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11  «Vorsicht, das ist ein Paganini mit Spitzbart»

 

 Die Entdeckungen des Politikers Arnold Vaatz  

 

 

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«Entsprechend Auftrag» und «auftragsgemäß» wirbelt Manfred Böhme in den nächsten Wochen durch die Szene, schreibt Berichte, ellenlang. Seit Biermanns Vertreibung aus dem Paradies der Bonzen herrscht Bombenstimmung bei Böhme.

Er muß rauskriegen, was geplant ist, welche Briefe geschrieben werden und wie die Gedichte von Günter Ullmann, Jürgen Fuchs und Arnold Vaatz – «diese Ergüsse», wie Böhme in den Akten schreibt – in den Westen geschleust werden sollen. Ob da etwa «der Kanal Reiner Kunze in die BRD mit genutzt werden könnte»? Also, er hat schwer zu tun, der Böhme.

Die meisten Gedichte besitzt er schon. Er hat sie vom treuen Ullmann bekommen. Sie liegen längst bei der Staatssicherheit. Sie liegen längst auch in einer Kopie bei Professor Wegner in Jena, Sektion Literatur und Kunstwissenschaft. Der Experte fertigt eine Expertise von sechsundsechzig «Gedichttexten» an. Ihm offenbaren sich nach der Lektüre «bedenkliche politische Auffassungen». Der Ton der Texte «läßt darauf schließen, daß die Verfasser uns Schaden bringen wollen». Sie suggerieren dem Leser auch durch Anspielungen auf «aktuelle Vorgänge» wie «Biermann, Pfarrer Brüsewitz und 1968», die DDR «sei ein Staat des Unrechts», in der die Bürger «zur Unehrlichkeit und Heuchelei» erzogen würden.

Einige der Texte «verleumden die sozialistische Ordnung, ihre sittlichen Werte und ihre geistigen Ideale».

So müsse der Herr Professor denn doch am Ende, «ohne weitgehende Schlüsse ziehen zu wollen», sagen, daß diese Texte, sollten sie veröffentlicht werden, «die politische Atmosphäre in unserer Gesellschaft ... vergiften sowie Ordnung und Sicherheit ... stören».

parteitage

jeder ein gitterstab 
von stab zu stab 
fünf jahre

 

Das ist so ein Gedicht, das die Ordnung stört. Arnold Vaatz hat es geschrieben, damals ein junger Student aus Weida bei Greiz, später Umweltminister im Sächsischen Landtag von Dresden.

Vaatz ist ein schwerer Brocken für Böhme. Irgendwie kommt der Kulturfunktionär nicht so recht ran an ihn, und inzwischen entwischt er auch noch nach Dresden, wo er studiert. Doch am 2. Dezember 1976, als Böhme «entsprechend Auftrag» seinen Freund Harald Seidel besuchen will, kommt ein anderer Freund der Jazz-Truppe «media nox», Jürgen Kornatz, auf einen Sprung bei ihm vorbei. Kornatz erzählt Böhme dies und das und auch, daß Arnold Vaatz einen «etwas merkwürdigen Brief» aus Dresden geschrieben habe. Nein, nicht ihm, sondern Günter Ullmann.

«In dem Brief soll sogar eine Zeichnung mit verankert gewesen sein, auf der A. Vaatz in etwa markiert haben soll, wo er G. Ullmann vom Bahnhof aus abholen wolle.» Konspirativ und geheimnisvoll beschreibt es Böhme im Bericht. Und er fügt hinzu, daß er den Eindruck hatte, Kornatz wolle ihn bitten, dafür Sorge zu tragen, daß Ullmann unter keinen Umständen nach Dresden fährt. Warum? Um ihn vor «provokanten Verhaltensweisen» zu schützen.

Also dem muß Böhme natürlich nachgehen. Er versucht, Rücksprache mit dem verantwortlichen Genossen vom MfS in dessen Dienststelle zu halten, vergeblich. Der Mann ist schon weg. Feierabend. Immerhin ist es ja schon 19 Uhr 30. Was tut Böhme?

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Er schreibt es in den Akten: «Also nahm ich den Besuch bei Günter Ullmann... auf eigene Verantwortung vor.» Sieh an, der Held Manfred Böhme, der Palastrevolutionär stoppt in letzter Sekunde ein Scharmützel in Greiz und nimmt die Verantwortung auf seine Kappe. Chapeau.

Noch am selben Abend besucht er also Günter Ullmann. Was hat der zu berichten? Er «bestätigte, einen solchen Brief mit Besuchsaufforderung am 30.12.1976 von A. Vaatz erhalten zu haben». Ein Besuch also. Bei Vaatz. Böhme gelingt es, wie er schreibt, nach einem, langen «taktischen» Gespräch Günter Ullmann von diesem Besuch abzuhalten. Aber: Es gäbe ja nicht nur diesen Brief von Vaatz. Beim Brief lag noch ein Zettel. Und darauf stand:

«Lieber Herr Kunze!
Ich habe seit 1973 zu Günter Ullmann ein ausgezeichnetes Vertrauensverhältnis. Ich bitte Sie herzlich darum, ihm meine Gedichte zum Abschreiben vorzulegen. Heute ist der 27.11.76. Dieses Schreiben gilt bis zum 31. März 1977. Ich danke Ihnen sehr herzlich.
Ihr Arnold Vaatz»

Alles erfunden, sagt Günter Ullmann. Der ganze Bericht – erfunden. Wenn er geplant hätte, zu Vaatz zu fahren, dann wäre er gefahren, selbstverständlich. Vaatz und er hätten sich aber erst 1977 wiedergesehen. Ich erinnere mich noch, wie Arnold mich hier in Greiz besucht. Und die Staatssicherheit, die damals unsere Wohnung überwacht, fährt im Auto hinter Arnold her, «begleitet» ihn von Greiz bis nach Dresden vor die Haustür. Möglich, sagt Ullmann, daß da etwas mit Gedichten war zwischen Vaatz und Kunze, die beiden kannten sich ja gut, und manchmal stimmt ja auch was in Böhmes Berichten, aber der Rest ist Märchen.

Als Arnold Vaatz den Märchenerzähler von Greiz kennenlernt, ist er kolossal beeindruckt. 1972 muß das gewesen sein, sagt Vaatz. Er selbst lebt damals im Internat von Greiz und geht auf die Erweiterte Oberschule «Theo Neubauer». Und dort taucht eben eines Tages Böhme auf und führt die Primaner in die russische Literatur ein. «Primus» wird der Deckname für den operativen Vorgang Vaatz.

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Böhme, sagt er, sprach immer ganz gezielt Leute an, und mit denen ist er dann ein Bier trinken gegangen. Auch ihn habe er angesprochen, mindestens fünf-, sechsmal. Er sei zuerst eben immer sehr vorsichtig und distanziert, sagt Vaatz. Aber dann sei er eines Tages mitgegangen – und war begeistert.

Er hatte etwas Exotisches, der Böhme, sagt er, war nicht wie die Parteischachteln, war politisch, philosophisch und literarisch interessiert und gebildet. Er war ein idealer Gesprächspartner, brachte mich auf neue Gedanken, regte an, stellte mich seinen Freunden vor, ja, das hat mir Eindruck gemacht.

Aber bald schon fangen sie an, die Dinge, die den Schüler stutzig machen. Also Böhme taucht auf. Urplötzlich. Flachst, redet, blödelt rum. Nichts Konkretes. Und verschwindet wieder. Und ab und an lag ein Zettel bei mir auf dem Tisch, sagt Vaatz: Ich möchte sofort und ganz schnell zu ihm kommen. Dringende Sache. Vaatz fegt also durch Greiz, läuft durch die Rosa-Luxemburg-Straße, rein in den Club «Alexander von Humboldt», stürmt hoch in den ersten Stock, ins Büro - und da sitzt er, König Böhme, residiert am Schreibtisch und erzählt und schwätzt da schon den lieben langen Tag mit jemandem herum und blättert in den Zeitungen wie beim Friseur. Hallo Arnold, du hier, schön. Sonst nichts.

Einmal, sagt Vaatz, sind wir mit zwei Mädchen nach Dresden gefahren. Böhme hatte da einen Termin gemacht, wir sollten mit irgendeinem Professor von der Technischen Universität reden. Wir sind also in Dresden, gehen gleich zum verabredeten Ort, Böhme verschwindet, kommt zurück, sagt, der Professor habe im Moment noch zu tun, vielleicht in einer Stunde.

So zog sich das hin, sagt Vaatz. Es gab kein Gespräch. Wir sind durch Dresden gebummelt, haben dies und das geredet und sind dann nach Hause gefahren. Im Zug unterhielt er sich mit russischen Offizieren in ihrer Sprache, das kann er ja. Und auf den Termin ließ er sich nicht mehr ansprechen. Vaatz findet das zwar merkwürdig, hält das aber alles noch für einen «Spleen» von Böhme, der für ihn eben ein Exot in der Einheitssauce der DDR war.

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Abstoßend findet er allerdings, daß Böhme die Parteigrößen und Bürokraten und Funktionäre in Greiz duzt. Und politisch sind sie sich auch eher fremd, die beiden. Er hat mich sogar mal einen Faschisten genannt, sagt Vaatz. Dabei stand ich damals weniger rechts als heute.

In dieser Zeit lernt Arnold Vaatz Reiner Kunze kennen. Böhme hatte ihn ja immer als völlig introvertiert und elitär beschrieben. Und nun merkt der junge Vaatz, das stimmt gar nicht. Der Kunze ist ja gar kein Denkmal. Kunze sammelt damals Material für seine «Wunderbaren Jahre», und Arnold Vaatz sammelt mit, hört hier was, kennt da jemanden, hat ja selbst auch Zusammen­stöße und Schwierigkeiten in der Schule, alles Bausteine für Geschichten.

Vaatz mag den Dichter, er versteht sich bestens mit ihm, verbringt fast jeden Urlaub mit den Kunzes. Und Manfred Böhme ordnet wieder mal den großen Faltenwurf. Er sagt, er muß nach Leningrad. Also, gleich flieg ich nach Leningrad, sagt er. Ja, über Berlin und dann weiter. Das war ein Ereignis, sagt Vaatz. Ja, erzähl doch mal Manfred, sagt er. Wann fliegst du denn? Und dann ereignet sich folgendes:

Manfred Böhme stürzt. Bricht auf der Treppe zusammen. Großes Durcheinander. Er wird in die Klinik gebracht zu Professor Hartmann. Gerüchte schwirren durch Greiz, sagt Vaatz. Er ist schwerkrank, kaum noch zu retten, Knochen der Stirnhöhle granulieren, Zerfallsprozeß hat eingesetzt. In Tränen aufgelöst der ganze Kreis. Aber Böhme wird bald wieder gesund. Und was stellt sich heraus? Er hat nie eine Flugkarte nach Leningrad besessen. Aber gepackt hatte er. War schon mit der Tasche unterwegs.

Und dann überschlagen sich die Ereignisse. Biermann wird ausgewiesen, Fuchs eingesperrt, Kunze zum Staatsfeind erklärt – also, das kann man gar nicht beschreiben, sagt Vaatz. Wer mit Kunze irgendwo gesehen wurde, der war umstellt. Wer mit ihm stand oder saß – war umstellt. Alles wurde beobachtet, alles registriert, jeder Schritt, jeder Tritt. Sogar in Dresden. Also, wenn ich hier in Dresden eine Zahnpasta kaufen wollte, war ich zu sechst. Fünf Mann immer dabei. Umringt. Einer kaufte vor mir Zigaretten und der hinter mir die Streichhölzer dazu.

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Da wurde es dann ernst, und da habe ich zum erstenmal nachgedacht und folgendes beobachtet: Manfred Böhme hatte erreicht, daß die Freunde sich gegenseitig verdächtigen. Das sei kaum zu beweisen gewesen, sagt Vaatz, weil es nur Andeutungen waren. Halbsätze, mit denen Böhme einen gegen den anderen ausspielte und damit das unbedingte Vertrauen, das so wichtig war für den Kreis, zerstörte. Und dann schleppte er fremde Leute in den Kreis. Katastrophale Gestalten sind das gewesen, sagt Vaatz, unglaubliche Figuren. Einigen hat Böhme noch Jobs verschafft, später. An einen erinnert er sich noch, ein ziemlicher Idiot. Stieg bis zum Kreisleiter hoch.

Und diese neuen Leute, sagt Vaatz, die er da in unsere Gruppe verpflanzte, waren wie Störsender. Sie isolierten die Gruppe, versperrten den Zugang zu Kunze, bereiteten den nächsten Akt vor: Kunze aus dem Land ekeln.

Kaum ist das gelungen, am 13. April 1977, steht das melodramatische Finale auf dem Programm: Restgruppe zerstreuen und ab mit Böhme zu neuen Operationsgebieten. All diese Symptome, sagt Vaatz, waren für mich höchstes Alarmsignal. Ich sah, der zerstört unseren Kreis und haut dann ab wie Eulenspiegel.

Als Kunze weg war, sagt er, wurde es ernst für uns. Das wichtigste war, immer wieder vertrauensbildende Schritte zu unternehmen, weil man sich sonst isolierte. Und wie macht man das? fragte sich der studierte Mathematiker und fand die Lösung: Ich muß jedem die Gelegenheit geben, mir das Genick durchzubeißen. Wer die Gelegenheit hat und sie nicht nutzt, ist ein Freund. Und so haben wir das gemacht, sagt Vaatz. Wir haben uns alle möglichen Sachen über uns erzählt. Blieben sie unter uns, waren wir sicher.

So hat denn für Vaatz heute alles eine glasklare Logik. Böhme zerstört den Kreis, taucht ab nach Neustrelitz, taucht wieder auf in Berlin und hat seinen Vornamen gewechselt. Damals fiel das unter die Kategorie «Spinner». Heute ist klar, daß es Teil des Plans war.

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Vaatz stöbert Manfred Böhme noch einmal in Leipzig auf. Ich glaube, sagt Vaatz, das war 1978. Es kursierten ja die tollsten Gerüchte, er sei eingesperrt gewesen und so. Und dann sagte mir irgend jemand, er habe Böhme in Leipzig gesehen. Wenn der in Leipzig sein soll, kombiniert Vaatz, kann der nur bei Undine wohnen. Die hat eine Studentenbude, und Böhme kennt sie.

Vaatz also hin, und siehe da: Böhme steht in der Tür. Als er mich sieht, sagt Vaatz, war er völlig verwirrt, daß ich ihn aufgestöbert hatte. Er behandelte mich wie den letzten Dreck. Und ich wollte doch nur endlich ein paar Dinge auf den Tisch bringen, die sich in meinem Kopf angesammelt hatten. Aber das war nicht möglich. Ich hatte meine Frau dabei, sagt Vaatz. Die hat richtige Angstzustände bekommen.

Sie gehen zurück zum Bahnhof, Vaatz und seine Frau. Aber er kann so nicht wegfahren, er muß noch mal zurück zu Böhme. Der hat sich so unglaublich benommen, nein, das kann Vaatz nicht so stehenlassen. Ich bin also zurückgegangen, sagt er, allein, wieder rauf, geklingelt und gesagt: Manfred, ich besuche dich jetzt nicht mehr. Die Geschichte eben hat mir gereicht. Wir sind geschiedene Leute. Und ich bin mir relativ im klaren über dich. Das hab ich ihm gesagt. Dann bin ich gegangen.

Später hat Vaatz gewarnt. Als er hört, Böhme sei in Berlin aufgetaucht in der Umgebung der Friedensgruppen, da hat er angerufen und gesagt: Wenn da ein Böhme bei euch antanzt, Ibrahim nennt der sich, heißt aber Manfred, dann seid bloß vorsichtig. Das ist ein Paganini mit Spitzbart, der bringt euch in Teufels Küche. Und eines Tages ruft einer bei Vaatz an und sagt: Du, der Böhme ist tatsächlich bei uns aufgekreuzt.

Na ja, sagt Vaatz, so sei das gelaufen. Böhme habe dann die SDP mitgegründet, und alle waren Feuer und Flamme. Er habe noch dezent darauf hingewiesen, daß der Ibrahim B. möglicherweise nicht sauber sei, aber beweisen konnte er das nicht. Ich bin doch nur auf Grund von Indizien draufgekommen, sagt er. Ich selbst hatte allerdings keine Zweifel mehr, daß Böhme bei der Firma war.

Und dann sehen sie sich im November 1989 in Berlin wieder, auf einer Veranstaltung der Initiative «Frieden und Menschenrechte». Böhme kommt auf mich zu, als wäre nichts gewesen. Hallo, Arnold. Moment mal, sagt Vaatz, bevor wir reden, müssen wir etwas klären.

Und da zuckt er auch schon zusammen, der Böhme. Aber Vaatz erklärt ihm: Für meine Begriffe arbeitest du für die Stasi. So deutlich, sagt er, habe er ihm das zuvor noch nie gesagt.

Und was tut Böhme? Er sprengt den ganzen Nachmittag, verschiebt alle Termine, geht weg mit Vaatz. Drei Stunden ist der mit mir durch Berlin gelatscht, sagt er, und hat versucht zu begründen, warum er nicht bei der Staatssicherheit sein kann. Da hat Vaatz zu ihm gesagt: Du, Manfred, ich nehme das zur Kenntnis. Mir ist das auch gleichgültig, ob du bei denen arbeitest oder nicht. Du hast jetzt die SDP gegründet, und das ist eine gute Sache. Über den Rest reden wir später. Dann gehen sie auseinander.

Während des Wahlkampfes trifft er ihn noch einmal in Dresden. Da ist Ibrahim Böhme mit Willy Brandt auf einer Veranstaltung. Ich bin zur Tribüne gegangen, sagt Vaatz, hinter seinem Willy her und hab gerufen: Hallo, Manfred, grüß dich. Da ist der rumgefahren wie ein Blitz. Manfred, so wollte er doch nicht mehr genannt werden. Und er ist mir ins Wort gefallen, daß ich bloß diesen Namen nicht noch einmal sage. Ach, sagt Vaatz, wenn ich an all seine Geburtsjahre denke, und er hat doch mindestens 25 Geburtstage und stammt aus sechs Ländern und hat so viele Biographien wie Freunde.

Am Ende müsse er sagen: Hier hat jemand glänzend gearbeitet. Was hätte ich getan, um Kunze loszuwerden? Um Kunze fertigzumachen? Ich hätte Manfred Böhme genommen, sagt Vaatz. Das ist eine so wahnsinnige Gestalt. Und wenn es den nicht gegeben hätte, dann hätte ich ihn einfliegen lassen. Notfalls aus Kuba.

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