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16  «Wenn die Seele leer ist»

 

Der Gang zu den Akten

 

227-245

Was haben Sie in den letzten Wochen so geträumt? frage ich Ibrahim Böhme.
Nichts Aufregendes, sagt er.
Keine Fallträume? Keine Fluchtträume?
Fluchtträume schon, früher. Aber der schlimmste Traum war — also machen Sie das Tonband lieber aus.
Warum?
Na gut. Meinen schlimmsten Traum hatte ich in der Nacht vom 30. auf den 31. März 1990.
Das war, nachdem Sie in Ihre Akten gesehen haben?
Genau, nachdem ich in der Normannenstraße war. Und darüber können Sie jetzt lachen, wenn Sie wollen, da träumte ich, wie mir meine SPD-Freunde auf unterschiedliche Weise begegnen.
Ein Alptraum also.
Ja, ein Alptraum. Ein Paniktraum. Im Traum habe ich genau gesehen, wie sie mir dann später tatsächlich begegnet sind. Es war eine ästhetische Vorwegnahme.
Wer reagierte wie?

Das möchte Böhme nicht sagen. Sagt aber, wie das war, wenn er als Kind Fluchtträume hatte und voller Angst erwachte, und wie da immer gleich der Erzieher vom Dienst zur Stelle war, der ihn beruhigte und wartete, bis er wieder eingeschlafen war.

Das klingt ganz nach einem Wunschtraum.

Seit Stunden sitze ich wieder bei Ibrahim Böhme im Zimmer, seit Stunden trinken wir Kaffee, und er raucht seit Stunden und spricht noch immer druckreif, noch immer in dieser gestelzten, altmodischen Diktion; und wenn ich von Staatssicherheit spreche, von Akten und von Schuld, dann schaut er wieder mit totem Blick an mir vorbei und sagt: Ich habe zu keinem logischen Moment meines Lebens bewußt, gegen Geld, gegen Abfindung oder irgendwas, für die Staatssicherheit gearbeitet.

Natürlich nicht. Der Führungsoffizier hat es seinem Inoffiziellen Mitarbeiter doch immer wieder versichert: Nur du weißt, wer hinter deinem Decknamen steht. Niemand sonst. Es kann ahnen, wer will, wissen kann es niemand außer dir. Und Indizien sind keine Beweise. Und Beweise wird es nicht geben, solange du dich nicht enttarnst, solange du schweigst. Also bitte, was kann dir passieren?

Nun ist es aber passiert, daß die Opfer ihre Akten lesen dürfen. Und die Freunde von Ibrahim Böhme haben ihre Akten gelesen: Ullmann, Seidel, Kühl und Kornatz, Vaatz und Fuchs und Kunze, Barbe, Meckel, Poppes, Fischer, Rathenow. Glauben Sie nicht, frage ich Böhme, daß die ein Recht haben, zu erfahren, warum?

Sie werden alles in meinem Buch lesen.
Sie schreiben ein Buch? Fällt Ihnen das nicht schwer?
Warum?
Weil Sie Ihren Stil ja ganz schön versaut haben.
Wieso, Sie haben doch gar nichts gelesen.
Ich habe Ihre Berichte für die Staatssicherheit gelesen.

Er schweigt.

Was werden Ihre Freunde aus dem Buch erfahren?
Sie werden nicht erfahren, wer mich zu werben versucht hat fürs MfS. Ich werde auch niemanden belasten. Auch keinen von den Hauptamtlichen. Die sollen mit ihrer Vergangenheit selber fertig werden. Ich werde mich hüten, Leute zu gefährden oder dem Rufmord preiszugeben.

Wenn Sie nichts erklären wollen, sage ich, wird sich kaum jemand für das Buch interessieren.

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«Nach der Akteneinsicht in der Normannenstraße träumte ich,
wie meine SPD-Freunde mir auf unterschiedliche begegneten.»

Ibrahim Böhme 1991 in seiner Wohnung am Prenzlauer Berg.

 


Ich habe nicht für das Ministerium für Staatssicherheit gearbeitet. Und ich habe auch keine Absicht, etwas zu erklären.

Können Sie denn Ihre Freunde, die auf eine Erklärung warten, wenigstens verstehen?
Natürlich verstehe ich sie.
Aber Sie lassen sie im Stich.

Mir ist das ganze Betroffenheitsgelaber schrecklich. Wenn die hier bei mir auf dem Sofa sitzen, und jeder dritte Satz heißt: Du, jetzt haben wir wieder dies und das gelesen. Also, davor graut mir.

Das kann ich mir denken, sage ich. Und ich glaube auch, daß Sie die Liebe, die Ihnen noch immer von den Freunden entgegengebracht wird, gar nicht verkraften können.

Mir wäre lieber, sagt Böhme, man könnte das vor Gericht klären.
Damit sperren Sie die Freundschaft aus.
Ja, ein Gericht ist etwas Neutrales.
Eine Art Niemandsland?
Ein Feld, auf dem man kämpfen kann, sagt er.
Sie tun ja so, als seien Ihre Freunde Feinde.
Ich habe einfach zu viele Artikel gelesen. Alles wurde gleich in die Welt posaunt, alles wurde gleich veröffentlicht.
Sie haben ja auch niemanden zu sich gelassen. Sie haben keinen Brief und keine Bitte beantwortet, nichts. Erst nach Ihrem Schweigen sind die Freunde an die Öffentlichkeit gegangen.

Sollen die doch mal mit einer Maske durch die Straßen gehen, sagt Böhme da. Man kann ja nicht mehr auf die Straße gehen. Und wie da plötzlich überall die Akten auftauchen
Glauben Sie, das ist eine Verschwörung gegen Sie?
Ich bin doch kein Paranoiker, sagt er und schweigt lange und sagt dann: Aber Sie glauben ja auch, daß ich dabei war. Also schreiben Sie so, wie Sie es sehen. Ich ertrag es.

Sie sollen ja nichts ertragen. Ich würde nur gerne verstehen, warum Sie Ihre Freunde verraten haben. Warum Sie es nicht zugeben können und warum Sie sich noch immer konspirativ verhalten. Wovor haben Sie Angst?

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Auf die Fragen habe ich gewartet. Sie fragen genau wie Hartmanns.
Und was haben Sie Hartmanns geantwortet?
Ich bin doch nicht schizoid, habe ich ihnen gesagt.

Es gibt auch Lügen, sage ich, die zur Wahrheit werden, wenn man nur lange genug dran glaubt.
Wenn das so wäre, wenn ich die Wirklichkeit in einer solchen Weise verdrängen würde, sagt Böhme, würde ich irgendwann schizoid sein.
Aber Ihre Wirklichkeit wurde von der Schizophrenie eines Staates bestimmt. Und der Staat ist Ihnen alles. Der Marxismus alles. So war es Ihnen beigebracht worden. Gewollt vom Staat, bezahlt vom Staat, sanktioniert vom Staat. Sie waren ein lebendiges Werkzeug Ihres Staates.

Er schweigt kühl an mir vorbei.

Vielleicht sind Sie auch nur ein glänzender Schauspieler. Talent haben Sie ja.
Wer sagt das?
Ich. Vielleicht sind Sie eiskalt. Vielleicht haben Sie nur gespielt mit Ihren Freunden.
Dann können die mich jetzt ja getrost mit ihrem Haß verfolgen.
Niemand haßt Sie. Im Gegenteil.
Die Verfolgung mit ihrer Liebe, sagt er, ist ebenso belastend für mich.
Sie kennen das Gedicht, das Günter Ullmann in Greiz für Sie gemacht hat?

Verzeih

ich hatte dein bild schon
weggestellt
doch als deine schuld als bewiesen galt
erinnere ich
mich
an das leuchten 
deiner dunklen augen

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Also schrecklich ist ihm das jetzt. Er geht im Zimmer auf und ab. Vom gelben Kachelofen zum Sessel zum Kachelofen. Wie ein Löwe hinter Gittern. Auf und ab. Entschuldigen Sie meine Erregung, sagt er und versucht, sie zu zähmen. Dann sagt er: Ich will keine Vergebung. Dazu bin ich zu stolz. Und schweigt. Und sagt: Ich habe dieses Land geliebt. Und ich habe seine Menschen geliebt. Und da soll ich geschrieben haben. Reiner Kunze und seine Frau sind am Ende ihrer physischen und psychischen Kräfte und haben sich mit einer Ausbürgerung wohl abgefunden? Nie. Er habe Kunze so bewundert.

Und steht da und zitiert Gedichte von Kunze so aus dem Stegreif.

Kennt er auch dieses?
retuschierbar ist
alles
nur
das negativ nicht
in uns

 

Könnten Sie das, was Sie jetzt retuschieren möchten, einem Analytiker auf der Couch sagen?
Nein, könnte ich nicht. Das ist mir zu nah.
Aber Sie verschweigen etwas.
Natürlich, sagt er.
Und Sie wissen, was.
Ja, sagt er.
Und Sie können damit leben?
Ja, sagt er.
Aber Ihre Freunde nicht.

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Gott, ist ihm das langweilig jetzt. Er dreht die Augen gen Himmel und setzt sich mit theatralischer Geste zurück in den Sessel, Manfred Böhme, der ewige Spieler in der Rolle von Ibrahim Böhme, der wiederum Petschorin ist, ein Held seiner Zeit, der Myschkin spielt, den sanften Idioten, den Narren in Christus, der die Rolle des Judas übernimmt, um eine große Idee zu retten, Manfred Böhme, der Marxist, der Gedichte macht, der Freund, der Berichte schreibt, Manfred Otto Ibrahim Böhme, der verdrängt, um zu leben.

Und wenn Sie hundert Akten vor mir auftürmen, sagt er. Ich habe niemanden verraten. Und Tränen steigen auf. Er sagt: Da steht man nun vor einem Scherbenhaufen und hat gedacht, man hätte Porzellan gebrannt. Er zündet mit zitternden Fingern eine Zigarette an, raucht tiefe Züge, und wir sitzen uns gegenüber und schweigen dunkle Löcher in den Raum.

Wie war das, frage ich ihn, als Sie nach den ersten Verdächtigungen in der Normannenstraße Ihre Akte lesen konnten?

Ich konnte da gar nicht lesen, sagt er. Es verschwamm alles vor meinen Augen, weil ich das alles gar nicht begreifen konnte und wirklich nur mit Mühe und Not Haltung bewahrt habe.

Am Freitag, den 30.3.1990, fährt um 10 Uhr morgens ein Auto mit Ibrahim Böhme in der Normannenstraße vor. Seine Rechtsanwälte Winfried Seibert und Friedrich Wilhelm Freiherr von Seil sowie der SPD-Parteifreund Gerhard Hirschfeld begleiten ihn. Als Böhmes Freund Werner Fischer, der Bürgerrechtler, der inzwischen Regierungsbevollmächtigter zur Auflösung des MfS ist, hört, daß Böhme kommt, fragt er, ob er ihn begleiten solle. Und Böhme bittet ausdrücklich darum.

Ich habe ihn dann am Tor abgeholt, sagt Werner Fischer. Und ich habe einen Ibrahim Böhme erlebt, den ich nicht kannte. Er war kreidebleich. Er rauchte Kette. Und ich muß sagen, ich hatte nun schon etliche Leute beim Gang zu den Akten gesehen, und die Atmosphäre in diesem Archiv ohne Fenster, die war schon einigermaßen gruselig, ich selber habe sie immer als bedrohlich empfunden. Aber Ibrahim?

Er hatte Schweiß auf der Stirn, sagt Fischer. Und während andere da nun vor dieser Riesenkartei-Walze standen und eine normale Aufregung zeigten, normal angespannt waren, da zitterte Ibrahim. 

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Das hatte ich noch bei niemandem so erlebt. Und das übertrug sich auf mich, sagt er. Ich war auch gesundheitlich angeschlagen damals, und ich kann mich erinnern, daß mir tausend Gedanken durch den Kopf Schossen. Der eine große war: Nicht Ibrahim!

Ich weiß noch, sagt Fischer, auf dem Weg vom Auto zum Archiv, da waren wir zu zweit, darauf hat er Wert gelegt, daß wir zusammen gegangen sind, und da sag ich noch zu Ibrahim: Also, wenn du dabei warst, dann sei bitte nicht so ein normaler IM gewesen, bitte nicht so ein mieser Spitzel - wenn überhaupt, dann deinen Fähigkeiten entsprechend, dann ein Top-Spion, am besten einer, der gleich für drei Geheimdienste gearbeitet hat. So ungefähr, sagt Fischer.

Und da hat Ibrahim überhaupt nicht reagiert. Und wir standen nun an dieser Kartei, dieser Walze, und die Nervosität, die Aufregung, die Böhme verbreitete, übertrug sich so sehr auf mich, daß ich den Raum verlassen mußte, weil ich plötzlich ganz arge Herzschwierigkeiten bekam. Ibrahim ist dann noch zu mir rausgekommen und hat mir von seinen Herztabletten gegeben. Ja, sagt er, so war das.

Und nachdem dann festgestellt wurde, aha, in der ersten Kartei ist nichts, ging' s in die zweite, die Einstiegskartei. Und da, sagt Fischer, fällt plötzlich die ganze Aufregung von ihm ab. Ibrahim war wieder normal. Für ihn schien klar zu sein, jetzt kann nichts Belastendes mehr kommen. Also, das hat mich schon sehr stutzig gemacht.

Ibrahim Böhme hatte mir bei einem Besuch die ersten Seiten seiner Memoiren zu lesen gegeben. Darin beschreibt er seine Erinnerungen an jenen 30. März 1990. Er spricht von sich in der dritten Person, schreibt B. statt Böhme. Warum, frage ich, schreiben Sie nicht <ich>?
Ich mag es nicht, wenn mir einer zu nahe kommt, sagt er.
Aber Sie sind nicht irgendeiner.
Ich ziehe die Distanz vor, sagt er. Auch zu mir.
Warum? Haben Sie Angst vor sich?
Nein, sagt er. Ich habe keine Angst mehr. Angst habe ich mir abgewöhnt.

Gegen 16 Uhr 30 verläßt Ibrahim Böhme zusammen mit seinen Anwälten das alte Stasi-Gebäude. Er schreibt: «Seit Stunden schon warteten die Medienleute am Eingang Ruschestraße und an der Toreinfahrt Normannenstraße...

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Dieser Freitag war ein kalter Tag. Aber auch so fröstelte B., als er mit einigen Personen seines Vertrauens den unschönen, schmucklosen Block im zweiten Hof des Staatssicherheitsgeländes verließ...

Die Journalisten mußten zurückgedrängt werden, so umlagerten sie das Auto. Doch B. war so erschlagen von dem, was er in den letzten fünf Stunden mitbekommen hatte, daß er heute, entgegen seiner Gewohnheit, sich nicht über die Journalisten ereiferte, sondern völlig in sich gekehrt im Auto saß.

Allein die Akten, die vom MfS, zentrale Untersuchungshaftanstalt Berlin, einstmals während seiner Untersuchungshaft angelegt worden waren, umfaßten über 800 Seiten. Und was dort alles nachzulesen war. Tatsächliches und Konstruiertes, war erschreckend und bis ins Innerste verletzend zugleich...»

Nach dem Besuch in der Normannenstraße, sagt Gerhard Hirschfeld, damals Chef des SPD-Verbindungsbüros in Berlin, später Hörfunkdirektor des ORB, also nach der Akteneinsicht war Ibrahim Böhme wie in Trance. Sie fahren zurück nach West-Berlin, nach Charlottenburg ins Hotel «Seehof», wo Böhme wohnt, seit es in seiner Einzimmerwohnung am Prenzlauer Berg eine Bombendrohung gegeben hat. Dort setzen sie sich ins Restaurant, reden, rauchen, trinken. Böhme, sagt Hirschfeld, trank höchstens zwei Cognac. Gegen 22 Uhr verabschiedete er sich, er sei doch ziemlich fertig, er wolle sich schlafen legen.

Mitten in der Nacht schreckt Hirschfeld aus dem Tiefschlaf hoch. Sein Hotelzimmer liegt neben dem von Ibrahim Böhme, und da fallen offenbar Stühle um, da wird geschrien, und weil Böhme meist seinen Sekretär Joachim Hoffmann mit im Zimmer hat, der ihn auch schützen soll, glaubt Hirschfeld, die beiden streiten sich. Und er denkt: Da ist ja eine mächtige Schlacht im Gange. Und Böhme ruft: Ihr Schweine, ihr Schweine! Alles andere kann Hirschfeld nicht verstehen. Und dann fallen wieder Möbelstücke um. Und plötzlich ein dumpfer Fall - und Stille.

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Das ist Hirschfeld nun doch merkwürdig. Er holt einen Kollegen, die beiden klopfen bei Böhme an. Keine Antwort. Sie rufen. Aber nichts rührt sich. Und die Tür ist von innen zugesperrt. Also holen sie den Hotelportier. Der schließt auf.

Und da fanden wir Böhme auf dem Rücken liegend, sagt Hirschfeld, schwer atmend, aber offenbar nicht bei Bewußtsein. Er war überhaupt nicht ansprechbar. Lag da auf der Erde mitten im Zimmer. Allein. Hoffmann hatte ausgerechnet in dieser Nacht ein Rendezvous.

Im Zimmer sah es schrecklich aus, sagt Hirschfeld. Der Spiegel war runtergefallen, die Lampe abgeschlagen, alles lag wild verstreut umher, und mittendrin lag Böhme. Es sah tatsächlich aus, als hätte eine Schlacht stattgefunden. Und die Schlacht, sagt Hirschfeld, hatte er mit sich selbst geschlagen. Und der Geschlagene hatte sich beim Fallen an der scharfen Bettkante eine Rißwunde zugezogen, nichts Schlimmes.

Wir legten ihn aufs Bett und telefonierten nach einer Notärztin. Die diagnostizierte einen starken Schock­zustand. Sie versucht, ihn wachzukriegen, spritzt ein starkes Mittel und empfiehlt, ihn in ein Krankenhaus bringen zu lassen.

Als er wieder zu Bewußtsein kam, sagt Hirschfeld, wies er uns alle aus dem Zimmer. Und das tat er mit der Sprache eines Schwertrunkenen, obwohl er doch kaum getrunken hatte. Aber er hatte ja immer eine ganze Apotheke in seinen Taschen, hatte wohl auch Tabletten genommen, und das zusammen mit dem Cognac und dem Streß der Akteneinsicht, also, wir ließen ihn dann in aller Frühe ins Krankenhaus bringen.

Damals, sagt Beate Schwämmle, Böhmes «Quasi-Schwester» und politische Wegbegleiterin, damals, als der <Spiegel> über Ibrahim schrieb, er sei ein Top-Spitzel der Stasi gewesen, hielt ich das für eine Schweinerei. Daß etwas Wahres an der Geschichte sein könnte, daran hat sie keinen Augenblick lang geglaubt. Ibrahim ist eine schillernde Figur, sagt sie sich, das ist er immer gewesen, und das wird von den Journalisten jetzt ausgenutzt. So denkt sie.

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Aber dann hört sie von jenem Freitag in der Normannenstraße. Und sie hört, daß Böhme anschließend im «Seehof» getrunken habe und daß es nachts dann Scherben gab in seinem Zimmer und daß man ihn ins Krankenhaus hat bringen müssen. Da setzt sich Beate Schwämmle ins Auto und fährt von Tübingen nach Berlin.

Am Samstag nachmittag um vier Uhr ist sie an seinem Krankenbett. Er war allein im Zimmer, als ich kam, sagt sie. Schlecht ging es ihm, ganz schlecht. Er zitterte. Das ganze Bett zitterte mit ihm. Es ging ihm miserabel. Er hatte Angst. Ich hatte den Eindruck, er hatte wirklich Angst. Er wollte nichts wie weg, raus aus dem Krankenhaus, raus aus Berlin, nur weg. Er sagte, wenn du mich hier nicht sofort mitnimmst, dann...

Natürlich nimmt sie ihn mit. Regelt alles im Krankenhaus, fährt mit ihm ins Hotel am Lietzensee, wo er handschriftlich seine Ämter niederlegt, dann packt sie ihn ins Auto und fährt los.

Es war eine Horrorfahrt, sagt Beate Schwämmle, eine Fahrt voller Ängste und voller Schrecken. Ibrahim Böhme trägt eine dunkle Sonnenbrille und ist in Panik. Er ist unansprechbar. Sagt nur in Abständen: Du, da fährt schon wieder einer hinter uns. Halt an! Fahr auf den Parkplatz. Laß den vorbei! Der ist hinter uns her. Siehst du das nicht ? Merkst du das nicht ?

Er fühlte sich verfolgt, sagt Beate Schwämmle. Er glaubte, der KGB sei hinter ihm her und der BND und die Stasi sowieso. Er hatte eine wahnsinnige Angst. Und ich saß am Steuer. Nachts zu fahren ist für mich schon unter normalen Umständen schrecklich, sagt sie. Und nun sitzt noch eine panische Gestalt neben ihr im Auto, Ibrahim, der «Quasi-Bruder», den sie seit zwanzig Jahren kennt und doch nicht kennt. Stimmt es, daß er für die Stasi gearbeitet hat ? Und wenn er es getan hat, warum ? Ist er erpreßt worden ? Hat er es aus Überzeugung getan ? Und was hat er verraten ? Die Gedanken wirbeln ihr durch den Kopf. Und Ibrahim sitzt neben ihr im Auto und sagt kein einziges Wort mehr. Erst als sie über die Grenze fahren und in der Bundesrepublik sind - es gibt ja damals die DDR noch -, wird Böhme ruhiger.

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Beate Schwämmle aber muß raus aus dieser Druckkammer, muß einen Kaffee trinken, muß durchatmen. Und Böhme ist so erschöpft, der kann nicht mehr. Sie fährt auf einen Rastplatz, verfrachtet ihn auf den Rücksitz, packt ihn in einen Schlafsack und wartet, bis er weggesackt ist. Das geht ganz schnell. Dann schließt sie den Wagen ab und geht ins Restaurant. Er schläft im Auto. Als sie in den frühen Morgenstunden zu Hause in Plietzhausen ankommt, ist sie physisch und psychisch am Ende ihrer Kraft.

 

Ibrahim Böhme geht es schlecht. Drei Tage und drei Nächte ist er krank. Der Körper will nicht verkraften, was der Kopf in ihn einsperrt. «Der bloße Gedanke an das Ruchbarwerden verursachte mir Übelkeit und Entsetzen», heißt es bei Raskolnikoff von Dostojewski im Roman von «Schuld und Sühne».

Raskolnikoff? Nein, sagt Böhme zu mir, als wir über Dostojewski sprechen, Raskolnikoff mag ich nicht. Er ist mir zu einflächig in der Aufbereitung einer schizophrenen Situation. Er sagt das viel zu schroff. Und nun ähnelt er dem dunklen Helden so sehr in seiner eigenen schizophrenen Situation.

Warum hat er denn für die Staatssicherheit gearbeitet ? Aus Überzeugung. Natürlich. Wenn er gezwungen worden wäre, erpreßt, er hätte es zugeben können. Aber er hat es gewollt. Wie Raskolnikoff den Mord an der alten Pfandleiherin gewollt hat. «Sollte nicht ein einziges Verbrechen mit tausend guten Werken zu sühnen sein? Für ein einziges Leben tausend andere gerettet werden von Verderben und Untergang? Für einen Tod hundert Leben - das wäre ein Rechenexempel!»

Eine solche Rechnung scheint auch für Manfred Böhme aufzugehen, damals, als er sich entscheidet, Freundschaften zu morden. Sollte nicht ein einziges Verbrechen das gerettete Leben des Sozialismus rechtfertigen ?

Seit zwanzig Jahren arbeitet Böhme konspirativ. Niemand wird das Geheimnis lüften, das so sicher unter seinem Decknamen liegt wie der geraubte Schatz von Raskolnikoff unterm Stein. Warum soll jetzt etwas auffliegen? Und was soll überhaupt auffliegen? Was?

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Auch Raskolnikoff hatte «jenes Ungeheure, jene Tat - er hatte sie gänzlich vergessen». Genau wie Ibrahim Böhme. Der schien sie auch vergessen zu haben. Vergessen haben zu wollen.

Aber der Körper macht nicht mit. Und wie Raskolnikoff beim Gedanken an die Tat im Bett liegt und von einem solchen Frost befallen wird, «daß seine Zähne klapperten und er am ganzen Körper bebte», so zittert und bebt auch Ibrahim Böhme im Bett des Krankenhauses, als die so lang verdeckte Tat nach zwanzig Jahren ans Licht kommt.

Inzwischen gab es so viele Andeutungen, sagt Beate Schwämmle, daß mir klar war, da ist was faul. Aber sie ist auch in einem schrecklichen Loyalitätskonflikt, fragt sich, wie sie damit umgehen soll.

Da passiert etwas, was sie nie vergessen wird. Sie und ihr Mann bekommen Besuch. Und das ist Ibrahim Böhme unangenehm. Er weiß nicht, wie er sich verhalten soll, fragt aber auch nicht, weiß auch nicht, ob man ihn dabeihaben möchte. Da sagt Beate Schwämmle zu ihm, also Ibrahim, nun komm mal rein zu uns. Da fragt er: Beate, glaubst du es nun, oder glaubst du es nicht ?

Also, das war furchtbar, sagt sie. Ich weiß auch nicht mehr, was ich da gesagt habe. Dabei war es doch so ein Augenblick, wo man hätte Farbe bekennen müssen, auch ihm gegenüber. Und ich dachte: 0 Gott, wenn du ihm jetzt Unrecht tust. Und die Möglichkeit, daß er unschuldig war, die bestand doch innerlich immer noch für mich. Ich konnte doch damals, im Frühjahr 1990, noch gar nicht alles durch< schauen.

In Plietzhausen, sagt Beate Schwämmle, als es ihm so schlecht ging, da hat er mir mal gesagt: Weißt du, ich glaube, ich mache Schluß. Das war keine Koketterie, sagt sie. Da war der Punkt erreicht, daß er sagte: Wozu noch leben ? Am besten, ich mache Schluß.

Damals habe ich zu ihm gesagt: Ibrahim, ich will dir was sagen, ich ertrage fast alles von dir, aber ich vertrage nicht, wenn du dich vernichtest. Und da hat er gesagt: Jede Seele hat ihre Grenze. Und wenn die Seele leer ist, dann ist sie leer.

Und da habe ich ihn zum erstenmal weinen sehen. Da hat er zum erstenmal geheult. Und das hatte ich noch nie erlebt bei ihm, sagt Beate Schwämmle. Er hat doch immer gesagt, daß er das Weinen verlernt hätte.

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 Und nun war ich ganz erleichtert. Da saß er zehn Minuten und hat vor sich hin geweint. Und ich habe gedacht: Gott sei Dank.

In Plietzhausen bei Tübingen sieht Gerhard Hirschfeld Böhme wieder. Er war noch immer völlig verändert, sagt er, obwohl er im Mittelpunkt stand, aber im Mittelpunkt nicht, weil er, wie sonst, witzig und lustig, sondern bockig und zornig war, und dann wieder apathisch, auf nichts ließ er sich ein, schien noch immer wie in Trance, hatte keine Antworten.

Ich hatte den Eindruck, sagt Hirschfeld, dieser Böhme besteht aus zwei Personen, glaubte an eine richtige Persönlichkeits­spaltung, und ich wollte ihm helfen, sein Problem zu managen, und ich dachte, daß die eine Person in ihm aufschreiben müsse, was die andere erlebt hat. Und ich habe ihm gesagt, daß Schreiben die einzige Möglichkeit für ihn sei, in das bürgerliche Leben, dem er sich durch Flucht, durch Untertauchen entzogen hatte, zurückzukehren.

Und weil Hirschfeld auf dem Weg nach Italien ist, lädt er Böhme ein nachzukommen. Aber nur, wenn er sich dort mit seinem Leben beschäftigen würde, schreibend. Nur für den Fall würde er ihn einladen. Und zwei Tage später, sagt Hirschfeld, war er auch schon mit seinem Freund Joachim Hoffmann da. Aber nicht etwa, um zu schreiben. Ich hatte das Gefühl, er war gekommen, um Urlaub zu machen.

Also fahren sie umher, machen Ausflüge, besichtigen Lucca, und Böhme freut sich wie ein Kind, wenn jemand ihn erkennt. Und an der Tankstelle spielt er wieder mal den Verfolgten: Sonnenbrille auf, Hut ins Gesicht, Vorsicht, Feind hinter der Zapfsäule.

Er war wirklich ein Spieler, sagt Joachim Hoffmann, der Zahnarzt aus Jena, der ihn in die Toscana gefahren hatte. Und jeder konnte selbst entscheiden, spiel' ich mit, oder laß ich's. Einmal, sagt Hoffmann, als wir nach der SDP-Gründung nicht weiterkamen, sagt Ibrahim: Gut, dann werde ich mal meinen Freund Kotaga anrufen. Wie bitte? Kotaga war der ideologische Staatssekretär im Zentralkomitee. Das klang wie Blödsinn. Aber auch wieder: Halt, das ist kein Blödsinn.

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Diese Geschichte, sagt Hoffmann, hatte ich irgendwie immer im Kopf, wenn ich mit ihm zusammen war. Achtung. Spieler. Und ein Spieler schafft Möglichkeiten.

Und Böhmes Bühne ist überall. Am runden Tisch in Berlin oder am gedeckten Tisch in der Toscana. Eines Abends verirrten sie sich in Lucca in ein piekfeines Restaurant, und Böhme drückt dem indignierten Kellner mit Grandezza einen Ost-Mark-Schein in die Hand. Und er bringt Hirschfelds Frau fünfzig rote Rosen mit. Und er trinkt natürlich lieber, als daß er ißt. Essen stört beim Reden. Und er redet doch nun mal so gern, der Märchenerzähler Böhme. Nichts ist schöner für ihn als eine Gesellschaft mit vollem Mund.

Ach, es war wunderbar in der Toscana, sagt Ibrahim Böhme. Alles grün. Alles blühte schon. Wir haben herrliche Spaziergänge gemacht, und ich fühlte mich überall an Feuchtwanger erinnert.

Sie haben sich aber auch gestritten, sage ich.
Ja, auch, sagt Böhme.
Hirschfeld wollte, daß Sie sich mit Ihrer Vergangenheit beschäftigen. Er wollte, daß Sie schreiben.
Ja.
Und Sie hatten keine Lust?
Nein, sagt er gequält. Nein, ich wollte nicht schreiben.

Unsere Gespräche, sagt Hirschfeld, kreisten immer enger um ihn herum. Und mit dem Näherrücken der Abreise wurden die Fragen immer gezielter. Und das führte in der letzten Nacht zu einem entsetzlichen Krach. Und da, sagt Hirschfeld, hat Böhme eine kaum zu übertreffende schauspielerische Leistung geboten. Die sollte mir signalisieren : Halt! Quäle mich nicht länger. Laß mich am Leben.

Er spielte den Menschen, der gleich tot vom Stuhl fällt. Der völlig abwesend ist in seiner Qual. Der sich eigentlich schon mitten in einer Ohnmacht befindet. Und dann das letzte Frühstück, sagt Hirschfeld. Unvergessen. Böhme sitzt da wie in Trance. Und er schiebt seinen Teller bis an den Rand des Tisches. Eine falsche Frage, eine falsche Bewegung - und der Teller wäre abgestürzt. Der hielt sich also nur durch die Balance zwischen uns beiden.

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Es war toll. Es war wirklich eine erneute Steigerung seines Talents, sagt Hirschfeld. Und ich wußte nicht, ob ich wütend werden oder lachen sollte. Und weil ich wußte, er spielt dieses Drama vom Teller am Abgrund nur, um sich zu entziehen, entschied ich mich für wütend. Und so verabschiedeten wir uns denn sehr frostig.

Zu der Zeit, sagt Ulrike Poppe, gab es schon keinen Kontakt mehr zwischen uns. Ich merkte, er weicht uns aus. Sie trifft ihn noch einmal in der Volkskammer. Da sitzt er mit Angelika Barbe zusammen, und die sagt: Also, der Ibrahim ist so fertig, wie können wir den nur stützen? Und ich merkte, sagt Ulrike Poppe, wie er zitterte. Und er trank einen Cognac nach dem anderen. Ja, er war wirklich fertig. Er trank und wich aus. Und ich glaubte ihm schon nicht mehr.

Am schlimmsten ist für sie, daß Ibrahim Böhme mit offensichtlicher Lust berichtet hat. Alle Details sind beschrieben, sagt sie. Die konnten gar nicht unwichtig genug sein. Er hat auch ausgeschmückt, nicht unbedingt falsch, nein, auch sensibel wahrgenommen. Und faszinierend, sagt sie, ist sein phänomenales Gedächtnis. Er hat tatsächlich die Gespräche eines Abends fast wörtlich wiedergegeben. Bis in die Formulierungen genau. Das ist schon erschreckend.

Ich weiß nicht, wie ich ihn politisch einschätzen soll, sagt Gerd Poppe. Es ist ja eher schizophren. Er hat mitgedacht und dann verraten. Es fällt mir immer schwerer zu glauben, daß er etwas verändern wollte, daß er vielleicht der Meinung war, mit Hilfe der Staatssicherheit hätten sich Reformen vorantreiben lassen. Grotesk, wenn er das geglaubt hat.

Vor der Volkskammerwahl, sagt Markus Meckel, hat er uns ungeheuer behindert, hat Strategien torpediert, hat sich nicht an die Absprachen gehalten, also das war manchmal schon ausgesprochen kriminell. Die Frage ist ja, sagt Meckel, wie lange er gelenkt wurde. Ich vermute mal, ab November 1990 war nicht mehr viel mit Lenkung. Da war's einfach Unsicherheit. Und Böhme ist ja nun mal strategisch nicht der klügste Kopf. Und dann mußte man auch aufpassen, daß er nicht einfach so durch die Lande schwirrt und der Presse irgendwas erzählt.

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Ein typisches Beispiel, sagt er, war im Januar dieses Wahlbündnis. Er hat da einfach was unterschrieben. Und so war er denn für die Bündms-90-Leute der Held der Revolution, und wir waren die Verräter. Und wir konnten ihn ja auch nicht einfach so demontieren, sagt Meckel, das wäre für die Partei verheerend gewesen. Und die Faszination, die von ihm ausging, war enorm. In der Partei waren die ja ganz verrückt nach ihm.

Was bleibt? fragt Meckel. Ein Häufchen Elend. Ein selbstfabriziertes Häufchen Elend. Einer, der Nähe, Harmonie und Anerkennung suchte und dabei die Orientierung verlor.

Ich habe später, nach dem Erlebnis in der Normannenstraße, noch einmal mit ihm geredet, sagt Werner Fischer, der inzwischen im Berliner Innensenat für Beratung und Koordination zuständig ist. Ich habe ihm gesagt: Was auch immer war, Ibrahim, es gibt für alles eine Erklärung.

Wir sind dann durch etliche Kneipen am Prenzlauer Berg gezogen, sagt Fischer, bis wir endlich eine fanden, wo wir ungestört reden konnten. Ich glaube, da haben wir dann fünf oder sechs Stunden gesessen, und ich bin aus diesem Gespräch einigermaßen besoffen herausgekommen, aber nicht vom Alkohol, sondern von dem, was er mir gesagt hat. Ibrahim hat mich regelrecht vollgequatscht. Und als wir uns verabschiedeten, sagt Fischer, habe ich mich gefragt: Ja, was ist nun? Hat er dementiert oder hat er zugegeben? Von da an hatte ich keine Fragen mehr.

Ibrahim, sagt Angelika Barbe, die SPD-Bundestagsabgeordnete, Ibrahim ist ein Produkt der DDR-Gesellschaft. Das offene Austragen von Konflikten gab es doch nicht. Immer gab es nur Fluchten und Nischen. Ein paar Leute sind in die Kirche geflüchtet, ein paar in die Kulturnischen, in irgendwelche Zirkel, und alles hatte immer den Anstrich von Konspiration.

Als ich Studentin war, sagt sie, und auch später als junge Frau, wäre ich so gerne in einen Kulturzirkel gegangen. Aber ich dachte: Nein, du bist so ein kleines Licht, da wird jeder gleich denken, du bist ein Spitzel.

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Das Gegenmittel, das ich dann für mich gefunden habe, sagt sie, war totale Offenheit. Nur so ging es für mich. Die anderen sollten wissen, mit welchen Karten ich spiele. Es war die einzige Chance, dieses System zu überwinden.

Und nun, sagt Angelika Barbe, habe ich Fragen an Ibrahim. Ich möchte wissen: Hast du uns wirklich gemocht? Wie hast du gedacht? Hast du vielleicht nur Theater gespielt? Im Theaterspielen, sagt sie, war er ja großartig. Aber dann soll er das zugeben. Soll sagen: Ja, ich spiele eine Rolle. Bitte. Und ich spiele sie gern. Gut. Nehmt mich so, wie ich bin.

Aber das kann er wohl nicht, sagt sie. Und das ist das Traurige. Und so wird er denn wohl so schizophren bleiben.

 

Als der Liedermacher Wolf Biermann die ersten Gerüchte über Ibrahim Böhmes Stasi-Verstrickung hört und als er dann das Gesicht des Bedrängten im Fernsehen sieht und als er die dramatischen Worte hört, mit denen Böhme versucht, seine Tat wegzureden, da schreibt Biermann einen Brief an ihn:

Lieber Ibrahim Böhme,
ich merke, daß Du in großer Not bist. Ich möchte Dir helfen. 

So etwas, sagt Biermann, habe ich geschrieben. Ich habe ihm angeboten, daß ich ihm zuhöre, wenn er reden möchte. Den Brief habe er Freya Klier mitgegeben, und die hat ihn weitergeleitet. Aber Böhme, sagt Biermann, hat nie geantwortet. Und wir reden lange über Schuld und Sühne der Schweiger und Lügner, und er erzählt, wie das ist, wenn man da über seinen Akten sitzt und einen Liebesbrief findet, der nie angekommen war, und einen Spitzel entdeckt, der doch ein Freund gewesen ist. Und am nächsten Abend spuckt das Faxgerät bei mir einen ofenfrischen Biermann aus: Diesen Nachmittag schrieb ich ein Gedicht, frei nach Dylan Thomas...

 

Du nicht, die andern sind gemeint 

Freund als ein Feind ruf ich dich aus

Du mit der falschen Münze in der Augenhöhle 
Mein Freund, du mit dem Flair, das so entzückt 
Hast mir die Lüge angedreht und ohne Scham 
Du gafftest auf mein heimlichstes Geheimnis 
Gelinkt hast du, gelockt mit Augenzwinkern 
Und meiner Liebe Kuchenzahn biß auf Granit 
Verschrammt zuletzt, gestrauchelt, ausgelutscht 
Du stehst von mir gebranntmarkt als ein Dieb 
Im Angedenken das aus blinden Spiegeln kommt 
Und unvergeßlich dieses Lächeln bei der Tat 
Die harte schnelle Hand im Samthandschuh 
Ach und mein Herz kam unter deinen Hammer 
Und warst ja auch mal'n offnes Menschenkind 
Warst froh, zufrieden und vertraut mit uns 
Ich hätte nie und nicht einmal im Traum gedacht 
Daß du mal Wahrheit bläst wie Dreck in alle Winde

Als ich sie noch um ihrer Fehler willen liebte 
Wie auch um dessentwillen was an ihnen Gutes war 
Warn meine Freunde lang schon Feinde hoch auf Stelzen 
Mit ihrem Kopf da oben in der Wolke des Verrats

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