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14   «Von da an hatte er was Gehetztes»

 

Bewährungsprobe in Neustrelitz

 

 

 

193-208

Am 27. Juli 1978 wird Manfred Böhme aus der Haft entlassen. Er geht ins Cafe unter den Linden, Ecke Friedrichstraße, sitzt da, raucht, denkt nach, erinnert sich an jemanden im Theater von Neustrelitz. Da ruft er denn auch gleich an, wird mit dem Verwaltungsdirektor verbunden. So, so, soll der gesagt haben. Sie interessieren sich also fürs Theater? Und Manfred Böhme habe ihm am Telefon erzählt, was er alles könne, und das ist ja so ziemlich alles, und der Herr Direktor sagt, der Posten für Öffentlichkeitsarbeit sei gerade vakant. Und er stellt ihn ein. Per Telefon. Sagt Böhme. Und so sei er denn noch am Abend seiner Entlassung nach Neustrelitz gefahren.

Monate später, nachdem Evelyn Böhme mir erzählt hatte, wie die Staatssicherheit sie davon unterrichtete, daß ihr Mann nicht nach Gera zurückkäme, sondern in Neustrelitz arbeiten werde, Monate später also sage ich Ibrahim Böhme, daß er ja nach Neustrelitz beordert worden ist.

Nein, sagt er, das war anders. Er hatte nicht nach Gera zurückgewollt. Das wußte seine Frau, das habe er ihr gesagt. Er wollte nämlich nach Rostock. Weil er da Freunde hatte. Er sei auch nach der Haft gleich nach Rostock gefahren. Kurz darauf aber nach Neustrelitz, weil dort eben diese Stelle frei war.

In Neustrelitz schreibt Ibrahim Böhme seine Berichte für die Staatssicherheit unter dem Decknamen «Dr. Rohloff». Er sei mehr als ein einfacher Spitzel gewesen, sagt sein Führungsoffizier Berthold Freese aus Neubrandenburg 1990 dem <Spiegel>.

Böhme habe es nie des Geldes wegen getan, er habe immer bescheiden gelebt und immer nur das von der Firma genommen, was er zum Leben brauchte. Mal 500 Mark im Monat, mal mehr, mal weniger. Böhme, so schwärmt der zwei Jahre jüngere Stasi-Mann, habe einen unglaublichen Gerechtigkeitssinn gehabt, habe sich immer für Schwächere eingesetzt. Das Verfahren gegen ihn, so erzählt er, sei damals auf Geheiß von Stasi-Chef Erich Mielke eingestellt worden, weil Böhme ein «Mitkämpfer» war. Er selbst, behauptet der Offizier, habe ihn nach der Haft abgeholt, habe ihm die Stelle am Theater in Neustrelitz besorgt und ihn von da an betreut. Gerne betreut. Er sagt: Sie in der Firma seien für ihn Bruder, Schwester, Vater, Mutter gewesen — alles.

Ich frage Ibrahim Böhme nach seinem Führungsoffizier Berthold Freese.
Ich habe keinen Führungsoffizier gehabt, sagt er. Aber Herr Freese von der Abteilung Inneres hat mich gleich am Anfang in Neustrelitz begrüßt.
Und Ihnen ein Angebot gemacht ?

Ja, sagt Böhme. Und sie haben auch gesagt, wie recht ich hätte mit meiner Kritik. Und ich habe ihnen gesagt: Sie könnten es doch ändern, aber Sie schützen ja alles mit Ihrem Machtapparat. Da haben die gesagt: Kommen Sie zu uns. Hier haben Sie alle Möglichkeiten. Und wir brauchen doch von Ihnen nur Analysen.
Herr Freese, habe ich da gesagt, wenn Sie nur Analysen wollen, dann laden Sie mich doch zu sich ein. Dann sage ich Ihnen, wie ich im einzelnen darüber denke.

Sie haben das Angebot der Staatssicherheit also angenommen?
Nein, sagt er.

In Neustrelitz ist Ibrahim Böhme wieder allein, ohne Freunde, entwurzelt.

«Wenn Du mich hier erleben könntest», schreibt er am 11. 2.1979 an seinen Freund Harald Seidel nach Greiz, «würdest Du mich wahrscheinlich kaum wiedererkennen. Im Theater gelte ich als <der überhebliche Spaziergänger>...» 

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Ja, er gehe viel spazieren, aber überheblich sei er wirklich nicht, er sei nur in eine neue Phase seines Lebens getreten und wolle die mit «ernsthafter Arbeit durchleben». Gesundheitlich gehe es ihm nicht so gut. «Mein Kopf und mein Herz machen mir oft zu schaffen», schreibt er. «Aber ich lasse mir nichts anmerken, lasse mich nicht krank schreiben und lebe so, daß meine Gesundheit das Beste davon hat.»

Damals hat der vierunddreißigjährige Böhme bereits von den Gerüchten gehört, die in Greiz unter den Freunden kursieren, daß er nämlich gar nicht im Gefängnis gesessen habe, daß alles eine Inszenierung der Staatssicherheit gewesen sei. Dazu schreibt er im Brief:

«Hart traf mich das, was ich so von meinen Freunden und ihren Ansichten zu meiner Person hörte, kurz nachdem ich meinen längeren Kuraufenthalt beendete.» Er könnte auf viele Behauptungen im Detail eingehen, «aber lassen wir das», fährt er fort, «das Leben wird dadurch nicht lebenswerter».

 

Die Gerüchte scheinen nicht zu verstummen. Es gibt Freunde, die sehr hartnäckig eher an einen — wie Böhme selbst sich ausdrückt — «Kuraufenthalt» denken als an Haft. Dazu schreibt Manfred Böhme am 16. 9.1980 an Harald Seidel:

«Ich erfahre von den verschiedensten ausreisenden Freunden aus dem <Süden>, was da wo an bösen, wenn auch haltlosen Verdächtigungen losgelassen wird. Leider sind dabei auch, und das spricht für die Qualität der Kritikaster, ehrenrührige und diskriminierende Zusammenhänge, die mich veranlassen müßten, mit Zivilklage anzutreten, wenn mir das nicht so scheißegal wäre...»

Gerhard Machnik lacht. Böhme im Gefängnis? sagt er. Nie. Der war doch nicht im Gefängnis.

Gerhard Machnik war Musiklehrer an der Erweiterten Oberschule in Greiz, war Dramaturg in Zwickau und Altenburg und kommt 1979 ans Theater von Neustrelitz, wo sein Freund Manfred Böhme bereits seit ein paar Monaten arbeitet. Machnik, so sagt man mir, ist wie Böhme. Er trinkt und spinnt. Und alles, was er sagt, müsse, wie bei Böhme, durch ein Sieb gegossen werden. Das bestätigt Machnik selbst mit angeheiterter Fröhlichkeit. Was hat der Böhme geschwindelt, sagt er. Und was hab ich geschwindelt. Mensch, was haben wir gelogen und gesoffen.

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Und woher wissen Sie, daß Böhme in Berlin eine Stasi-Schulung gemacht hat?
Meine Sekretärin hat mir das erzählt.
Und woher wußte die das?
Ihr Mann war bei der Stasi. Und der wußte das mit Böhme in Berlin.
Waren Sie da nicht entsetzt?
Nein, sagt Machnik. Aber ich habe Manfred gefragt: Sag mal, bist du dabei? Da hat er nichts gesagt. Und ich: Also, wenn du dabei bist, ist mir das scheißegal. Da hat er nicht dementiert.

Und wenn er über Sie geschrieben hat?
Ist mir auch egal, sagt Machnik. Manfred ist mein Freund, und er bleibt mein Freund.

 

Am 26. Juli 1976 hat Böhme über den Freund und dessen Freundin Sabine an die Staatssicherheit geschrieben: «Die Beziehungen zwischen Machnik und Kränert haben sich mittlerweile zutiefst intim gestaltet. Kränert nächtigte bereits mehrmals in der Wohnung von Machnik. Mittlerweile ist das Scheidungsersuchen Frau Machniks über Rechtsanwalt Dr. R. offiziell bei Gericht eingegangen... Kränert beabsichtigt, bei realisierter Scheidung mit Machnik gemeinsam nach Altenburg zu gehen... Während ich sonst die zahlreichen Vorhaben der Sabine Kränert belächle, möchte ich diese Sache durchaus ernst nehmen.»

Das kann er auch, denn als Gerhard Machnik und Sabine Kränert 1979 nach Neustrelitz ziehen, sind sie verheiratet. Am ersten Abend, sagt Machnik, waren wir alle drei besoffen. Manfred, meine Frau und ich. Und alle drei schlafen, wie er sagt, durcheinander­gewürfelt in der Kleiderkammer der Herzogin von Neustrelitz, diesem winzigen Schloßzimmer, wo Machniks wohnten und einen Biedermeiertisch aus Adelsbeständen ergattert hatten. Poliertes Kirschholz, sagt er. Für eine Flasche Schnaps.

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Im alten Schloß, sagt Sabine Machnik, haben wir ein paar Monate gelebt, mit Stuck an den Decken, aber alles vergammelt. Dann zogen wir in die Pappelallee, in dieses wunderbare alte russische Holzhaus mitten im Wald, sagt sie. Ja, an den ersten Abend kann sie sich gut erinnern. Wir hatten mörderisch getrunken. Whisky. Und Manfred hat sich aufs Bett gelegt und von seiner Kindheit erzählt. Und irgendwann sagt mein Mann: Also Manfred, ich glaube, du bist dabei.

Wobei?
Na, bei der Stasi.
Er schwieg dann, sagt Sabine Machnik. Dementierte aber nicht.

Später erfährt sie, daß Manfred Böhme in Neustrelitz herumerzählt hätte, Machniks seien von der Stasi auf ihn angesetzt worden. Mir hat das nichts ausgemacht, sagt sie. Ich kannte ihn. Er erzählte ja immer, daß er verfolgt würde. Alle waren doch hinter ihm her.

Einmal, sagt Sabine Machnik, erzählte er meiner Freundin auf dem Marktplatz: Rede nicht mit mir in geschlossenen Räumen. Alles verwanzt. Ich weiß, ich werde bald abgeholt. Meine literarischen Sachen bekommst du. Er hat ihr aber nie etwas gegeben.

Das Folkloreensemble, sagt Sabine Machnik, wo mein Mann zuerst arbeitete, lag genau gegenüber dem Stasi-Gebäude. Da ging der Manfred oft rein. Wenn man ihn danach fragte, sagte er: Die haben mich wieder verhört.

Aber ich mochte ihn, sagt sie. Mag ihn auch heute noch. Er war für mich wie ein Bruder. Sonst war er ja eher ein Neutrum. Hatte aber immer ein großes Zärtlichkeitsbedürfnis, sagt sie. Und manchmal war er auch weinerlich. Er kam oft zu uns ins Holzhaus im Wald. Nebenan wohnten Russen. Er konnte ja gut Russisch. Und abends hat er dann für alle Spiegeleier gebraten.

Er selbst, sagt sie, wohnte ganz schrecklich in einem Abbruchhaus am Töpferberg. Ungemütlich war es da. Gemusterte Tapeten, anders gemusterte Gardinen. Aber er hat eigentlich nur in der Öffentlichkeit gelebt und oft auch woanders geschlafen. Er hat mir dann einen Job in der Theater-Werbung verschafft. Da kam er morgens rein, wir hatten immer eine Karaffe Wodka da stehen, einen viertel Liter, den trank er, dann ging es ihm gut.

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Und manchmal hat er auch mit Geld um sich geworfen, sagt Sabine Machnik. Ich habe mich immer gefragt: Woher hat er das nur? Er verdient doch nicht so viel. Das war schon merkwürdig. Da hat er abends in der Kneipe Runden geschmissen. Für meine Freunde, sagte er dann. Und noch eine Runde.

In Neustrelitz, sagt Gerhard Machnik, der ehemalige Dramaturg, der heute, wie seine Frau, in Hannover lebt, in Neustrelitz war Manfred todunglücklich. Und wir haben über das Unglück geredet. Wenn er uns besuchte, kam er rein und machte: schschscht... sei bloß leise, die hören mich ab. Er wußte mit sich nicht weiter. Und er wußte auch mit dem Staat nicht weiter. Er war ein armes Schwein, sagt Machnik. Er hat sich von meiner Frau die Haare kraulen lassen. Das hat ihm gefallen. Er ist ein Heimkind. Und immer hatte er Angst. 1968, sagt Machnik, hat man ihn erpreßt.

Womit?

Was weiß ich. Er hat mir jedenfalls erzählt, wie das war mit den drei Tagen bei der Stasi in Gera. Da war er erpreßbar. Er hat mir nur von den drei Tagen erzählt und von den Verhören. Das genügte. Mehr mußte er nicht sagen. Ich mußte auch nicht mehr nach der Stasi fragen, sagt Machnik. Mir war alles klar. Jeder Staat hat seinen Geheimdienst. Entweder gehen die Leute freiwillig hin, oder man erpreßt sie. Manfred hat man erpreßt. 1968 hatte er doch die Menschen mit der geballten Faust aufgewiegelt. Da haben sie ihn rangenommen. Das war mir klar. Und von da an hatte er auch dieses Gehetzte.

«<Das war eine schöne Zeit>, sagte der Hase zum Igel und verschwand im tiefen Wald, um vom Fuchs gejagt zu werden ...», schreibt Manfred Böhme im Februar 1982 an seinen Freund Harald Seidel nach Greiz. «Daß Ihr noch an mich denkt, hat mich sehr erfreut.» Nein, es ginge ihm nicht sehr gut in Neustrelitz, schreibt er. Wieder sei er gescheitert, wieder habe er seinen Mund nicht halten können. «Obwohl ich in keiner Weise ein Parteigänger der sogenannten polnischen Liberalisierung bin, konnte man in den letzten drei Monaten meine <ketzerischen> und kritischen Einstellungen zu bestimmten Vorgängen in der Kultur- und Theaterszenerie der DDR entsprechend politfizieren ... Makaber und grotesk das Ganze!»

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 Und er legt dem Freund sein neuestes Gedicht ans Herz:

Wer sind wir

So mancher gab mir zu bedenken, 
was uns vereint in einem Ziel. 
Gleich sollt ich ihm Vertrauen schenken 
für kitzlig interessantes Spiel. 
Fast wars zu spät, als ich bedacht, 
welch große Fehler ich gemacht, 
wer sind wir? ...

In einem anderen Brief antwortet er dem Freund Harald Seidel. «Du fragst mich nach meiner Überzeugung: Ich bin Marxist, nach wie vor, heute mehr denn je! Nur bin ich viel kompromißloser geworden, kann es mir jetzt auch leisten; kompromißloser besonders gegenüber jenen Leuten, die glauben, Gerechtigkeit, Erkenntnis und den Marxismus für sich gepachtet zu haben, und dabei beständig über ihre Selbstgerechtigkeit und ihren schmutzigen Egoismus stolpern, sich an Selbstüberschätzung überheben. Älter bin ich geworden, etwas reifer, kaum weiser.»

Böhme arbeitet in der Presseabteilung des Theaters, wird zum <Aktivisten> befördert, bemerkt Korruptionsfälle und Unkorrektheiten, wird auch geworben, wieder mal, soll für die Staatssicherheit arbeiten. Doch er sei standhaft geblieben, wieder mal, sagt er.

Also, mir war völlig klar, daß er für die Staatssicherheit arbeitet, sagt Sabine Machnik. Schon nach kurzer Zeit hatte er doch in Neustrelitz besten Kontakt zu allen Behörden. Wie in Greiz. Und immer sagte er: Wir machen mal die Weltrevolution.

Aber einer, der als Opfer im Gefängnis gesessen haben will, der wird nicht Leiter der Öffentlichkeitsarbeit im Theater. Das gab es einfach nicht in der DDR, sagt sie. Und er erzählte auch immer, daß er vierzehn Monate im Knast gesessen habe. Stimmte auch nicht, sagt sie. In der Zeit, wo er gesessen haben will, ist er in Leipzig gesehen worden, und auch in Gera.

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Im November 1981, sagt Ibrahim Böhme, habe er trotz Warnung an einer Podiumsdiskussion teilgenommen, bei der es um Polen ging. Danach habe er seine Arbeit im Theater aufkündigen müssen. Er sei dann alles mögliche gewesen. Dozent für russische Sprache, Kellner in der HO-Gaststätte «Kranich», Zerstückler und Verladearbeiter im Sägewerk.

Manfred flog nach einer Premiere aus dem Theater, sagt Gerhard Machnik. Das Stück habe «Der Schuster und der Hahn» geheißen. Und der Hahn war immer der, der die Wahrheit sagt. Er sagte zum Beispiel: «Es gibt Übergänge, die von Dauer sind». Das begriffen die Leute natürlich und klatschten. Und es gab auch jede Menge Hühner, sagt Machnik. Die wollten den Hahn umbringen. Aber die wurden dann selbst hinter der Bühne abgeschlachtet. Und die Hühner, sagt er, waren Stasi-Spitzel. So war das inszeniert. Na ja. Jedenfalls kam die Bezirksleitung nach der Premiere und setzte das Stück ab. Darüber, sagt Machnik, hat Böhme sich sehr aufgeregt. Und da flog er raus aus dem Theater.

Als Kellner, sagt Sabine Machnik, lief Manfred völlig abgerissen herum. Und da war er eigentlich auch immer angetrunken. Es kann sein, sagt sie, daß er damals versucht hat, von der Stasi wegzukommen. Jedenfalls war es eine Zeit, da war er am Boden zerstört.

Als Kellner, sagt Gerhard Machnik, war er verzweifelt und soff. Als Kellner war er überhaupt immer besoffen. Er hat dann gedolmetscht, um sich etwas Geld zu verdienen. Einmal sei er nachts mit vierzehn betrunkenen Offizieren angetanzt. Und einem russischen Offizier hatte Manfred mal Jeans versprochen. Nun wußte er nicht, woher er die kriegen sollte. Da kam er zu mir und sagte: Gerhard, kannst du welche besorgen ?

Und Böhme ruft bei Sabine Machnik an und sagt: Du, ich bin jetzt ganz weit weg.
Wo bist du? fragt sie.
Kann ich nicht sagen. Weit weg.

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Und da dachten wir, der sei abgeholt worden von der Stasi.
Aber am nächsten Tag ist er wieder da, als sei nichts gewesen.

Und Manfred Böhme erzählt überall in Neustrelitz, er sei 1973 als Journalist in Santiago de Chile gewesen. Und während des Putsches habe er im Palast Seite an Seite mit Allende gegen die Konterrevolutionäre gekämpft.

Und an einem glühend heißen Tag im Sommer steht Manfred Böhme am Friedhof von Neustrelitz. Steht da bei 35 Grad im Schatten und wartet. Dann kommt ein Auto, und zwei Herren steigen aus. Der eine ist der stellvertretende Chef der Stasi, der andere Böhmes Führungsoffizier Berthold Freese. Sie begrüßen sich und laufen zu dritt bei der Affenhitze zwischen den Gräbern herum und reden. Es war ja immer alles geheim, sagt Sabine Machnik. Immer alles konspirativ. Und Manfred war ja bestens informiert. Alle liebten ihn, alle erzählten ihm, was er wissen wollte, alle haben ihm ihr Herz geöffnet. Er mußte doch gar nicht fragen, sagt sie.

Und Böhme macht noch immer die alten Streiche. Ruft den Kammerjäger von Neustrelitz an und sagt: Hier spricht der Wirt von der <Goldenen Kugel. Sie haben gestern bei mir eine Vernichtungsaktion gegen Ratten und Mäuse gemacht. Nun liegt meine Kellnerin im Keller und zuckt. Die sollte Wein hochholen. Nun liegt sie da und zuckt.

Er hatte sich nicht verändert, sagt Machnik. Er war nur trauriger und kaputter. Nach der Kellnerei kam er ja ins Sägewerk. Das hat ihn völlig fertiggemacht. Das war wohl eine Strafaktion der Stasi. Ja, damals fing er an zu stolpern.

«Mein lieber Freund Harald», schreibt Böhme, der sich inzwischen Urbij-Böhme nennt, im Januar 1983 an Harald Seidel.

«Ich sitze gerade vor einer Tasse guten (gefilterten) Kaffees und lasse meine zerschlagenen Glieder aushängen, nachdem ich eine Woche zermürbende Mittelschicht hinter mir habe. Fordert mich mehr, als ich dachte.

Ich arbeite außerhalb von Neustrelitz in einem Sägewerk in Düsterförde als Holzarbeiter. Über die Arbeit möchte ich nicht weiter

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klagen, auch wenn sie das Letzte an physischer Kraft von mir fordert ... Nur, daß ich kaum noch zu literarischer Arbeit komme, macht mich traurig. Nach der Arbeit reicht die Kraft oft gerade noch so aus, um nach Hause zu kommen und sich etwas zu waschen. Aber keine Angst; ich stehe auch das durch! Schade, daß dieser Staat, zu dessen Entwicklung wir bei allen vorhandenen Vorbehalten auch unseren Teil beitragen, meine Fähigkeiten und Möglichkeiten nicht anders zu nutzen weiß ...»

Und er fügt wieder eins seiner Gedichte bei. Es heißt «Selbsterkenntnis».

Immer schrieb ich
mit roter Tinte.
Aber jene,
die meine Schriften
begutachteten,
waren farbenblind.

Traurig machen 
mich alle Verleumdungen 
und Dummheiten! 
Ich hasse Euch nicht, 
denn meine Krankheit 
ist die Müdigkeit. 
Ich bin klug nur 
in Eurer Klugheit 
und dumm 
in Eurer Dummheit

Anfang 1984 fährt ein junger Mann von Berlin über Dresden nach Budapest. Im Zug trifft er einen Freund aus dem Westen. Die beiden wollen in Ungarn Kontakt aufnehmen zu oppositionellen Gruppen. Auf dieser Fahrt steigt Manfred Böhme zu. Er hat den Auftrag, den jungen Mann kennenzulernen und sein Vertrauen zu erwerben.

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Aber schon in Dresden steigt Böhme wieder aus. Er schreibt in seinem Bericht an die Staatssicherheit, er habe versucht, Kontakt aufzunehmen, das sei nicht gelungen, und da er nicht in Kauf nehmen wollte, daß der junge Mann sich bei einem späteren Treffen an ihn erinnern könnte, habe er in Dresden den Zug verlassen.

Ein halbes Jahr später lernen die beiden sich dann auf der Abschlußveranstaltung eines Friedensseminars in Neustrelitz kennen, der vierzigjährige Manfred Böhme und der zweiunddreißigjährige Markus Meckel. Durch das Eisenbahn-Intermezzo, das Meckel später in seinen Akten findet, sei klar, sagt der SPD-Bundestagsabgeordnete, daß die Kontaktaufnahme von Anfang an eine gezielte ad personam war.

Das nächste Friedensseminar findet ein Jahr später in Meckels Pfarrhaus in Vipperow statt, ein paar Kilometer von Neustrelitz entfernt. Manfred Böhme ist eingeladen. Und hier in der schönen alten Pfarrei lernt er jene Menschen kennen, die Freunde für ihn werden und ihm so viel Stoff liefern für so viele Berichte: Meckels Frau, Martin Gutzeit, Angelika Barbe und kurz darauf Ulrike und Gerd Poppe.

Die erste Begegnung werde ich nie vergessen, sagt Angelika Barbe, die Biologin, die ein paar Jahre danach Stellvertreterin des Parteivorsitzenden Ibrahim Böhme werden wird und später SPD-Bundestags­abgeordnete in Bonn. Ibrahim hat mich fasziniert, weil er Marxist war. Es war für mich kaum glaublich, daß es in diesem Staat noch Marxisten gab. Ich hatte bisher keinen kennengelernt. Für mich, sagt Angelika Barbe, waren das doch alles rotlackierte Nazis. Ich hatte nur SED-Leute kennengelernt, die wegen des eigenen Vorteils in die Partei eingetreten sind.

Ibrahim, sagt sie, war der erste Marxist, den ich in der DDR kennenlernte. Sie habe seine Ansichten nicht geteilt, aber wahnsinnig gerne mit ihm diskutiert. Mit ihm konnte ich mich auseinandersetzen. Das war doch verboten bei uns. Wenn man diskutieren wollte, wurde einem gleich gesagt: Was du da bringst, sind Einzelbeispiele. Die stimmen nicht für die Masse. Und du bringst alles durcheinander. Du hast keinen festen Klassenstandpunkt. So. Damit mußte ich leben. Und nun lernte ich einen Marxisten kennen.

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Und Ibrahim, sagt sie, war überzeugt, und er lebte auch danach. Sie habe ihn später in Berlin ja besucht. Er hatte eine einfache Wohnung, fuhr kein Auto, schlug sich irgendwie durchs Leben, nahm auch Opfer in Kauf, und das aus Überzeugung. Und dann habe ich noch etwas beobachtet, sagt Angelika Barbe, er beteiligte sich an den sogenannten niedrigen Arbeiten.

Das heißt, er kochte, wusch ab, spielte mit den Kindern, half Frau Meckel in der Küche, wir wohnten ja alle in der Pfarrei, waren mit Kindern angereist, und er tat all das, was man sonst den Frauen überließ. Und den einen Abend, den werde sie auch nie vergessen, da trug Ibrahim Gedichte vor, sagt sie, Jazz-Gedichte von Jens Gerlach.

Meine Hände hießen Unrast. 
Meine Schultern hießen Aufruhr. 
Mein Herz hieß Freiheit.

Er rezitierte da draußen in Vipperow, in diesem alten Pfarrhaus bei Kerzenschein. Und ich saß zwischen Freunden und fühlte mich wohl. Und den Ausreiseantrag, den Angelika Barbe damals mit ihrem Mann gestellt hatte, den zieht sie zurück, nachdem sie Ibrahim B. und die Freunde kennengelernt hat.

Kaum ist Böhme wieder in Neustrelitz, erkundigt er sich auch schon in der Evangelisch-Lutherischen Kirche nach neuen Veranstaltungen der Friedensbewegung. Und siehe da, ein Lese- und Liederabend ist für Samstag, den 11. August, angekündigt. Stefan Krawczyk singt, Lutz Rathenow liest.

Lutz Rathenow? Den kennt er doch, den «jungen Heißsporn», aus alten Greizer Zeiten. Der ist doch damals in Bad Köstritz mit Bettina Wegener, Jürgen Fuchs und Gernulf Pannach aufgetreten, natürlich, und einmal hat er ihn mit Jurek Becker erlebt, das war am «Tag nach der Bereinigung der Biermann-Angelegenheit», wie er in seinem Bericht für die Staatssicherheit schreiben wird. Also, zu diesem Konzert wird er hingehen.

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«Ibrahim beteiligte sich immer an den sogenannten Arbeiten, heißt, er kochte, wusch ab und spielte mit den Kindern.»

Angelika Barbe über Ibrahim Böhme, hier 1991 in seiner Küche am Prenzlauer Berg.

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In Neustrelitz, sagt Lutz Rathenow, wirkte Ibrahim interessiert, gehemmt und sympathisch. Ich dachte, da ist einer, der die Partei renovieren wollte, der dann in Haft kam, darüber nicht reden mag und sich in den Norden versetzen läßt, damit er nicht weiter erpreßt werden kann.

Ich weiß noch, Fuchs hatte Mißtrauen. Ich weniger, sagt Rathenow. Ich eigentlich gar nicht. Aber ich muß auch sagen, daß ich auf den introvertierten Typ des Spitzels am ehesten reingefallen bin. Für die Provozierenden hatte man einen Riecher. Was kam da nicht alles an, sagt er. Leute, die kleine Gedichte geschrieben hatten, fünf Sätze gegen die Waffen der Sowjetunion. Du, guck mal, kann man das so drucken lassen? Was meinst du? Also, da konnte ich nur lachen.

Aber bei Böhme, sagt er, hat mein Riecher versagt. Er war sehr freundlich und sehr offenherzig. Die meisten Inoffiziellen Mitarbeiter waren doch verkrampft, konnten nicht verbergen, daß da ein Widerspruch war zwischen dem, was sie sagten und dachten. Nicht bei Böhme, sagt er. Der schien intakt, drang nie nach vorn, provozierte nie zu etwas, was gefährlich werden konnte. Er wirkte wie einer, der Kontakt sucht. Und deshalb stimmt es auch, wenn Böhme in seinem Bericht über mich schreibt, daß ich Interesse an ihm hatte.

Böhme berichtet ausführlich von der Lesung in Neustrelitz. Es ist korrekt, sagt Rathenow, daß Krawczyk an diesem Abend den größeren Erfolg hatte. Ich fand ihn auch gut. Aber dann schlägt Böhme zu: Die «negativen Charakterzüge» von einst hätten sich «ausgeweitet». Eitel sei Rathenow, kritikempfindlich, ehrsüchtig, und wie er dagesessen habe, als Krawczyk sang, «wie er sich dann völlig in sich zurückzog und nur mit säuerlicher Miene applaudierte». Also bei aller Geltungssucht, sagt Rathenow, bei aller Eitelkeit, so war ich nie. Ich glaube, sagt er, Böhme projiziert da eigene Dinge auf andere.

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Und dann liest Rathenow lachend aus dem gewaltigen Finale vor: «Rathenow ist für mich ein Schulmeistertyp.» Wie Jürgen Fuchs, schreibt Böhme, der sei auch einer gewesen, von dem habe Rathenow das offenbar. Und überhaupt, «ich kann keinen echten und ehrlichen Bezug zur Literatur von Lutz Rathenow finden». Er müsse aber auch zugeben, gesteht der IM seinem Führungsoffizier im Bericht, daß er kaum etwas von ihm gelesen habe, «das läßt sich also noch demnächst nachholen». Na bitte. Und er will den Schriftsteller denn auch recht bald wieder aufsuchen, «zumal ich bereit bin», schreibt Böhme, «meine Persönlichkeit unter den Scheffel zu stellen». Herrlich, sagt Rathenow. Ein klassischer Böhme.

Aber das Verrückteste an diesem Bericht ist der Deckname. Der heißt nämlich «Ibrahim». In den Akten wird von einem Treffen berichtet, das Böhme, ein Jahr bevor er nach Berlin kommt, mit seinem zukünftigen Chef der Abteilung XX, 9 hat, mit Oberst Reuther und seinem Führungsoffizier in spe. Hauptmann Edel. Böhme ist offenbar empfohlen worden, und die Herren der Stasi bestellen ihn nach Berlin, wollen ihn durchchecken. Der ellenlange Bericht über Rathenow scheint Böhmes Gesellenstück für eine Hauptstadt-Karriere zu sein – Deckname «Ibrahim».

Und was tut Böhme, als er wieder in Neustrelitz ist? Nennt sich von Stund an Ibrahim Urbij-Böhme, benutzt seinen Decknamen fürs gemeine Leben, weil er den so toll findet. Ibrahim, Abraham, Vater des Volkes, der bereit ist, sein Liebstes, den Sohn, zu opfern – für seinen Gott. Und mehr noch: Ist Abraham nicht Gottes Vater? So hat es doch Thomas Mann in «Joseph und seine Brüder» beschrieben, der große Autor, den Böhme so verehrt.

«Ja, Abram hatte den Seinen von seiner Hochgemutheit mitzuteilen gewußt. Er hieß Abiräm, was heißen mochte: <Mein Vater ist erhabene oder auch mit Recht wohl: <Vater des Erhabenen>. Denn gewissermaßen war Abraham Gottes Vater. Er hatte ihn erschaut und hervorgedacht...» Wie Böhme in gewisser Weise seinen Gott Marx ganz neu erschaut hat. Und im übrigen ist Böhme doch auch Jude. Das hat er doch wenigstens seinen Freunden erzählt. Und warum sollte er nicht Jude sein. Da kommt <Ibrahim> gerade recht. Jedenfalls nennt er sich ab 1985 so.

Und als er 1986 von der Staatssicherheit nach Berlin geholt wird, herrscht totale Verwirrung. <Ibrahim>? Wer ist denn das? Manfred heißt der doch. Nein, der heißt Ibrahim. Aber das ist doch Ihr Deckname, Mann! Und so bekommt Ibrahim Böhme denn für Berlin einen neuen Decknamen, seinen letzten – «Maximilian».

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