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13  «Ich suchte den König Salomo»

 

Die Verhöre des Lyrikers Günter Ullmann

 wikipedia  Günter_Ullmann

 

 

181-192

Als Wolf Biermann aus dem Land geworfen wird, als Jürgen Fuchs im Land inhaftiert wird, als Reiner Kunze dichtet

ausgesperrt aus büchern
ausgesperrt aus Zeitungen
ausgesperrt aus sälen
eingesperrt in dieses land
das ich wieder und wieder wählen würde

und dann doch den Westen wählt, weil die Alternative vergitterte Zeit wäre, als diese drei Pfeiler der anderen DDR herausgezogen werden, beginnt die Staatssicherheit damit, Günter Ullmann zu beschatten.

 

Tag für Tag steht das Stasi-Auto in der Beethovenstraße. Um 9 Uhr «konnte Bewegung im Wohnhaus festgestellt werden», und bewegen tut sich den ganzen Tag über was: Diverse männliche und weibliche Personen kommen und gehen, eine trägt «gelbe Jacke mit Pelzkragen», einer fährt eine «Schwalbe», also ein Moped, eine «führt Kind an der Hand», einer «verläßt Wohnung mit DIN-A5-Block unterm Arm», eine ruft «schönen Gruß an deine Frau», Seiten, Seiten, Seiten — nur «M2», das heißt Nummer 2 von OV «Medium», also Ullmann, läßt sich nicht blicken. Was macht der da bloß im Haus?

Gegen 1 Uhr, notieren die Spitzel, geht im Parterre das Licht an, dort, wo Ullmann wohnt. Als er bis 19 Uhr nicht vor die Haustür tritt, wird «die Beobachtung unterbrochen».

So geht das Tag für Tag. Ein Jahr später, im Dezember 1977, heißt es in einem «Zwischenbericht» der Staatssicherheit: «Durch den IMV <Paul Bonkarz>», also Böhme, «wurde bekannt, daß U. Verhaltensweisen zeigt, die vergleichbar sind mit einem Verfolgungswahn durch das MfS, einer Selbstüberschätzung seiner literarischen Fähigkeiten und einem ungesunden Mißtrauen gegenüber Freunden und Bekannten.»

Günter Ullmann, sagt Jürgen Fuchs, hatte ich schon Anfang der siebziger Jahre kennengelernt als einen Schriftsteller, der mir gefiel und dessen Weg ich mit einer gewissen Bangigkeit verfolgte, weil er gesundheitliche Probleme und Schwierigkeiten hatte, diesen organisierten Mißerfolg seiner Biographie zu verarbeiten, denn Ullmann war doch lange schon «OV-begleitet», wie dieser blöde Begriff heißt.

Günter Ullmann arbeitet damals auf dem Bau. Dabei hätte er so gern Malerei und angewandte Kunst in Heiligendamm studiert. Darf er aber nicht. Seine Bilder sind abstrakt, also «dekadent». Sie werden abgelehnt. Abgefunden, sagt Ullmann, habe ich mich damit natürlich nicht. Aber ich hatte ja keine Wahl. So arbeitet er also auf dem Bau. Zuerst in einer Brigade, dann darf er ins Büro, dient sich als Bauökonom hoch. Das war nicht das Gelbe vom Ei, sagt er, aber besser als die körperliche Arbeit. Und ich bin ja doch auch nicht besonders geschickt.

Auf Manfred Böhmes Anregung bewirbt er sich ans Literaturinstitut. Da wird er auch abgelehnt.
Warum?
Weil meine Gedichte nicht genehm sind. Ich sollte mich an Zeitungsgedichten orientieren.

Was sind Zeitungsgedichte? frage ich.
Das sind optimistische Gedichte, sagt Ullmann. Inhaltlich dem Sozialismus zustimmend. Bejahend. Staatstragend. Jubelnd. Und am Ende soll sich auch noch alles ordentlich reimen.

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Und was schreibt er?

Staatsbürgerkunde

für dummheit und lüge
gibt es
die besten noten

genauso
wie im 
leben

Der Konflikt ist programmiert. Fuchs im Gefängnis, Kunze im Westen, Böhme verschwunden aus Greiz. Der hat seine Arbeit getan, hat ihn belauscht und ausgehorcht, hat Ullmanns Gedichte der Staatssicherheit übergeben mit der Bemerkung: «Von der Form her mit unterschiedlichem Niveau, vom Inhalt her fast ausschließlich feindlicher Einstellung gegen die DDR.» Der Freund hat seine Schuldigkeit getan, der Freund ist weg. 

Und für Günter Ullmann beginnt die schlimmste Zeit seines Lebens.

Aus Berlin mußte er wegen der Fuchs-Affäre fort. Er arbeitet jetzt in Gera, das ist etwa 35 Kilometer von seiner Wohnung in Greiz entfernt. Und da bestellen sie ihn eines Tages wieder zum Verhör. Er wird am Arbeitsplatz von Stasi-Leuten abgeholt.

So, nun erzählen Sie mal. Aber bitte richtig. Noch mal lassen wir uns nicht an der Nase herumführen. Also, seit wann haben Sie Verbindungen zu konterrevolutionären Personen? Wie lernten Sie Fuchs kennen? Wie Kunze? Was haben Sie in Berlin gemacht? Was in Jena? Wo sind Sie noch gewesen?

Ullmann sagt, er sei in den Verhören relativ stark gewesen. Er habe aus Reiner Kunzes Buch «Die wunderbaren Jahre» zitiert, das ja verboten war. 

Sagt der Lehrer: 
«Ich wünsche, daß die Schüler meiner Klasse optimistische Farben tragen. Außerdem sehen Ihre langen Haare unordentlich aus.
Schülerin: Ich kämme sie mehrmals am Tag.
Lehrer: Aber der Mittelscheitel ist nicht gerade.»

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Grotesk, daß so etwas verboten sei, sagt er den Stasi-Leuten. Grotesk, daß Wahrheiten unterdrückt werden, daß ein Tucholsky-Wort in Kunzes Buch die DDR in Angst und Schrecken versetzt: «Es kommt nicht darauf an, daß der Staat lebe — es kommt darauf an, daß der Mensch lebe!» Und er sagt den Vernehmern, dies alles würde in ein paar Jahren jeder hier im Lande lesen dürren.

Günter Ullmann hat inzwischen in seinen Vernehmungsprotokollen gelesen. Da heißt es: Ullmann will das Gespräch an sich reißen. Oder: Er philosophiert wieder herum. Na ja, sagt er, zu Hause sah es dann anders aus. Da war ich furchtbar depressiv, und ich fühlte mich verfolgt.

Bald holen sie ihn regelmäßig ab. Zwei oder drei Herren, sagt er, stehen dann im Betrieb und sagen: Herr Ullmann, kommen Sie mit, wir müssen mit Ihnen sprechen. Und dann haben sie mich verhört, sagt er. Sie haben mich auch bedroht. Haben gesagt: Ihr Stuhl ist nicht fest. Und ich? Ich habe tatsächlich versucht, sie zu überzeugen. Ich habe ihnen das Brecht-Gedicht «Verhör des Guten» zitiert: «Tritt vor, wir hören, daß du ein guter Mann bist...» Und am Ende ist der gute Mann ihr Feind, den sie aber in Anbetracht seiner Verdienste mit «guten» Kugeln erschießen wollen. Ullmann will tatsächlich mit den Stasi-Leuten darüber diskutieren. 

Die lachen ihn aus und sagen: Brecht ist tot, der kann Ihnen nicht mehr helfen. Und Ullmann sagt: Aber Brecht ist nicht Ihrer Meinung. Das ist nachzulesen in seinem Gedicht «Die Lösung». Und Ullmann läßt nicht locker, zitiert den Vernehmern auch das:

Nach dem Aufstand des 17. Juni
Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands
In der Stalinallee Flugblätter verteilen

Auf denen zu lesen war, daß das Volk
Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe
Und es nur durch verdoppelte Arbeit
Zurückerobern könne. Wäre es da 
Nicht doch einfacher, die Regierung 
Löste das Volk auf und 
Wählte ein anderes?

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Nein, sie sind nicht matt zu setzen, schon gar nicht mit der Wahrheit, Ullmann schaut in ihre Gesichter und weiß, daß er zu weit gegangen ist. Das waren bedrohliche Momente, sagt er. Und dann kommen sie zur Sache. Was wissen Sie von Arnold Vaatz? Was schreibt der? Was hat Ihnen Rudolf Kühl gestern erzählt? Leugnen Sie nicht. Der war bei Ihnen, wir wissen das.

Das sind meine Freunde, sagt Ullmann. Ich verweigere die Auskunft.

Sieh da, sagen sie. Der Herr Ullmann verweigert die Auskunft. Bitte schön. Wir haben Zeit.

«Ach, diese ganze Gesellschaft», schreibt Jürgen Fuchs in seinen «Gedächtnisprotokollen», «vielleicht hätte man lachen und einfach weggehen sollen. Locker und leicht. Aber so war es nicht... Man hatte sich zusammengefunden, um die Ordnung wiederherzustellen, Ordnung, Disziplin und Sauberkeit... Und du sitzt vor diesen Leuten, ein Würstchen, ein Nichts, das so ernst genommen wird und auch wieder nicht.»

Ich kann nicht mehr sagen, wie lange die Verhöre dauerten, sagt Ullmann. Also schon ein paar Stunden. Und immer wieder wundert er sich, was die Vernehmer alles wissen. Sie wissen, daß er Gedichte kursieren lassen will, wissen, welche Informationen er «als Köder» benutzen will, wissen, daß er mit Bettina Wegener und Sarah Kirsch «einiges zu besprechen» hat.

Das eine stimmt, das andere ist frei erfunden. Aber woher? Woher wissen die das alles? Seine Freunde sind seine Freunde. Die sagen doch nichts. Die doch nicht. Und Böhme? Nie wäre er auf den Gedanken gekommen. Außerdem ist der doch schon nicht mehr in Greiz.

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Und immer wieder wird Ullmann geholt, sitzt immer wieder im selben Zimmer. Ja, ich habe auch was zu essen bekommen, sagt er. Brötchen. Und Kaffee haben sie mir gegeben.

Kann es sein, frage ich, daß etwas im Kaffee war? Das war immer mein Verdacht, sagt Ullmann. Er habe das auch seinen Freunden gesagt. Aber die haben gelacht. Günter, du spinnst, das machen die nicht. Aber mein Wahn, sagt Ullmann, der wurde immer schlimmer. Und die Angst war doch so groß. Alles war mir verdächtig. Jeder Draht war für mich ein Abhördraht. Ich ging in den Keller und schnitt Drähte durch. Und wenn ich abends vors Haus trat und die Straßenlaternen gingen an, dann war ich in Panik: Sie strahlen mich an, sie verfolgen mich, sie wissen, wo ich bin, ich kann ihnen nicht entkommen.

Nehmt uns nicht die 
Hoffnung
diese Ungewißheit die 
uns noch halt gibt 
legt uns nicht den 
horizont 
um 
den hals

schreibt Günter Ullmann und weiß nicht mehr, wie er sich selbst entkommen kann. Er sieht in jedem Freund einen Feind, jeder horcht ihn aus, jeder zapft ihn an. Ullmann läßt sich alle Zähne ziehen, weil er glaubt, die Staatssicherheit habe ihm Mikrophone eingebaut. Woher sollten die denn sonst alles wissen, wenn nicht aus den Mikrophonen im Mund?

Er lief damals wie in Trance durch die Stadt, sagt Harald Seidel. Er hat sich auf die Straße gekniet, hat Blätter angebetet, und alle waren schuldig, auch Geli, seine Frau, alle waren bei der Stasi, auch die Schwiegereltern, auch wir. Die ganze Welt belauerte ihn. Und eines Tages, da sagte Günter: Ich suche den König Salomo. Und da ist er in Berlin gewesen, ist den alten Pfeilen an den Hauswänden nachgelaufen, die im Zweiten Weltkrieg zu den Luftschutzkellern führten, denen ist er nachgelaufen, und nach Stunden fand er dann ein Klingelschild, da stand «Salomo» dran.

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«Eines Tages sagte Manfred zu mir: Wer Träume verwirklichen will, muß durch die Hölle gehen.»  (S.24)

Günter Ullmann und Ibrahim Böhme, hier 1990 bei ihrem ersten Wiedersehen nach der Wende.

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Als ich Reiner Kunzes Buch gelesen hatte, sagt Rudolf Kühl, «Deckname Lyrik», da hab ich gedacht: Also, wenn Manfred daran schuld war, daß der Günter so fertiggemacht worden ist, dann ist es aus. Und nun muß man wohl sagen: Ja, er war schuld. Man muß es wirklich sagen. Ich kenne den Günter doch von klein auf, sagt Kühl. Man kann sich keinen lustigeren Burschen vorstellen. Und Böhme hat ihn ja hart beschuldigt. In den Akten hatte Günter doch die Fäden in der Hand. Die Fäden zu Fuchs, zu Biermann, zu Havemann. Und Böhme wußte doch genau, daß es nicht so ist. In den späten Berichten, sagt Kühl, hat er dann versucht, das abzuschwächen. Aber da war es schon zu spät.

Und Rudolf Kühl erzählt, daß sie sich früher mal darüber unterhalten hätten, ob man das machen könne, ein Kind für den Sieg zu opfern. Im Krieg. Und da gab es bei uns eine ganz eindeutige moralische Auslegung. Eindeutig. Nein. Und was Böhme auch immer wollte, ich weiß es nicht. Aber Ullmann opfern? Nein.

Nun mag es ja Leute gegeben haben, sagt er, die bei der Stasi waren, um Positives zu bewirken. Kann sein. Mag es geben. Aber spätestens als der Ullmann durchgedreht ist, hätte Böhme die Pflicht gehabt, zu sagen: Halt! Es stimmt nicht, was ich da geschrieben habe. Da hätte er sagen müssen, was er getan hat. Wir sind ja keine, die ihn erschlagen hätten.

Ach, Ullmann, sagt Kühl. Ich weiß gar nicht, ob man das überhaupt jemandem beschreiben kann, damals, als der Wahnsinn kam. Er hat Köpfe aus Zeitungen ausgeschnitten. Köpfe, die ähnlich aussehen wie wir. Das waren Beweise für ihn. Es war eine Zeit, die war kaum zu ertragen. 

Ich glaube auch, daß er seine Kräfte überschätzt hat. Er hat ja versucht, die Stasi-Leute zu überzeugen. Günter dachte immer, das müssen die doch begreifen, das ist doch ganz einfach. Und weil sie es nicht begriffen, hat er den Kampf gesucht.

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Wir wollten ja auch immer was bewegen, was verändern. Ach Gott, sagt Kühl, das sind Sachen, die wir erst soviel später begriffen haben. Am Anfang hatten wir ja nichts gegen den Staat. Der Staat hatte was gegen uns. Es ging eigentlich nur um Toleranz, die nicht da war. Und wir blieben die Staatsgegner. Aber das waren wir nicht, sagt er. Uns haben doch nur die Bonzen angekotzt. Und da neigt man dann dazu, sich ins rechte Licht zu rücken. Das hat Günter auch getan.

Es kam dann eine Zeit, sagt Kühl, wo man nicht mehr zu ihm gegangen ist. Schon wenn man klingelte, sagte er: Ihr wollt mich ausspionieren. Mir hat das alles so weh getan, deshalb bin ich dann auch weggeblieben.

Über Ullmann schwebte ja ein dunkler Stern, sagt Arnold Vaatz, der Umweltminister aus dem sächsischen Landtag. Doch inzwischen wird für mich immer wahrscheinlicher, daß es keine Paranoia oder sonst was Angeborenes ist, sondern daß da mit Drogen gearbeitet wurde. Als Günter mir damals erzählt hat, daß er in den Straßen von Berlin den König Salomo gesucht und sich aus Angst vor Sendern die Zähne hat rausreißen lassen, da dachte ich noch: So, den haben sie jetzt geschafft. Und ich dachte auch, vielleicht liegt es in ihm persönlich.

Aber dann erfährt Vaatz von einem, der auch von der Staatssicherheit verhört worden war und der sich später das Leben genommen hat, erfährt, daß dem dasselbe passiert ist wie Ullmann. Von dem Zeitpunkt an, sagt er, habe ich nicht mehr an Zufälle geglaubt. Der war auch zur Stasi bestellt worden, der hatte auch Kaffee bekommen, der fand sich auch irgendwann auf einer Bank wieder und wollte flüchten und kam nicht vorwärts. Tagelang sei der durch die Botanik geirrt, bis man ihn schwerkrank aufgefunden habe.

«Guten Tag, Herr Fuchs», schreibt Jürgen Fuchs in seinen <Vernehmungsprotokollen>, «möchten Sie eine Tasse Kaffee trinken?

Nein, danke.

Ach, Sie glauben wohl, da ist was drin? Na, zu verstehen wäre es, andere Geheimdienste... haben mit Mittelchen gearbeitet, daran denken Sie sicher. Aber, zur Beruhigung, das haben wir gar nicht nötig. Wir haben nämlich Zeit.»

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Manfred Böhme, sagt Jürgen Kornatz, hat ja auch mit Medikamenten und Mittelchen gearbeitet. Einmal sei ihm. Kornatz, nach einer Tasse Kaffee ganz schlecht geworden. Grün sei er im Gesicht gewesen, sei aufgestanden, rausgegangen und habe gebrochen. Später habe ihm einer aus der Runde gesagt: Du, der Manfred hat dir was in den Kaffee getan. Na ja, sagt Kornatz, kann sein, daß er was ausprobieren wollte bei mir.

Günter Ullmann wird in die Psychiatrie eingeliefert, erst nach Jena, später nach Rodewisch, dann nach Stadtroda. Es war schrecklich, sagt Ullmann. Ich wurde mit Tabletten vollgestopft, ich dachte, ich könnte nicht mehr laufen, nicht mehr sitzen, nicht mehr liegen. Ich konnte gar nichts mehr. Man muß sich das mal vorstellen, sagt er, da hat man an den Sozialismus geglaubt, an den Sozialismus mit menschlichem Gesicht. Und dann kam die Mauer. Dann kam Prag. Dann wird Fuchs festgenommen. Biermann raus. Kunze raus. Da flog die Hoffnung fort. Es kam die Eiszeit.

Zeit der Elegie:

die rose schreit
in der nacht
die krähen zerhacken
den traum
sie haben eure
gesichter...

Und wir hatten gesagt: Das kann doch so nicht weitergehen, und es ist doch nicht richtig, daß an der Grenze Menschen erschossen werden. Da muß man doch was tun. Und was haben die Leute gesagt, viele Leute aus Greiz? Warum gehen die denn an die Grenze, haben die gesagt. Die wissen doch, daß da geschossen wird. Sollen die doch hier bleiben. So schlimm ist es doch gar nicht bei uns. Also, es war ganz furchtbar, sagt Günter Ullmann. Ich war ziemlich am Ende mit meinem Menschenbild, mit meinen Idealen, mit meiner Hoffnung.

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In Rodewisch bei Auerbach im Vogtland besuchen Harald Seidel und der Dramatiker Klaus Rohleder den Freund in der Psychiatrie. Sie machen einen Spaziergang mit ihm. Wir wollten versuchen, wie früher mit ihm zu reden, über Freud, über Fromm, über C. G. Jung. Aber das waren für ihn keine Analytiker mehr, sagt Seidel, die Namen waren Begriffe geworden. Fromm war religiös. Jung war das Gegenteil von alt. Und Freud? Freud war froh, war heiter, war alles, was Ullmann nicht mehr war. Und dann diese Stimme, die ihn da plötzlich in eine furchtbare Wirklichkeit zurückholt: Zur Medikamentenausgabe!

Das war wie im Film «Einer flog übers Kuckucksnest», sagt Seidel. Wir sahen die Ärztin, hörten sie sagen: Du mußt das jetzt schlucken, du weißt das doch, wenn es dir nicht gutgeht, mußt du das schlucken. Und Günter war früher doch einmal die Heiterkeit gewesen, sagt Seidel.

Als Ullmann wieder zu Hause ist in Greiz, versucht er dreimal, sich das Leben zu nehmen. Er schluckt Tabletten, die er heimlich gesammelt hat. Und irgendwie, sagt er, ging es doch weiter. Und irgendwie hatte ich mich arrangiert. Und Jürgen Fuchs war inzwischen im Westen, und der setzte sich für mich ein, half mir, Gedichte zu veröffentlichen. Und dann kam die Stasi zu meiner Frau, die Kindergärtnerin war in Greiz, und sie sagten zu ihr: Verhindern Sie, daß Ihr Mann sich mit Jürgen Fuchs schreibt. Nehmen Sie Einfluß, daß er nicht im Westen veröffentlicht. Erfüllen Sie Ihre Aufgabe, sonst können wir Sie aus der Volksbildung entfernen. Es war schlimm für sie, sagt Ullmann. Ich war schwerkrank, und wir hatten zwei Kinder, und sie hatte Angst, natürlich. Sie sagte: Laß doch die Literatur. Geh aufs Feld und lausch den Vögeln. Das reicht doch.

Dann erscheint die nächste Veröffentlichung in einer Anthologie von Lutz Rathenow. Ullmann wird zum Kulturfunktionär Eberhard Herzog zitiert. Der sitzt da und hat alle Gedichte von Ullmann vor sich liegen, wühlt darin rum und sagt: Schändlich, zersetzend, gänzlich negativ, warum sehen Sie nicht das Positive? Und er droht mit Gefängnis. Und zieht eins der Gedichte hervor und liest es laut und verächtlich vor:

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Probleme

bei müllers ist der fernseher kaputt
bei meyers das auto
herr schulz braucht neue Jeans
seine frau einen neuen mantel
was wissen schon die in den gefängnissen
von unseren problemen

Also, das bringt ihn in Fahrt, den Herrn Herzog, und er zieht über die in den Gefängnissen her. Alles Verbrecher! sagt er. Gut, daß die hinter Schloß und Riegel sitzen.

Das war also die Zeit, sagt Günter Ullmann. Ich weiß nicht, wie ich sie überlebt habe. Diese Ohnmacht. Man war ja so ohnmächtig. Was blieb, war das Schreiben für die Schublade. Die Verlage in der DDR, so liest der Lyriker später in seiner Akte, waren angehalten worden, keine Zeile von ihm zu drucken.

Dann kam die Wende, sagt er. Und ich war glücklich. Wie hatte ich unter der Lüge gelitten. Und dieses Masken-Tragen, das ist mir so an die Substanz gegangen, war so unwürdig. Und nun ist der Haß weg, die Lüge weg, die Diktatur weg. Also für mich war die Wende wie ein Auferstehen.

Als Ullmann erfährt, welches Spiel der Freund mit dem Freund getrieben hat, kann er Wochen nicht schlafen. Dann schreibt er ein Gedicht für ihn:

seine ideale waren auch die
meinen
doch er ging durch die
hölle
und ich
fror

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