagt Kunze. Von anderen weiß er es. Als er die ersten Arbeiten von Arnold Vaatz sieht und von Jürgen Fuchs, da sagt er sofort: Das ist was. Aber Böhme?

Aus den Akten geht hervor, wie gekränkt Böhme gewesen sein muß, wie gedemütigt er sich gefühlt haben muß. Er sei völlig verblüfft gewesen, sagt Kunze, denn Böhme, der war für ihn ein Kulturfunktionär. Ja. Und ein anständiger Mensch. Ja. Auch ein charmanter Mensch. Auch einer, der helfen wollte. Auch ein unheimlicher Mensch. Ja, auch das. Aber Gedichte? Nein, sagt Kunze. Gedichte von ihm habe ich einfach nicht registriert.

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Doch jetzt im Sommer 1968 ist Manfred Böhme noch der Blitz, der in das schlummernde Kulturleben von Greiz einschlägt. Welch ein Kopf, sagt Günter Ullmann, welch ein Wissen, welch eine Begabung. Stellt sich einfach hin und spricht. Spricht über Lenin und Dostojewski. Alles aus dem Stegreif, klug und geschliffen, voll Charme und Phantasie. Ullmann, der Schlagzeuger, der abstrakte Bilder malt, der Trakl liest und Georg Heym und selber explosive Lyrik schreibt, Ullmann sagt: Er war ein Genius, und er hat mich bezaubert.

Manfred war völlig anders als wir, sagt Harald Seidel, der Baßgitarrist. Wir liefen doch mit langen Haaren rum, mit Jeans und Turnschuhen. Das war unsere kleine Freiheit. Und er? Anzug, weißes Hemd, Krawatte und das SED-Abzeichen am Revers. Und daneben steckte immer sein kleiner Lenin. Lenin, sagt Seidel, war doch sein Abgott damals. In seinem Zimmer hing ein Lenin, sagt Regina Hartmann, ein schönes Schwarzweißbild von Lenin. Und ein Kruzifix hing da, wie man es sonst in der katholischen Kirche hat.

Lenin hängt über Böhmes Bett. Wie Lenin trägt er seinen Bart. Wie Lenin hat er auch lange Zeit nur einen Anzug, und der ist, wie Lenins Anzug, immer tadellos in Ordnung. Wie Lenin kann er nämlich Unsauberkeit nicht ausstehen. Und nichts ist schädlicher als Gefühlsduselei, denkt Böhme – wie Lenin. Nachts sitzt er spartanisch wie Lenin in seinem möblierten Zimmer und schreibt, wie Lenin, bis in die frühen Morgenstunden.

Wann hat er zum erstenmal von Lenin gehört?

Das war in der zweiten Klasse, sagt er. Und es gab auch ein Buch, wo Lenins Leben kindgerecht beschrieben wurde. Die Episoden stimmten natürlich nicht alle, sagt er. Aber was auch immer man Lenin nachsagen könne, auch zu Recht nachsagen könne, sagt Böhme, er war ja auch ein Illusionist und ein sehr bescheidener Mensch. Der einfache Bastschuhbauer, der von nichts wußte – aber Lenin, den kannte er. Den kannte jeder, auch wenn er nicht schreiben und nicht lesen konnte. Und Böhme erzählt, wie tief es ihn damals beeindruckt hat, daß der Revolutionär seine Zuckerration ins Kinderheim bringen ließ.

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Lenin war für Sie also der liebevolle und besorgte Vater?
Ja, er war schon so etwas wie das väterliche Prinzip, sagt Böhme. Wenn der seine Soldaten anredete: Meine Söhne! - was muß das für einen Slawen bedeutet haben!
Haben Sie später versucht, ihm ähnlich zu sein?
Sein Arbeitsstil, der hat mich schon fasziniert, sagt er. Und seine Art, wie er mit politischen Gegnern umging, wie er mit Trotzki umging, ihn sogar zum Volkskommissar macht. Das hat mich schon fasziniert. Aber ich wollte natürlich nicht wie Lenin sein.

Und wann haben Sie Ihr Lenin-Bild abgehängt?
Hoch in den Siebzigern erst, sagt er, auch wenn ich da schon längst gemerkt hatte, wo Lenins Theorien nicht aufgegangen waren. Aber man gibt einen Heros ja nicht so schnell preis.
Was war für Sie Lenins größter Fehler?

Er war zu weich, sagt Böhme. Er hat sich nach Gorki zurückgezogen, hat sich mit seinen philosophischen Theorien beschäftigt, hat Briefe geschrieben und wollte auf keinen Fall Stalin zum Nachfolger. Ja, sagt er, das war sein größtes Versagen: Weichheit.

In Greiz schwingt der junge Manfred Böhme seine Reden. Er agiert und er agitiert seine Freunde politisch. Er hat uns mit Informationen versorgt, sagt Günter Ullmann, hat uns über die Ideale von Dubcek aufgeklärt, hat immer gesagt: Wir müssen was tun, wir müssen auf die Straße gehen, wir müssen unsere Sympathie für die Tschechen zeigen.

Damals, sagt Harald Seidel, haben wir alles gemacht. Rockjazz und Op und Pop und Werbeplakate in knallbunten Farben, die der Kulturfunktionär Eberhard Herzog alle hat abreißen lassen. So was kann nur in Prag hängen, hat er getobt. Also weg damit. Unsere Informationen, sagt Seidel, bekamen wir aus dem Westen. Da hörten wir Interviews mit Heinrich Böll, mit Jean-Paul Sartre, mit Alexander Dubcek. Die waren doch alle verboten bei uns.

Was für uns die intellektuellen Freiräume, sagt Seidel, war für die Partei von Anfang an Kampfgebiet. Im «Neuen Deutschland» stand, wir müssen dagegen angehen, wir müssen dem Brudervolk dringend helfen.

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Und Herr Pissarek, der Direktor der Greizer Papierfabrik, sagte damals schon: In der SED gibt es Leute, die den gesunden Leib der Partei zerstören wollen. Die müsse man wie ein Geschwür rausschneiden. Und damit, sagt Seidel, habe er auch Manfred Böhme gemeint.

Als das los ging mit dem Prager Frühling, sagt Rudolf Kuhl, der Saxophonist, da haben wir mit Manfred bei abgedunkelten Fenstern gesessen, und er hat uns informiert. Was hat er uns nicht alles erzählt über Dubcek! Dafür bin ich ihm noch heute dankbar, sagt Kühl. Damals habe Böhme Hoffnungen in sie gepflanzt. Nur Hoffnungen. Wir wollten doch die ganze Welt verändern.

Böhme hat sich auch ausdrücklich zu einer Palastrevolution bekannt, sagt Kuhl. Ausdrücklich. Er hat gesagt: Jeder von uns muß in die Partei gehen, muß ein Studium aufnehmen, muß das sofort machen, damit er dann auch verfügbar ist. Kenntnis haben, informiert sein, die Abläufe lernen, wissen, wie regiert wird. So hat er gepredigt. Und schnell sollte das alles gehen, damit man zuschlagen kann. Er der Chef – und wir die Untertanen. Böhme hat so gedacht. Er ist auch immer von der einzig regierenden Partei ausgegangen. Nie, sagt Kühl, hat er von einem pluralistischen System gesprochen. Nie. Einen reformierten Sozialismus wollte er. Und Dubcek, der war für ihn der Palastrevolutionär.

War Böhme denn überhaupt einer, der viele Menschen auf einem Haufen ertrug?

Nein, Angst hatte er davor, sagt Rudolf Kuhl. Volksmasse, das war für ihn der Pöbel, und davor hatte er panische Angst. Er wollte der Intellektuelle sein. Er wollte auch volksverbunden sein. Aber so gnädig volksverbunden.

Wenn Böhme bei Professor Hartmann und seiner Frau zu Gast ist, oben über der Stadt im Ärztehaus des Kreiskrankenhauses, dann spricht er auch dort gelegentlich von Palastrevolution, einer blutigen sogar. Aber es war eben so, sagt Regina Hartmann, daß ich seine politischen Pamphlete aus Freundlichkeit anhörte. So wie er meine Vorstellungen auch aus Freundlichkeit anhörte.

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Über diese Freundlichkeit hinaus, sagt sie, sind wir uns viel schuldig geblieben. Und sie habe nicht die Mühe aufgewandt, über den Begriff einer blutigen Revolution ernsthaft nachzudenken. Es habe sie nur erschreckt, daß er so redete.

Er redete wie Lenin: «Heutzutage darf man niemandem den Kopf streicheln – die Hand wird einem sonst abgerissen. Schlagen muß man auf die Köpfe, unbarmherzig schlagen – obwohl wir im Ideal gegen jede Vergewaltigung der Menschen sind.» Das sagt Lenin zu Maxim Gorki. Wichtiger als das Leid einzelner ist für Böhmes Held immer der Kampf gewesen. Und weil Lenin nie einen Hehl daraus gemacht hat, tut Böhme das auch nicht.

Am 21. August 1968 rollen russische Panzer in Prag ein. Der Frühling wird erschossen. Und Jürgen Kornatz, der Flötist, der mit seiner Freundin Gabriele Stadtmann die Wochenenden in Kottenheide verbringt, sieht, daß die Armee schon seit langem an der tschechischen Grenze liegt. So war das doch, sagt Kornatz, erst kommt der Hilferuf, und dann kommen wir und helfen.

Auf seiner Arbeitsstelle werden sie noch am selben Tag vom Meister und vom Parteisekretär befragt, ob das richtig sei, daß die DDR mithilft, den Sozialismus zu retten. In meiner Abteilung, sagt Kornatz, waren noch zwei, die dagegen waren. Alle anderen haben brav genickt. Jeder mußte einzeln reinkommen zur Befragung. Und er habe draußen noch agitiert. Wißt ihr denn überhaupt, wozu ihr ja sagt? Wißt ihr denn überhaupt, was da läuft? Aber alle haben genickt. Bis auf zwei.

Am Nachmittag treffen sie sich im Jugendclub. Da saßen wir alle an einem langen Tisch, sagt Kornatz, Böhme vorn an der Stirnseite. Und wir drumherum. Und dann kam die Frage: Was kann man tun? Die war an Böhme gerichtet, die Frage. Und da sagt er, er habe gehört, daß Leute in anderen Städten kleine Fähnchen trügen. So an der Kleidung. CSSR-Fähnchen als Solidarisierung.

Das war alles, was Manfred dazu gesagt hat, sagt Kornatz. Prag – das war doch unsere ganze Hoffnung! Und nun? Da kam nichts von Böhme, sagt Kornatz. Kein Klartext, kein Vorschlag, nichts.

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Also setzen sie sich hin und basteln CSSR-Fähnchen. Sie schneiden auch welche aus Erdkundebüchern und Lexika aus. Die heften sie sich dann an die Jacke, ans Hemd, an die Baskenmütze.

Wo trug Böhme das Fähnchen?
Unser Böhmele? fragt Kornatz. Der trug keins.

Rudolf Kuhl kann sich an überhaupt keinen Protest erinnern, an dem Böhme beteiligt gewesen wäre. Nein, sagt er, da kam nichts von ihm. Er selbst erinnert sich noch, wie er mit seinem Sticker nach Hause kommt. Sein Vater ist Polizist und schwerkrank, und dessen Kollegen gehen damals ein und aus und wissen nicht, wie sie sich dem jungen Mann mit der Fahne am Kragen gegenüber verhalten sollen. Mich haben Polizisten schon immer genervt, sagt Kuhl. Ich hatte immer ein gespaltenes Verhältnis zu ihnen. Und dann noch mein Vater. Dabei war mein Vater ein ganz normaler Mensch. Der mußte nur Polizist werden, weil meine Mutter gesagt hat: Nun hast du acht Kinder in die Welt gesetzt, nun sieh zu, wie du die satt kriegst.

Am Abend treffen sich die jungen Leute im Tanzsaal von Elsterberg. Da ist ein Ruinenfest, lange geplant schon. Und da kommt dann ein Kontrolleur auf den Schlagzeuger Günter Ullmann zu, ein Polizist, und der schleppt ihn aufs Revier. Warum er das Fähnchen trage? Wieso, sagt Ullmann, die Tschechen sind doch unsere Brüder.

Drei Wochen später bekommt er eine Vorladung ins Polizeipräsidium von Greiz. Da hat mir dann ein älterer Mitarbeiter der Staatssicherheit, sagt Ullmann, lang und breit erzählt, wie im Faschismus gefoltert wurde. Danach hat er mich gefragt, wieso ich diese CSSR-Fahne am Hemd trage. Ich habe ihm geantwortet, damit so etwas wie im Faschismus nicht mehr passieren kann.

Zu Hause schreibt er ein Gedicht:

im herzen europas
liegt schnee
aus sibirischen lagern

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der prager frühling
erwacht
in preußischen panzerspuren

DER MAI IST GEKOMMEN
1969
und schlägt die bäume
aus

Und Böhme? Der erzählt, daß es zwei Tage nach dem Einmarsch eine große Aktiv-Tagung der SED im Kreiskulturhaus von Greiz gegeben habe. Dort sollte jeder eine Resolution zur <sozialistischen Waffenhilfe der Warschauer Vertragsstaaten> unterstützen. Böhme sei aufgestanden und nach vorne gegangen, um zu reden. Aber man ließ ihn nicht reden. Da habe er gesagt: Moment mal, bitte, bevor wir hier abstimmen, möchte ich Meinungen hören. Und ich habe eine Meinung.

Er habe den Einmarsch abgelehnt und zu begründen versucht, warum der Weg Dubceks die letzte Chance sei. Und dann habe er die Worte von Robert Havemann aufgegriffen, habe gesagt, daß der Dialog zwischen Partei und Volksmassen im Interesse einer sozialistischen Demokratie-Entwicklung durchgesetzt werden müsse. Dann will Böhme alle aufgefordert haben, gegen die Resolution zu stimmen, und sei auf seinen Platz gegangen.

Am Abend wird Manfred Böhme in der Thälmannstraße 10 abgeholt. Er will ins vierzig Kilometer entfernte Untersuchungs­gefängnis von Gera gebracht worden sein. Das liegt gleich hinter dem Kino, sagt er. In den Kellern habe er dort gesessen. Ungefähr fünf Wochen. In Einzelhaft. Keine Leseerlaubnis, keine Schreiberlaubnis, keine Freistunde, keine Zigaretten. Und ich war doch ein starker Raucher damals.

Manfred Böhme im Gefängnis? Also ich könnte meine Hand dafür ins Feuer legen, sagt Jürgen Kornatz, daß Böhme damals nicht einen Tag im Knast gesessen hat.

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Nun wäre Manfred Böhme nicht Ibrahim Böhme, wenn sich die Geschichte nicht auch noch anders erzählen ließe. Nämlich so: Gleich nach dem Einrollen der Panzer, noch im August, will er nach Prag fahren. Will sehen, was da los ist in der CSSR. In Dresden wird er aus dem Zug geholt. Herr Böhme? Bitte, folgen Sie uns. Ein Auto, eine Fahrt nach Gera, Gitter schließen sich hinter ihm.

Hat man im Gefängnis versucht, ihn als inoffiziellen Mitarbeiter zu werben? Hat man ihm ein Angebot gemacht ? Ja, man habe ihm angeboten, in die Bundesrepublik zu gehen, sagt Böhme. Das habe er abgelehnt. Und sonst könne er nur sagen, er habe es auch mit kleinen Leutnants und fiesen Typen zu tun gehabt, aber er sei nicht geschlagen worden.

Und kein Ansinnen der kleinen Leutnants und fiesen Typen?
Nein, kein Ansinnen, sagt er.
Keine Frage zu Ullmann, Seidel, Kühl und Kornatz?
Nein, sagt er, die waren doch damals noch überhaupt keine Nummer.

Ein paar Minuten zuvor hatte er noch gesagt: Die Untersuchungsleute wußten alles. Wußten genau, wann wir im geheimen Jugendzirkel was gesagt hatten. Die kannten den ganzen Kreis in Greiz, Ullmann, Seidel, Kühl und Kornatz.

Manfred Böhme wird, so sagt er, nach fünf Wochen Haft entlassen und fährt mit dem Zug nach Greiz zurück. Das ist am Ende der ersten Oktoberwoche. Er wisse das deshalb so genau, weil an diesem Tag ein großer Teil der Truppen aus der CSSR zurückkommt, umjubelt von Hunderten und Hunderten von Greizern.

Ach, er lügt, sagt Harald Seidel, er ist wirklich ein Lügner. Die Sympathien für die Tschechen waren so groß, und sie gingen durch alle Schichten der Bevölkerung. Die hat nicht gejubelt. Wirklich nicht. Wenn er Jubler gesehen hat, dann waren das die von der Partei beorderten, die mit den Winkelelementen. Das ist möglich.

Manfred Böhme geht also vom Bahnhof in die Thälmannstraße, das sind nur ein paar Minuten, und da rollen sie an ihm vorbei, und die Massen, er will es gehört haben, jubeln.

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Am 27.11.1968 legt die Staatssicherheit eine Karteikarte für den neugewonnenen inoffiziellen Mitarbeiter an. Seine beiden Decknamen für Greiz sind «August Drempker» und «Paul Bonkarz».

Paul Bonkarz, sagt Harald Seidel, den Namen kannte ich. Manfred wollte mal Eindruck machen bei mir und fragte: Du Harald, kennst du Paul Bonkarz? Der Name ist gefallen, sagt Jürgen Kornatz. Das weiß ich genau. Rudolf Kuhl kann sich sogar an beide Namen erinnern. Ich weiß nicht mehr in welchem Zusammenhang, sagt er, ich weiß nur in bezug auf Böhme. Drempker und Bonkarz, er weiß noch genau, was er denkt, als er diese beiden Namen im Zusammenhang mit Böhmes Stasi-Vergangenheit hört: Ach, sieh mal an, kennst du doch.

Mich hat es nur gewundert, sagt Regina Hartmann, daß einer, der gegen den Einmarsch in die CSSR war, eine solche Rolle spielen konnte, wie Manfred es dann tat in Greiz. Der mußte doch verstrickt sein, dachte ich, ob er nun will oder nicht. Muß zumindest eine Art Opfer sein. Und wer Opfer ist, sagt sie, der ist auch, wenn es die Umstände zulassen, Täter. Jedenfalls ist er gefährdet, Täter zu werden.

Manfred Böhme ist jetzt vierundzwanzig Jahre alt. Der Rebell mit Schlips und Kragen kommt, wie er behauptet, zum zweitenmal aus dem Gefängnis. Nichts, sagt er, habe er von seinen Ideen aufgegeben. Und nichts habe er sich abhandeln lassen. Seine Gedanken seien unverändert geblieben. Also heißt sein Ziel noch immer: Palastrevolution.

Manfred Böhme ist aber kein Revolutionär. Nicht im Geist und schon gar nicht in der Tat. Er ist in Wahrheit wohl ein Aufrührer, einer, der nach Lust und Laune in der Welt herumstochern will, wühlen will, spielen will. «Der Aufrührer», schreibt Jean-Paul Sartre, «sorgt dafür, daß die Mißstände, unter denen er zu leiden hat, bestehenbleiben, damit er sich gegen sie auflehnen kann. Immer trägt er Elemente des schlechten Gewissens und eine Art Schuldgefühl mit sich herum. Er will weder zerstören noch überwinden, sondern sich gegen die Ordnung wenden. Je mehr er sie angreift, desto mehr achtet er sie insgeheim; die Gesetze, die er öffentlich anficht, bewahrt er tief in seinem Herzen: würden sie verschwinden, so verschwände mit ihnen auch seine Daseins­berechtigung».

Es ist Herbst geworden, und Manfred Böhme ist wieder in Greiz. Er wohnt wieder in seinem Zimmer in der Thälmannstraße. Und Frau Herold, seine liebenswerte alte Wirtin, bringt ihm morgens wieder Brötchen und Kaffee. Wie immer. Zwei Tage vor Weihnachten, am 22. Dezember 1968, schreibt er ein Gedicht. Es heißt «Sicherheit». Die zehn Zeilen sind ein Schlüssel für die nächsten zwanzig Jahre, die Manfred Böhme zwischen Sein und Schein verbringen wird, mal als Dr. Jekyll und mal als Mr. Hyde.

Wenn meine Sicherheit
sich neigt
in den Schatten
der Nacht,
bin ich nicht einsam.
Erst dann lebe ich
mit den anderen,
deren offenen Blick ich
am Tage suchte.
Erst dann.

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