7 «Auftragsgemäß lenkte ich das Gespräch»
Reiner Kunze wird bespitzelt
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Manfred Böhme geht über die Friedensbrücke, geht am unteren Schloß vorbei, läuft den Hainberg hoch, der ziemlich steil ist, kommt in die Beethovenstraße, die Vater-Jahn-Straße, biegt von dort in die Franz-Feustel-Straße ein und klingelt am Haus Nummer 10 unten rechts bei Reiner Kunze. Nein, er möchte nicht reinkommen, er möchte mit dem Dichter reden, draußen. So machen sie einen Spaziergang.
Böhme tut wie immer geheimnisvoll, ergeht sich in Andeutungen, er hätte da was gehört und müßt ihm sagen und wollte nur warnen, und sein Hinweis ist schließlich in doppelter Hinsicht interessant: Der Kreissekretär des Kulturbunds gibt Reiner Kunze zu verstehen, daß auf seine Tochter ein Spitzel angesetzt wurde.
Marcela Kunze lebte damals in Jena. Ein Jahr vor dem Abitur war sie von der Schule abgegangen, weil sie die vom Spieß und Mief vergiftete Umgebung einfach nicht mehr ertragen konnte. Buße tun vor der Klasse. Weil sie auf der Kirchentreppe einen Freund geküßt hat. Öffentlich vor den Schülern bereuen. Und die sagen noch vorher: Keine Angst, Marcela, wir helfen dir, wir sagen was. Und dann sitzen sie da mit gesenktem Blick und verschlossenem Mund – so feige. Und auf einem Elternabend regen sich Väter und Mütter über ihres Vaters Gedichtband «Brief mit blauem Siegel» auf. Einer sagt: Wir lassen es nicht zu, daß unsere Kinder durch die Tochter eines solchen Vaters verseucht werden.
Sie muß raus aus der Schule, raus aus der Stadt, die ihr die Luft zum Atmen nimmt, seit Jahren schon. Sie geht nach Jena, arbeitet als Aushilfskraft bei der Post. Und da holt die Lüge sie schon wieder ein.
Also ein Spitzel wurde auf sie angesetzt. Diese Information habe Manfred Böhme bekommen, und er möchte, daß Kunze sie kennt, denn ein Spitzel bei der Tochter bedeutet, die Staatssicherheit erhofft sich Neuigkeiten über den Vater.
Warum aber sagt Manfred Böhme das? Was bezweckt er damit? Er wollte Marcela vor etwas retten, bewahren, möglich. Er hat ja auch immer mal geholfen, wenn es Krach und Ärger gab in der Schule. Aber gleichzeitig gibt er doch sich selber preis. Ich mußte doch den Eindruck haben, sagt Reiner Kunze, und den hatte ich auch, daß Manfred Böhme für die Staatssicherheit arbeitet. Oder wenigstens enge Beziehungen dorthin hat. Woher sonst sollte er diese Information haben?
Als Reiner und Elisabeth Kunze ihrer Tochter davon erzählen und sie warnen wollen vor allzu engen Beziehungen, erklärt Marcela ihre Eltern für total verrückt. Ihr habt ja einen Verfolgungswahn, sagt sie. Der junge Mann aber nimmt sich kurz darauf das Leben. Und Manfred Böhme, sagt Reiner Kunze, kam wieder vorbei und sagte mir: Da sei ein Brief gefunden worden. Marcelas Freund habe einen Abschiedsbrief hinterlassen, und der sei von der Staatssicherheit sofort beschlagnahmt worden. Er wisse aber, was drinstehe. Und so erzählt Böhme ihm denn folgende Geschichte: Der Spitzel habe sich in Marcela verliebt, habe sich geschämt, weil er zum Aushorchen bereit gewesen sei, und nun wolle und könne er nicht mehr leben.
Diese Version, sagt Reiner Kunze, stammt von Böhme. Sie kann stimmen, muß aber nicht stimmen. Damals, sagt er, haben wir ihm natürlich geglaubt. Aber heute sieht das alles anders aus. Auch die Gründe für den Freitod waren wohl andere.
Interessant ist, daß in Kunzes Akten immer wieder zu lesen ist, wie sehr die Stasi-Vertreter den Inoffiziellen Mitarbeiter Böhme gedrängt haben, das Vertrauen von Reiner Kunze zu gewinnen. Sie wollten unbedingt wissen, sagt Kunze, wo die Manuskripte liegen.
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Unbedingt. Vielleicht haben sie ihm gesagt: Komm, mach eine Andeutung, sag ihm irgendwas, vielleicht auch, daß du für die Firma arbeitest – aber auf seiner Seite stehst. Vielleicht so. Jedenfalls steht in den Akten immer wieder: Vertrauen erwecken. An seine Manuskripte herankommen. Ja, sagt Kunze, an die wollten sie ran.
Das alles spielt sich um das Jahr 1975 herum ab, da ist Reiner Kunze längst ein Staatsfeind, umstellt von Spitzeln und Denunzianten. Begonnen hat die Observation lange zuvor. Einmal liest Reiner Kunze in der Evangelischen Kirche aus seinen Gedichten. Das muß so 1969 gewesen sein, sagt Charlotte Stadtmann, und sie erinnert sich noch genau an diese aufregenden Postgedichte.
(dem tod)
Eines Morgens
wird er läuten als
briefträger verkleidetIch werde ihn
durchschauenIch werde sagen: warte bis
der briefträger vorüber istDiese Gedichte, sagt sie, hätten sie bewogen, nach der Lesung zu ihm zu gehen und ihm zu sagen: Herr Kunze, Sie kennen mich nicht, aber wenn Sie sich einmal zurückziehen wollen, mein Mann und ich, wir haben da ein Haus. Denn eines, sagt sie, war mir nach der Lesung klar: Die Stasi haßt den und beobachtet den. Und Kunze, sagt sie, habe gedankt und gesagt, das würde wohl nicht nötig sein. Und ein paar Tage später stand er vor meiner Tür und sagte: Ich bin am Ende, ich kann nicht mehr, darf ich Ihr Angebot annehmen? Und ich sage zu ihm: Ja, bitte, Herr Kunze. Sonnabend fahren wir rauf nach Kottenheide, gucken Sie, ob es Ihren Vorstellungen entspricht.
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Sie mögen sich und vertrauen sich, der Dichter und die Frau des Arztes. Was ich an Kunze so sehr geschätzt habe, sagt Charlotte Stadtmann, das war seine Wahrheitsliebe. Und da ich auch ein Wahrheitsfanatiker bin, fühlte ich mich verpflichtet, ihm zu helfen. Und in ihrem Hause schreibt er:
Kottenheide
Die zeit
fällt aus den fichten als
reine zeitDie losung des wildes ist
die einzigeImmer, wenn Reiner Kunze nun in Kottenheide ist, schreibt er der «lieben Meisterin der Gartenzaun- und Komposthaufenbaukunst» kleine Zettelchen und Briefe und macht Zeichnungen dazu: Frau Stadtmann in der Erde wühlend mit Schmetterlingsflügeln. Und Kunzes kochen Rhabarber ein und hüten das Haus, und er mäht und gräbt den Garten um, und Frau Stadtmann sagt: Herr Kunze, Sie sollen doch arbeiten. Und wenn Elisabeth und Reiner Kunze spazierengehen, liegt der Schlüssel unter der Zwiebelschale.
Eines Tages – Stadtmanns sind in Greiz, Kunzes auch – steht die Stasi vor der Tür in Kottenheide. Sie klingeln den Hausmeister raus, und einer sagt: Wenn du uns nicht sofort ins Haus läßt, legen wir dir Handschellen an. Der Hausmeister sagt, er möchte Stadtmanns anrufen, die seien in einer Stunde hier, die hätten ein Auto. Hier wird niemand angerufen, sagen die Eindringlinge und schieben ihn zur Seite. Sie durchsuchen das Haus von oben bis unten.
Als sie wieder gehen, sagen die Schnüffler: Wenn die Leute im Dorf fragen, wer die Herren waren, die hier im Haus gewesen sind, dann hast du zu sagen, die wollen hier mal Urlaub machen. Da sagt der Hausmeister: Das nimmt mir niemand ab. Die Stadtmanns vermieten nämlich nicht. Dann geht er ins Nebendorf, weil er nicht weiß, ob er beobachtet wird, ruft von dort aus Frau Stadtmann an und sagt:
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Erschrecken Sie nicht, aber ...
Ja, was ist denn?
Also, wir hatten hier einen ...
Wasserschaden? Einen Brand ...
Nein. Besuch.Da wußte ich Bescheid, sagt Charlotte Stadtmann. Und dann gab's eine Vorladung beim Bürgermeister, Vorwürfe stundenlang, das Haus sollte enteignet werden. Und da waren doch nicht nur Kunzes, sagt sie, da waren doch auch Kinder, die wir dort unterbrachten und Pfarrer mit ihren Frauen, die mal ausspannen mußten, und Günter Ullmann und seine Frau.
Erst 1990, als Charlotte Stadtmann das Buch von Reiner Kunze liest, «Deckname Lyrik», erfährt sie, wie alles zusammenhing. Manfred Böhme hatte Bericht erstattet.
«Greiz, den 11.10.1971
Reiner Kunze befindet sich nach wie vor... wenig zu Hause und ist meist in Kottenheide im <Landsitz> von Stadtmanns, um dort zu schreiben... Kunze fühlt sich diesen Kräften wie der Frau Stadtmann ... gegenüber dankbar, weil sie ihn 1968 moralisch sehr unterstützt haben.
gez. August Drempker.»
Wir standen immer im Blickfeld der Stasi, sagt Charlotte Stadtmann. Sicherlich auch, weil wir vor dem Staate nicht zu Kreuze krochen. In der eigenen Praxis haben wir nur Nachteile gehabt. Mein Mann wollte in den Westen gehen. Aber ich habe gesagt: Nein. Wir bleiben, wo die größere Not ist.
Und auch Manfred Böhme, sagt sie, war ja in Not. Das merkte man doch an seinen Nervenzusammenbrüchen. Er wollte menschlichen Kontakt haben, Bindungen, er war doch ein Wildwuchs. Und deshalb haben wir auch immer Zeit für ihn gehabt.
Und Böhme? Er schreibt, daß Kunzes die Freundschaft zu den Stadtmanns abgebrochen hätten, weil die «so geschwätzig» seien. Etwas merkwürdig findet der Herr Böhme das schon: Erst monatelanges Asyl, und dann der schroffe Rückzug, wobei er allerdings
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«einschätzen möchte», schreibt er, daß Frau Dr. Kunze die Frau Stadtmann «nie gemocht» habe. Wenn Frau Stadtmann zu Besuch gewesen sei in der Franz-Feustel-Straße, dann wäre Frau Kunze stets gegangen, «grüßte zwar sehr höflich mit slawischem Charme, aber verließ dann demonstrativ als Hausfrau die Stube».
Nie, sagt Elisabeth Kunze, hat es ein Zerwürfnis zwischen mir und Frau Stadtmann gegeben. Wir verdanken ihrer mutigen Hilfe viel, sagt Reiner Kunze. Daß er später einen anderen Unterschlupf fand, war für Stadtmanns eine große politische Erleichterung, sagt Kunze; denn dank Manfred Böhme war die Staatssicherheit nachdrücklich auf Kottenheide aufmerksam geworden.
So ist das: Böhme weiß alles, hört alles, sieht alles. «Fakt ist, ... daß Reiner Kunze zu dieser Zeit gerade in einem sehr harten und sehr offenen Briefwechsel mit Christa Wolf stand zu ihrem Roman <Nachdenken über Christa T.>... Dieser Roman wurde einer sehr harten Kritik unterworfen ... Reiner Kunze warf Christa Wolf vor, daß sie in diesem Buch sehr viele Probleme ungelöst stehen ließe, während Christa Wolf sich dahingehend äußerte, daß sie als Genossin und nach wie vor Mitglied der SED sich nicht damit einverstanden erklären kann, daß Probleme, die sich einfach für Diskussionen heute noch nicht anbieten, so in die Diskussionen eingebracht werden können, daß politisch mehr dabei herausspringt für den Gegner als an Erkenntnissen für die Werktätigen der DDR. So war ungefähr der Brief, den mir Reiner Kunze 1969 zu lesen gab, Christa Wolf an Reiner Kunze gerichtet.»
Warum hätte Christa Wolf das wohl schreiben sollen? Das Ganze klingt eher nach dem sozialistischen Oberlehrer Böhme, der hofft, Christa Wolf denke beim Schreiben zuallererst an den Gegner im Westen und an die Werktätigen in der DDR. Warum sollte sie, wenn Reiner Kunze ihr zuvor einen Brief wie diesen geschrieben hatte:
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14.4.69
«Liebe Christa,
es ist schon gegen Morgen, ich habe das Buch zu Ende gelesen. Vielleicht, nein — sicherlich liegen allzu große Entfernungen zwischen uns (äußere, innere), trennt uns allzuviel Fremdes, Fremdheit, um unbefangen sagen zu können, welche Gedanken und Empfindungen mir beim Lesen gekommen sind. (Mit «sagen» meine ich «sagen». Vom Schreiben ganz zu schweigen.) Abgesehen davon, daß vieles im Unbewußten agiert, sich also der Formulierung, auch der vagen, entzöge.
Das Buch hat mich äußerst (innerst) berührt. Und zwar, so scheint mir, viel mehr im Hinblick auf die Nachdenkende, als auf Christa T. Es war für mich (und ist für mich und wird für mich noch lange sein) ein Nachdenken über Christa W. (Womit ich — das nur noch einmal um der Eindeutigkeit willen — nicht etwa meine, T. sei W., sondern, wie schon gesagt, die Nachdenkende nahm mein Hauptinteresse gefangen. Sie ist die <Heldin>.)
So langsam, so bedacht (bedenkend), ja fast behutsam, habe ich seit langem kein Buch gelesen. Ich brauche Dir nicht zu sagen, daß Du ganz große Prosa geschrieben hast.
Aber meinen Dank möchte ich Dir schon aussprechen, in einem weiteren Sinne, als nur für das seltene Exemplar.
Herzliche Grüße, auch an Gerhard,
Reiner»
In den ersten Jahren, das muß Reiner Kunze sagen, mochte er diesen theatralischen Manfred Böhme durchaus, der immer so reinwehte, immer den Schal so umgeworfen. Böhme, das war für ihn eine Mischung aus russischem Roman und Wiener Operette. Er hatte eine Aura, sagt Kunze. Aber er brauchte Anerkennung und Verehrung, und die bekam er nicht von mir, sondern von den jungen Leuten. Für die war er so etwas wie ein Rattenfänger von Hameln, wobei ich ihm nicht unterstellen will, daß er sie fangen wollte. Aber er hat sie gebraucht. Er hat sie um sich geschart.
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Ihm gegenüber, sagt Reiner Kunze, gab Böhme sich wie einer, der sehr viel mehr weiß, als er sagen darf, der alle Informationen besitzt. Er war so etwas wie eine graue Eminenz. Und so habe ich ihn auch genommen. Und immer der Herr von Welt, charmant mit Handkuß, ja. Aber wenn ich heute daran denke, sagt Kunze, dann hat das natürlich etwas Diabolisches. Wenn ich heute lese: Habe mich durch folgende Legende an die Frau von Kunze herangeschlichen... dann denke ich natürlich an den Handkuß, den er meiner Frau gab.
Aber damals? Immer galant und höflich bis zum letzten, und immer geheimnisvoll, geheimnisumwittert, machte nur Andeutungen, nein, darüber könne er nicht sprechen. Und sagt sich bei Dr. Elisabeth Kunze zur Zahnsteinentfernung an. Küß die Hand, Madame.
Kunzes Frau ist Kieferorthopädin, aber Danilo Dostojewski kommt angeweht und läßt sich die Zähne reinigen. Fragt dies und das, sagt auch, er könne helfen. Und wer ist nicht froh über einen, der helfen will?
Ich habe ihm doch geholfen, sagt Ibrahim Böhme kühl, als ich ihn nach Reiner Kunze frage. Der ganze Ärger mit der Tochter. Wenn er da nicht immer wieder vermittelt hätte. Also, ich könnte Ihnen da Sachen erzählen, sagt er und schweigt. Und was den Dichter anbelangt, da sei er voll Bewunderung gewesen. Immer.
In seinen Berichten an die Staatssicherheit kann von Bewunderung keine Rede sein. Da schreibt der Spitzel, daß der Dichter einen «gewissen Neid» habe, weil die jungen Schriftsteller «zur Qualität des Epikers Hermann Kant ein besseres Verhältnis finden als zur Lyrik, zu der sehr rationellen Lyrik Reiner Kunzes». Schreibt, daß Kunze gern in die Kulturpolitik eingestiegen wäre, aber «mit Verlieren der Massenbasis» auch die «realen Ufer» verloren habe und sich nun über die « Fernleihe Werke von Ästhetikern besorgt hat und dabei wie gesagt nur am Rande der Ästhetik grast» und eine schwache Kenntnis der ästhetischen Schriften des Marxismus besitze. Schreibt, daß nur noch die bösen Studenten «das andere, das Abseitige und das am Wege Stehende in Reiner Kunze vermuten ». Und: « Diese Welle der Sympathie wird, so stellte ich persönlich fest, immer noch dadurch bestärkt, daß Reiner Kunze es ausgezeichnet versteht, seine Zuhörer in Bann zu halten.»
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«Er
ist anders als alle Spitzel in meiner Akte. Reiner Kunze über Ibrahim Böhmes Stasi-Berichte aus der Akte mit dem Decknamen «Lyrik», hier in Kunzes Wohnung bei Passau. |
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Schreibt, daß Kunze ein Scharlatan sei, weil er in seinem Gedichtband «Brief mit blauem Siegel» Gedichte aus verschiedenen Schaffensperioden vereint hat. Schreibt, daß «Reiner Kunze sich zwar philosophisch mit Albert Camus und Jean-Paul Sartre und anderen Renegaten beschäftigt», nicht aber mit den marxistischen Philosophen der UdSSR und der DDR. Schreibt, daß Kunze sich nicht um Politik, sondern um «Qualitäts-Literatur» bemühe, aber gerade damit «in einer sehr geschickten Form – allerdings zu unseren Ungunsten – Politik» mache.
Das klingt nach einem eilfertigen Möchtegernintellektuellen, der mit theatralischer Geste Fußtritte verteilt. Und schwatzhaft ist er, der Manfred Böhme. Pappt seinem Opfer auch noch das Etikett eines schroffen Finsterlings an, der seine Nachbarn vor den Kopf stößt:
«Als Reiner Kunze nach Greiz kam... hängte er in seinem Treppenhaus und der Nähe seines Hauses an einem Baum Zettel auf, auf denen stand, <ich wohne hier seit dem soundsovielten in Greiz, ich wünsche außer dienstlichen und postalischen Gesprächen keine persönlichen Gespräche mit mir>.»
Reiner Kunze sagt, als die Zahl der unangemeldeten Besucher immer größer wurde, brachte er an der Wohnungstür ein kleines, graviertes Schild an, auf dem in etwa stand: Im Interesse meiner Arbeit bitte ich, von nicht vereinbarten Gesprächen absehen zu wollen. Vielen Dank für Ihr Verständnis. Den Mitbewohnern seines Hauses steckte er einen Brief in den Kasten, in dem er sie bat, dieses Schild nicht auf sich zu beziehen. Sie seien jederzeit herzlich willkommen. Und wenn jemand von ihnen Hilfe benötigte, seien Kunzes Tag und Nacht zu helfen bereit. Das war wichtig, sagt er, weil meine Frau Ärztin ist.
Manfred Böhme war ein Hochstapler, sagt Reiner Kunze. Er hat eine Analyse über Kunze angefertigt, die 105 Seiten lang ist. Abgegeben hat er die vier Teile am 18. und 24. Juni und am 9. und 20. Juli 1976 unter dem Titel:
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«Zusammenfassung aller bisherigen erlebten oder zur Kenntnis gelangten Informationen des Reformismus / Revisionismus unter zeitlicher Eingliederung / Würdigung / Einflußnahme des Reiner Kunze und seiner bzw. über ihn in Kenntnis gelangten Verbindungen / Aktivitäten zu Erscheinungen und Bestrebungen des Reformismus / Revisionismus und ihrer personifizierten Vertreter.»
Und da zeigt Böhme nun, welchen Fisch er an der Angel hat. Und weil Kunze ihm so wenig liefert, erfindet er, verfälscht, verdreht, verkürzt. Und lügt.
«In dieser Zeit», Böhme meint die Zeit nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei, «war ich fast täglich ... bei Reiner Kunze zu Gast... So forderte er mich auf, doch das gleiche zu tun und meinen Austritt aus der Partei zu erklären... Als ich es ablehnte, kam es zu einem sehr harten Streit... In der Zeit vom 21. August... 1968 bis Anfang/Mitte September 1968 hatte meines Wissens außer mir an fremden Personen niemand groß Zutritt zur Wohnung bei Reiner Kunze.»
Eine glatte Lüge. Reiner Kunze ist damals gar nicht in seiner Wohnung. Er gibt sofort nach dem Einmarsch in Prag sein Parteibuch zurück und taucht – unbemerkt von der Staatssicherheit – im Hause des Pfarrers Hans-Joachim Wuth in Ponitz bei Meerane unter. Vor allem aber die Behauptung, Kunze habe Böhme gebeten, ebenfalls aus der Partei auszutreten, ist eine besonders gefährliche denunziatorische Erfindung.
Übrigens hat Böhme fast all seinen Freunden später erzählt, er habe nach dem Einmarsch in die CSSR sein Parteibuch demonstrativ zurückgegeben.
Als ein Jahr darauf der Lyrikband «Sensible Wege» im Westen erscheint, schreibt Manfred Böhme, daß «Reiner Kunze mit Abzügen, also hektografiert oder Schreibmaschine verfielfältigt, wieder in Aktion» getreten sei.
Ich hatte nie Gelegenheit, Hektografien herzustellen, sagt Kunze. Er habe auch nie jemand anderen darum gebeten, schon um niemanden in Gefahr zu bringen. Und Abschriften auf der Schreibmaschine? Nie hätte er so etwas verbreitet. Er wußte doch, daß Schreibmaschinen nur unter Vorlage des Personalausweises erworben werden konnten, wußte, daß jede Maschine registriert und am Schriftband erkennbar war.
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1973 kann Reiner Kunze noch einmal durchatmen. Bei Reclam in Leipzig dürfen seine Gedichte erscheinen. «Brief mit blauem Siegel» heißt der Band, und die 15.000 Exemplare der ersten Auflage sind in wenigen Tagen verkauft, die nächsten 15.000 ebenfalls. Arnold Vaatz, Umweltminister im Sächsischen Landtag, der damals in Greiz lebt und in die 12. Klasse geht, sagt: Als das Buch erschien, hat Manfred Böhme uns gegenüber zum Ausdruck gebracht, wie sehr er das Buch schätzte. Allerdings hat er auch den Eindruck vermittelt, daß Kunze ein völlig introvertierter, elitär eingestellter Mensch sei. Ein Mensch, in dessen Nähe man sich gar nicht wagen dürfe. Er hat bei uns eine unheimliche Hemmschwelle gegenüber Kunze aufgebaut. Erst später, sagt Arnold Vaatz, ist mir aufgegangen, daß Böhme es fertiggebracht hat, Kunze von unserem Kreis völlig fernzuhalten.
Auf diesen Vaatz hat Manfred Böhme auch bald ein kritisches Auge geworfen. Einmal, als er und Vaatz bei Kunze in der Wohnung sind, schreibt «Paul Bonkarz» anschließend der Staatssicherheit: «Es ging um das Unternehmen Interview RIAS... In dem Interview, das Mitte September ausgestrahlt wird, werden vermutlich zwei Gedichte von Arnold Vaatz mit vorgelesen werden, die ich in Durchschrift beifüge... Vaatz muß unbedingt unter strengere Kontrolle genommen werden, da er in Polen und zweimal in der DDR kleinere <Wege> für Kunze erledigte. Größte Vorsicht und Diskretion... Informationsquelle wäre leicht zu ermitteln.»
Doch Reiner Kunze ist und bleibt Böhmes Hauptkunde, bleibt die «Nr. i», an der er sich erproben soll. Die Organisatoren der Staatssicherheit in Gera legen das auch schriftlich fest, als sie die «Rang- und Reihenfolge seiner Aufgaben» bestimmen. Und sie präzisieren: «Der IMV <Bonkarz> muß zur Verunsicherung des K. verstärkt genutzt werden, aber nur soweit, daß er nicht das Vertrauen des K. verliert.»
Und wie groß das Vertrauen bei Reiner Kunze zu sein scheint, davon erzählen Böhmes Berichte:
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«Er besitzt in seinem Wohnzimmerschrank ein Wertgelaß, und in diesem Wertgelaß liegen also diese Gedächtnisprotokolle. Ich hatte die Möglichkeit, zweimal welche zu lesen, d.h. also einmal ein Gedächtnisprotokoll 1974, als er mit Joachim Hoffmann verhandelte ... und 1976 am zweiten Mai ... Ich bin mir nicht mehr ganz sicher, ob er auch ein solches Gedächtnisprotokoll von Gaus ... angefertigt hatte. Ich glaube, er erwähnte, daß Gaus ein ausgezeichneter Gesprächspartner für ihn wäre, so ungefähr und daß er dazu auch ein Gedächtnisprotokoll angefertigt habe... Auf jeden Fall habe ich den Hefter in der Hand gehabt, und die Gespräche, die Reiner Kunze mit DDR-Persönlichkeiten des kulturellen Lebens geführt hat, sind alle im Gedächtnisprotokoll vorhanden.»
Dieser Bericht dürfte den Herrschaften von der Staatssicherheit große Hoffnungen gemacht haben. Leider sind die von Böhme erwähnten Fundstücke – bis auf ein Gedächtnisprotokoll – reine Erfindungen. Und wie kühn präsentiert er den vergrabenen Schatz: In Mappen habe er das alles gesehen, er sei sich zwar nicht ganz sicher, habe es aber auf jeden Fall in der Hand gehabt, und er glaube und erwähne und meine – so ungefähr. Was stimmt tatsächlich?
Einmal, das ist richtig, zeigt Reiner Kunze dem Kreissekretär Böhme Aufzeichnungen, die er nach der Unterredung mit dem Minister für Kultur, Joachim Hoffmann, gemacht hat. Das war 1974. Es war ein schreckliches Gespräch, in dem zwischen Schmeichelei und Morddrohung alle Register gezogen worden waren. Und das kam so.
Als Reiner Kunze 1974 zum Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste gewählt wird, hat er am 14. Juli ein dreieinhalbstündiges Gespräch unter vier Augen mit Minister Hoffmann in Berlin. Auf dessen Schreibtisch liegt Kunzes Bestseller «Brief mit blauem Siegel». Herr Kunze, sagt der Minister, was ich von Ihnen brauche, sind zehn solcher Bücher. Aber, fährt er fort, selbstverständlich müssen Sie die Wahl für diese Akademie zurückweisen.
Warum? fragt Kunze und zählt Namen auf, berühmte Mitglieder, wohlgelitten auch in der DDR: Erich Kästner, Heinrich Böll... Und er verschweigt nicht, daß er in der Mitgliedschaft auch einen gewissen Schutz für seine Person sieht.
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Da macht ihm der Minister Angebote. Man könnte über eine finanzielle Abfindung sprechen, natürlich in West-Mark. Man könnte auch über ein West-Auto nachdenken, und innerhalb von vier Wochen sei eine Wohnung in Berlin zu bekommen, und innerhalb eines Jahres sogar ein Grundstück am See.
Reiner Kunze ist nicht bestechlich. Er lehnt ab. Und in dem Moment, sagt er, war alle Aufregung von mir abgefallen. Da nennt der Minister Kunze einen Hysteriker und winkt unmißverständlich mit einer psychiatrischen Behandlung. Er beschimpft ihn und droht: «Wir haben hier Kammern, in denen überleben Sie bei Ihrer Konstitution nicht.» Und als das nicht fruchtet, fügt Joachim Hoffmann noch hinzu: «Herr Kunze, dann kann Sie auch der Minister für Kultur nicht mehr vor einem Unfall auf der Autobahn bewahren.»
Der Schock, sagt Kunze, kam auf der Rückfahrt. Bei Naumburg verläßt er die Autobahn, stürzt aus dem Wagen und speit Galle. Alle vier Wochen muß er an den Tropf, weil sein Immunsystem immer wieder zusammenbricht. Nachts liegt er wach. Er legt sich Verteidigungsreden zurecht wie damals, als der S. Fischer Verlag seinen Gedichtband «zimmerlautstärke» angenommen hatte.
Seit dem 14. Juli 1974 überzieht er die Radkappen seines Autos mit einem feinen Vaselinefilm, um sofort sehen zu können, ob sich jemand an seinen Radmuttern zu schaffen gemacht hat. Und vor jedem Start schaut er unter die Motorhaube, um nachzusehen, ob der Splint noch in der Lenkung steckt.
Die Angst sitzt Reiner Kunze von nun an im Nacken. Er kann nicht mehr ausschließen, verhaftet zu werden. Er übt Kopfstand, damit die Durchblutung auch in der kleinsten Zelle funktioniert. Er lernt alle Tricks der Schmerzablenkung. Und ein Arzt erklärt ihm, wie man sich ohne Strick und Messer umbringen kann.
Aber nie, sagt Reiner Kunze, hat er etwas zu verheimlichen. Natürlich registriert er das Stasi-Auto auf der anderen Straßenseite und die wechselnden Mannschaften mit ihren Stullenpaketen. Er weiß, daß sein Haus bewacht, ahnt, daß sein Telefon abgehört wird.
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Aber nie hat er deshalb verschlüsselt geredet. Er wurde schlauer, umsichtiger, das ja, ließ sich besonders dünnes Schreibpapier von einem Kollegen in Westfalen besorgen, um ein ganzes Buchmanuskript in 20-Gramm-Briefe zerlegen zu können, die er in verschiedenen Städten aufgab. Und alle Empfänger im Westen begriffen die Aktion und schickten die Briefe an den S. Fischer Verlag nach Frankfurt weiter, wo das Manuskript wieder zusammengesetzt wurde.
Und immer neue Spitzel sind bereit, den Staats feind zu beschatten, zu belauschen. Auch Kunzes Wohnungsnachbar, der den Leuten von der Staatssicherheit, die eine Tatortbesichtigung vornehmen, sogar sein handwerkliches Geschick anbietet: «Ich könnte doch ein Loch in die Wand zu Kunzes bohren ...» So steht es in den Akten.
All das kann Manfred Böhme nicht verborgen geblieben sein, die Angst und der Schrecken. Und doch erzählt er unverdrossen weiter, diktiert Seite um Seite. Kunze habe über Jahre hinweg intensive Kontakte zur Sowjetunion gepflegt, vor allem zum Sänger Bulad Okudshawa. Nie, sagt Kunze, habe er Bulad Okudshawa kennengelernt. Aber Böhme behauptet, Kunze und Okudshawa hätten bis 1971 einen ausführlichen Briefwechsel miteinander geführt. Dabei habe Kunze den Liedermacher «als Menschen» gar nicht sehr geschätzt, habe ihn für einen sowjetischen Wolf Biermann gehalten. Und Biermann, das weiß jedermann in der DDR, lebt damals wie Kunze unter der Käseglocke staatlich verordneter Verfemung.
Was weiß er noch, der Böhme? Daß Reiner Kunze «einmal eine sehr gute Verbindung» zu Hermann Kant gehabt haben muß, dem Präsidenten des Schriftstellerverbands. Ausgerechnet Kant, der Kunze später aus dem Schriftstellerverband jagen und – auf Kunze gemünzt – sagen wird: Kommt Zeit, vergeht Unrat.
Kunze habe ihm, Böhme, «an einigen literarischen Fragmenten» gezeigt, daß er, Kunze, die Eröffnungsrede Kants vor dem 6. Schriftstellerkongreß habe lesen dürfen. Er allein. Und der Erfinder von tausendundeinem Stasi-Märchen weiß natürlich auch, warum Kunzes Verhältnis zu Kant kaputtging, nachdem nämlich
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«Wolf Biermann Reiner Kunze in diesen revisionistischen Kreisen denunziert hatte als einen Zuträger für MfS und dergleichen». Deshalb also zog sich Kunze von Kant zurück, aber «vielleicht auch bestärkt durch seinen Stasi-Tick», schreibt Manfred Böhme.
In jeder Hinsicht eine Erfindung Böhmes, sagt Kunze. Aber Böhme weiß ja noch viel mehr. Er weiß, daß Reiner Kunze und Robert Havemann — auch ein Verfemter damals — in Beziehung zueinander stehen. Für ihn, Böhme, sei es «schmerzhaft», mit ansehen zu müssen, «in welch perfider Form» Kunze die Freundschaft nutze. Kunze habe nämlich, so schreibt Böhme, «immer etwas Belächelndes» für Havemanns «revoluzzerhaften» Stil übriggehabt. Ansonsten notiert er, daß sich die beiden seit Ende 1973 persönlich kennen.
In zwei Briefen beklagt Robert Havemann, daß Kunze und er sich bislang nicht persönlich kennengelernt haben. Am 4.10.1976 schreibt er:
«Lieber Reiner Kunze,
es ist manchmal sehr merkwürdig. Als Sie mir Ihr Buch <Sensible Wege> schickten, habe ich mich sehr darüber gefreut... und faßte den Plan, Sie bald einmal persönlich zu besuchen. Aber es kam viel dazwischen, Krankheit, persönliche Konflikte mit guten Freunden — so ging die Zeit vorüber... Und dann verdrängt man den guten Willen leicht...
Mit der Hoffnung, daß wir uns nun doch bald persönlich kennen lernen werden, und den herzlichsten Grüßen, auch an Ihre Frau
Ihr Robert Havemann»Und am 14.4.1977:
«Lieber Reiner Kunze, wann wird es endlich doch gelingen, daß wir uns auch persönlich kennen lernen, wie wir es ja im vergangenen Jahr geplant hatten!»
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Manfred Böhme ist nicht zu bremsen. Kunze, so schreibt er, kollaboriere mit der Prager Opposition, bekomme Briefe von Pavel Kohout, übersetze ihn auch. Keine Spur, sagt Kunze. Kohout habe er nur einmal im Leben gesehen, bei einem Mittagessen in Prag. Übersetzt habe er Milan Kundera. Aber Kohout paßte Böhme besser ins Bild. Kohout war der junge Held. Der kämpfte gegen den wiederaufflammenden Stalinismus. Warum sollte nicht auch Reiner Kunze zu dieser aufsässigen Bande gehören? Schließlich hat er ja auch eine Frau aus der Tschechoslowakei.
Was Böhme über uns geschrieben hat, sagt Kunze, ist unglaublich. Nach den Stasi-Berichten wäre er der «Held», der Oppositionelle und seine Frau Elisabeth die Staatstreue. Und das ist ja nun wirklich eine völlige Verkehrung der Verhältnisse.
Ich komme aus einem Arbeiterhaus, erzählt Kunze. Bei uns gab es keine Bücher. Aber ich war begabt, wurde gefördert, durfte ein Schuljahr überspringen, kam in die Aufbauklasse, ins Internat. Wir konnten doch nicht wissen, daß wir Werkzeuge werden sollten, sagt Kunze. Noch während meines Studiums habe ich fest daran geglaubt, für das Beste einzutreten.
Dann und wann habe ich gezweifelt. Habe auch mit zwanzig ein Gedicht geschrieben, das ging so: «Genossen, Freunde, Folgendes. Die Sache, die ist die. Da sie gezeugt und also nicht mehr überzeugen will...» Aber sonst? Ich war treugläubig. Ich habe mich wirklich erst mal durch alles hindurchdenken müssen, durch dieses ganze System, sagt Reiner Kunze. Diesen Bruch hat meine Frau nie gehabt.
Mein Vater, sagt Elisabeth Kunze, stammt aus Iglau, einer ehemals deutschen Sprachinsel im Westen Mährens. Meine Mutter ist eine in Wien geborene Tschechin. Ich selbst stamme aus Znaim in Südmähren. Meine Eltern waren keine Nationalsozialisten, aber auch keine antifaschistischen Widerstandskämpfer, wie Böhme in seinen Berichten schreibt. Zwei Onkel meiner Mutter waren katholische Priester. Und politisch, sagt sie, wurde ich von meinem Vater geprägt, der 1946 aus russischer Gefangenschaft zurückkam und ständig vor dem Kommunismus warnte.
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In der Familie meiner Frau, sagt Reiner Kunze, gab es auch nicht den Hauch von kommunistischem Denken. Meine Frau ist eine ganz klare Person. Nie in ihrem Leben hätte sie Äußerungen tun können, wie Böhme sie ihr in den Mund legt, weder von der Diktion noch von ihrer politischen Haltung her. Böhme habe in den Akten eine Figur aufgebaut, sagt er, die sich glaubhaft von ihm, Kunze, hätte distanzieren können, wenn er verhaftet worden wäre.
Manfred Böhme fängt früh an, Differenzen zwischen den Eheleuten Kunze zu skizzieren. 1971 schreibt er: «Wie sich in einigen Gesprächen bemerkbar gemacht hat, ist seine Gattin, Frau Dr. Kunze, mit seiner Haltung und Isolation bei weitem nicht in allen Punkten einverstanden. Beispielsweise in der Frage, sich in Krankheiten zu verkriechen...»
Also, wenn mein Mann krank war, sagt Elisabeth Kunze, dann mußte ich ihn eher bitten, sich zu schonen und weniger zu arbeiten.
Zum 100. Geburtstag von Lenin habe Reiner Kunze sich mokiert, schreibt Manfred Böhme, und Frau Kunze habe gesagt: «Aber Reiner. .. du kannst deine persönlichen Erfahrungen doch nicht mit der Frage Lenin, SU, in Einklang bringen.»
Es ist wirklich absurd, sagt Elisabeth Kunze, daß ich eine andere Meinung als mein Mann zu Lenin und der Macht der Sowjetunion hätte haben sollen. Außerdem, sagt sie, hätte ich nie so primitiv argumentiert.
Und daß Böhme schreibt, sie habe Pavel Kohout «einmal als Verräter bezeichnet... weil er nach 1968, nach den August-Ereignissen nicht in die CSSR zurückgekehrt war, sondern in der BRD verblieb und von dort aus nach Meinung von Frau Dr. Kunze auch Lügen verbreitete über die Wirklichkeit in der CSSR», ist ganz einfach eine infame Verleumdung.
Aber Böhme schreckt vor keiner Lüge zurück: Auch Marcela Kunze, die Tochter, habe angeblich die Mordbuben in der DDR, die den Befehl zur «Hilfe» gaben, gelobt.
«Im Sommer 1972 war M. (Marcela Kunze) bei ihren Großeltern in der CSSR, und in der Unterhaltung mit ihr gab sie sich erfreut, daß es in der CSSR nach 1968 eine positive Entwicklung gebe. Sie sagte auch, daß sie ihren Vater in seiner Haltung zur CSSR nicht mehr verstehe und ihre Rückkehr ins Elternhaus... sei für sie ein Grauen.
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M. hatte noch Anfang September die Absicht, das Elternhaus und die EOS (Erweiterte Oberschule) zu verlassen und einen Beruf zu erlernen, um nicht mehr diese Heuchelei ertragen zu müssen.
Dieser Bericht wurde von mir auf Tonband gesprochen. <August Drempker>.»
Als Marcela Weiß-Margis, die heute mit ihrer Familie in Köln lebt, diesen Böhme-Bericht liest, schreibt sie an ihre Eltern:
«Tschechoslowakei. So ein schweißtreibender Quatsch. Je länger ich darob nachdenke, desto mehr könnte ich mich in eine unangemessene Erregung hineinsteigern, und desto mehr verstehe ich Euch, daß Ihr da nicht drüberstehen könnt. Daß ich mit der post 68er Entwicklung zufrieden bin, habe ich nie und nimmer geäußert. Ich war an diesem 21. 8. da, hab zusammen mit dem Opi vorm Radio gestanden und miterlebt, wie ein Sender nach dem anderen russisch wurde, bis ganz hinunter auf der Skala in unserem alten Radio, ich habe die Panzer vorbeirasen sehen mit einer Geschwindigkeit, die ich nie für möglich gehalten hätte, und ich habe die aufgepflügten Straßen gesehen. Und ich habe mit wildfremden Menschen auf der Straße geweint, nicht so recht wissend, warum, aber aus dem Bauch heraus, ich habe sie umarmt und meine Trikolorka getragen. Und daß diese Driss DDR dabei mitbeteiligt war, hat mir dieses ungeliebte Land keinen Deut näher gebracht, es hat höchstens dazu geführt, sie mehr zu hassen und mich mehr denn je als Tschechin zu fühlen. So.»
So ist das. Manfred Böhme – ein Lügner, ein Falschspieler, der unter dem Deckmantel der Konspiration erzählt, was ihm die Phantasie oder die Infamie in den Kopf spült: «Fakt ist aber, daß er seine Frau nach Aussagen von Elisabeth Kunze kennengelernt hat – zum Teil zumindest über die revisionistischen Kräfte...»
Ach, Manfred Böhme! Alles falsch. Reiner und Elisabeth Kunze haben die schönste Liebesgeschichte miteinander erlebt, sind sich auf Flügeln der Poesie begegnet, ohne alle revisionistischen Kräfte.
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Es war einmal eine junge Frau, die lebte in Ústi nad Labem. Die hörte im Radio ein Gedicht und vergaß den Klang nicht mehr. Da schrieb sie eine Postkarte an den Dresdner Rundfunk und bat um die Verse von einem gewissen «Kunz». Als Kunze die Karte nach vielen Wochen in der Hand hält, denkt er an eine ältere Dame, eine Germanistin vielleicht, weil die Zeilen aus Aussig an der Elbe in tadellosem Deutsch geschrieben waren.
Er schickt das Gedicht und bekommt vier Seiten retour. Die Dame, so alt wie er, ist Deutsch-Böhmin, ist Ärztin. Sie schreiben sich vierhundert Briefe und schicken auch eine Fotografie. Sie schickt ein Bild aus jungen Jahren, das er schrecklich findet. Aber ihm ist es gleich, wie die Frau seines Herzens aussieht. Er weiß, wie sie denkt. Und ohne sie je gesehen zu haben, ruft er eines Nachts bei ihr an und fragt: Willst du meine Frau werden? Sie sagt bedenkenlos ja. Als er sie zum erstenmal sieht, steht sie da — die schöne Elisabeth.
Jeder Tag
(Für Elisabeth)Jeder tag
ist ein briefAm abend
versiegeln wir ihnDie nacht
trägt ihn fortWer
empfängt ihnManfred Böhme hat versucht, mit seiner Schreckens-Prosa gegen diese Kraft anzugehen. «Auftragsgemäß lenkte ich das Gespräch auf ihr Verhältnis zu Reiner Kunze...» Und «auftragsgemäß vereinbarte ich mit Dr. Elisabeth Kunze telefonisch einen Termin... mit Legende». Am 19. November 1976 liest Reiner Kunze zum letztenmal in Greiz.
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Eine kleine Lesung soll es werden mit höchstens zwanzig Personen, zuverlässigen Leuten, Freunden. Aber der Andrang ist so enorm, daß die Veranstaltung in den Gemeindesaal der Katholischen Kirche verlegt werden muß. Manfred Böhme steht an der Kirchentür und begrüßt jeden persönlich. Von der anderen Straßenseite her fotografieren die Ledermäntel der Staatssicherheit. Und Reiner Kunze liest an diesem verbotenen Abend aus seinem verbotenen Buch «Die wunderbaren Jahre». Ein Text heißt «Draht» :
«Sie bedauerte es, nicht an einer Sehstörung zu leiden. Wenn sie an einer Sehstörung litte, könnte sie eine Nickelbrille tragen. Die Eltern eines Schülers, der in der Schule eine Nickelbrille getragen hatte, sind verwarnt worden. Nickelbrillen seien imperialistischer Modeeinfluß, Dekadenz. Zum Beweis hatte der Klassenlehrer Bilder aus einer Westillustrierten vorgelegt, die langhaarige männliche Nickelbrillenträger zeigen.
An dem Morgen, an dem sie mit Nickelbrille zur Schule gehen könnte, würde sie gern gehen. Ihr Urgroßvater trug eine Nickelbrille. Er war Bergarbeiter. Ihr Großvater trug eine Nickelbrille. Er war Bergarbeiter. Zum Beweis würde sie die Fotos hinblättern.»Manfred Böhme stand im Hintergrund, sagt Regina Hartmann, seine «Quasi-Mutter». Er stand da wie einer, der sich wirklich interessiert, der bewegt ist. Und die Erinnerung an dieses Bild, sagt sie, ist, jetzt ganz schrecklich für mich. Denn nun muß ich davon ausgehen, daß sein Interesse nicht der Lesung galt, nicht der Brisanz dieses' Abends, sondern seinen Stasi-Berichten.
Manfred Böhme steht im Hintergrund und speichert Namen, Zahlen, Zitate, Texte. Am Ende steht er wieder an der Tür und verabschiedet ein ergriffenes Auditorium. Und während die meisten nach Hause laufen, weil im Fernsehen das Konzert von Wolf Biermann übertragen wird, der zwei Tage zuvor aus dem Land gefeuert worden war, während sie sein «Wandlitz-Lied» hören
Die Finsterlinge — na grade die!
Reden vom Morgenrot ...diktiert Manfred Böhme seinen langen Bericht für die Staatssicherheit über jenen Abend mit Reiner Kunze:
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«Die Veranstaltung begann 20.00 Uhr und endete 21.20 Uhr. Genau 242 Personen waren der Einladung gefolgt... Kunze gab vor dem Lesen von etwa 20 Kurzprosastücken aus seinem letzten Buch BRD eine Erklärung ab...
Er erklärte mit allem Nachdruck, daß er nicht als Schriftsteller der DDR in einer Kirche spreche, sondern zu den Menschen komme, die ihn eingeladen hätten, zu einem Gespräch über seine Literatur...
U. a. las Kunze die Kurzprosa... mit den Reißzwecken und den Gänsen, die Angelegenheit mit der Sauberkeit der Tochter in den eigenen Zimmern, die Kurzprosa zur Pornographie Paul und Paula, die Kurzprosa zum kurzen Rock und dem langen Schal, die Kurzprosa zur Nickelbrille...
Unter den Anwesenden waren mir bekannt... fast der gesamte Kreis «media nox», Günter Ullmann... Frau Dr. Regina Hartmann ...
Die Zusammensetzung von der Altersstruktur war so, daß etwa 60 % der Anwesenden Gemeindemitglieder waren, die über 40 Jahre alt sind und mir dem Ansehen nach größtenteils bekannt sind...
Natürlich war bei einigen Pointen Kopfnicken, Lächeln und dergleichen zu bemerken.
Etwa 40 % waren Leute, die nicht aus religiösen Bindungen heraus, sondern aus Interesse an Reiner Kunze gekommen waren...
gez. <Paul Bonkarz>.»Einen Monat später ist es dann soweit. Der Spitzel vermeldet der Staatssicherheit «physische und psychische Zerrüttung». Er schreibt:
«Während ich vor Monaten noch daran glaubte, daß Reiner Kunze eine Ausbürgerung oder Übersiedlung in die BRD als die... unliebsamste Maßnahme gegen sich betrachtete, gewann ich am 20.12.76 endgültig den Eindruck, daß sich Reiner Kunze geistig bereits damit abgefunden hat.»
Einen Tag nachdem Manfred Böhme diesen «Eindruck» gewonnen hat, teilt er der Staatssicherheit mit, daß Reiner Kunze ihm eine Widmung in «Die wunderbaren Jahre» geschrieben habe, ein Kafka-Zitat. Es heißt:
«Ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Daran glaube ich.»
Und er verschweigt auch den persönlichen Zusatz des Dichters nicht:
«Für Manfred, einem derer, die kein gefrorenes Meer in sich tragen, von Reiner»
Manfred Böhme war ein fleißiger Spitzel in Kunzes Akten. 54 Seiten schrieb er unter dem Decknamen «August Drempker» und 264 Seiten unter dem Decknamen «Paul Bonkarz». Er ist ein Sonderfall unter den Inoffiziellen Mitarbeitern, sagt Reiner Kunze, denn bei ihm ist alles möglich. Es gibt die ganz exakten Berichterstatter, es gibt die schlichten, die spießigen, die sich unter Legende anmelden und dann brav zitieren. Bei Böhme ist alles anders.
Bei ihm gibt es das exakt wiedergegebene Gespräch, die tendenziöse Einschätzung, Halbwahrheiten, böse Lügen. Und oft schreibt er, was ich nicht gesagt habe, was ich aber hätte sagen können, wenn ich nicht geschwiegen hätte. Böhme, sagt Reiner Kunze, ist anders als alle Spitzel in meiner Akte. Er hat sich eine Welt geschaffen mit lebendigen Menschen. Und die hat er manipuliert. Manfred Böhme, sagt er, wollte Gott sein.
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