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4  «Er hatte etwas Messianisches»

 

Der Schauspieler

 

 

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Manfred Böhme liegt in seinem Zimmer, die Vorhänge zugezogen, tagelang. Er ißt kaum, er geht nicht raus, er weiß ja nicht, wohin, er hat doch keine Arbeit.

Sein Zimmer, sagt Regina Hartmann, die «Quasi-Mutter», war ein Roman für sich. Es war das Speisezimmer einer bürgerlichen Familie, mit großem Eßtisch, vier bis sechs Stühlen, einer Kredenz, einem Büffet. Und ganz in der Ecke stand ein Stahlbett, und in dem lag der Manfred. Frau Herold, seine Wirtin, hat ihm morgens Brötchen und Kaffee gebracht, und er aß praktisch den ganzen Tag nichts anderes als diese Brötchen. Und auf dem Tisch stand nicht etwa Geschirr, nein, der ganze Tisch war voller Bücher, alles durcheinander. Und an der Wand hingen eben der Lenin und das Kruzifix. Dann gab es noch ein Waschgestell, und darin, so erfuhr ich von meinen Kindern, wusch er sich und seine Wäsche und auch seine Oberhemden, alles in dieser Schüssel.

So hat er von 1965 bis 1977 in Greiz gelebt, sagt Regina Hartmann. Und Frau Herold, die Wirtin, hat ihn all die Jahre betreut. Sie respektierte ihn. Auch, wenn er betrunken nach Hause kam. Und sie kümmerte sich, war voller Angst, wenn er tagelang nichts aß und nur im Zimmer auf dem Bett lag. Sie rief dann bei mir an, sagt Regina Hartmann, und ich kam. Und mein Sohn, sagt sie, der hat bei Manfred im Zimmer auch seine ersten Besäufnisse ausgebrochen. Und Manfred hat alles weggewischt, rührend war das.

Manfred Böhme hat keine Arbeit, lange keine Arbeit, sagt er. Bis es dann eines Tages bei ihm klopft. Es ist Frau Herold, die sagt: Herr Böhme, der Herr Kopp ist da, der möchte zu Ihnen. Der Herr Kopp, sagt Böhme, war ein Edelkommunist. Er hatte Buchenwald überlebt und war Bürgermeister von Greiz geworden. Aber nur für ein paar Jahre, bis es denen nicht mehr paßte, die früher in der Hitlerjugend waren und wieder Einfluß hatten. Also, dieser Herr Kopp steht nun in seiner Tür und fragt :

Kann ich reinkommen?
Aber bitte, Herr Kopp.
Walter heiß ich.

Und Herr Kopp setzt sich und sagt: Also, was du da gemacht hast, war großartig. Er meinte die Sache mit dem Einmarsch in die cssr und der Rede gegen die sozialistische Bruderhilfe. Er habe da einen alten Genossen bei der Post sitzen, einen KPO-Mann, Kaderleiter der Post, sagt Kopp. Geh morgen hin. Der stellt dich ein. Aber halt die Klappe, ich war nicht hier, von mir weißt du nichts. So sei er denn am nächsten Tag zur Post gegangen und eingestellt worden.

Manfred hat sofort Schulungen durchgeführt, sagt Harald Seidel, der Baßgitarrist, der später SPD-Abgeordneter im Thüringer Landtag wird. Verwunderlich war auch, daß er in kürzester Zeit Karriere machte. Er wurde Kaderleiter bei der Post. Und kurz darauf auch noch Kreissekretär des Kulturbundes. Das war eigentlich schon unheimlich. Aber Gedanken haben wir uns nicht groß darüber gemacht.

Also Manfred fing an als Briefverteiler, Greizer Hauptpostamt, sagt Jürgen Kornatz, der Flötist, der in Berlin fürs Fernsehen arbeitet. Und schon bald darauf war er ganz oben. Kaderleiter heißt Personalabteilung, und die hat natürlich immer einen heißen Draht zur Stasi gehabt. Also irgendwas stimmt da nicht, sagt Kornatz. Wenn Manfred im Knast gewesen ist, kann er so einen steilen Sprung nicht machen. Nicht in der DDR. Oder er hat unterschrieben bei der Firma. Vielleicht haben die ihm ja gedroht. Wer weiß.

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Ibrahim Böhme als Kulturbundfunktionär von Greiz.

«Ich liebte Fürst Myschkin, den Idioten von Dostojewski.
Aber das sagte ich niemandem. Myschkin war doch viel zu schwach.»

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Und in der Partei ist er damals auch noch, sagt Kornatz. Ausgerechnet Böhme, der im Knast gewesen sein will, fliegt nicht aus der Partei, kriegt statt dessen noch eine Chance bei der Post. Sehr merkwürdig. Und dann wird er Erster Kreissekretär vom Greizer Kulturbund. Das auch noch. Also ich denke mal, sagt Kornatz, sie haben ihn unter Druck gesetzt, damals.

Aber was für eine Zeit! Manfred Böhme im Kulturclub «Alexander von Humboldt». Daran erinnern sich alle Freunde mit Vergnügen. Wir haben doch die ganze Stadt terrorisiert, sagt Pfarrer Hartmann, der Sohn von Professor Hartmann. Terrorzentrale ist die schöne Villa in der Rosa-Luxemburg-Straße. Da residiert der Club. Unten ist Gaststättenbetrieb, im ersten Stock sind die beiden großen Büroräume von Böhme und ein Versammlungssaal, ganz oben, unterm Dach, wohnt Jürgen Kornatz.

Da sitzen sie nun, der Guru und seine Jünger, trinken Tee und rauchen und machen sich einen Jux. Manfred Böhme ruft überall in Greiz an. Anonym natürlich. Immer anonym.

Ist da die Bäckerei Rosa-Luxemburg-Straße? Ich möchte den Chef sprechen. So, am Apparat. Sie sind vielleicht ein mieser Laden. Sie haben da eine Maus in den Kuchen eingebacken. Aber natürlich haben Sie. Wir sitzen hier am Kaffeetisch, und ich habe gerade ein Mäusebein ins Taschentuch gehustet.

Und dann ruft er einen hohen SED-Funktionär an, der im Dritten Reich braun gewesen ist. Der anonyme Böhme tut, als käme er aus dem Westen. Ja, Herbert ist hier, kennst du mich noch? Ich hab in Gera zu tun, laß uns doch heut abend was trinken zusammen. Also, weißt du noch, wie wir die Russen gejagt haben im Krieg? Und du immer vorneweg. Na, heute biste mit denen ja befreundet...

Er kannte doch jeden in Greiz, sagt Jürgen Kornatz. Und mit jedem duzte er sich. Und zu jedem hatte er Kontakt, zu allen SED-Köpfen. Und was waren für üble Kunden dabei. Ich verstehe nicht, daß er sich mit denen abgeben konnte. Manfred, du bist ein Kompromißler, habe ich zu ihm gesagt. Du mauschelst mir zu viel herum. So dachte ich damals, sagt Kornatz. Für mich gab es nur schwarz oder weiß. Ja oder nein. Nichts dazwischen.

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Mit einem dieser Bonzen, dem Direktor des Kreiskulturhauses, hat Böhme eine Rechnung zu begleichen. Er ruft also an. Seine Frau ist am Apparat. Ja, hier spricht das Fernmeldeamt. Sie bekommen morgen früh einen neuen Hörer, einen modernen, ja. Sie müssen das aber vorbereiten. Den alten müssen Sie abschneiden. Direkt an der Muschel. Ja, jetzt gleich, sonst klappt das morgen nicht. Das muß austrocknen. Ich bleibe am Apparat, bis Sie weg sind. Nein, es passiert Ihnen nichts. Und da schneidet sich die Gattin des Herrn Direktor aus der Leitung. Was haben wir gelacht, sagt Böhme. Und der Feind sitzt zwei Tage ohne Telefon.

Die Telefonate sind für ihn Bühnenstücke, sind seine täglichen Einakter. Egal, ob er wirklich anruft oder nur simuliert. Er spricht mit verstellter Stimme, berlinert oder sächselt, droht oder buhlt, lallt oder stottert, ganz, wie er sich die Rolle wünscht für diesen Tag. Er wollte alles sein und alles können, sagt Harald Seidel. Auch Theater wollte er spielen. Er schwärmte vom Schauspieler in Lion Feuchtwangers «Der jüdische Krieg». So wie der wollte er sein.

Der heißt Demetrius Liban und ist «der populärste Komiker der Hauptstadt, verhätschelter Liebling des Hofes, ein Jude, der sein Judentum bei jedem Anlaß betonte». Dieser Demetrius Liban spielt ohne Maske und ohne Requisiten, und das Publikum gerät in Rage über die «unerhörte, freche Realität des Spiels».

Sagen Sie mal, näselt Böhme durchs Telefon, was haben Sie gestern abend mit meiner Frau gemacht. Sie Ferkel, Sie Dreckfink ? Und kaum hat Böhme den Hörer aufgelegt, klingelt es. Am Apparat der eben Beschimpfte. Sag mal, da hat mich gerade jemand angerufen, der glaubt, ich hätte gestern abend...

Perfekt. So will er es haben, der Manfred Böhme. Verstecken, verstellen, verschleiern, und das Publikum beherrschen. Wie Demetrius Liban. «Es bedurfte nur eines Wortes von ihm, und der Stein begann zu rollen. Wohin er rollen werde, wußte niemand.»

Manfred hatte eine große Gabe zu rezitieren, sagt Gabriele Kahler, die Ärztin aus Carlow in Mecklenburg. Er war ein Schauspieler, der seinen ganzen Körper einsetzte. Es hat auch etwas Teuflisches gehabt. Das hat mich fasziniert, sagt sie. Und dann seine schwarzen Haare, der Bart, die Mimik, das Talent, in Personen hineinzuschlüpfen. Und immer geschah bei ihm alles plötzlich. Plötzlich tauchte er auf. Und plötzlich war er wieder weg.

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Böhme inszeniert seinen Tag. Kommt früh um acht oder erst um elf. Hallo und Tee und Telefon. Sitzt am Schreibtisch und spreizt sich. Und die Leute, die ihn sprechen wollen, sollen warten. Erst beginnt das Spiel: Böhme nimmt den Hörer ab und wählt. Er telefoniert. Er spricht mit den tollsten Leuten, und die Gäste warten und hören, wie hier einer mit Dichtern, Malern, Bonzen redet, galant, charmant, bestimmt.

Das waren alles fingierte Telefongespräche, sagt Jürgen Kornatz. Böhmes Sekretärin hat ihm das erzählt. Der telefoniert gar nicht, der tut nur so, hat sie ihm gesagt. Und nach einer Weile dürfen die Leute dann zu ihm. Ja, Herr Böhme hat jetzt Zeit.

Manfred hatte etwas Messianisches, fast etwas Religiöses, sagt Harald Seidel. Und er benahm sich wie ein Guru. Es gab Phasen, da hat er sich sehr stark an einzelne gebunden. Das war dann wie ein Liebesverhältnis, sagt Seidel. Männer schauten zu ihm auf. Sie haben ihn vergöttert. Er selber habe vor dieser Idolisierung eher Angst gehabt, sei deshalb auf Distanz gegangen. Und immer dieses Konspirative, immer dieses Geheimnisvolle.

Einmal gehen sie spät abends durch Gera. Es ist stockfinster. Plötzlich bleibt Böhme stehen und sagt: Warte auf mich, Harald. Ich muß hier im Haus mit jemandem reden. In zwanzig Minuten bin ich zurück. Und weg ist er. Ich weiß nicht, wo er war, sagt Seidel. Vielleicht hat er mit jemandem geredet. Vielleicht hat er einen Bericht abgegeben. Vielleicht ist er auch nur aus der Hintertür raus und hat eine Zigarette geraucht. Jedenfalls war er nach zwanzig Minuten wieder da. Wir nannten ihn den Mann im dunklen Mantel.

Manfred gehört zu meinem Leben, sagt Pfarrer Hartmann. Nicht wie ein Vater, nicht wie eine Mutter, nicht wie ein Freund, auch nicht wie ein Idol, sondern wie etwas Fremdes, mit dem ich Kontakt aufnehmen konnte.

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Wenn Manfred Gruselgeschichten erzählte, sagt Rudolf Kühl, der Werkzeugmacher und Saxophonist, passierten die kuriosesten Dinge. Wir hocken da also im Zimmer, das Licht ist aus, die Kerze brennt, Manfred erzählt: ... durch die schwarze Wand vorbeiziehender Wolken stahl sich zittriges Mondlicht. Ein ferner Schrei durchschnitt den Wind, als plötzlich... Und da sprangen die Fenster auf, sagt Kühl. Wie in einem üblen Gruselfilm. Plötzlich sprangen die Fenster auf, und die Kerze ging aus. Alles war wie gebannt. Ob das Zufall war ? Ich weiß es nicht. Aber es war so. Mit solchen Mitteln hat er gearbeitet.

Am Abend, wenn Manfred Böhme aus dem Club «Alexander von Humboldt» kommt, guckt er gerne noch bei Peter Schimmel vorbei, seinem Schüler aus der Zeit in Leuna. Er und seine Frau wohnen gleich nebenan. Sie haben inzwischen einen Sohn, Timo heißt er. Und Timo vergöttert den Onkel Manfred. Der setzte sich zu mir ans Bett, sagt Timo, der heute ein Teenager ist, und fing an zu erzählen. Grimms Märchen, eigene Märchen, verdrehte Märchen. Bei ihm war alles dramatischer als in den Büchern. Er veränderte alles, brachte alles durcheinander, das war schrecklich aufregend.

Ach, der Timo, sagt Ibrahim Böhme mit ungeahntem Sentiment in der Stimme. Und der Schimmel Peter und die Edith. Das sind auch zwei wichtige Menschen für mich gewesen. Da haben Sie also mit Peter Schimmel gesprochen. Hat er von Leuna geschwatzt?

Mehr von Greiz, sage ich.
Leuna war schöner, sagt er schwärmerisch. Aber Greiz auch. Durch sie wurde Greiz erträglich.

Und dann erzählt Böhme die Geschichte vom Gerüst. In Leuna war seine Klasse, in der auch Peter Schimmel war, einmal von der Polizei aufgegriffen worden, weil die im Schlafanzug auf der Straße spazierengingen. An einem Sommerabend in Leuna. Da kam gleich das Rollkommando. Und er, als Lehrer, mußte auf die Wache kommen.

Die Geschichte erzählt er einigen Freunden, als er nach Greiz kommt.
Was, im Schlafanzug? Fabelhaft. Das würde in Greiz niemand wagen.

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Ich schon, sagt Böhme. Im Schlafanzug auf die Straße?
Wetten? fragt Böhme und sagt: Morgen abend, 19 Uhr an meinem Haus.

Er kauft sich einen nagelneuen Pyjama, sagt er, zieht Wäsche darunter an und Hemd und Binder und steigt im Dämmerlicht über das Gerüst des Hauses auf die Straße hinab. Das Haus, sagt er, wurde damals neu verputzt. Und da wandelt er nun auf der Thälmannstraße Richtung Tannendorfbrücke, die Freunde schleichen hinterdrein, und da kommt auch schon eine VP-Streife vorbei, eine Volkspolizei-Streife.

Was machen Sie denn hier?
Ich gehe spazieren.
Ja, wie gehen Sie denn spazieren ?
Na langsam, das sehen Sie doch.
Und die fühlten sich natürlich verarscht, sagt Böhme. Und einer von ihnen strahlt, jetzt hab ich dich, Bürschchen, so etwa, und sagt dann: Bürger, zeigen Sie bitte Ihr Personaldokument. Bitte schön, sag ich, und zieh mein Dokument aus dem Schlafanzug.

Um was haben Sie gewettet?
Um zwei Kästen Bier.

Das kommt wie aus der Pistole geschossen. Das gibt es einfach nicht, daß Ibrahim Böhme etwas nicht weiß. Er bleibt keine Antwort schuldig, auch nicht den Wetteinsatz von 1970. Und wenn er wirklich mal etwas nicht weiß, dann erklärt er einem, warum man das gar nicht wissen muß. Den Rest weiß er.

Er hatte ein unwahrscheinliches Gedächtnis, sagt Jürgen Kornatz. Jahreszahlen, Orte, Gespräche. Alles wußte er. Und manchmal war auch die Uhrzeit dabei, zu der Lenin was auch immer und in welcher gesundheitlichen Verfassung vor dem Deputierten­kongreß gesagt hat. Mit solchen Sachen hat er die Leute plattgeschlagen, sagt Kornatz. Und an Lenin hat ja schon mal gar niemand gezweifelt, wenn der irgendwo auftaucht und kluge Sachen sagt. Vieles wird gestimmt haben. Aber vieles war auch Bluff.

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Wenn Helmut Schwenke, der Greizer Chef für Agitation und Propaganda, mal wieder große Reden schwang, sagt Harald Seidel, dann unterbrach ihn Manfred und sagte: Helmut, also das stimmt nicht. Weißt du, Lenin hat gesagt... Und dann sprudelten die Zitate mit Jahreszeit und Wochentagangabe. Er maßregelte Schwenke damit, sagt der SPD-Abgeordnete, und der konnte nichts tun. Der glaubte ja auch an die Echtheit der Zitate, die gar nicht echt waren. Und selbst, wenn er sie nicht geglaubt hätte, wie hätte er beweisen sollen, daß es Böhmesche Erfindungen waren?

Eines Tages, sagt Seidel, als wieder so ein Agitationsgerüst durch Manfred zusammensackte, wurde tatsächlich eine Parteigruppe gewählt, also eine Partei in der Partei. Die sollte den «gemeinsamen Standpunkt» erarbeiten, damit nicht einfach ein SED-Mitglied, also Böhme, auf Gegenkurs fährt. Und das mit Lenin-Zitaten. Das waren Manfreds Schildbürgerstreiche, sagt Seidel. Das hat die Leute in der SED-Kreisleitung verrückt gemacht. Die sagten ihm auch: Du bist doch einer von uns, aber du sprichst die Sprache der Gegner. Und dann erzählte Böhme menschliche Geschichten von Lenin. Auch das noch. Lenin sollte abstrakt sein. Abstrakt! Abstrakt, sagt Seidel, war Böhme in seinen Reden auch, sprach von Theoremen, von kristalliner Gestalt und Hegelscher Stringenz. Er hat doch Hegel nie gelesen, sagt Seidel.

In den Gesprächskreisen im Club «Alexander von Humboldt», erzählt Rudolf Kuhl, hat er Reden und Monologe gehalten, die bestanden nur noch aus Fremdwörtern. Ich zählte zwar zu seinen Jüngern, aber irgendwann, sagt Kuhl, ertrug ich dieses Gerede nicht mehr. Und ich habe mich dann erfrecht zu fragen: Du, Manfred, was heißt das, was du da gerade eben gesagt hast? Also das konnte Böhme nicht ertragen. Das war Verrat. Aber es ging mir einfach auf den Geist, daß ich zu etwas nicken und ja sagen sollte, was ich nicht verstand.

Da fing denn auch der Bruch mit ihm an. Vor allem, als ich merkte, ich kann mich nicht auf ihn verlassen. Auf mich, sagt Kühl, konnte er sich verlassen. Und das wußte er. Aber das Gefühl wollte ich zurückbekommen. Ich wollte einfach, wenn ich ihm eine Frage stellte, eine konkrete Antwort bekommen. Oder ich wollte die Antwort bekommen : Das kann ich dir nicht sagen, das weiß ich nicht.

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Aber den Satz «das weiß ich nicht», den gab es für Manfred nicht, sagt Rudolf Kühl. Er wußte alles. Er wußte Zahlen, Fakten, Daten. Durch Zufall stieß man mal auf einen Fehler. Und dann brach seine ganze Beweiskette zusammen.

Er hat auch mal versucht, uns zu hypnotisieren, sagt Kühl. Das war bei mir im Zimmer. Ich saß nur so dabei. Den anderen, ich weiß nicht mehr, wer das war, den hatte er aufs Bett gepackt. Da lag der nun, und Manfred redete ganz sanft und monoton auf den ein: Deine Arme werden jetzt schwer, und du kannst deinen Kopf nicht mehr bewegen ... Und dem auf dem Bett passiert überhaupt nichts. Aber ich bin plötzlich weg, sagt Kühl. Ich bin hypnotisiert. Ich hatte in mein Aquarium geschaut, iind Manfred hatte gemurmelt, und plötzlich bin ich weg. Ich flog durchs Zimmer. Es sei kurios gewesen, und er wisse nicht, ob Manfred es gemerkt habe. Er jedenfalls habe nicht mit ihm darüber geredet.

Einmal waren französische Schüler bei uns im Jugendclub, erzählt Jürgen Kornatz. Und Manfred hielt mal wieder eine Rede. Also Russisch konnte er ja. Vietnamesisch offenbar auch. Jedenfalls sprach er mal mit Vietnamesen, und die sagten auch was zurück. Also, das konnte er wohl. Aber Französisch? Jedenfalls ging das nun los im Club. Manfred redete, die Dolmetscherin übersetzte. Und irgendwann unterbricht er sie und sagt: Entschuldigen Sie bitte, das ist gerade sehr wichtig, was ich hier sage – das sagte er natürlich auf deutsch –, ich möchte, daß Sie das etwas genauer übersetzen. Die Dolmetscherin ist völlig von den Socken, sagt Kornatz. Und Manfred? Steht wieder da, und alles schaut auf.

Aber wehe, wenn einer besser ist als er. Wehe, wenn einer mehr kann, mehr weiß, begabter ist. Reiner Kunze hatte mal eine Lesung, sagt Harald Seidel, und da wollten wir natürlich alle hin. Kunze war beliebt. Aber eher, weil er gute Gedichte schrieb. Er war eine Gestalt für uns in Greiz. Kunze war erwachsen. Böhme war nie erwachsen. Und Böhme wollte auch kommen an diesem Abend, sagt Seidel.

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Aber er kam nicht. Also ging ich rüber zu ihm nach Hause, wollte ihn holen. Da lag er im Bett und sagte: Nein, da geh ich nicht hin. Das will ich nicht hören. Und ich fühl mich auch nicht gut. Das war Eifersucht, sagt Seidel. Er war eifersüchtig auf Reiner Kunze.

Manfred wollte doch auch ein Lyriker sein, sagt Jürgen Kornatz. Aber seine Gedichte waren eben nicht gut. Die waren so weinerlich. Ich erinnere mich noch: Elegie einer Krisis. Na, und Balladen hat er ja auch gemacht.

Und dann denke ich an eine Diskussion, sagt Kornatz. Da war Gerhard Machnik dabei. Musiklehrer, log wie der Manfred, aber ein brillanter Kopf. Also Diskussion. Manfred laviert sich so durch, Machnik ist messerscharf, drückt Manfred an die Wand. Der steht da - ohne Argumente. Das konnte er nicht ertragen, sagt Kornatz. Da wurde er bleich und fiel um. Fiel einfach um. War ohnmächtig.

Die Freunde tragen ihn nach Hause, legen ihn aufs Bett, ziehen die Gardinen zu, reichen Wasser, halten seine Hand, sorgen sich. Er kam so oft zu meinem Vater in die Praxis, sagt Gabriele Kahler, die Ärztin aus Carlow, und wenn alle Patienten weg waren, dann redete Manfred. Mein Vater war ja ein Gutmütiger und hörte zu. Und Manfred erzählte von seinen Kopfschmerzen, seinen Ängsten, und daß er einen Hirntumor hätte. Ich glaube, sagt sie, er hat damit gespielt. Er spielte ja mit so vielen Sachen, die nicht zum Spielen sind. Auch mit Medikamenten.

Wenn er so dalag im abgedunkelten Zimmer, sagt Jürgen Kornatz, dann bat er: Reich mir doch mal einen Schluck Wasser aus der Karaffe, und dann drehte er sich etwas ab und sagte: Schau mal weg jetzt, schau dir das nicht an. Und dann tat er so, als spritze er sich was, und stöhnte da rum, das weiß ich noch. Manfred, das Böhmele, lag da wie hingegossen, hielt sich fest und stöhnte.

Er hat ja so viele Medikamente genommen, sagt Gabriele Kahler. Als sie ihn nach der SPD-Gründung im Fernsehen sieht, ist sie ganz erschrocken und sagt zu ihrem Mann: Guck den Manfred mal an, der hat ja gar keinen Blick mehr. Er hat ja auch schrecklich gesoffen früher, wie ein Loch, konnte aber auch viel vertragen, nur manchmal hatte er Absenzen, die einem als Arzt schon ein bißchen merkwürdig vorkommen. Vielleicht hat er aber auch einfach nur die Nächte durchgearbeitet, gelesen, nichts gegessen und so.

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Manfred hat auch von einer Operation erzählt, sagt Jürgen Kornatz. Da sollen sie ihm den Tumor rausgeschnitten haben, in Halle war das. Also jeder hatte Mitleid mit ihm, wenn er seine Anfälle bekam.

Einmal kamen wir alle aus Warschau zurück, da hatte er einen Anfall im Zug. Da mußten die Gardinen im Abteil zugezogen werden, und der Manfred lag hingestreckt auf der Bank, und wir durften draußen stehen im Gang. Also ich fand das lächerlich, sagt Kornatz. Später, als er dann die SDP mitgegründet hatte und die Regierungsgeschäfte übernehmen wollte, da hab ich mal zu ihm gesagt: Na, Böhmele, wenn's brenzlig wird, kippst du wieder vom Stuhl. So hast du es doch immer gemacht.

Dieses Darstellen des eigenen Leids, sagt Rudolf Kühl, der Saxophonist, das habe ich schon akzeptiert. Ich habe mich auch gefragt, was will er damit sagen? Hat er Angst? Fürchtet er unseren Liebesentzug?

Ich weiß bis heute nicht, ob das gespielt war, wenn der Manfred umfiel, sagt Harald Seidel. Wir haben ihn dann heimgeschleppt, der Kornatz, der Kühl und ich. Makabre Situationen waren das. Die Leute standen an der Straße und guckten, und Böhme stöhnte. Vielleicht wollte er ja auch, daß die Leute guckten und dachten, Gott, was ist bloß mit dem armen Kerl los.

Manchmal alarmieren die Freunde auch einen Krankenwagen. Der bringt den Zusammengebrochenen dann ins Hospital, wo er gleich an den Tropf kommt. Er ist zwei- oder dreimal hier bei mir auf der Chirurgie gewesen, sagt Professor Hartmann. Aber das alles hatte wohl mehr mit Streß und Alkohol zu tun.

Er hatte eine chronische Entzündung im Ohr, sagt die Ärztin Beate Schwämmle, Tochter von Professor Hartmann, eine verschleppte Sache aus der Kindheit, die nie behandelt worden war. Das hatte nichts mit einem Tumor zu tun.

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Die Schwestern im Krankenhaus schwärmen noch heute von ihrem Patienten Manfred Böhme. Unmöglich, daß der jemanden verraten hat, selbstlos, wie der war. Kaum konnte er wieder aufstehen, half er auch schon. Rasierte die alten Männer auf der Station, fütterte sie, wusch sie, machte auch die unappetitlichsten Arbeiten, einfach so, zur Entlastung der Schwestern.

Woher kamen Ihre Kopfschmerzen? frage ich Ibrahim Böhme.
Welche Kopfschmerzen?
Haben Sie in Greiz nicht Zusammenbrüche gehabt wegen Ihrer Kopfschmerzen?
Ach, das hing mit meiner chronischen otitis media links zusammen.
Ihrer wie bitte?
Meiner Mittelohrvereiterung, linke Seite. Aber das war wohl auch psychosomatisch bedingt, sagt er.

Einmal machen sie alle gemeinsam eine Bergtour in die sächsische Schweiz. Zuerst fahren sie nach Dresden, schmökern im Buchantiquariat herum und kaufen Philosophen. Kant, Fichte, Hegel, Reclamausgaben. In einer Scheune am Berg übernachten sie. Und da stank es dann bald wie im Bordell, sagt Jürgen Kornatz. Manfred hatte nämlich seine Wässerchen mitgebracht. Er sprühte alles ein, sich und das Heu. Wir legten uns einfach so hin. Aber Manfred? Der hatte einen Schlafanzug eingepackt und legte sich ein Handtuch unter den Kopf, damit der Geruch gemildert wurde. Und jeder von uns hat sich einen Philosophen genommen und gelesen. Und danach hat Manfred Geschichten erzählt. Geheimdienst­geschichten. Die halbe Nacht hindurch. Er schwärmte doch von Canaris, dem Chef der Abwehr im Reichskriegs­ministerium, sagt Günter Ullmann, der Lyriker. Alles Konspirative übte einen großen Reiz auf ihn aus.

Am nächsten Tag, sagt Kornatz, sind wir losgegangen. Es war ein einfacher Weg. Hoch, aber einfach. Wir haben auch Manfred angeseilt und sind nach oben gestiegen. Plötzlich wurde er kreidebleich, zitterte, wollte keinen Schritt weiter. Natürlich haben wir gefeixt, sagt Kornatz. Unser großer Böhme. Will alles, weiß alles, kann alles.

Wir haben ihn also ein Stück runtergelassen und auf einen Felsen gesetzt. Da konnte er nicht weg, aber da konnte ihm auch nichts passieren. Warte hier, sagten wir ihm, wir holen dich auf dem Rückweg wieder ab.

Und da sitzt er nun, Manfred Böhme, sitzt auf einem Felsbrocken zwischen Himmel und Erde. Ein Blender, ein Schaumschläger, ein Komödiant, der sich die dankbarste Rolle in der Tragödie reserviert hat - den Verräter. Und in diese Rolle wird er das ganze Spektrum seiner Begabungen investieren: Intelligenz, Phantasie, Charme, Witz, Larmoyanz, Eitelkeit und ein glänzendes Gedächtnis. Ein paar Jahre hat er nun schon an seinen Freunden geübt. Alle mögen ihn, alle bewundern ihn, alle vertrauen ihm. Er kann sie aushorchen, anzapfen, manipulieren. Der Sündenfall liegt schon hinter ihm. Die ersten Berichte über Reiner Kunze sind längst geschrieben, Elly-Viola Nahmmacher, die Bildhauerin, ist inzwischen diffamiert, Charlotte Stadtmann, die Frau seines Arztes, schon als «moralische Stütze» der Opposition denunziert.

Was Manfred Böhme anvertraut wird, das landet bei der Staatssicherheit. «Reiner Kunze verwies darauf ...», «die Deutschlehrerin sagte mir ...», «es wurde mir auch mitgeteilt ...» So steht es in den Berichten von 1971 - untertänig und devot.

Und nun sitzt er da auf dem Felsbrocken zwischen Himmel und Erde: Ibrahim Böhme, ein eiskalter Engel, der den Teufel nicht fürchten muß, weil er an Gott nicht glaubt.

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