Hie Marxismus — hie Sozialismus!
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Marxismus — die Geistlosigkeit, die papierne Blüte am geliebten Dornstrauch des Kapitalismus.
Sozialismus — das Neue, das sich gegen die Verwesung; die Kultur, die sich gegen die Vereinigung von Ungeist, Not und Gewalt, gegen den modernen Staat und den modernen Kapitalismus erhebt.
Und jetzt könnte man verstehen, was ich diesem nicht minder Modernen, was ich dem Marxismus ins Gesicht sagen will: daß er die Pest unsrer Zeit und der Fluch der sozialistischen Bewegung ist. Jetzt soll noch deutlicher gesagt werden, daß es so ist, warum es so ist, warum der Sozialismus nur in Todfeindschaft gegen den Marxismus erstehen kann.
Denn der Marxismus ist vor allem der Philister. Der Philister, der geringschätzig auf alles Vergangene blickt, der das die Gegenwart oder den Anfang der Zukunft nennt, wo er sich zu Hause fühlt, der an den Fortschritt glaubt, dem 1908 besser gefällt als 1907, der von jedem 1909 etwas ganz besonderes, von so etwas fernem wie 1920 aber schon beinahe ein Wunder und ein Endgültiges erwartet.
Der Marxismus ist der Philister und darum der Freund des Massenhaften und des Breiten. So etwas wie eine Städterepublik des Mittelalters oder eine Dorfmark oder ein russischer Mir oder eine Schweizer Allmend oder eine kommunistische Kolonie kann für ihn nie die geringste Ähnlichkeit mit Sozialismus haben; aber ein breiter, zentralisierter Staat sieht seinem Zukunftsstaat schon einigermaßen ähnlich.
Zeigt man ihm ein Land in einer Zeit, wo die kleinen Bauern gedeihen, wo ein kunstreiches Handwerk blüht, wo es wenig Elend gibt, so rümpft er verächtlich die Nase; und keinen schlimmeren Schimpf glaubten Karl Marx und seine Nachfahren dem größten aller Sozialisten, Proudhon, antun zu können, als daß sie ihn einen kleinbürgerlichen und kleinbäuerlichen Sozialisten nannten, was gar keine falsche Beurteilung und ganz gewiß kein Schimpf war, da eben Proudhon den Menschen seines Volkes und seiner Zeit, vorwiegend kleinen Bauern und Handwerkern, prachtvoll gezeigt hat, wie sie sofort, ohne erst den saubern Fortschritt des Großkapitalismus abzuwarten, zum Sozialismus hätten kommen können.
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Das können nun die Entwicklungsgläubigen gar nicht hören, daß man von einer Möglichkeit spricht, die einmal da war und doch nicht Wirklichkeit geworden ist; und die Marxisten und die von ihnen Angesteckten können es darum so gar nicht hören, daß man von einem Sozialismus spricht, der vor der weiteren Abwärtsbewegung, die sie die Aufwärtsbewegung des gesegneten Kapitalismus nennen, hätte möglich sein können.
Wir aber trennen nicht eine fabelhafte Entwicklung und gesellschaftliche Prozesse von dem, was Menschen wollen, tun, hätten wollen können und hätten tun können. Wir wissen, daß die Determination und die Notwendigkeit alles Geschehens und also auch des Wollens und Tuns allerdings selbstverständlich gilt und ohne jede Ausnahme gilt: aber immer nur hintennach kann man feststellen, wenn eine Wirklichkeit da ist, daß sie also eine Notwendigkeit ist; wenn etwas nicht geschah, daß es also nicht möglich war, weil z.B. die Menschen, an die mit großem Fug appelliert wurde und denen mit großer Notwendigkeit Vernunft gepredigt worden ist, nicht wollten und nicht vernünftig sein konnten.
Aha! werden die Marxisten triumphierend sagen wollen, Karl Marx hat aber vorausgesagt, daß dazu keine Möglichkeit war. Jawohl, antworten wir, und hat damit ein sicheres Teil der Schuld auf sich genommen, daß es nicht dazu gekommen ist, ist für damals und noch viel mehr für später einer der Hinderer und der Schuldigen gewesen. Denn für uns besteht die Menschengeschichte nicht aus anonymen Prozessen und nicht bloß aus der Häufung vieler kleiner Massengeschehnisse und Massenunterlassungen; für uns sind die Träger der Geschichte Personen, und für uns gibt es auch Schuldige.
Glaubt man denn, Proudhon habe nicht wie jeder Prophet, wie jeder Johannes, stärker als irgendeiner von den kalten Wissenschaftszuschauern oft in großen Stunden das Gefühl der Unmöglichkeit gehabt, diese seine Menschen zu dem zu führen, was er als schönste und natürlichste Möglichkeit vor sich sah? Der kennt die Apostel und Führer der Menschheit schlecht, der meint, der Glaube an die Erfüllung gehöre zu ihrem großen Tun, zu ihrem visionären Gebaren und drängenden Gestalten. Der Glaube an ihre heilige Wahrheit gehört dazu, und die Verzweiflung an den Menschen und das Gefühl der Unmöglichkeit! Wo über die Menschheit Großes und Überwältigendes, Umschwung und Neuerung gekommen ist, da ist es das Unmögliche und Unglaubliche, das ist eben das Selbstverständliche, gewesen, was die Wendung gebracht hat.
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Aber der Marxismus ist der Philister, und darum verweist er immer voller Hohn und Triumph auf Fehlschläge und vergebliche Versuche und hat solche kindische Angst vor den Niederlagen. Gegen nichts trägt er mehr Verachtung zur Schau, als gegen das, was er Experimente oder gescheiterte Gründungen nennt. Schande und ein Zeichen schmählichen Niederganges, insbesondere des deutschen Volkes, dem solche Angst vor dem Idealismus, der Schwärmerei und dem Heroismus so besonders schlecht ansteht, daß solche Jämmerlinge seinen Geknechteten Führer sein sollen. Aber die Marxisten sind für die armen Massen genau dasselbe, was die Nationalrenommisten seit 1870 für die satten Volksschichten sind: Erfolganbeter. Wir kommen hier hinter einen andern, einen zutreffenderen Sinn der Bezeichnung "materialistische Geschichtsauffassung".
Jawohl, Materialisten im gewöhnlichen, im groben, im populären Sinne des Wortes sind die Marxisten, und waren genau wie die Nationaltröpfe bemüht, den Idealismus herunterzubringen und auszumerzen. Was der Nationalbourgeois aus dem deutschen Studenten gemacht hat, haben die Marxisten aus weiten Schichten des Proletariats gemacht: feigherzige Leutchen ohne Jugend, ohne Wildheit, ohne Wagemut, ohne Lust am Versuchen, ohne Sektierertum, ohne Ketzerei, ohne Originalität und Absonderung. All das aber brauchen wir, wir brauchen Versuche, wir brauchen den Zug der Tausend nach Sizilien, wir brauchen diese wunderköstlichen Garibaldinaturen, und wir brauchen Fehlschläge über Fehlschläge und die zähe Natur, die sich nicht, die sich durch nichts abschrecken läßt, die festhält und aushält und immer noch einmal ansetzt, bis es gelingt, bis wir durch sind, bis wir unüberwindlich sind. Wer die Gefahr der Niederlage, der Vereinsamung, des Rückschlags nicht auf sich nimmt, wird nie zum Siege kommen.
O ihr Marxisten, ich weiß, wie übel euch das alles in den Ohren klingt, die ihr nichts mehr fürchtet, als was ihr Nackenschläge nennt; das Wort gehört zu eurem besonderen Sprachschatz und vielleicht mit einigem Recht, da ihr dem Feind mehr den Nacken zeigt als die Stirn. Ich weiß, wie tief verhaßt, wie widerwärtig und all eurem trockenen Stubenwesen unangenehm solche Feuernaturen wie Proudhon auf dem Gebiete des Bauens, Bakunin oder Garibaldi auf dem Gebiete der Destruktion und des Kampfes euch sind, wie alles Romanische, alles Keltische, alles, was nach freier Luft und Wildheit und Initiative aussieht, euch geradezu peinlich ist.
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Ihr habt euch genug damit geplagt, alle Freiheit, alles Persönliche, alle Jugend, alles, was ihr Dummheiten nennt, aus der Partei, aus der Bewegung, aus den Massen herauszubringen. Wahrlich, es stünde besser um den Sozialismus und unser Volk, wenn wir statt der systematischen Dummheit, die ihr eure Wissenschaft nennt, die feuerköpfigen Dummheiten der Hitzigen und Brausenden und Überschäumenden hätten, die ihr nicht ausstehen könnt. Jawohl, wir wollen machen, was ihr Experimente nennt, wir wollen versuchen, wir wollen aus dem Herzen heraus schaffen und tun, und wir wollen denn, wenn's sein muß, so lange Schiffbruch leiden und Niederlagen auf uns nehmen, bis wir den Sieg haben und Land sehen.
Aschenhafte, Schlafmützige, Philister sind über dir, Volk; wo sind die Kolumbusnaturen, die lieber auf gebrechlichem Schiff und aufs Ungewisse hin aufs hohe Meer gehen als auf die Entwicklung zu warten? Wo sind die Jungen, die Munteren, Sieghaften, Roten, die über diese Grauen zu lachen beginnen? Nicht gerne hören die Marxisten solche Worte, solche Anfälle, die sie Rückfälle nennen, solche Schwärmereien und Unwissenschaftlichkeiten, ich weiß es, und gerade darum tut es mir so sehr wohl, daß ich ihnen auch das noch gesagt habe. Gut und stichhaltig sind die Gründe, die ich gegen sie brauche, aber wenn ich sie, statt sie mit Gründen zu widerlegen, mit Hohn und Lachen tot ärgern täte, wäre es mir auch recht.
Der Philister Marxist also ist viel zu klug, viel zu besonnen, viel zu vorsichtig, als daß er je hätte auf den Einfall kommen können, wenn der Kapitalismus schon im vollen Hereinbrechen ist, wie es zur Zeit der Februarrevolution in Frankreich der Fall war, den Versuch zu machen, ihm durch sozialistische Organisation entgegenzutreten, ebenso wie er die Formen lebendiger Gemeinschaft aus dem Mittelalter, die man in Deutschland, Frankreich, der Schweiz, in Rußland vor allen durch Jahrhunderte des Niedergangs hindurch gerettet hat, lieber umbringen und im Kapitalismus ersäufen möchte als anerkennen, daß in ihnen die Keime und Lebenskristalle auch der kommenden sozialistischen Kultur stecken; aber zeigt man ihm die wirtschaftlichen Zustände etwa Englands aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, mit seinem wüsten Fabriksystem, mit der Verödung des Landes, mit der Uniformierung der Massen und des Elends, mit dem Wirtschaften für den Weltmarkt statt für wirkliche Bedürfnisse, so findet er darin gesellschaftliche Produktion, Kooperation, Anfänge des Gemeinbesitzes: er fühlt sich wohl.
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Der echte Marxist, wenn er noch nicht schwankend geworden ist und Konzessionen zu machen begonnen hat (heutzutage machen diese Zusammenbrechenden freilich schon längst alle Konzessionen), will gar nichts wissen von bäuerlichen Genossenschaften, von Kreditgenossenschaften, von Arbeitergenossenschaften, selbst wenn sie ins Großartige gewachsen sind: ganz anders imponieren ihm kapitalistische Warenhäuser, in denen soviel Organisationsgeist für Unproduktives, für Raub und Usurpation, für den Verkauf von Tand und Schund aufgewendet ist.
Aber hat sich denn je ein Marxist um diese große, entscheidende Frage gekümmert: was für den Weltmarkt produziert, was an die Konsumenten verschlissen wird? Immer haftet ihr Blick nur an den äußeren, unwesentlichen, oberflächlichen Formen der kapitalistischen Produktion, die sie gesellschaftliche Produktion nennen, von denen jetzt noch die Rede sein muß.
Der Marxismus ist der Philister, und der Philister kennt nichts Wichtigeres, nichts Großartigeres, nichts, was ihm heiliger ist als die Technik und ihre Fortschritte. Stelle einen Philister vor Jesus, der in seinem Reichtum, in der Ausgiebigkeit seiner unerschöpflichen Gestalt nebst dem, was er überdies für den Geist und das Leben bedeutet, auch ein gewaltiger Sozialist ist, stelle einen Philister vor den lebendigen Jesus am Kreuz und vor eine neue Maschine zur Fortbewegung von Menschen oder Sachen: er wird, wenn er ehrlich und kein Bildungsheuchler ist, das gekreuzigte Menschenkind eine total unnütze und überflüssige Erscheinung finden und hinter der Maschine herlaufen.
Und doch! wie viel mehr wahrhaft bewegt hat diese stille, ruhende, leidende Größe des Herzens und des Geistes als alle Bewegungsmaschinerien dieser Zeiten.
Und doch! wo wären denn alle Bewegungsmaschinerien unserer Zeiten ohne diesen Stillen, Ruhenden, Leidenden, Großen am Kreuz der Menschheit.
Auch das sollte hier gesagt sein; obwohl es nur die leicht verstehen werden, die es schon vorher gewußt haben.
Hier nun, wo wir die grenzenlose Verehrung des Gevatters Fortschrittlers vor der Technik sehen, lernen wir die Herkunft dieses Marxismus kennen. Der Vater des Marxismus ist nicht das Geschichtsstudium, ist auch nicht Hegel, ist weder Smith noch Ricardo, noch einer der Sozialisten vor Marx, ist auch kein revolutionär-demokratischer Zeitzustand, ist noch weniger der Wille und das Verlangen nach Kultur und Schönheit unter den Menschen. Der Vater des Marxismus ist der Dampf.
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Alte Weiber prophezeien aus dem Kaffeesatz. Karl Marx prophezeite aus dem Dampf. Was Marx nämlich für Sozialismusähnlichkeit hielt, für die unmittelbar vorbereitende Stufe vor dem Sozialismus, war nichts als die Organisation des Produktionsbetriebs, die die technischen Erfordernisse der Dampfmaschine innerhalb des Kapitalismus herbeiführten.
Da begegneten sich nun also zwei ganz verschiedene Formen der Zentralisation: die wirtschaftliche Zentralisation des Kapitalismus: der Reiche, der möglichst viel Geld, möglichst viel Arbeit zu sich als Zentrum heranleitet; und die technische Zentralisation des Betriebs: die Dampfmaschine, die die Arbeitsmaschinen und die arbeitenden Menschen bei sich, dem Kraftzentrum, in der Nähe haben muß und darum die großen Fabrikbetriebe und die raffinierte Arbeitsteilung geschaffen hat. Die wirtschaftliche Zentralisation des Kapitalismus braucht an sich — vereinzelte Fälle ausgenommen — gar keine Zentralisation des technischen Betriebs; überall, wo die menschliche Arbeitskraft oder die einfachen, mit Hand oder Fuß betriebenen Maschinen billiger sind als die Benutzung der Dampfmaschine, zieht der Kapitalist die weit im Land, auf Dörfern und Gehöften verstreute Heimindustrie der Fabrik vor. Die technischen Notwendigkeiten der Dampfmaschine also waren es, die die großen Fabrikkasernen und die Großstädte voller Fabrikkasernen und Mietskasernen erzeugt haben.
Diese beiden zunächst getrennten und durchaus verschiedenen Zentralisationsformen haben sich dann natürlich vereinigt und haben gegenseitig die stärksten Einflüsse aufeinander ausgeübt: der Kapitalismus hat durch die Dampfmaschine ungeheuer schnelle Fortschritte gemacht; und anderseits hindert der Kapitalismus — der nun einmal seine technisch zentralisierenden Einrichtungen und Gewohnheiten hat, der vor allem die Arbeiter aus dem platten Land weggezogen hat und mehr und mehr vollends wegzieht — er hindert die elektrische Übertragung der Dampf- und Wasserkraft, die ihrer Natur nach dezentralisierend wirken müßte, diese Wirkung in dem Maße auszuüben, wie es sonst der Fall sein müßte; obwohl nicht zu leugnen ist, daß diese elektrische Kraftübertragung sowohl kapitalistische Ausbeutung kleiner, voneinander getrennter Werkstätten hervorgerufen hat,
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wie z.B. in der Klingenindustrie Solingens, wie auch die Kiemindustrie und das Handwerk jetzt schon erfreulich gestärkt hat und in Zukunft noch mehr stärken und neu erwecken wird; hier ist für den genossenschaftlichen Bezug von Kraft und Motoren noch ein weites Feld.
Diese Vereinigung von technischer und Kapitalzentralisation hat dann weitere kapitalistische Zentralisationen im Gefolge gehabt oder sehr gestärkt: Zentralisationen des Handels, des Bankwesens, der Engros- und Detailgeschäfte, der Transporteinrichtungen usw.
Und noch eine dritte Zentralisation ist, im großen und ganzen unabhängig von den beiden ändern, in unsern Zeiten gediehen: die Zentralisation des Staats, des Bürokratismus, des Heereswesens. Und so sind neben die Fabrikkasernen und die Mietskasernen noch weitere Kasernen in die Großstädte gezogen: die Kasernen der Bürokraten, wo in jedem dieser öffentlichen Häuser hundert kleine Kammern, und in jeder öden Kammer ein, zwei oder drei grüne Tische, und hinter jedem grünen Tisch ein, zwei oder drei gähnende Subalternbeamte mit der Feder hinter dem Ohr und dem Frühstücksbrot in der Hand sitzen; und die Kasernen der Soldaten, wo tausende kräftige Jünglinge sich nutzlosem Sport — Sport dürfte nur die Erholung nach nützlicher Arbeit sein — und damit der Langenweile und allerlei geschlechtlichen Dummheiten und Unsauberkeiten ergeben müssen.
Und, bei so viel Unkultur, Menschenzusammenhäufung, Entfernung von der Erde und der Kultur, bei so viel Arbeitsvergeudung, Überlastung mit unproduktiver Arbeit und Faulenzerei, bei so viel Sinnlosigkeit und Elend, die all diese Formen des Zentralismus mit sich bringen, werden natürlich die weiteren Kasernen unserer Zeit immer zahlreicher und umfangreicher: die Arbeitshäuser, die Gefängnisse und Zuchthäuser und die Geschlechtshäuser, in denen die Prostituierten kaserniert sind.
Es ist wahr und den Marxisten, wenn sie sich gegen die Behauptung wehren, ihre Lehre sei lediglich ein Produkt der technischen Betriebszentralisation, zuzugeben: all diese Formen des öden, verhäßlichenden, uniformierenden, einengenden und unterdrückenden Zentralismus sind für den Marxismus bis zu gewissem Grade vorbildlich gewesen, haben auf seine Entstehung, Weiterbildung und Ausbreitung Einfluß gehabt.
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Nicht umsonst wehrt man sich bei Engländern, romanischen Völkern, Schweizern und Süddeutschen mehr und mehr gegen den Marxismus als gegen eine Sache, die verzweifelte Ähnlichkeit mit dem militärischen und bürokratischen Wesen hat; nicht umsonst findet man echte, rechte Marxisten heutzutage fast nur noch in den Ländern des Feldwebels, Subalternbeamten und des Tschinownik: in Preußen und Rußland.
Nicht umsonst verspürt man die Disziplin und die davon untrennbare Grobheit und Befehlshaberei nirgends so sehr, hört man auch das Wort "Disziplin" nirgends so oft, wie in der preußischen Armee und in der deutschpreußischen Sozialdemokratie. Aber trotzdem: keine dieser Zentralisationen ist so beschaffen, daß ihr eine Spottgeburt folgen konnte, die man wahrhaft und wirklich Sozialismus zu nennen wagt, außer der technischen Zentralisation des Dampfes.
Niemals wird der Sozialismus aus dem Kapitalismus "erblühen", wie der Undichter Marx so lyrisch gesungen hat. Aber seine Lehre und seine Partei, der Marxismus und die Sozialdemokratie sind aus der Dampfkraft erwachsen.
Siehe da, wie die Arbeiter und Handwerker und die Bauernsöhne und Töchter vom Lande wegziehen, wie für sie Armeen von Gelegenheits- und von Erntearbeitern kommen! Siehe da, wie morgens Tausende und aber Tausende in die Fabriken einziehen und abends wieder ausgespieen werden!
"Gleicher Arbeitszwang für alle, Errichtung industrieller Armeen, besonders für den Ackerbau", haben Marx und Engels schon in ihrem Kommunistischen Manifest gesagt; aber nicht als Beschreibung und Vorahnung der kommenden Herrlichkeiten des Kapitalismus, sondern als eine der Maßnahmen, die sie "für die fortgeschrittensten Länder" zum Beginn ihres Sozialismus vorschlugen. Es ist wahr: Diese Sorte Sozialismus erwächst aus der ungestörten Weiterentwicklung des Kapitalismus!
Nimmt man dazu noch die kapitalistische Konzentration, die so aussah, als ob die Zahl der kapitalistischen Personen und der Vermögen immer geringer würde, nimmt man ferner dazu das Vorbild der Staatsallmacht im zentralisierten Staat unsrer Zeiten, nimmt man schließlich noch dazu die immer weiter gehende Vervollkommnung der Werkzeugmaschinen, die immer mehr vorschreitende Arbeitsteilung, die Ersetzung der gelernten Handwerkerarbeiter durch beliebige Handlanger der Maschine — das alles aber durchaus übertrieben und karikiert gesehen; denn es hat alles noch eine andere Seite und ist nie eine schematisch auf einer Linie gehende Entwicklung, sondern ein Kampf und Ausgleich verschiedener Tendenzen; es wird aber alles bis zum Grotesken simplifiziert und karikiert, was der Marxismus ansieht —; nimmt man schließlich noch dazu die Aussicht, daß die Menschenarbeit immer kürzer, die Maschinenarbeit immer produktiver werden kann: dann ist der Zukunftsstaat fertig.
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Der Zukunftsstaat der Marxisten: die Blüte am Baum der staatlichen, der kapitalistischen, der technischen Zentralisation.
Noch ist hinzuzufügen, daß der Marxist, wenn er besonders kühn sein Stroh träumt — denn nie ist leerer, trockener geträumt worden, und wenn es je phantasielose Phantasten gegeben hat, so sind es die Marxisten — daß er dann seinen Zentralismus und seine Wirtschaftsbürokratie über die heutigen Staaten hinaus ausdehnt und von einer Weltbehörde für die Anordnung und Befehligung der Produktion und Verteilung der Güter spricht. Das ist der Internationalismus des Marxismus. Wie früher in der Internationale alles vom Londoner Generalrat, wie heute in der Sozialdemokratie alles von Berlin aus geregelt und bestimmt werden soll, so wird diese Weltproduktionsbehörde einmal in jedes Töpfchen gucken und das Quantum Schmieröl für jede Maschine in ihrem Hauptbuch stehn haben.
Und nun noch eine Haut herunter; dann sind wir fertig mit unsrer Beschreibung des Marxismus.
So also erblühen die Organisationsformen dessen, was diese Leute Sozialismus nennen, schon ganz und gar im Kapitalismus. Nur daß diese Organisationen, diese mehr und mehr — mit Dampf — riesenhaft werdenden Betriebe noch in den Händen von Einzelunternehmern, von Ausbeutern, sind. Wir haben zwar schon gesehen, daß diese durch die Konkurrenz immer weniger werden sollen. Man muß sich das anschaulich machen, wie es gemeint ist: erst Hunderttausende — dann ein paar Tausend — dann ein paar Hundert — dann etliche Siebzig oder Fünfzig — dann ein paar ganz monströse Riesenunternehmer.
Und denen gegenüber stehen die Arbeiter, die Proletarier. Ihrer werden immer mehr und mehr, die Mittelschichten verschwinden, und mit der Zahl der Arbeiter wächst die Zahl und die Intensivkraft der Maschinen, so daß nicht bloß die Zahl der Arbeiter, sondern auch die Zahl der Arbeitslosen, der sogenannten industriellen Reservearmee zunimmt. Es geht also nach dieser Schilderung nicht länger mit dem Kapitalismus, und überdies wird der Kampf gegen ihn, d.h. gegen die paar übriggebliebenen Kapitalisten, für die unter ihrer Botmäßigkeit stehenden unzähligen Massen der Enterbten und also an der Änderung Interessierten immer leichter.
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Denn auch das müssen wir noch von der Lehre des Marxismus ins Auge fassen: in ihm ist alles, wie wohl der Ausdruck heißt, der aus einem ändern Gebiet hergeholt und falsch angewandt wird, immanent. Das soll hier heißen: es bedarf gar keiner besonderen Anstrengungen oder ideeller Einsichten, es läuft alles von selbst am Schnürchen des Gesellschaftsprozesses. Immanent sind die sogenannten sozialistischen Organisationsformen schon im Kapitalismus drin; immanent ist auch in den Proletariern die Interesselosigkeit gegenüber den bestehenden Zuständen, das soll heißen: die Tendenz zum Sozialismus, die revolutionäre Gesinnung ist ein integrierender Bestandteil des Proletariers. Die Proletarier haben nichts zu verlieren; sie haben eine Welt zu gewinnen!
Wie schön, wie wirklich dichterisch ist dieses Wort (das weder von Marx noch von Engels stammt) und wieviel Wahres — sollte darin sein.
Und doch ist wahrer als die Behauptung, daß der Proletarier der geborene Revolutionär sei, jene andere, die hier gesagt wird: daß der Proletarier der geborene Philister ist. Der Marxist spricht so überaus verächtlich vom Kleinbürger; aber alles, was man von Charakterzügen und Lebensgewohnheiten kleinbürgerlich nennen kann, gehört zu den Eigenschaften des Durchschnittsproletariers, wie man denn sogar in Gefängnissen und Zuchthäusern leider die meisten Zellen von Philistern besetzt findet.
Mit diesem leider, das mir hier entschlüpft ist, bedaure ich natürlich keineswegs, daß die Nichtphilister in Freiheit sind; aber es ist doch wohl betrüblich, daß armen Tröpfen, Opfern der Verhältnisse, die die gesetzlich festgestellte Konvention so brechen mußten, wie alles, was in der Welt geschieht, geschehen muß, diese Notwendigkeit nicht wenigstens dadurch auferlegt ist, daß diese Konvention in ihrem Innern nicht lebte, sondern durch Frevelgesinnung ersetzt wäre. Die Konvention, die sie in die Lage kamen zu brechen, lebt aber vielmehr in ihrem Gemüt, ihren Meinungen, in der Art, wie sie über ihre Leidensgenossen und manchmal sogar über sich selbst den Stab brechen, fast immer genau so fest, wie in den meisten übrigen Menschen.
Wovon wir hier sprechen, die Philisterhaftigkeit des Proletariers, ist übrigens einer der Gründe, warum der Marxismus, dieser ins System gebrachte Philistersinn, beim Proletariat so viel Anklang gefunden hat. Es gehört nur eine ganz oberflächliche Überpinselung der Zunge mit Bildung dazu, die jetzt am schnellsten und billigsten in den Polikliniken, die man Parteischulen nennt, vorgenommen wird, um aus einem Durchschnittsproletarier ohne jede Ausnahmequalitäten einen brauchbaren Parteiführer zu machen.
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Diese und die andern Parteiführer also halten es ganz natürlicherweise mit der marxistischen Doktrin, wonach das Proletariat von gesellschaftlicher Notwendigkeit wegen revolutioniert werde, wenigstens das kleine bißchen, das noch notwendig ist, um den Kapitalismus, der ja aus immer weniger Personen besteht und in sich selbst immer morscher wird, zu überwinden. Denn zu dem schon Angeführten kommt noch etwas dazu, um den Kapitalismus zum Zusammenbruch zu zwingen, noch etwas ist ihm immanent: die Krisen.
Wie das Programm der deutschen Sozialdemokratie so schön und so echt marxistisch sagt (sonst freilich ist da schon das und jenes Unechte hineingekommen, was die Macher dieses Programms an ihren Gegnern heutzutage revisionistisch nennen): Die Produktivkräfte wachsen der heutigen Gesellschaft über den Kopf.
Darin steckt die echt marxistische Lehre, daß in der heutigen Gesellschaft die Produktionsformen schon mehr und mehr sozialistische geworden sind, und daß diesen Formen nur auch die richtige Eigentumsform: das Staatseigentum nämlich, fehlt; sie nennen es zwar das gesellschaftliche Eigentum; aber wenn sie das Fabriksystem des Kapitalismus eine gesellschaftliche Produktion nennen (nicht nur Marx im "Kapital" tut das, auch die heutigen Sozialdemokraten in ihrem heute geltenden Programm nennen die Arbeit in den Formen des heutigen Kapitalismus gesellschaftliche Arbeit), wissen wir, was es mit ihrem gesellschaftlichen Eigentum auf sich hat; wie sie die Produktionsformen der Dampftechnik im Kapitalismus für sozialistische Arbeitsformen halten, so halten sie den Zentralstaat für die sozialistische Organisation der Gesellschaft und das bürokratisch verwaltete Staatseigentum für Gemeinschaftseigentum!
Diese Leute haben ja doch keinen Instinkt für das, was Gesellschaft heißt. Sie ahnen nicht im entferntesten, daß Gesellschaft nur eine Gesellschaft von Gesellschaften, nur ein Bund, nur Freiheit sein kann. Sie wissen darum nicht, daß Sozialismus Anarchie ist und Föderation. Sie glauben, Sozialismus sei Staat, während die Kulturdurstigen den Sozialismus schaffen wollen, weil sie aus der Zerfallenheit und dem Elend, dem Kapitalismus und der dazu gehörigen Armut, aus der Geistlosigkeit und der Gewalt, die nur die Kehrseite des wirtschaftlichen Individualismus ist, also eben aus dem Staat heraus wollen zur Gesellschaft der Gesellschaften und der Freiwilligkeit.
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Weil also, sagen diese Marxisten, der Sozialismus noch sozusagen im Privatbesitz der Unternehmer ist, die wild drauflos produzieren, da sie ja im Besitz schon der sozialistischen Produktivkräfte sind (lies: der Dampfkraft, der vervollkommneten Werkzeugmaschinen und der in überflüssiger Zahl sich anbietenden Proletariermassen), weil es also so ist, wie ein Hexenbesen in der Hand des Zauberlehrlings, muß es zur Überschwemmung mit Waren, zur Überproduktion, zum Durcheinander, kurz: zu den Krisen kommen, die, wie sie auch im einzelnen erklärt werden, doch jedenfalls nach der Meinung der Marxisten daher kommen, daß zu der gesellschaftlichen Produktionsweise, wie sie ihrer ruchlos dummen Ansicht nach schon da ist, die Regulative der statistisch kontrollierenden und dirigierenden Weltstaatsbehörde notwendig ist. Solange die fehlt, ist der "Sozialismus" nicht vollkommen, muß alles drunter und drüber gehen.
Die Organisationsformen des Kapitalismus sind gut; aber es fehlt die Ordnung, das Regiment, die straffe Zentralisation. Kapitalismus und Staat müssen zusammenkommen, dann ist — nun, wir würden sagen, dann ist der Staatskapitalismus da; jene Marxisten meinen: dann sei der Sozialismus da. Wie sie aber in diesem ihrem Sozialismus alle Formen des Kapitalismus und der Reglementierung wiederfinden, und wie sie die Tendenz zur Uniformierung und Nivellierung, die heute da ist, zur letzten Vollkommenheit fortschreiten lassen, so ist auch der Proletarier in ihren Sozialismus mit hinübergegangen: aus dem Proletarier des kapitalistischen Betriebs ist der Staatsproletarier geworden, und die Proletarisierung ist, wenn dieser ihr Sozialismus anfängt, wirklich, wie vorausgesagt: ins Riesenhafte gediehen: alle Menschen ohne Ausnahme sind kleine Wirtschaftsbeamte des Staates.
Kapitalismus und Staat müssen zusammenkommen — das ist in Wahrheit das Ideal des Marxismus; und wenn sie schon vom Ideal nichts hören wollen, so sagen wir: das ist die Entwicklungstendenz, die sie entdeckt haben, die sie unterstützen wollen. Sie sehen nicht, daß die ungeheure Gewalt und Bürokraten-Ödigkeit des Staates nur nötig ist, weil unserm Mitleben der Geist verlorengegangen ist, weil die Gerechtigkeit und die Liebe, die wirtschaftlichen Bünde und die sprossende Mannigfaltigkeit kleiner gesellschaftlicher Organismen verschwunden sind.
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Von all dem tiefen Verfall dieser unserer Zeiten sehen sie nichts; sie halluzinieren Fortschritt: die Technik schreitet fort; die tut es natürlich in der Tat; tut es in manchen Zeiten der Kultur, nicht immer, es gibt auch Kulturen ohne technischen Fortschritt, und tut es insbesondere in Zeiten des Verfalls, der Individualisierung des Geistes und der Atomisierung der Massen; und darum eben sagen wir: der wirkliche Fortschritt der Technik zusammen mit der wirklichen Niedertracht der Zeit ist — um für Marxisten einmal marxistisch zu sprechen — die tatsächliche, materiale Grundlage für den ideologischen Überbau, nämlich für die Utopie des Entwicklungssozialismus der Marxisten.
Weil aber nicht nur die fortschreitende Technik in ihrem Geistchen sich abspiegelt, sondern ebenso auch die übrigen Tendenzen der Zeit, darum ist ihnen auch der Kapitalismus Fortschritt, ist ihnen auch der Zentralstaat Fortschritt. Es ist gar nicht bloße Ironie, daß wir hier die Sprache ihrer sogenannten materialistischen Geschichtsauffassung auf die Marxisten selbst anwenden. Sie haben ja doch diese Geschichtsbetrachtung irgendwoher genommen, und wir sind jetzt, wo wir sie kennen gelernt haben, imstande, noch deutlicher als zuvor zu sagen, wo sie sie gefunden haben: nämlich ganz und gar in sich selbst. Jawohl, was die Marxisten von dem Verhältnis der geistigen Gebilde und des Denkens zu den Zeitumständen sagen, gilt in der Tat für alle Zeitgenossen, worunter hier die zu verstehen sind, die nur das Kind und der Ausdruck ihrer Zeit sind, die nichts Schöpferisches, nichts Entgegenstemmendes, nichts Ureigenes und geisthaft Persönliches in sich haben.
Wir sind wieder beim Philister, wir sind beim Marxisten, und für ihn trifft völlig zu, daß seine Ideologie nur der Überbau der Niedertracht unsrer Zeit ist. In den Zeiten des Verfalls herrscht in der Tat der Ungeist, der der Ausdruck der Zeit ist. Und so herrschen heute noch die Marxisten. Und sie können nicht wissen, daß die Zeiten der Kultur und der Erfüllbarkeit sich nicht aus den Zeiten des Niedergangs — den sie Fortschritt nennen — entwickeln, sondern daß sie aus dem Geiste derer kommen, die ihrer Konstitution nach nie ihrer Zeit angehört haben. Sie können nicht wissen und nicht fassen, daß das, was Geschichte zu nennen ist, in den hohen Zeiten des Umschwungs nicht von den Philistern und Zeitgenossen und also nicht, was dasselbe heißt, von den gesellschaftlichen Prozessen besorgt wird, sondern von den Einsamen, Abgesonderten, die eben darum Abgesonderte sind, weil in ihnen Volk und Gemeinschaft wie zu Hause, wie zu ihnen und mit ihnen geflüchtet sind.
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Kein Zweifel, die Marxisten glauben, wenn die Vorderseite und die Kehrseite unsrer Erniedrigung, die Produktionszustände des Kapitalismus und der Staat auf einer und derselben Seite ständen und sich ineinander verwuchert hätten, dann wäre ihre Fortschrittsentwicklung am Ziel und es wäre damit die Gerechtigkeit und Gleichheit hergestellt; ist ja doch ihr umfassender Wirtschaftsstaat, gleichviel, ob er zunächst Erbe der bisherigen Staaten oder ob er ihr Weltstaat ist, ein republikanisch-demokratisches Gebilde, und glauben sie ja doch wirklich, die Anordnungen eines solchen Staates sorgten für das Heil all der kleinen Leute, die ja selbst den Staat ausmachten.
Nur daß man uns gestatten muß, über diese armseligste aller Philisterphantasien in unauslöschliches Gelächter auszubrechen. So ganz und gar das Ebenbild der Spießbürgerutopie kann in der Tat nur ein Produkt werden, das aus der ungestörten Retortenentwicklung des Kapitalismus hervorgegangen ist. Wir halten uns auch bei diesem vollendeten Ideal der Niedergangsperiode und der persönlichkeitsleeren Unkultur, bei diesem Homunkulusstaat nicht weiter auf; wir werden ja sehen, daß die wahre Kultur nichts Leeres, sondern Erfülltes ist; daß die wahre Gesellschaft eine Mannigfaltigkeit wirklicher, aus den verbindenden Eigenschaften der Individuen, aus dem Geiste erwachsener kleiner Zusammengehörigkeiten, ein Bau aus Gemeinden und eine Einung ist. Dieser "Sozialismus" der Marxisten ist ein Riesenkropf, der sich entwickeln soll; fürchten wir nichts, wir sehen jetzt bald, der wird sich nicht entwickeln.
Unser Sozialismus aber soll in den Herzen erwachsen; will die Herzen der Zusammengehörigen zusammen und in den Geist hinauf wachsen lassen. Die Alternative ist nicht: Homunkulus-Sozialismus oder Sozialismus des Geistes; denn wir sehen bald: wenn die Massen dem Marxismus oder auch den Revisionisten folgen, dann bleibt es beim Kapitalismus, der ganz und gar keine Tendenz hat, weder in den "Sozialismus" der Marxisten umzuschlagen, noch in den manchmal nur noch mit schüchterner Stimme auch so genannten Sozialismus der Revisionisten sich zu entwickeln. Der Niedergang, in unserm Fall der Kapitalismus, hat in unsern Zeiten genauso viel Lebenskräfte, wie in andern Zeiten die Kultur und der Aufschwung. Niedergang heißt durchaus nicht Hinfälligkeit und Neigung zum Hinschlagen oder Umschlagen. Der Niedergang, die Epoche der Gesunkenheit, der Volklosigkeit, der Geistlosigkeit kann Jahrhunderte und Jahrtausende währen.
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Der Niedergang, in unserem Fall der Kapitalismus, hat in unsern Zeiten genauso viel Lebenskräfte, wie sie in unsrer Zeit die Kultur und der Aufschwung nicht hat. Hat genauso viel Kraft und Energie, wie wir's an Kraft und Energie für den Sozialismus fehlen lassen. Nicht: eine Form des Sozialismus oder die andere heißt die Wahl, vor der wir stehen, sondern einfach: Kapitalismus oder Sozialismus; Staat oder Gesellschaft; Ungeist oder Geist. Die Lehre des Marxismus führt aus dem Kapitalismus nicht heraus. Und auch die Lehre des Marxismus ist falsch, daß der Kapitalismus imstande wäre, weiland Münchhausen zu übertrumpfen, der sich nur am eignen Zopf aus fremdem Sumpfe ziehen konnte, während sich nach dieser Prophezeiung der Kapitalismus an Hand der eignen Entwicklung aus dem eignen Sumpfe herauswickeln soll.
Das haben wir im weiteren noch näher zu zeigen, daß diese Lehre falsch ist. Daß dem Kapitalismus nicht die Tendenz immanent ist, sich zu irgendeinem Sozialismus zu entwickeln — nennen wir doch, um nur von dem Mißgebilde loszukommen, auch das, was die Marxisten mit einem häßlichen Wort für eine häßliche Sache ihr Endziel heißen, einmal Sozialismus. Weder zu diesem noch zu irgendeinem Sozialismus entwickelt sich der Kapitalismus. Um das zu zeigen, müssen wir Fragen beantworten.
Fragen wir also: ist es denn wahr, daß die Gesellschaft so aussieht, wie sie den Marxisten hinstellen? daß es mit ihr so weitergeht? weitergehen muß? oder auch nur wahrscheinlich so geht? Ist es denn wahr, daß die Kapitalisten sich gegenseitig auffressen, wie die dreißig Enten im Entenstall, wo man erst neunundzwanzig Enten eine zerkleinerte Ente zu fressen gab, und am nächsten Tag fraßen achtundzwanzig Enten wieder eine Kameradin, und so sollte es nach diesem seltsamen Bericht, der wie eine echte Entwicklungslehre so durchaus glaublich beginnt und, obwohl es scheinbar immer in gleicher Weise und immer hübsch allmählich weitergeht, doch so ins Unglaubliche und Wunderbare führt, immer fortgesetzt werden, bis endlich eine einzige wohlgemästete Riesenente die dreißig Enten in sich akkumuliert und konzentriert hatte?
Ist es denn wahr? oder sollte es nur eine — Ente sein? Ist es denn wahr, daß die Mittelschichten verschwinden, daß die Proletarisierung ohne Ausnahme mit Geschwindigkeit zunimmt und daß da ein Ende abzusehen ist? Daß die Arbeitslosigkeit immer schlimmer und schlimmer wird und daß dadurch die Entwicklung eine Unmöglichkeit des Weiterbestehens solcher Zustände kommt?
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Und eine geistige Einwirkung auf die Enterbten, so daß sie mit Naturnotwendigkeit aufstehen, sich erheben, revolutionieren müssen? Ist es denn schließlich wahr, daß die Krisen immer umfangreicher und verheerender werden? — daß die Produktivkräfte dem Kapitalismus über den Kopf wachsen müssen und also über ihn hinaus, zu sogenanntem Sozialismus wachsen müssen?
Ist das alles denn wahr? Wie steht es denn in Wahrheit mit diesem ganzen Komplex von Beobachtungen, Warnungen, Drohungen und Prophezeiungen?
Das sind die Fragen, die wir jetzt stellen müssen, die wir schon immer gestellt haben, wir Anarchisten nämlich, von Anfang an, solange es einen Marxismus gibt, denn schon länger als es Marxismus gibt, hat es wirklichen Sozialismus gegeben, hat es vor allem den Sozialismus des größten Sozialisten, des Pierre Joseph Proudhon, gegeben, der dann vom Marxismus überwuchert worden ist; wir aber bringen ihn wieder ans Licht.
Das sind unsre Fragen; und es sind auch die Fragen, die von der ganz andern Seite her — wir sehen noch, von woher — die Revisionisten stellen.
Erst wenn wir sie nun, die wir bei unsrer Beschreibung des Marxismus wohl schon hie und da gestreift haben, beantwortet haben, wenn wir das wirkliche Bild unsrer Zustände und den Gang, den der Kapitalismus bisher, vor allem seit dem Erscheinen des Kommunistischen Manifests und des "Kapital" genommen hat, der zeitideologischen Simplifikation und dialektischen Karikatur des Marxismus entgegengestellt haben, können wir weitergehen, können wir sagen, was unser Sozialismus und unser Weg zum Sozialismus ist. Denn Sozialismus — das sei gleich hier gesagt, die Marxisten sollen es hören, solange der Nebelschwaden ihres eigenen Fortschrittsphilisterdunstes noch in der Luft ist — hängt seiner Möglichkeit nach gar nicht von irgendeiner Form der Technik und der Bedürfnisbefriedigung ab. Sozialismus ist zu allen Zeiten möglich, wenn eine genügende Zahl Menschen ihn will.
Nur wird er je nach dem Stand der Technik und je nach der verfügbaren Technik, das heißt nach der Zahl Menschen, die ihn beginnen und immerhin auch nach den Mitteln, die sie mitbringen oder sich vom Erbe der Vergangenheit nehmen können — nichts fängt mit nichts an — immer anders aussehen, anders beginnen, anders weitergehen. Darum ist vorhin gesagt worden: es wird hier keine Schilderung eines Ideals, keine Beschreibung einer Utopie gegeben.*
Erst müssen wir noch deutlicher sehen, wie unsre Zustände und geistigen Verfassungen sind; dann erst können wir sagen, zu was für einem Sozialismus wir aufrufen, an was für Menschen wir uns wenden. Der Sozialismus, ihr Marxisten, ist zu allen Zeiten und bei jeder Technik möglich; und ist zu allen Zeiten und bei jeder Technik unmöglich.
Er ist zu allen Zeiten, auch bei recht primitiver Technik den rechten Menschen möglich; und er ist zu allen Zeiten, auch bei prachtvoll entwickelter Maschinentechnik, den unrechten Menschen unmöglich. Wir wissen von keiner Entwicklung, die ihn bringen muß; wir wissen von keinerlei solchen Notwendigkeit eines Naturgesetzes. Jetzt also werden wir zeigen, daß diese unsre Zeiten, daß unser bis zum Marxismus erblühter Kapitalismus keineswegs so aussehen, wie uns gesagt wird. Der Kapitalismus muß nicht in den Sozialismus umschlagen, er muß nicht untergehen, der Sozialismus muß nicht kommen; auch nicht der Kapital-Staats-Proletariats-Sozialismus der Marxisten muß kommen, und das ist kein Schade. Aber gar kein Sozialismus muß kommen — das soll jetzt gezeigt werden.
Aber der Sozialismus kann kommen und soll kommen — wenn wir ihn wollen, wenn wir ihn schaffen — das soll auch gezeigt werden.
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* (d-2007): Ich will dem Meister selbstverständlich nicht widersprechen, aber: Damit das Volk, die Masse, die Mehrheit sich ein klares Sozialismus-Zukunfts-Bild verschafft, muß mal irgendeiner damit anfangen, es zu malen, bzw. wenigstens sagen, welche Farben er benutzt.... und warum er diese benutzt — und keine anderen.