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10  «Wer mit den Mördern pokert»

 

Der Greizer Kreis

   

 

147-160

Günter Ullmann erfährt aus dem Fernsehen, daß Jürgen Fuchs verhaftet worden ist. Er arbeitet damals in Berlin als Bauschreiber und fährt sofort am nächsten Tag zu Lilo Fuchs nach Grünheide. Er will fragen, was er tun und wie er helfen kann.

Das ganze Viertel, sagt der Lyriker Ullmann, war hermetisch abgeriegelt, Polizeiautos standen quer über der Straße, ich konnte gerade noch zum Haus gehen, klingeln, die Tür geht auf, <Ach, der Ullmann ist da>, das hör ich noch, und dann werde ich von Polizisten weggezogen, einsteigen bitte, und ab geht's.

Wir sind durch Berlin gefahren, kreuz und quer durch Berlin. Ich weiß nicht, wo wir gelandet sind, es war ein großer Komplex, und in eine der Baracken haben sie mich reingeschoben. Da wurde ich befragt.

Woher kennen Sie Fuchs?
Den kenn ich vom Fußball. Wissen Sie, ich bin doch ein Fußballfan. Den kenn ich daher.
Meine Freunde, sagt Ullmann, haben mächtig gelacht, als ich ihnen das später erzählte. Ich und Fußball. Ich haßte Fußball.
Und haben Sie Kontakt zu einem Herrn Havemann?
Habermann?
Nein, Havemann!
Lassen Sie mich überlegen, sagt Ullmann zum Vernehmer. Ich arbeite doch beim Bau. Ja, auf dem Gelände heißt, glaube ich, einer
Hasemann. Also, sagt er, ich habe die richtig auf den Arm genommen.
Lassen Sie sich dort nicht noch einmal blicken. Das ist verboten, sagen sie ihm. Und er wird entlassen.

Von diesem Stasi-Gespräch erzählt Ullmann sehr vergnügt auch seinem Freund Manfred Böhme, und dessen Meldebedürfnis regt sich stürmisch. Er diktiert einen Bericht an die Staatssicherheit:

«Dann erzählte G. Ullmann in einer sehr humorvollen Art und Weise, wie er am Montag, 22.11.76 von Genossen des Staatssicherheitsdienstes, zuerst von einer Streife der VP, befragt oder verhört worden ist.
Günter U. hob hervor, daß die Genossen der Staatssicherheit von ihm an der Nase herumgeführt worden seien.
Auf die Frage, was er bei Fuchs gewollt habe, antwortete Ullmann, er habe von Freunden erfahren, daß Jürgen F. einsitze.
Er hatte vorgehabt, Lilo Fuchs etwas Geld zu bringen.
Die ihn vernehmenden Genossen hätten ihn gefragt, ob er von den geistigen Dingen um Jürgen F. etwas wisse, was Günter Ullmann verneint habe.
Auf die Frage nach seiner Freizeitbeschäftigung sagte er, daß er mit den Kumpels ab und an etwas trinken gehe, ansonsten sich nicht um große Dinge einen Kopf mache.
Auf die Frage, ob und was er lese, sagte er, daß er bestimmt weniger lese, als die Leute, die ihn gerade vernommen hatten.
Er war sehr stolz darauf, daß die ihn vernehmenden Angestellten es mit einer leichten Verwarnung belassen ließen, ihn darauf hinwiesen, daß er in Zukunft solche Besuche bei Lilo Fuchs in der Wohnung oder bei der Wohnung Havemanns sein zu lassen habe. Auf mein Bemerken, daß er da die Leute der Sicherheitsorgane doch sehr stark unterschätze, wenn er meine, daß sie ihm das abkaufen, stieg sofort seine Gattin ein, die in etwa <siehst du, da habe ich doch recht gehabt!> reagierte.»

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Aus meinen Akten, sagt Ullmann, geht hervor, daß die Stasi meinen Betrieb veranlaßte, mich nach Gera zurückzuschicken. Und für den guten Vorschlag bekam der Stasi-Mann eine Buddel Whisky, sagt er. Für 80 Mark. Hat er quittiert. Liegt auch in meiner Akte.

Sechs Wochen nach der Ausweisung von Wolf Biermann und der Verhaftung von Jürgen Fuchs wird in Gera ein Operativer Vorgang eröffnet: Deckname «Medium». Zu beschnüffelnde Personen sind Günter Ullmann, der Lyriker, Bauschreiber und Schlagzeuger, Harald Seidel, der Reparaturschlosser und Baßgittarist, Jürgen Kornatz, der Ingenieur und Flötist, und Rudolf Kühl, der Maurer mit Abitur und Saxophon.

Begründung für den OV: Drei Briefe gleichen Inhalts wurden konfisziert. Sie waren an das ZK der SED, an das Ministerium für Kultur der DDR und an den Schriftstellerverband der DDR gerichtet, drei Solidarisierungsschreiben mit Wolf Biermann und mit Reiner Kunze, der zu eben jener Zeit aus dem Schriftstellerverband geworfen worden war. Nur Kuhl, so steht es in den Akten, habe einen eigenen Brief geschrieben.

Stimmt, sagt Rudolf Kuhl. Der Text, den Günter Ullmann verfaßt hat, der war ja sehr gut, aber auch sehr monumental. Es hieß da: Der Sozialismus ist nicht aufzuhalten, weder von der braunen Pest noch von den rostroten Pickeln. So etwa. Das war mir zu gewaltig.

Die Ausbürgerung von Wolf Biermann, sagt Harald Seidel, war für uns wie ein Faustschlag. Er habe sofort an Willibald Müller geschrieben, den Ersten Kreissekretär der SED, Greiz. Er habe ihm geschrieben, daß er, Seidel, das als SED-Genosse nicht mittragen könne. Er erlaube sich, Kritik zu äußern. Die Entscheidung müsse zurückgenommen werden.

Ach, sagt Seidel, und ich höre noch heute, wie Willibald Müller auf einer Konferenz im Kulturbund Biermanns Ausbürgerung mit Bravo-Rufen bedenkt. Dieser Biermann sei doch ein Renegat, ein Parasit, eines der gefährlichsten Subjekte überhaupt. Jürgen Kornatz schießt daraufhin wie von der Tarantel gestochen hoch und ruft «Arschloch». «Arschloch», sagt der zu Willibald Müller. Und: Er könne sich diesen Scheiß nicht länger mit anhören, und steht auf, will raus. Da greift Manfred Böhme ein und hält Kornatz zurück:

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Bist du verrückt! Nimm dich zusammen Du kannst ja deine Meinung haben, aber doch nicht hier Und nicht so laut. Und wir müssen doch versuchen, gemeinsam ... Also, er lavierte mal wieder rum.

Harald Seidel wird aus der Partei geworfen Ein SED-Genosse hat sich nicht für Biermann einzusetzen Auf dem 11 Plenum des ZK der SED im November 1965 war der Liedermacher doch schon erkannt worden als Störfall. Auftrittsverbot, Publikations­verbot für einen, der ohne Respekt ist vor den hohen Herren:

«Die Eitelkeit der höchsten Herrn 
Könnt meilenweit er riechen 
Verewigt hat er manchen Arsch 
In den er mußte kriechen »

So singt Biermann in seiner Ballade auf den Dichter Francois Villon.

Wenn der Seidel sich mit so einem solidarisiert — raus. Brauchen wir nicht m der Partei. Er ist ja neulich auch in der katholischen Kirche gesehen worden, auf dieser Kunze-Lesung.

Was haben Sie als Kommunist überhaupt in einer Kirche zu suchen? fragen ihn die Vernehmer der Parteikontrollkommission, die ihn vorgeladen haben.

Ich bin frei und kann hingehen, wohin ich will, sagt Seidel.

Und haben Sie nicht hinterher Nazi-Lieder gesungen? Und wer hat die Hakenkreuze an die SED-Kreisleitung geschmiert?

Es war absurd, sagt Seidel. Vollkommen absurd.

Manfred Böhme hatte damals den Auftrag, Seidel in die Partei zurückzuholen. Er besuchte Roswitha und mich bei meiner Schwiegermutter, erzahlt Harald Seidel Es war ein kalter Dezembertag, und er hatte eine wunderschöne Mütze auf, und wir haben Schnaps getrunken und rumgeflachst, und Roswithas Mutter war entzückt, das sei ja ein brillanter Mann, mit so viel Charme. Aber Seidel wehrte alle Versuche, ihn zu beeinflussen, ab. Er sagte Böhme, daß es so nicht weiterginge, und er hatte auch schon einen Brief an Erich Honecker geschrieben.

Also, den wurde er doch gerne einmal lesen, sagt Manfred Böhme.

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Harald Seidel und Ibrahim Böhme 1990 bei ihrem ersten Wiedersehen nach der Wende

«Nach meinem Biermann-Protest flog ich aus der Partei. Manfred sollte mich damals auf rechten Weg zurückholen. 
Er kam an einem kalten Dezembertag, und wir haben Schnaps getrunken.»

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Natürlich, sagt Seidel.

Und natürlich gibt Böhme alles an die Staatssicherheit weiter, berichtet «auftragsgemäß». Ein kühler Ton weht durch die Zeilen. «Des weiteren kam zutage...», erstens, zweitens, a und b.

«Dann hat er mir den Brief an Erich Honecker vorgelesen. Im allgemeinen legt er noch einmal seine Motivation dar, aufgrund dessen bzw. derer er den Brief an W. Müller, den i. Kreissekretär geschrieben habe, er betonte noch einmal... daß man über diese ganze Biermann- und Havemann-Diskussion die tatsächlichen Aufgaben außer acht lasse...

Mit Schreibmaschine geschrieben wurde dieser Brief von Roswitha Kostial, der Verlobten von H. Seidel, gez. <Paul Bonkarz>.»

 

In der Psychostudie, die Böhme von Seidel für die Staatssicherheit verfaßt, heißt es: Seidel sei zwar ein überzeugter Leninist, aber in letzter Zeit habe er zuviel Trotzki gelesen.

Keine Zeile hatte ich damals von Trotzki gelesen, sagt Seidel.
Und Einflüsse von Konstantinow machten sich bei ihm bemerkbar, schreibt Böhme.
Konstantinow? Den gibt es gar nicht, sagt Seidel. Das ist eine Erfindung von Böhme. Er hätte auch Meyer oder Schulze schreiben können. Aber Konstantinow, das klingt natürlich besser.

Und Böhme zog Schlüsse aus Seidels Kindheit und Jugend. Das waren doch alles seine Probleme, sagt Seidel. Und die Leute von der Staatssicherheit habe er mit alldem wohl restlos überfordert.

Biermann war verboten, sagt Günter Ullmann, und wir hörten heimlich seine Platten. Die brachte Jürgen Kornatz aus Jena mit, von Fuchs und auch von Biermann, immer hatte er das Neueste. Und das wußte Böhme, sagt Ullmann. Wir haben ja auch über die Texte diskutiert.

Mochte Böhme die Texte?

Nein, überhaupt nicht, sagt Günter Ullmann. Die waren ihm zu fremd, zu plebejisch, zu unappetitlich, zu freizügig. Da wurde ja gelebt und geliebt:

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«... oder nehmen wir zum Beispiel 
meinen sexuellen Freistil...»

Schrecklich fand Böhme das. Manfred kam ja vom hohen Anspruch Thomas Manns, sagt Günter Ullmann. Das war eher seine Welt.

Doch er lebte in der kleinen Welt der miesen Schnüffelschweine aus Plaste und Elaste. Und die hat Biermann in seiner großen Stasi-Ballade beschrieben:

Menschlich fühl ich mich verbunden 
mit den armen Stasi-Hunden 
die bei Schnee und Regengüssen 
mühsam auf mich achten müssen 
die ein Mikrophon einbauten 
um zu hören all die lauten 
Lieder, Witze, leisen Flüche 
auf dem Clo und in der Küche -
Brüder von der Sicherheit 
ihr allein kennt all mein Leid...

Den mußte Böhme ja hassen, diesen Biermann, diesen neuen Heinrich Heine aus der DDR, diesen frechen Tieftaucher im Meer der Miefer und der Bonzen.

Ich frage Manfred Böhme, wie er 1976 zur Ausbürgerung von Wolf Biermann gestanden habe.

Man muß einen Mondsüchtigen ja nicht gleich auf den Mond schießen, sagt er. Im übrigen sei Biermann der beste Propagandist der DDR gewesen.

Und mochten Sie seine Lieder, seine Balladen vom Panzersoldaten und Francois Villon?

Ich mochte seine Sprache nicht, sagt Böhme. Die war grob und geschmacklos.

Nein, sagt Wolf Biermann, es war nicht der grobe Villon-Ton, den Böhme nicht mochte. Es war politisch kalte Kalkulation. Bei mir und bei Robert Havemann. Robert und ich, wir waren die Grenzpfeiler.

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Dahinter konnte man grasen. Recht oder schlecht. Und als ich weg war, war kein Rammbock mehr da. Der war weg. Da gab's nichts mehr. Ich war das absolute Schwarz, sagt Biermann. An diesem Schwarz sahen alle Neger wie Weiße aus.

Gleich nach der Ausweisung des Liedermachers kommt Eberhard Herzog, der Greizer Kulturfunktionär, in den Schlosserbetrieb von Rudolf Kühl. Er legt den Werktätigen ein Blatt Papier hin, das sie unterzeichnen sollen: Wir sind einverstanden mit der Biermann-Ausweisung.

Und Sie, Herr Kuhl, warum unterschreiben Sie nicht? Ach, wissen Sie, sagt der, wir haben unsere Stellungnahme schon abgeschickt.

Natürlich, die ist ja längst im Postsieb hängengeblieben. Herr Herzog erteilt prompt Spielverbot für den Club «media nox», nein, sie dürfen auch nicht mehr zu den Jazz-Tagen nach Jena.

Da habe ich sofort eine Eingabe ans Kulturministerium gemacht, sagt Rudolf Kühl, Günter, Harald und ich haben die losgeschickt. Ach, da war Manfred immer sauer, wenn wir etwas ohne ihn machten. Er wollte in alles einbezogen werden. Heute, sagt Kühl, weiß ich gar nicht, ob überhaupt alle Briefe, die wir damals geschrieben haben, abgegangen sind. Einige hat Manfred ja für uns abschicken wollen. Angeblich. In den Akten habe ich darüber nichts gelesen. Das heißt wohl, er hat sie gar nicht erst weitergeleitet.

Wegen des Spielverbots kommt eine schnelle Rückantwort. Wir sollten nach Gera kommen zu einer Aussprache. Das habe ich Manfred erzählt, sagt Kühl. Und der fing sofort an: Ach Gott! Das wird ganz schlimm. Ihr kriegt totales Spielverbot und sonstwas.

Wieso, sagt Kühl. Ich habe keine Bedenken. Ich fahre nach Gera.
Allein?
Nein, ich nehme Harald mit.

Also, du mußt unbedingt mich mitnehmen, sagt Böhme. Ohne mich läuft da gar nichts.
Gut, sagt Kuhl. Wir treffen uns in Gera. Abgemacht, sagt Böhme.

Aber er kommt nicht. Hundertprozentig hatte er gesagt. Und nun steht Kühl allein da. Unvorstellbar war das für mich, sagt er. Was nützt

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mir jede Aussage von den Bonzen, wenn ich keinen Zeugen habe. Und das wußte Böhme. Ich ging dann allein hin, und die sagten mir, ja, der Herr Herzog sei da zu weit gegangen, und spielen Sie man weiter mit Ihrer Band. Aber wer würde mir das im Zweifelsfall glauben ?

Ich habe Manfred das sehr übelgenommen. Und er hatte wohl auch ein schlechtes Gewissen. Aber eine Entschuldigung hatte er nicht. Und dabei mußten wir bei ihm doch immer springen, immer zur,, Stelle sein. Komm hierhin, geh dorthin, ruf da an. Ich weiß nicht, sagt Kühl, ob das zu seinem Auftrag gehörte.

Er wollte bei uns doch der große Revolutionär sein, sagt Günter Ullmann. Aber was war er? Der untertänige Zuträger. Was hat er nicht alles berichtet, sagt Ullmann: daß man in meiner Gegenwart nichts aus dem Boden reißen dürfe, kein Unkraut, keine Blumen, und daß ich kein Geflügel esse und es bereits als Tierquälerei empfinde, wenn Mäuse in Mausefallen gefangen würden. Das hat er geschrieben, sagt Ullmann. Solche Banalitäten. Und daneben dann meine Meinung zu Solidarnosc.

Mit der Wahrheit hat er es in den Berichten nie genau genommen. Er hat verschlimmert und verharmlost, er hat verschwiegen und erfunden. Und das Erfundene ist so übel, daß ich nicht darüber reden mag, sagt Ullmann. Wahrscheinlich kann er Fiktion und Wirklichkeit nicht voneinander trennen.

Am 18. August 1976 passiert ein Unglück. Der siebenundvierzigjährige Pfarrer Oskar Brüsewitz fährt im sächsischen Zeitz, rund 70 Kilometer von Greiz entfernt, mit seinem Wartburg vor die Michaeliskirche. Er stellt ein Transparent auf den Kirchenplatz. Darauf steht: «Die Kirchen klagen den Kommunismus wegen der Unterdrückung der Jugend an.» Dann übergießt er sich mit Benzin und zündet sich an.

Die Nachricht schreckt den Greizer Kreis auf. Und die Bildhauerin Elly-Viola Nahmmacher ist so bewegt vom Flammentod des mutigen Kirchenmannes, daß sie ein Denkmal schnitzen will. Und sie möchte, daß ihre jungen Greizer Freunde aus dem Club «Alexander von Humboldt» Gedichte machen für den toten Brüsewitz.

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So hatte ich denn auch Manfred gebeten, sagt sie. Und zum erstenmal sagt der nein. Nein. Er hatte doch zu allem immer seine Meinung. Das gab es doch gar nicht, daß der zu einem Thema schwieg. Und jetzt war er wie abgeschlossen. Er wollte nicht.

Da war ich schockiert, sagt Elly-Viola Nahmmacher. Ich war so sicher, daß auch er ein Gedicht schreiben würde. Aber diese Tat war ihm offenbar fremd. Dabei waren doch die Gründe von Oskar Brüsewitz so klar. Es ging gegen Zwänge, gegen Bevormundung, gegen die DDR. Und diese Gründe, sagt die Bildhauerin, waren Böhme offenbar unheimlich. Also er wollte nicht.

Ich frage Ibrahim Böhme, wie er die Selbstverbrennung von Pfarrer Brüsewitz empfunden habe.
Ach, sagt er, Sie kennen mein Gedicht?
Gedicht?

Ja, sagt er, ich habe Frau Nahmmacher ein Gedicht gegeben.
Genau das, sage ich, haben Sie nicht getan.

Doch, doch, sagt er. Ich bin ja nicht gläubig, und deshalb lehne ich es auch ab, daß Menschen, die sich umbringen, nicht auf dem Gottesacker beerdigt werden dürfen. Ein freidenkender Mensch, sagt Böhme, hat ein Recht, sich das Leben zu nehmen. Das entsetzliche sei für den Pfarrer offenbar die Erkenntnis gewesen, daß die Jugendpolitik in der DDR völlig verfehlt war. Aber Brüsewitz hat keinen Ausweg mehr gesehen, sagt Böhme, während Leute meiner Couleur durchaus noch Auswege gesehen haben. Ja, es hat mich erschreckt. Und ich habe ein Gedicht gemacht. Und Frau Nahmmacher hat ein Ehrenmal geschnitzt.

Das stimmt. Und es stimmt auch, daß Ibrahim Böhme der Staatssicherheit alles über das Denkmal berichtet:

Wie hoch, wie lang, wie dick es werden soll. Ellenlange Berichte. Und so, wie sich Böhme die Feder gesträubt hat beim Gedanken an ein Brüsewitz-Gedicht, so sträuben sich «Paul Bonkarz» die Wörter beim Versuch, über den Tod des Pfarrers zu schreiben: «... den sich den Selbstmord unterworfenen kirchlichen Amtsträger». Oder er schreibt vom «Selbstmordbegangenen O. Brüsewitz», wenn er wieder mal «auftragsgemäß» in der Wohnung von Frau Nahmmacher nach dem Rechten sieht.

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Am 11. November 77 stellt Böhme in seinem Bericht Vermutungen an, wann das Denkmal wo am Totensonntag aufgestellt werden könnte, eventuell, aber eventuell auch nicht. Und prompt wird tags darauf, am 12. 11. 77, ein Operationsplan aufgestellt. Ziel: «Verhinderung der Ausschleusung des Brüsewitz-Denkmals... in die BRD sowie einer Aufstellung ... in der DDR.»

Und dann stehen an einem frühen Abend drei Männer vor ihrer Tür. Die wollten meine Arbeiten sehen, sagt die Bildhauerin. Da ich oft Besuch bekomme war das ganz normal für mich. Ich habe sie also rumgeführt. Und die gingen in einem rasenden Tempo durch meine Wohnung und dann durch mein Atelier. Und ich zeig ihnen hier was und dort was und sage, dies ist das Brüsewitz-Denkmal. Da bleiben die drei stehen. Aha. Deswegen sind wir hier. Ja, und dann haben sie mich stundenlang verhört.

Erst gegen zehn Uhr am Abend verlassen die drei Männer ihre Wohnung. Sie würden noch in selbiger Nacht entscheiden, was sie mit dem Denkmal machen werden. Am nächsten Morgen, pünktlich um zehn, wären sie wieder da.

Es war eine schreckliche Nacht, sagt Elly-Viola Nahmmacher. Ich hatte Angst, wußte nicht, was die Kerle mit meinem Denkmal vorhaben und mit mir vorhaben. Es war die größte Angst, die ich je hatte.

Am nächsten Morgen stehen die drei von der Stasi Punkt zehn Uhr wieder vor der Tür. Sie sagen: Wir haben beschlossen. Ihnen das Denkmal abzukaufen. Abkaufen? denkt sie. Das ist ja wunderbar. Ich bin den Druck los und kann jederzeit ein neues Denkmal machen. Gut, sagt sie. Einverstanden.

Dann haben die mir 3000 Mark auf den Tisch geknallt, und ich mußte das unterschreiben. Und die drei Kerle haben meinen Brüsewitz ganz vorsichtig in ihr Tuch eingepackt, haben ihn runtergetragen in ihr Auto und sind abgesaust.

Und nun habe sie gehört, daß Manfred Böhme zehn Seiten über das Denkmal geschrieben und auch eine Zeichnung dazu angefertigt habe.

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Ich war absolut schockiert, sagt Elly-Viola Nahmmacher. Aber er mußte wohl einfach seiner Erzählfreude freien Lauf lassen. Es hat ihn eben auch alles so wahnsinnig beschäftigt, sagt sie. Und wo sollte er denn hin mit seiner Phantasie? Er hätte besser Romane schreiben sollen. Schon. Aber nun hat er eben Stasi-Berichte geschrieben.

Ich habe ja alles für möglich gehalten, sagt Rudolf Kühl, aber nicht, daß Manfred so ein kleiner Stasi-Spitzel gewesen ist. Wenn mir jemand gesagt hätte, der ist beim KGB, beim russischen Geheimdienst, dann hätte ich gesagt: Na ja, so war der angelegt. Das hätte ich gedacht. Der wollte doch schon immer die Welt verändern. Aber daß er so ein kleiner Stasi-Schnüffler war, das ist schrecklich. Das habe ich nicht gedacht. Und da gibt es eben kein Zurück, sagt er, vor allem, wenn ich an die Geschichte mit der Streichholzschachtel denke. Nein, da gibt es kein Zurück.

Die Geschichte ist die: Nach den Ereignissen um Fuchs und Biermann sammelt Günter Ullmann Gedichte für eine Anthologie, die im Westen erscheinen soll. Gedichte von Jürgen Fuchs, Richard Pietraß, Arnold Vaatz, Volker Müller und Günter Ullmann sollen darin versammelt sein. Also höchste Geheimhaltung erforderlich. Es sind achtzehn Tage seit der Verhaftung von Jürgen Fuchs vergangen. Ullmann ist noch Bauschreiber in Berlin, und Manfred Böhme hat dort vom 5. bis zum 7. Dezember eine Tagung, wohnt im Hotel «Stadt Berlin». Schon am 8., also kaum daß er wieder in Thüringen ist, schreibt er einen Bericht an die Staatssicherheit.

«Am 6. 12. 76, gegen 19.30 Uhr, rief die Rezeption in meinem Hotelzimmer 14/02 an, daß ein Kollege Ullmann mich gern sprechen möchte.
Ich bat darum, ihn in der Hotelhalle auf mich warten zu lassen.
Etwa gegen 20.00 Uhr ging ich in die Hotelhalle, forderte Ullmann zu einem Gespräch in der Hotelbar auf und vermerkte, daß ich nur eine Viertelstunde Zeit hätte, da dann die Konferenz weiterginge.»

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Sie trinken einen Kaffee, und Günter Ullmann erzählt dem Freund, daß dieser recht gehabt habe. Die Staatssicherheit sei nämlich wieder dagewesen, habe also gemerkt, daß Ullmann versucht habe, sie auf den Arm zu nehmen. Böhme hört sich das an, als wollte er sagen: Na, siehst du, mein Lieber. Dabei hatte er die Staatssicherheit doch über den Jux informiert, den Günter Ullmann sich mit der Stasi glaubte machen zu können. Aber das weiß Ullmann ja nicht. Danach kommt Böhme in seinem Bericht zum brisanten Teil:

«In diesem Gespräch übergab mir Günter U. eine Streichholzschachtel.
In der Mitte einer ausgeschnittenen und eingelegten Zwischendecke und unter den Streichhölzern liegen etwa 15 Epigramme, die vermutlich mit zu der gewünschten Anthologie gehören sollen.
Ullmann bat mich, diese Epigramme niemandem zu geben, wies darauf hin, daß außer mir niemand diese Epigramme kenne...»

Ich frage Ibrahim Böhme, ob er sich an jene Situation erinnert, die ja inzwischen fünfzehn Jahre zurückliegt. Dezember 1976. Sie wohnen im Hotel «Stadt Berlin».

Richtig, sagt Böhme. Ich hatte dort eine Tagung vom 5. bis zum 7.
Und am 6. bekommen Sie in Ihrem Zimmer einen Anruf von der Rezeption.

Ich erinnere mich, sagt Böhme. Ullmann wollte mich sprechen. Ich glaube, er hatte Schwierigkeiten.
Und wissen Sie noch, was er Ihnen gab?
Er hat mir nichts gegeben, sagt Böhme.

Doch, sage ich. Eine Streichholzschachtel mit doppeltem Boden. Unten 15 Epigramme für die Anthologie und darüber die Hölzer. Und niemand außer Ihnen beiden wußte das.
Nein, sagt Böhme sehr ruhig. Ich habe im Hotel nichts von ihm bekommen.

Ich frage Günter Ullmann danach. Manfred hat recht, sagt er. Die Schachtel habe ich ihm nicht im Hotel gegeben. Das Hotel «Stadt Berlin» sei viel zu groß, zu offiziell und vor allem zu überwacht. Die Schachtel habe er ihm später in seiner Stube übergeben.

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Und Böhme übergibt sie der Staatssicherheit. Die Schachtel mit der Aufschrift «Sicherheits Zündwaren» wurde in allen Lagen fotografiert: geschlossen, leicht geöffnet, mit herausgeschobenen Hölzern, auch der doppelte Boden ist zu sehen. Die Epigramme sind säuberlich entfaltet und offenbar gebügelt worden. Über einem steht:

Für meinen Freund M.

Verschweige nicht 
das unrecht 
werde schuldig

benenne die Opfer 
werde ihr 
Organisator

warte auf deine
verhaftung
HABE HOFFNUNG

Als ich das in den Akten gesehen hatte, sagt Ullmann, konnte ich wochenlang nicht schlafen. Wahrscheinlich war Manfred bereit, für seine Ideale alles zu geben. Alles. Aber daß er sich so besudelt hat, daß er so tief in den Sumpf gestiegen ist, daß er seinen Genius so verschenkte, das hat mich am schmerzlichsten berührt.

Aber was hatte Manfred Böhme seinem Freund gesagt? Wer seine Träume verwirklichen will, muß durch die Hölle gehen. Dann hatte er geschwiegen und geheimnisvoll hinzugefügt: Sieh dir den SS-Obersturmführer Kurt Gerstein in Hochhuths «Stellvertreter» an. So ist das mit mir.

Kurt Gerstein schleicht sich in die SS ein, weil er merkt, mit Flugblättern und Sabotage sind die Nazis nicht zu bekämpfen. Er glaubt, daß Diktaturen nur von innen aufzubrechen sind. Er sagt: Wer mit den Mördern pokert, muß ihre Grimassen schneiden.

Wie Böhme also, denkt Günter Ullmann. Auf diese Weise wollte er mir sagen: Ich lasse mich mit ihnen ein. Aber ich denke anders. Ich helfe euch. Ullmann hat ihm geglaubt.

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