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12  «Dann kam ich ins U-Boot»

 

Die Zeit im Gefängnis

 

 

 

169-179

Als Manfred 1978 verhaftet wurde, sagt Dr. Regina Hartmann, die «Quasi-Mutter» aus Greiz, da waren mein Mann und ich in gewisser Weise erleichtert, konnten wir doch nun sicher sein, daß diese Anflüge von Vermutungen, die auch wir immer wieder gehabt haben, falsch waren. Er war offensichtlich nicht Täter, sondern Opfer.

Ibrahim in Haft zu wissen, sagt Dr. Beate Schwämmle, die «Quasi-Schwester» und spätere politische Mitstreiterin, das war für mich eine schreckliche Vorstellung. Es war auch das erste Mal, daß jemand aus meiner engen Umgebung ins Gefängnis mußte. Also die Zeit seiner Haft, die hat mich schon sehr mitgenommen.

Günter Ullmann, der Lyriker aus Greiz, handelt sofort, als er von der Festnahme seines Freundes erfährt. Er schreibt einen Hilferuf an Jürgen Fuchs, der 1977, nach neun Monaten Haft, abgeschoben worden war und seither im Westen von Berlin lebt. Günter Ullmann schreibt: Lieber Jürgen, mein Freund Manfred Böhme ist verhaftet worden. Er ist unschuldig. Er hat sich immer für mich eingesetzt. Bitte, mach was. So etwa stand es in dem Brief, sagt Jürgen Fuchs.

Nun muß man dazu wissen, sagt der Schriftsteller, der inzwischen einer der wenigen wirklichen Stasi-Akten-Kenner ist, daß Günter Ullmann damals das ganze Jahr von der Maßnahme 26a betroffen war, das heißt, seine Telefonate wurden kontrolliert. Und Ullmann hatte darüber hinaus eine IM-Kontrolle und eine Postkontrolle.

Den Brief an mich hätte man also jederzeit abfangen können. Der Brief kam aber durch, weil man wollte, daß er durchkam. Andere Briefe, sagt Fuchs, sind abgefangen worden, die habe ich alle in meinen Akten wiedergefunden. Dieser aber kam durch. Und das signalisiert etwas – im nachhinein.

Wie habe ich reagiert? Ich habe in London angerufen, sagt Fuchs. Bei Amnesty International. Dann habe ich an Wolf Biermann geschrieben : Du, hör mal zu, da ist einer, den kenne ich, mehr kann man jetzt nicht sagen, der hat zwar Leute von der DKP rumgeführt, was mich wundert, aber jetzt ist er in Haft, und es gibt doch solche Biographien; du kennst doch den Herburger in der DKP. Biermann hat dann an Günter Herburger geschrieben, da sei einer im Knast, der heiße Böhme, der hat Leute von euch rumgeführt, mach mal was, sonst müssen wir ein bißchen öffentlich werden.

Es lief also alles bestens. Fuchs und Biermann rühren die Trommel für einen Spitzen-IM der Stasi, dann konnte der also auch bald wieder raus.

Und wie ist er überhaupt da reingekommen, der Ibrahim Böhme?
Als Schluß war, sagt er, mit dem Kreissekretär Kultur...
Warum war Schluß? frage ich.

Er sei von oben abgesetzt worden, schon 1975, sagt er. Die Neuwahl des Nachfolgers sei aber erst 1976 erfolgt, er habe sich in der Zeit vor allem mit Vorträgen über Wasser gehalten.

Als also Schluß war mit dem Kreissekretär Kultur, sei er ein paarmal abgeholt worden von der Stasi, sei auch hart bedroht worden, sagt er. Hat Angst, nachts nach Hause zu gehen. Nein, unterbricht er, keine Angst. Ich habe Ihnen ja gesagt, ich habe keine Angst mehr. Und dann sitzt er da und schweigt und sagt: Ach, schreiben Sie doch, was Sie wollen.
Sie haben dann in Gera in einer Konservenfabrik gearbeitet ?
Ja, bei 60 Grad Hitze im Akkord.

Und abends liest er und schreibt. Schreibt eine Arbeit über Nikolaus Lenau: <Wider den Despotismus>. Der Text sei eingezogen worden. Er liest zu Brechts Geburtstag Unerwünschtes. Will auch eine Brecht-Biographie geschrieben haben, die ebenfalls von der Stasi konfisziert worden sei. Dann wird er wieder abgeholt. Und Ostern 1978 kommt er ins Gefängnis.

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Er habe, sagt er, im Zug von Leipzig nach Magdeburg Flugblätter aus dem Abteil geworfen.
Was stand drauf? frage ich.
<Was ist mit Robert Havemann? Er saß mit Erich Honecker als Häftling in Sachsenhausen. Wer verrät wen ?> So etwa, sagt Böhme. Kurze Sätze. Keine Sermone. Alles handgeschrieben. Und den Kugelschreiber habe er gleich mit rausgeworfen.

In Magdeburg wird er verhaftet, wird 17 Stunden in den Stasi-Räumen am Bahnhof verhört, sitzt vom 26. März an drei Wochen in einer Zelle in Gera, wird dann bis zum 27. Juli ins Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen von Berlin gebracht. So sagt Manfred Böhme.

Aber manchmal sagt er auch was anderes. Dann ist er nur in Gera gewesen, in feuchten Stasi-Kellern, Einzelhaft. Oder er ist über ein 1 Jahr in Haft gewesen. Vierzehn Monate? Waren es nicht vier? Und es haben ihn doch auch Freunde in der Zeit gesehen, da kann er doch nicht im Gefängnis gesessen haben. Dann ist er beleidigt und sagt:

Ich muß es doch wohl wissen.

Ja, damals wollten sie ihn für die Stasi werben. Bei Ihren Verbindungen, bei Ihrem Gedächtnis, haben sie gesagt. Typologien sollte er schreiben über Freunde und Kollegen. Man habe ihm auch ein Haus. geboten mit Garten, habe gesagt: Sie wollen doch sicher mal wieder richtig ausschlafen. Haben mit dem Westen gedroht. Mit Abschiebung. Panische Angst habe er davor gehabt. Der Westen, das war für ihn die Hölle.

Verbal sei er sehr hart angefaßt worden. Aber er müsse lügen, wenn er behaupten wolle, ihm seien alle Vergünstigungen entzogen worden. Der Hauptmann sei ein hochinteressanter, intelligenter Mann gewesen, ein sehr ausgeglichener Mensch. Zu ihm sollte man natürlich gerne kommen, sagt Böhme. Das war ja alles Psychologie. Entsetzt sei er allerdings über <Beurteilungen> gewesen, die über ihn eingeholt worden seien. 

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Politisch habe ihm das sehr geschadet, und es seien Informanten darunter gewesen, denen er das nicht zugetraut hätte, nein, wirklich nicht. Er soll auch denunziert worden sein, habe ihm ein Vernehmungsoffizier gesagt. Und er habe Wert darauf gelegt, einen Prozeß zu bekommen, damit die Ungereimtheiten endlich geklärt werden könnten.

Es kommt nicht zum Prozeß, es kommt nur zu einem Urteil des Gefängnis-Psychologen. Und das, sagt Böhme, habe ihn sehr getroffen: «Psychopathen wie Böhme bleiben immer Psychopathen» steht da. Das Verfahren gegen ihn wird eingestellt. Die Begründung habe er noch genau im Kopf: «Da die angelasteten Vergehen des Herrn Böhme nicht in Übereinstimmung stehen mit der Struktur seiner Persönlichkeit.»

Die Gründe für Manfred Böhmes Verhaftung zu Ostern 1978 liegen vielleicht ganz woanders als in der Flugblattaktion, die er auf einer Bahnfahrt nach Magdeburg durchgeführt haben will. Die kann von der Stasi erfunden und von Böhme bereitwillig übernommen worden sein.

Schon am 19. 8.1976 gibt es nämlich einen Brief, den die Bezirksverwaltung für Staatssicherheit, Gera, Abteilung XX an das Ministerium für Staatssicherheit in Berlin, Hauptabteilung XX/7 schreibt. Darin wird angekündigt, daß dem Genossen Brosche Material übergeben werde, das vom IMV «Bonkarz» stamme. Es seien Berichte über den Schriftsteller Reiner Kunze. Das möchte bitte genauestens geprüft werden, es handle sich um eine «Historische Bestandsaufnahme zur Person des Reiner Kunze ». Das kann nur der 105 Seiten lange Lebensbericht sein, in dem Böhme zwischen Dichtung und Wahrheit pendelt. Alle Informationen darin sollen nun «hinsichtlich ihrer Objektivität und der Ehrlichkeit des IMV » überprüft werden. Oberstleutnant Müller aus Gera bittet am Schluß dann um «weitere Veranlassung».

Da haben sie ihn offenbar erwischt, Böhme, den großen Märchenerzähler. Und ungestraft belügt einer die Staatssicherheit nicht. Daß die Prüfer seiner Berichte ihm auf die Spur gekommen sind, ist aktenkundig. 

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Am 6. April 1979 heißt es im Abschlußbericht des Operativvorgangs «Medium», in dem Ullmann, Kornatz, Kühl und Seidel erfaßt sind: 

«Nachteilig wirkte sich bei der Bearbeitung des OV aus, daß die operativ-bedeutsamsten Informationen nur vom IMV <Paul Bonkarz> kamen, so daß eine Überprüfung der Berichte wesentlich erschwert wurde bzw. nicht möglich war. Die Vorgangsbearbeitung brachte jedoch auch begründete Verdachtsmomente für eine unehrliche bzw. tendenziöse Berichterstattung des IMV <Paul Bonkarz>, die sich später bei dessen Inhaftierung bestätigten.» 

Er hat doch immer gespielt, sagt Harald Seidel, der SPD-Landtagsabgeordnete. Er spielte den genialen Juden, er spielte mit dem Staat, mit der Partei, mit jungen Leuten aus der Gosse, und wenn er genug hatte, ließ er sie stehen. Er spielte uns den Freund vor und spielte mit uns Freunden, und wenn wir ihm zu nahe kamen – Schnitt. Geliebt, sagt Seidel, hat er wohl nur sich selbst.

Und jedem erzählte er doch etwas anderes, sagt Rudolf Kühl, der Saxophonist. Was haben wir nicht für Geschichten von ihm gehört. Manfred, sagt er, war wie ein Buch, das ich irgendwo gelesen hatte. Und so manches, was er uns erzählt hat, das stammte ja aus Büchern, aus Geschichten, das waren dann aber inzwischen seine Geschichten. Also, wenn ich Böhme denke, sagt Kühl, dann greife ich in Gedanken ins Regal, nehme hier ein Buch heraus und dort eins — alles Böhme. Überall finde ich ihn. In jeder Geschichte ist er drin.

So habe er ihn denn auch nur ein einziges Mal in seinem Leben wirklich als Mensch empfunden. Das war Silvester 1970 oder 71, sagt Kühl, da haben wir mit Freunden bei meiner Schwester gefeiert. Die war verreist und hat uns für das Fest ihre Wohnung zur Verfügung gestellt. Einige blieben auch über Nacht, und Manfred und ich, wir schliefen kurioserweise in den Ehebetten meiner Schwester.

Da lagen wir nun nebeneinander, sagt er, und es war das erste Mal, daß Manfred über Gefühle geredet hat. Und das einzige Mal. Über seine eigenen Gefühle. Ich weiß gar nicht mehr, ob es konkret um Frauen ging, sagt Kühl, ich habe es jedenfalls auf Frauen bezogen, weil das für mich die logische Schlußfolgerung war. Es ging um Liebe. Und es ging natürlich um Parallelen in der Literatur, in der Musik, in der Kunst, das war üblich damals, und diese Schranke wollten wir auch. Aber in dieser Nacht, sagt Rudolf Kühl, da war Manfred wirklich ein Mensch. Da war er sensibel.

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Das sei er nämlich sonst nicht unbedingt gewesen. Er habe immer nur das Fluidum des Sensiblen um sich herum verbreitet. Wie ein Parfüm. Und was für merkwürdige Autoren er empfohlen habe. Grob seien die gewesen. Die wahrhaft Sensiblen, auf die sei er gar nicht eingegangen, die habe er gar nicht begriffen. Außer in dieser einen Nacht, sagt Kühl. Damals hatte ich das Gefühl, er ist ein Mensch, nicht ein Revolutionär, nein, ein Mensch.

Und am nächsten Morgen, frage ich, war es Manfred Böhme da unangenehm ? Ja, natürlich, sagt Rudolf Kühl. Manfred hatte das Gefühl, er sei zu weit gegangen, habe sich offenbart, habe viel zu viel erzählt. Dabei hatte er gar nicht viel erzählt, er hatte nur Gefühle gezeigt, die er sonst verbirgt.

Er wollte doch der eiskalte Mensch sein. Eiskalt, sagt Kühl. Und das war er am nächsten Morgen auch wieder, kühl und kurz angebunden. Und ich wollte doch so gerne nachhaken. Aber war nicht. War vorbei. War nie wieder da. Er hat alles abgeblockt, war höflich, freundlich, unnahbar. Es ging ihm doch immer um eins: Wer Gefühle zeigt, zeigt Schwäche. Und er wollte keine Gefühle zeigen.

Er wußte: Wenn er mit offenen Karten spielt, dann ist er verloren. Er wollte dieser Mensch sein, den niemand genau kennt. Spricht der nun zehn Sprachen? Oder blufft der? War der mit sechzehn schon Lehrer? Was ja nicht ging, sagt Kühl. Aber bei ihm ging alles. Er wollte außergewöhnlich sein. Er wollte Briefträger sein, damit der Aufstieg zum Kaderleiter kometenhaft ist. Er wollte beweisen: Alles ist möglich. Alles.

Und dann kommt er am 27. Juli 1978 aus dem Stasi-Gebäude, Berlin, Magdalenenstraße. Die Haftstrafe habe er in der Anstalt Hohenschönhausen verbüßt, sagt er. Und während der Haft habe er immer wieder gedacht: Wenn du hier rauskommst, dann gehst du ins Opern-Cafe unter den Linden. Ja, davon habe er geträumt. Und niemand holt ihn ab, sagt er, niemand begleitet ihn, er ist allein, er schlendert zum erstenmal wieder unter den Linden.

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«Als Manfred 1978 verhaftet wurde, waren wir gewissermaßen erleichtert, 
denn nun schien klar, daß
er nicht Täter, sondern Opfer war.»

 

Regina Hartmann über Ibrahim Böhme, hier kurz nach seiner Entlassung 
aus dem Gefängnis, wo ihm die Haare geschoren worden

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In jenen Tagen bekommt Böhmes alter Freund Gerhard Machnik, der seit 1972 Dramaturg in Altenburg ist, einen Anruf. Der Mann am Ende der Leitung sagt aber seinen Namen nicht. Da sagt Machnik:

Böhmele, bist du's?
Ja, ich bin raus aus dem Gefängnis.
Gefängnis? sagt Machnik heute und lacht. Der war doch nicht im Gefängnis.
Wo war er denn ?
Na, der hat 'ne Schulung gemacht in der Normannenstraße.
Woher wissen Sie das?
Von meiner Sekretärin, sagt er. Deren Mann war bei der Stasi. Die hat mir gesagt: Der Manfred ist auch da. Ich weiß das von meinem Mann.

Wie auch immer, sagt Jürgen Fuchs, ob Haft oder nicht Haft, ich würde sagen, die Sache war gut gelaufen. Und die Untersuchungshaft konnte man – für einen IM in Legendierungssituation – ja relativ angenehm gestalten. So eine Legendierung ist auch ein Qualifizierungsangebot. Und dann, sagt Fuchs, war er ja auch bald wieder draußen, das hörte ich. Wo ist er denn? Nicht mehr in Greiz jedenfalls. Irgendwo im Norden. Und da sind die Greizer doch sehr nachdenklich geworden.

Und Böhme? Der hat weder geschrieben noch angerufen, keine Grüße ausrichten lassen und sich später, als er dann in Berlin auftauchte, nicht bedankt für die Hilfestellung.

Jürgen Fuchs drängt den Schriftsteller Lutz Rathenow ein bißchen, Böhme mal auf den Zahn zu fühlen. Das tut Rathenow. Und er berichtet Fuchs:

Ich komme nicht klar mit ihm.
Wie meinst du das? fragt Fuchs.
Sagt Rathenow: Es gibt Menschen, bei denen ich nicht weiß, woran ich bin. Ich weiß nicht, ob es stimmt oder nicht stimmt.
Hast du ihn nach der Haft gefragt? fragt Fuchs.
Ja, sagt Rathenow. Aber Böhme habe drum herumgeredet. U-Haft, das sei ja nicht Strafvollzug. In der U-Haft sei man so isoliert, andere könnten das gar nicht beurteilen.

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Das stimmt natürlich, sagt Fuchs. U-Haft ist ein potenziertes Bespitzelungssystem. Nur, sagt Fuchs, Böhme hat sich nicht verhalten wie ein politischer Häftling. Entweder hat er gar nicht über die Haft gesprochen oder beschwichtigend oder dramatisierend, und zwar so dramatisch, daß man schon wieder dachte, der muß ja irgendwo in den Katakomben gesessen haben, wo keiner je von uns war, sagt Fuchs.

Wer weiß denn schon, wie das ist im Gefängnis, sagt Böhme zu mir, als ich es wage, die Art der Haft in Frage zu stellen, als ich es wage, von einem Agent provocateur zu sprechen, der seine Legende braucht. Wer weiß denn schon, wie das ist, sagt er da, wenn man heimlich beim Rundgang eine Handvoll Sand mit in die Zelle nimmt für die Pflanze, die man aus der Mauer gezogen hat, um nicht allein zu sein. Wer weiß das schon ?

So arbeitete Böhme, sagt Jürgen Fuchs. Er hat in Kellern gestanden, in stehendem Wasser. Was sind dagegen die anderen ? Was haben die schon erlebt ? Immer der Superlativ. Das größte Wissen, die besten Verbindungen, die schlimmste Biographie. Und wer wird schlecht behandelt ? Er. Und wer wird zusammengeschlagen ? Er. Alles oder nichts. Und wer einigermaßen erfahren ist, sagt Fuchs, und die Jahre haben uns doch ein bißchen gebildet, der konnte sagen: Da stimmt was nicht.

Ich frage Ibrahim Böhme, wie es im Gefängnis in Berlin gewesen sei.

Zuerst waren ja drei Wochen Gera, sagt er. Die waren schrecklich, und darüber möchte er nicht reden. Aber gegen Gera, sagt er, war Berlin wirklich ein Sanatorium, obwohl es das U-Boot war.

Was heißt U-Boot?

Das heißt Einzelzellen und keine Fenster, nur Glasbausteine. Und dann Rauchverbot, Leseverbot, Schreibverbot, Liegeverbot. Liegen dürfen Sie auf der Pritsche nur von 22 Uhr 30 bis 6 Uhr früh. Bis es klingelt. Aber man konnte sich beschäftigen, konnte hin- und herlaufen, konnte sich selbst Vorträge halten.

Worüber haben Sie mit sich in der Zelle geredet?

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Beispielsweise über die Abstammungstheorie von Heraklit bis Darwin. Aber stumm. Man durfte ja auch nicht reden in der Zelle, hatte Rede- und Singverbot. Und viel Gymnastik wurde gemacht. Und dreimal am Tag die Zelle geputzt. Nur, um beschäftigt zu sein.

Und nicht an die frische Luft?

Später, ja. Da konnte man zwanzig Minuten Luft schöpfen. Und wenn dann eine Lampe aufleuchtete, eine rote Lampe, dann mußte man sich sofort mit dem Gesicht zur Wand stellen, dann kam nämlich ein anderer vorbei, den man nicht sehen durfte. Na ja, und das Essen war gut. Und einmal die Woche duschen und frische Wäsche. Man legte ja großen Wert darauf, die Leute, die dann vor Gericht gestellt wurden, möglichst in gutem Zustand vorzuführen.

Während der ganzen Schilderung sagt Ibrahim Böhme nicht ein einziges Mal «ich».

Nach der Haft, sagt Beate Schwämmle, die «Quasi-Schwester», sei Manfred bei ihren Eltern in Greiz gewesen, bei Professor Hartmann und seiner Frau. Von ihnen habe sie erfahren, daß die Zeit im Gefängnis wohl ziemlich hart gewesen sein müsse, und ihre Mutter hätte den Eindruck gehabt, daß in der Haft Dinge passiert seien, die auch seine Physis beeinträchtigt hätten. Und das habe sie geschockt, weil sie annehmen mußte, daß in DDR-Gefängnissen gefoltert würde.

Seit seiner Inhaftierung, sagt Beate Schwämmles Mutter, Regina Hartmann, hat Manfred uns zwei bis drei Postkarten in der Woche geschrieben, ganz nichtssagende, «Ihr Lieben, wie geht es Euch, mir geht es gut» und so. Das waren Sicherungen. Damit wollte er uns signalisieren, wenn keine Karten mehr kommen, dann ist was passiert. So haben wir das gesehen, sagt sie. Er hatte ja keine Eltern, die Staatssicherheit hätte also niemanden benachrichtigen müssen. Da waren wir für ihn die «Quasi-Eltern». Und wenn die Karten nicht mehr gekommen wären, sagt Regina Hartmann, dann hätten wir etwas unternommen.

In den achtziger Jahren, sagt Beate Schwämmle, habe sie Ibrahim ein paarmal gefragt, ob er nicht über die Zeit im Gefängnis reden wolle. Und dann, auf einem Spaziergang, habe er relativ viel erzählt.

Er habe in Einzelhaft gesessen, und das sei das Furchtbarste gewesen, was man sich vorstellen könne. Er habe versucht, Gedichte aufzusagen und Texte aus Büchern zu rekapitulieren. So habe er sich über Wasser gehalten. Und immer wieder habe man ihm gesagt, er solle doch ausreisen. Seine oppositionellen Freunde seien ja auch schon im Westen.

Nur wie die Verhöre abgelaufen seien, daran könne er sich nicht mehr erinnern. Ob was im Essen gewesen sei? Er sei sich da nie ganz sicher gewesen. Aber über all das, sagt Beate Schwämmle, habe er nur ganz allgemein geredet. Keine konkreten Einzelheiten. Und da sage ich noch zu ihm: Du, lies doch den Bericht von Jürgen Fuchs. Das weiß ich noch genau, daß ich ihm das gesagt habe. Lies die «Vernehmungsprotokolle» von Fuchs. Dann weißt du, wie es war.

Das wird er nicht wagen. Nicht aus den Büchern von Jürgen Fuchs wird er sich Beweise für sein Leid holen, nicht aus dessen Gedanken ', seine Geschichten auffüllen. Und nie könnte er wie Jürgen Fuchs die Ohnmacht beim Namen nennen, wenn der am Ende des Verhörs angebrüllt wird: Schluß jetzt. Und der Vernehmer zum Telefon greift und wählt und schneidend sagt: 754 abholen.

«Diese Ohnmacht / die Ohnmacht des Wortes / <aus Mündungen kommt die Macht ja und kommt aus den Mündern nicht> / Wolf, du hast recht / aber es ist schlimm / so schlimm / und es hilft nicht, recht zu haben / ich kann nicht gegen sie an / sie sagen: <Schluß jetzt> / und schaffen mich weg / und holen mich wieder / warum sind wir so schwach / diese Ohnmacht / aber sie haben doch gar keine Argumente.»

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