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Bruno Paul Louis Latour (* 22. Juni 1947 in Beaune; † 9. Oktober 2022[1] in Paris)[2] war ein französischer Soziologe und Philosoph. Seine Arbeitsschwerpunkte lagen in der Wissenschafts- und Techniksoziologie. Latour war einer der Begründer der Akteur-Netzwerk-Theorie.

Leben
Bruno Latour stammte aus einer Weinhändlerfamilie und studierte Philosophie, Anthropologie und Bibelexegese. Er wurde 1975 an der Universität Tours promoviert.

Während seines Militärdienstes in Afrika entwickelte er Interesse an den Sozialwissenschaften und verfasste eine ethnographische Studie der französischen Methoden der Industrieerziehung in Abidjan. 1979 veröffentlichte Latour zusammen mit dem britischen Soziologen Steve Woolgar Laboratory Life, das Ergebnis seiner Feldstudien im Labor des späteren Nobelpreisträgers Roger Guillemin. Dabei konnte Latour aufzeigen, welche Rollen rhetorische Strategien und technische Artefakte bei der „Konstruktion wissenschaftlicher Tatsachen“ spielen. Mit dem 1987 erschienenen Science in Action weitete Bruno Latour diese zunächst sozialkonstruktivistische Argumentation auf das Gebiet der Technik aus. Er entwickelte zusammen mit anderen Soziologen, vor allem Michel Callon und John Law, die Akteur-Netzwerk-Theorie, die über den Sozialkonstruktivismus hinausgeht. Anders als dieser unterstellt die Akteur-Netzwerk-Theorie nicht, dass Technik und Wirklichkeit sozial konstruiert sind. Vielmehr wird die Auffassung vertreten, dass Technik/Natur und das Soziale sich in einem Netzwerk wechselseitig Eigenschaften und Handlungspotentiale zuschreiben.[3] Latour entwickelte später auf Basis dieser Überlegungen mit Wir sind nie modern gewesen und Das Parlament der Dinge eine Kritik der „modernen“ Gesellschaft.

1982 wurde er Professor für Soziologie an der École Nationale Supérieure des Mines in Paris. 1987 erfolgte seine Habilitation an der École des Hautes Études en Sciences Sociales. In den Science Wars der 1990er Jahre wurde Latour unter anderem von Alan Sokal heftig kritisiert.[4][5] In Die Hoffnung der Pandora setzte sich Latour mit dieser Kritik auseinander.

Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit im engeren Sinne war er zusammen mit Peter Weibel Kurator der Ausstellungen Iconoclash (2002) und Making Things Public (2005), Reset Modernity! (2016) und Critical Zones (2020) am Karlsruher ZKM Zentrum für Kunst und Medien.

Auf der Suche nach einer „neuen Eloquenz“ der Wissenschaft experimentierte Latour auch mit theatralen Formen. Im Rahmen des Projekts Gaia Global Circus[6] schrieb Latour mit Chloé Latour und Frédérique Ait-Touatti Latour das Theaterstück Cosmocolosse. Unter dem Titel Kosmokoloss. Eine Tragikomödie über das Klima und den Erdball[7] sendete der Bayerische Rundfunk im Jahr 2013 eine deutsche Radioadaption des Stücks. 2016 folgte unter dem Titel Cosmocolosse[8] eine weitere Radioadaption auf Französisch durch France Culture.

Latour starb im Oktober 2022 im Alter von 75 Jahren an den Folgen einer Erkrankung mit Bauchspeicheldrüsenkrebs.[9]

Auszeichnungen
Bruno Latour wurde am 28. September 2008 in Frankfurt am Main mit dem Siegfried-Unseld-Preis ausgezeichnet, als „großer Erneuerer der Sozialwissenschaften“, der als „Grenzgänger zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, Theorie und Empirie, Moral und Politik die Mechanismen der modernen Wahrheitsproduktion und ihre Folgen untersucht“, wie die Jury begründete.[10] Außerdem wurde er in jenem Jahr in die American Academy of Arts and Sciences aufgenommen.[11] 2014 wurde er Mitglied der Académie royale des Sciences, des Lettres et des Beaux-Arts de Belgique.[12]

Am 8. Februar 2010 nahm Bruno Latour in der Ludwig-Maximilians-Universität den Kulturpreis der Münchener Universitätsgesellschaft entgegen. Die Jury begründete ihre Entscheidung damit, dass „Bruno Latour zu den einflussreichsten, intelligentesten und gleichzeitig populärsten Vertretern der Wissenschaftsforschung (Science Studies) gehört“.[13] Im gleichen Jahr wurde er mit dem Nam June Paik Art Center Award ausgezeichnet. Er wurde als Vordenker geehrt, der mit seinen Theorien die Bereiche Philosophie, Technowissenschaft, wissenschaftliche Visualisierung, Anthropologie und Politik verknüpfte und neue Wege des Denkens eröffnete.[14]

Für 2013 wurde Latour der mit 4,5 Millionen norwegischen Kronen (zum Verleihungszeitpunkt etwa 610.000 Euro) dotierte Holberg-Preis zugesprochen. Das Preiskomitee lobte seine „ambitionierte Analyse und Neuinterpretation der Moderne, betreffend fundamentale Kategorien wie die Unterscheidung zwischen modern und vor-modern, Natur und Gesellschaft, Mensch und Nicht-Mensch“.[15] Im Jahr 2015 hatte Latour die Albertus-Magnus-Professur der Universität zu Köln inne. 2018 wurde er in die British Academy gewählt. 2021 erhielt er den Kyoto-Preis.[16]

Forschung und Thesen
Erste Bekanntheit erlangte Bruno Latour durch die wissenschaftssoziologische Studie Laboratory Life: The Construction of Scientific Facts, die er 1979 zusammen mit Steve Woolgar herausbrachte. Auf Grundlage einer 1975 begonnenen teilnehmenden Beobachtung im kalifornischen Salk Institute entwickelte er eine sozialkonstruktivistische Sichtweise von Forschungskulturen. Sein Ziel war es, die „Produktion“ wissenschaftlicher Ergebnisse am Ort ihrer Entstehung, nämlich bei der Laborarbeit der Wissenschaftler, zu erforschen. Latour und Woolgar gelangten zu dem Schluss, die Tätigkeit der Wissenschaftler als besonderen „Kapitalzyklus“ („Cycle of Credibility“) zu begreifen, durch den die Wissenschaftler die Glaubwürdigkeit ihrer Arbeit aktiv herstellen, um Anerkennung zu „akkumulieren“. Innerhalb eines Kreislaufes werden Gelder, Daten, Prestige, Problemfelder, Argumente und Publikationen miteinander verbunden und als „Kredite“ ineinander übersetzt. (Hat ein Wissenschaftler beispielsweise ein Problemfeld entdeckt, liefert es ihm möglicherweise Argumente, die er in Veröffentlichungen umwandeln kann. Diese können ihm wiederum Prestige einbringen, was etwa für das Einwerben von finanziellen Drittmitteln relevant sein kann, sodass weitere Daten erhoben werden können usw.) Mit ihrer Studie wurden Latour und Woolgar zu modernen Klassikern der sozialwissenschaftlichen Wissenschaftsforschung, obgleich sich Latour später vom sozialkonstruktivistischen Ausgangspunkt wegbewegte.[17]

In seiner Zeit an der École Nationale Supérieure des Mines hat er zusammen mit Michel Callon und John Law die Akteur-Netzwerk-Theorie (actor network theory) entwickelt, die sich als eine eigene Denkschule in der Soziologie durchgesetzt hat.

In dem Aufsatz Why has Critique run out of Steam?[18] aus dem Jahr 2004 äußerte Latour auch Bedenken hinsichtlich der Wirkung und Angemessenheit von sozialkonstruktivistischer Kritik. In diesem Zusammenhang warf er die Frage auf, ob die Gefahr heute womöglich nicht mehr von ideologischen Argumenten drohe, die als Tatsachen verkleidet seien, sondern umgekehrt: von einem „exzessiven Misstrauen“ gegenüber Tatsachen, die zu Unrecht für ideologische Argumente gehalten würden. Unter anderem beklagte Latour am Beispiel der „künstlich am Laufen gehaltenen“ Kontroverse um die globale Erwärmung den Missbrauch des Sozialkonstruktivismus durch Klimawandelleugner: „Gefährliche Extremisten benutzen ebendasselbe Argument von sozialer Konstruktion, um mühsam gewonnene Beweise zu zerstören, die unsere Leben retten könnten.“ (“dangerous extremists are using the very same argument of social construction to destroy hard-won evidence that could save our lives.”)[18]

Eine der bedeutendsten Studien Latours ist sein 1993 erschienenes Werk Aramis oder die Liebe zur Technik, das bislang auf Französisch, seit 1996 auch auf Englisch[19] und seit 2018 auch vollständig auf Deutsch vorliegt. In Abfolgen aus Interviewpassagen und Forschungsnotizen zeichnete Latour die Entwicklung des innovativen, aber letztlich gescheiterten Verkehrsprojektes „Aramis“[20] nach, das die Vorteile von privatem und öffentlichem Verkehr durch ein computergesteuertes PRT-System kombinieren sollte. Anhand der widersprüchlichen Interessen und Hoffnungen der unterschiedlichen Projektbeteiligten zeigte Latour, wie soziale und selbst sentimentale Aspekte – eben die „Liebe zur Technik“ – am Aufstieg und Fall von Innovationen mitwirken.

Kritik am Wissenschaftsverständnis Latours wurde u. a. von dem Physiker Alan Sokal geäußert, welcher im Zuge der sog. Sokal-Affäre auch dessen Position als irrational bezeichnet hat.[21] Latours Wissenschaftstheorie sei „postmoderner Unsinn“, meint auch der deutsche Philosoph Markus Gabriel.[22] Diesem Vorwurf entgegnete Latour, dass die Wirklichkeit nicht etwas ist, an das man glauben müsste und dass wir den Zugang zu ihr nicht verloren haben.[23]

„'Glaubst du an die Wirklichkeit?' Um dergleichen überhaupt zu fragen, muß man sich schon dermaßen von der Wirklichkeit entfernt haben, daß die Angst, sie ganz zu verlieren vorstellbar wird – und diese Angst hat selbst eine Geistesgeschichte [...] Nur ein Geist in der äußerst befremdlichen Lage, von innen nach außen auf die Welt zu schauen und mit der Außenwelt durch nichts als die dürftige Verbindung des Blickes verbunden zu sein, wird ständig in der Furcht leben, die Realität zu verlieren; nur solch ein körperlöser Beobachter wird verzweifelt nach einem absolut sicheren Lebenserhaltungssystem Ausschau halten.“[24]

Latour zufolge ist es das Verdienst der Wissenschaftsforschung, verdeutlicht zu haben, dass Tatsachen zugleich real und konstruiert sind.[25][26] Der Vorwurf, einer postmodernen Wissenschaftsfeindlichkeit verkenne nicht nur, dass es der Wissenschaftsforschung darum geht, besser zu verstehen, wie Wissenschaft in der Praxis vollzogen wird, sondern zeuge auch von einem grundlegenden Missverständnis der Methoden und Erkenntnisse der Wissenschaftsforschung.[27] Tatsächlich hat Latour wissenschaftsfeindliches Denken und das Aufkommen sogenannter „alternativer Fakten“ energisch problematisiert. Vor allem mit Blick auf die Attacken gegen die Klimawissenschaften und andere Disziplin, sprach Latour von einem tatsächlichen Krieg gegen die Wissenschaften, der nach einer engeren Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Wissenschaftsforschung verlange.[28]

„Nichts wird uns retten und ganz bestimmt nicht die Gefahr. Der Erfolg wird einzig von unserer Fähigkeit abhängen, die zufällig sich einstellenden Gelegenheiten beim Schopfe zu packen.“

– Bruno Latour, Nikolaj Schultz: Zur Entstehung einer ökologischen Klasse. Ein Memorandum (2022)[29]

 


https://www.deutschlandfunkkultur.de/bruno-latour-das-terrestrische-manifest-die-menschheit-hat-100.html

 

"Das terrestrische Manifest“

 

Die Menschheit hat den Boden unter den Füßen verloren
Cover des Buches "Das terrestrische Manifest" von Bruno Latour
Es geht Bruno Latour darum, „erdhaft“ und gleichzeitig „welthaft“ zu werden. © Suhrkamp Verlag / picture alliance / dpa
Von Andrea Roedig · 26.07.2018
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Der französische Philosoph Bruno Latour fordert im „Terristrischen Manifest“ ein neues Verhältnis des Menschen zur Erde. In seinem spannend zu lesenden Essay tritt er für eine Welt ein, in der das Lokale gegenüber dem Globalen an Bedeutung gewinnt.
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Der Globus ist nicht groß genug für die Globalisierung, soviel sollte sich mittlerweile herumgesprochen haben, und daher bezeichnet Bruno Latour „Klima“ als das einzig wirklich wichtige politische Thema unserer Zeit. Alles, was uns gegenwärtig beunruhige – sei es Migration, wachsende Ungleichheit oder Populismus – habe eine gemeinsame Wurzel in der unheimlichen Erfahrung, dass die Erde in Form des Klimawandels plötzlich auf unsere Handlungen reagiert. Die Menschheit weiß derzeit nicht, wovon genau ihr Überleben abhängen wird, sie hat den Boden unter den Füßen verloren wie Passagiere eines Flugzeugs, denen der Pilot mitteilt, dass er im Zielflughafen „Globales“ nicht landen kann, aber auch der Rückweg zum Ausgangspunkt „Lokales“ versperrt ist.
Ließ sich ehedem die Moderne als eine Fortschrittsgeschichte begreifen, deren Richtung durch den „Attraktor“ Globales vorgezeichnet war, haben sich nun die Vorzeichen geändert: Zur positiv besetzten „Plus-Globalisierung“ sei eine „Minus-Globalisierung“ hinzugekommen, schreibt Latour, das ehedem als rückständig wahrgenommene Lokale gewinne eine andere Bedeutung. Dieser Vorzeichenwechsel bringe die politische Ordnung rechts/links, konservativ/progressiv ins Wanken – und tatsächlich verschiebt auch Latour in gewisser Weise die politischen Bewertungsmuster.
Endlich auf der Erde landen
Latours Manifest ist nicht nur eine Klima-Schrift, sondern auch ein Text über den Klimawandel-Leugner Donald Trump, der sich imaginär ins „Extraterrestrische“ flüchtet, als gäbe es einen sicheren Ort jenseits der Erde. Die Trump-Wähler seien dabei die Betrogenen, doch Trumps Wahnsinnsgeste habe auch etwas Gutes, meint Latour, denn sie mache ex negativo einen neuen „Attraktor“ für ein progressives Denken sichtbar: das „Terrestrische“.
Unter diesem Begriff subsummiert Latour ein alternatives Verständnis von Natur, Wissenschaft und Ökologie, eine neue Perspektive, in der wir die Erde nicht kalt szientistisch wie von Ferne betrachten, sondern aus der Nähe, teilnehmend. Der Mensch steht hier nicht im Zentrum und er ist nicht der einzige Handelnde. Er begreift, dass die Erde selbst ein politischer Akteur ist und nimmt sie als solchen ernst. Alle Fragen der Zukunft – auch die sozialen Fragen der Umverteilung und Gerechtigkeit – werden daher geopolitische Fragen sein.
„Das terrestrische Manifest“ ist ein Programmtext, in dem notwendigerweise vieles offen bleibt. Aber genau in seiner kurzen Form ist es ein gelungener, anregender und von der ersten bis zur letzten Seite spannend zu lesender Essay. War die alte Modernisierung „Flucht nach vorn“, so heißt die neue Modernisierung: irgendwo landen. Darüber sollten wir Geschichten erzählen, meint Latour. Sein Text endet mit einer Eloge auf Europa, hier möchte er landen – allerdings nicht auf einem abgeschotteten Kontinent der gesicherten Außengrenzen: Es gehe darum, sich an den Boden zu binden, „erdhaft“ und gleichzeitig „welthaft“ zu werden.
Bruno Latour: „Das terrestrische Manifest“
Aus dem Französischen von Bernd Schwibs
Berlin, Suhrkamp Verlag 2018
136 Seiten, 14,00 Euro


https://www.deutschlandfunkkultur.de/bruno-latour-kampf-um-gaia-ein-traktat-ohne-kohaerenz-und-100.html

Kampf um Gaia

Ein Traktat ohne Kohärenz und Klarheit

Von Marko Martin · 26.06.2017

Unsere Begriffe sind zu unscharf, um den Klimawandel zu begreifen, behauptet der französische Philosoph Bruno Latour. Und so setzt er in Hegel'scher Manier an, neue Begriffe zu entwickeln – doch er scheitert kläglich daran.

 

Was sind die mentalen Herausforderungen des Klimawandels? Mit dieser Frage beschäftigt sich Bruno Latour in seinem neuen Buch „Kampf um Gaia“. Der 1947 geborene französische Sozialwissenschaftler und Philosoph ist eine international anerkannte Koryphäe, der Zeitung Le Monde gilt er sogar als „Hegel unserer Zeit“.
Weshalb jedoch der rätselhafte Titel, der auf die griechische Göttin Gaia anspielt? Folgt man Latours Argumentation, hat die Menschheit die Konsequenzen des Klimawandels noch nicht einmal ansatzweise begriffen und benötigt deshalb ein neues Denken, beginnend mit neuer Begrifflichkeit. Da jedoch „Erde“ und „Natur“ stets etwas Harmonisches und Einlullendes assoziieren, sollte besser der oszillierende, in Unruhe versetzende Begriff „Gaia“ Anwendung finden.

GAIAS Provokationspotenzial

Dabei predigt Latour keineswegs ein Neuheidentum, sondern will den Namen als Provokationspotenzial verstanden wissen – und als Anregung, der alten bequemen Natur/Kultur-Dichotomie Adieu zu sagen:

„GAIA ist weder wissenschaftlich im alten Stil noch ist sie ein heidnischer Ersatz für die SCHÖPFUNG. GAIA misstraut aller Transzendenz... Vermeiden wir also, die Natur als etwas universell Selbstverständiches zu behandeln, von dem sich die kodierte Kategorie Kultur abhebt.“

Denn nur wenn wir begreifen, so das Fazit, dass unser Handeln ebenso wie unser Nicht-Handeln pausenlos irreversible Tatsachen schaffen, könnte ein neues Klima-Bewusstsein entstehen.
Freilich dauert es zweihundert Seiten, ehe die Konsequenz dieses „neuen ökologischen Denkens“ sichtbar zu werden scheint:
„Der Mensch muss als einheitlicher Akteur in mehrere voneinander getrennte Völker aufgelöst werden, deren Interessen divergieren, deren Territorien einander bekämpfen. Der Anthropos des Anthropozäns? Das ist Babel nach dem Einsturz des Riesenturms! Endlich ist der Mensch auf keine Einheit mehr reduzierbar! Endlich ist er nicht mehr bodenlos!“
Schmitt und Sloterdijk bleiben Zierrat
Das klingt reichlich nebulös, doch wenn dann noch Carl Schmitt, der einstige Kronjurist des Dritten Reichs, mit seinem „tellurischen Denken“ und manichäistischen Freund-Feind-Weltbild ins Spiel kommt, liegt der Verdacht nahe, der renommierte Wissenschaftler liebäugle mit einer Art kollektiver Öko-Diktatur.
Doch weit gefehlt! Schmitt, „der toxische Denker“, bleibt letztlich ebenso Zierrat wie Peter Sloterdijk oder der Anti-Atomkraft-Philosoph Günther Anders, von dessen „prophylaktischem Gebrauch der Apokalypse“ sich das wortmächtige – man könnte auch sagen: redselige – Buch hat inspirieren lassen.

Dass Latour, um die Plausibilität von „Gaia“ zu erklären, immer wieder neu ansetzt, höher und tiefer greift, dann abschweift und auch Ausflüge in professorale Scherze nicht verschmäht, lässt den Leser doppelt irritiert zurück.

Ethische geschweige denn konkrete politische Handlungsvorschläge gibt es in diesem sich doch derart alarmistisch gebenden Text keine, während die philosophischen Reflexionen derart von verspielter Didaktik durchzogen sind, dass Klarheit und Kohärenz auf der Strecke bleiben.

Schade um das hochexplosive Thema. Schade vor allem die Bäume, die sterben mussten, damit dieses seltsame Orakel als Buchform erscheint.

 


Bruno Latour: Kampf um Gaia. Acht Vorträge über das Neue Klimaregime
Aus dem Französischen von Achim Russer und Bernd Schwibs
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017
523 Seiten, 32 Euro


 

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