Forrester 1971    Chaos     Start    Weiter

Teil 5   Chaos — oder: Die Unfähigkeit zu steuern

22 - Die Welt — ein vernetztes System

 

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   Was das Fischsterben in Chile mit dem Waldbrand in Indonesien zu tun hat 

El Niño ist eine in ihren Ursachen noch nicht geklärte Veränderung der Strömungs­verhältnisse im Pazifik mit globalen Auswirk­ungen auf das Klima. Der Name - wörtlich "das Kind" - bezieht sich auf das Christkind, weil El Niño normalerweise für kurze Zeit um Weihnachten in Erscheinung tritt. Normalerweise. 1982/83 dauerte der Besuch von El Niño mehrere Monate. Das Ergebnis: weltweit 2000 Tote und 13 Milliarden Dollar Sach­schaden. Doch zunächst zur Normalsituation: 

Der kühle Humboldtstrom, dessen Ursprung in der Antarktis liegt, bewirkt, daß die Wasser­temperatur vor der Westküste Südamerikas deutlich tiefer liegt als im restlichen Süd­pazifik. Dies hat zur Folge, daß die Luft weniger erwärmt wird und langsamer aufsteigt, als dies weiter westlich der Fall ist. Das Klima ist trockener. Es herrscht höherer Luftdruck, denn kalte Luft wiegt schwerer. Eines der Resultate sind die Wüstengebiete am Rande Südamerikas. Vor allem aber verstärkt das Luftdruck­gefälle die Passatwinde, die warmes Wasser nach Westen blasen, und zwar derart stark, daß der Meeres­spiegel im Westpazifik über einen Meter höher liegt als vor der südamerikanischen Küste. Dies wiederum führt dazu, daß im Osten kühles, plankton­reiches Wasser aus der Tiefe an die Oberfläche steigt. So entsteht ein sich selbst verstärkender Zyklus, ein meteorologisches Perpetuum Mobile, welches sowohl im Osten als auch im Westen das Klima bestimmt. Es beschert Südamerika trockene Randgebiete und besonders reiche Fisch­gründe, Indonesien dagegen den lebens­notwendigen Regen.

Alljährlich um die Weihnachtszeit nimmt die Dynamik dieser gigantischen Klimamaschine für kurze Zeit spürbar ab. Der Passat läßt nach, in Indonesien wird es trockener, an der südamerikanischen Küste ziehen Wolken auf, es fällt etwas Regen. Dieses Phänomen heißt "El Niño".

In unregelmäßigen Abständen von etwa vier bis sieben Jahren dauert der Besuch von El Niño jedoch aus bisher nicht bekannten Gründen wesentlich länger. Der stabile Wasser­temperatur- und Luftdruckzyklus — und, damit verbunden, der Passatwind — bricht zusammen. Das im West­pazifik aufgetürmte warme Wasser fließt zurück. Die Verhältnisse im Ost- und Westpazifik gleichen sich an — und auf beiden Seiten kommt es zu krassen Wetter­anomalien. In Indonesien, Malaysia, den Philippinen sowie im Norden Australiens fallen die tropischen Monsunregen aus. Es kommt zu Dürreperioden. 

1997 ist erstmals beobachtet worden, daß der Passat nicht nur zum Erliegen kam, sondern sogar in umge­kehrter Richtung zu blasen begann. Es kam zu den verheerendsten Waldbränden aller Zeiten.

Auf der anderen Seite, in Chile und Peru sowie Teilen Brasiliens und Argentiniens bringt El Niño eine außer­ordent­lich hohe Luftfeuchtigkeit, exzessive Niederschläge und entsprechende Flutkatastrophen mit sich. Baum­woll­ernten werden vernichtet oder können nicht eingebracht werden. Transport- und Versorgungs­wege brechen zusammen. Es kommt zu Mückenplagen. Malaria steigt sprunghaft an. Das Ausbleiben kalten, plankton­reichen Wassers führt zu gewaltigen Fischsterben und Fischmigrationen im Meer. Die gesamte Fisch­erei wird lahmgelegt. Ganze Seelöwen- und Pelikan-Kolonien verhungern. Der für die Düngung der Felder wichtige Vogelkot, Guano, bleibt aus.

Durch die veränderten Druckverhältnisse werden im Nordpazifik die Sturmtiefs weiter südlich abgedrängt. Als der Hurrikan Pauline Acapulco verwüstete, ließ er 200 Tote zurück. Kalifornien erhält ungewöhnlich viel Regen, einzelne Gebiete werden überschwemmt. Es werden reduzierte amerikanische Getreideernten verzeich­net. Im Norden der USA sowie in Kanada kommt es zu außerordentlich mildem Wetter. Es wird kaum geheizt, der Energiekonsum bricht zusammen. Der afrikanische Kontinent dagegen wird von Dürren heimgesucht — mit vernichtenden Konsequenzen für die Maisernte in Südafrika oder die Kakao-Anbau­gebiete in Ghana. In Europa wurde das wärmste Jahr seit Beginn der weltweiten Klima­aufzeichnungen registriert.

Die Welt der Rohstoffbörsen wurde angesichts von El Niño 1997, welcher denjenigen von 1982/83 bei weitem zu übertreffen versprach, in helle Aufregung versetzt. Getreide-, Baumwoll-, Zucker- oder Kakaopreise können explodieren, die Notierungen für Heizöl in den Keller fallen. Die Inflation kann angeheizt werden. Dies würde die Zinsen nach oben treiben und die Aktien­preise nach unten drücken. 

Zum Zeitpunkt, da Sie dieses Buch lesen, werden alle wissen, um wieviel El Niño 1997/98 sie reicher oder ärmer gemacht hat. Man wird wissen, wie viele Menschen weltweit durch Waldbrände, Wirbelstürme, Hunger, Durst und Epidemien umgekommen oder obdachlos geworden sind. Und die Rückver­sicherungs­gesellschaften werden publizieren, wie viele Milliarden Dollar weltweit für Sachschäden ausbezahlt werden mußten.

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Die Krise der Tiger

Seit Jahren hatte man den asiatischen Schwellenländern eine goldene Zukunft vorausgesagt. Noch bis Mitte 1997 waren sich alle einig: Hier findet der große Wirtschaftsboom statt. Die Weltbank prägte den Begriff des "ostasiatischen Wunders". Wer Geld anzulegen hatte, investierte in Südostasien.

Anfang Dezember 1997 kam es in Südkorea zum Crash. Die elftgrößte Volkswirtschaft der Welt stand vor dem Staatsbankrott. In einer hochvernetzten Welt­wirt­schaft griff die Krise rasch um sich: In Indonesien, Malaysia, den Philippinen und Thailand setzte eine Entwicklung ein, wie sie für derartige Situationen typisch ist: Ausstehende Kredite können nicht mehr zurückbezahlt werden; neue Kredite will keiner mehr geben; die überhöhten Immobilienpreise fallen ins Bodenlose; es kommt zu Wertberichtigungen; Banken werden zahlungsunfähig und müssen die Bilanz deponieren; die Währung schrumpft und treibt die Preise in die Höhe. Die Währungen der Tigerstaaten büßten innerhalb kurzer Zeit im Durchschnitt 50 Prozent ihres Wertes ein, ihre Schulden verdoppelten sich innerhalb von zwei Wochen.

In einer beispiellosen Feuerwehraktion mobilisierte der Internationale Währungsfonds für die Tigerstaaten über 100 Milliarden Dollar an Über­brückungs­krediten. Dies bedeutet nichts anderes, als daß wir — die Steuer­zahler und Sparer der Mitgliedsländer des Internationalen Währungsfonds — die Zeche südostasiat­ischer Kor­rup­tion und Mißwirtschaft bezahlen. Wir tun dies, um einen auch für uns gefährlichen, weltweiten Flächen­brand zu verhindern. Aber die Gefahr war nicht gebannt. Aller Augen richteten sich nun auf Japan, dessen Wirtschaft sich ohnehin bereits in einer kritischen Verfassung befand — und auf China, das ebenfalls in Mitleid­en­schaft gezogen wurde.

Fast über Nacht hatte sich die Szene völlig verändert. Und dies sind die neuen Perspektiven: Weitere Zusamm­en­brüche wirt­schaftlich schwächerer Länder; weitere kostspielige Interventionen des Währungsfonds; extreme Export­offensiven der Tigerstaaten; schwache Börsen und deflationäre Trends im Westen. Sollte Japan einbrechen, würde der Crash unweigerlich auf die USA und Europa übergreifen.

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Zum Zeitpunkt, da dieses Buch in Druck geht, ist noch offen, ob die Weltwirtschaft mit einem blauen Auge davonkommen wird. Sinkende Wachstums­raten sind so gut wie vorgezeichnet, eine schwere Depression kann zumindest nicht ausgeschlossen werden.

Hinterher sind immer alle schlauer. Heere von Kommentatoren schienen plötzlich genau zu wissen, wie und warum es soweit gekommen war. Aber keiner stellte die interessanteste aller Fragen: Wie ist es zu erklären, daß kaum jemand das hat kommen sehen? Warum mußte es zum Crash kommen? Warum konnte nicht rechtzeitig vorher etwas dagegen unternommen werden?

   Komplexität — oder die Vielfalt der Ursachen und Wirkungen 

Chaosforschung ist die noch junge Wissenschaft vom Verhalten komplexer und dynamischer Systeme. Sie hat un­ser Verständnis der Vorgänge in der Natur - speziell in und zwischen lebendigen Organismen - revolution­iert.

In der Technik haben wir es mit Maschinen und Apparaten zu tun, die der Mensch geschaffen hat. Ihre Funktionsweise beruht auf äußerst einfachen Ursache-Wirkung-Mechanismen: Strom einschalten — das Licht brennt; Gas geben — das Auto beschleunigt; Befehl eingeben — der Computer speichert das Dokument auf der Festplatte ab. Auch an derart simplen Aktionen sind zwar weit mehr Abläufe beteiligt, als uns jeweils bewußt ist. Aber man kann zumindest mit großer Sicherheit vorhersagen, was passiert, wenn ein bestimmter Knopf gedrückt wird.

Nicht so in der Natur, im Reich des Bewegten und Lebendigen. Da ist alles viel komplizierter. Jede einzelne Zelle in unserem Körper ist ein hochkomplexes Gebilde, in dem ständig Dutzende, zum Teil sogar Hunderte verschiedener, blitzschnell ablaufender chemischer Reaktionen stattfinden. Millionen oder Milliarden von Zellen arbeiten koordiniert zusammen, um ein Organ zu bilden, das in unserem Körper eine ganz bestimmte, lebens­wichtige Funktion ausübt. Und unzählige verschiedene Organe sind in unserem Körper miteinander in Verbindung, beeinflussen sich gegenseitig und müssen sinnvoll zusammenwirken, damit wir auch nur in der Lage sind, zehn Sekunden aufrecht zu stehen. Die Vielfalt der Vorgänge in unserem Körper auch nur zu verstehen, geschweige denn exakt vorauszuberechnen, ist - zumindest mit den heutigen Mitteln - ein Ding der Unmöglichkeit.

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Pflanzen und Tiere, Klima- und Wetterphänomene, das Geschehen im Innern der Erde, die Bewegungen im Weltraum — all dies sind komplexe und dynamische Systeme. Besonders komplex und dynamisch aber sind Sozial­systeme: Ein Vogelschwarm oder ein Bienenvolk, eine politische Partei oder die Bevölkerung eines Landes. Denn hier haben wir es mit Gebilden zu tun, die aus Tausenden oder Millionen lebendiger und miteinander kommunizierender Einzelwesen bestehen. 

Endgültig jenseits jeglicher Vorstellungskraft aber ist die Komplexität der Wechselwirkungen zwischen Sozial­systemen — beispielsweise die Nahrungskette vom Plankton bis zum Großräuber im Meer oder das Zusammen­wirken der verschiedenen menschlichen Gesellschaften und Kulturen auf der Erde.

Die Komplexität der Vorgänge in solchen Systemen ist derart gigantisch, daß kein Computer in der Lage wäre, die Entwicklung längerfristig exakt voraus­zuberechnen. Minimale Ungenauigkeiten der Eingangsdaten sowie kleinste, nicht meßbare Störfaktoren können auf mittlere Sicht zu gewaltigen Veränderungen führen. Chaos­forscher sprechen vom "Schmetterlingseffekt": Der Flügel­schlag eines Schmetterlings kann — zumindest theoretisch — Wochen oder Monate später bei den Antipoden einen Wirbel­sturm auslösen.

 

Ordnung im Chaos

Unter "Chaos" wird gemeinhin Wirrwarr und sinnloses Durcheinander verstanden. Für die Wissenschaft ist dem nicht so. Als "chaotisch" werden Vorgänge bezeichnet, die zu komplex sind, als daß wir sie steuern oder auch nur exakt vorausberechnen könnten. Aber auch im Chaos gibt es Entwicklungs­richtungen, zunehmende oder abnehmende Intensitäten der wirksamen Kräfte, Beschleunigungen oder Verlangsamungen der Vorgänge.

Chaotische Prozesse sind einer Wildwasserfahrt vergleichbar. Auch der erfahrenste Wildwasserfahrer kann nicht exakt voraus­berechnen, wie sich das Wasser 20 Meter weiter vorne verhalten wird. Er ist ständig in Bewegung und muß laufend ausgleichen, um einigermaßen auf Kurs zu bleiben. Mal wird er durch einen Wirbel im Kreis gedreht, mal verliert er das Gleichgewicht und muß kopfüber untendurch tauchen. Und doch ist auf viele Faktoren absolut Verlaß. Das Wasser fließt — von lokal begrenzten Wirbelströmen mal abgesehen — immer talabwärts. Das Wildwasser ist rechts und links durch ein Ufer begrenzt — und an manchen Stellen, wenn auch nicht überall, kann man sogar anlanden. Gefährliche Hindernisse wie Felsblöcke in der Fahrrinne oder Stromschnellen sind so weit im voraus erkennbar, daß man Zeit hat, sich darauf einzustellen. Und wer über genügend Erfahrung verfügt, vermag sogar Gefahren zu erkennen, welche unter der Wasseroberfläche lauern — etwa eine unterspülte Felswand, kaum sichtbare Strudel, die das ganze Boot in die Tiefe ziehen könnten und möglicher­weise nicht wieder freigeben würden.

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Es gibt kein dauerhaftes, totales Chaos. Auch mitten in den größten Turbulenzen gibt es Kräfte, welche den Bewegungen früher oder später eine bestimmte Richtung geben. Die Wissenschaft nennt solche Einflüsse, die Ordnung ins Chaos bringen, "Attraktoren". Die Kunst besteht darin, diese Kräfte zu erkennen — und mit ihnen, nicht gegen sie zu arbeiten. "Chaos-Kompetenz" — die Fähigkeit, in chaotischen Situationen handlungsfähig zu bleiben — hat in der Wirtschaft an Bedeutung zugenommen. Führungs­kräfte werden gezielt daraufhin trainiert.

 

Grenzen der Steuerung und Kontrolle

Besonders wichtig sind die Erkenntnisse, die wir durch die Chaosforschung über die Organisations­prinzipien lebendiger Systeme gewonnen haben. Das Stichwort heißt "Selbstorganisation". Komplexe und dynamische Systeme — so das Fazit — können nicht zentral oder von außen gesteuert und organisiert werden. Sie können sich letztlich nur selbst wirksam steuern und organisieren. In der Natur organisiert sich alles selbst — und doch gibt es, wie etwa ein Ameisenstaat beweist, beeindruckende Organi­sations­strukturen. Die Evolution ist nichts anderes als ein gigantischer Prozeß der Selbst­organisation der Arten, durch den die Natur sich in einem flexiblen Gleichgewicht hält.

Man nimmt heute sogar an, daß das Leben ursprünglich durch Selbstorganisation von Molekülen entstanden ist. Das Geheimnis des Lebens ist die Weitergabe von Information. Leben in seinen vielfältigen Ausprägungen ist nur möglich, weil Zellen die in ihnen enthaltenen Verhaltensprogramme — die sogenannte Erbinformation — an ihre Nachkommen weitergeben. Ein Großteil der Zellen in Ihrem Körper hat vor fünf Jahren noch nicht existiert. Unser Körper ist im Grunde zeit unseres Lebens eine gigantische Baustelle. Da sterben ständig massenhaft Zellen ab und werden laufend durch andere ersetzt und ergänzt. Was stabil bleibt und uns zu dem macht, was wir sind — nämlich ein dauerhaft funktionsfähiges Lebewesen —, ist ein hochkomplexer Bauplan, ein viel­schichtiges Bündel von Programmen, ein gewaltiges Informations­material, welches laufend von den jeweils lebenden Zellen an die nachfolgenden weitergegeben wird.

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Selbstorganisation stellt sich aber auch bei menschlichen Organisationen immer mehr als wichtiges Prinzip heraus. Mit zunehmender Größe und Komplexität wurden zentral gesteuerte Staatsbürokratien und Wirt­schafts­konzerne immer ineffizienter und unregierbarer. Der Trend geht deshalb heute dahin, die arbeits­teiligen und hierarchischen Strukturen aufzubrechen, und kleinere, selbständig handlungs­fähige Organisations­einheiten zu bilden, die in Form eines Netzwerkes zusammen­arbeiten. Zentrale Planwirtschaft hat seinerzeit die UdSSR in den Kollaps geführt — und jedes große und komplexe Unter­nehmen, das heute versäumt, dezentrale Formen der Organisation und der Führung zu entwickeln, wird früher oder später das gleiche Schicksal erleiden.

Dezentrale Selbständigkeit aber setzt Grenzen für die Ausübung zentraler Macht und Kontrolle. Dezentrale Organisation bedeutet kleinräumige, lokale oder regionale Selbstorganisation vor Ort. Jede selbständige Organi­sationseinheit aber neigt dazu, ein gewisses Maß an "Egoismus" zu entwickeln. Der Zusammenhalt des Ganzen wird dadurch schwieriger. Die Wissenschaft bestätigt uns hier lediglich das Dilemma, in der die Menschheit sich befindet: Wir sind von globalen Auswirkungen unseres Tuns und Lassens betroffen — steuern und organisieren aber können wir uns letztlich nur kleinräumig vor Ort. Wir haben zwar ein existentielles, gemeinsames Interesse — nämlich zu überleben. Aber die einzelnen Nationen handeln egoistisch. Die über­geordneten Prozesse verlaufen nicht konzertiert, sondern chaotisch.

Und auch dies kann in der Natur immer wieder beobachtet werden: Je größer und komplexer Systeme werden, desto mehr sind sie mit sich selbst beschäftigt. Sie kümmern sich nicht um ihre Umwelt. Pflanzen können ein Gebiet soweit überwuchern, Tier­populationen ein Gebiet soweit leerfressen, bis sie sich selbst in ihrer Existenz gefährden. Man muß — so der Soziologe Niklas Luhmann — immer auch "mit der Möglichkeit rechnen, daß ein System so auf seine Umwelt einwirkt, daß es später in dieser Umwelt nicht mehr leben kann".

 

Der fundamentale Irrtum: Das isolierte Einzelproblem

Wir haben in der Vergangenheit bis zur Perfektion gelernt, ein Problem in seine Einzelteile zu zerlegen, und für jedes Einzel­problem eine Lösung zu suchen. Wir haben nicht gelernt, mit Situationen und Entwicklungen in vernetzten, dynamischen Systemen umzugehen. Wo zu viele verschiedene Kräfte am Werk sind, die sich auch noch wechselseitig beeinflussen, versagen unsere simplen Werkzeuge. Wir fischen im Trüben. Wir sind überfordert.

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Ein solches System ist die menschliche Zivilisation. Man kann zwar eine ganze Reihe wichtiger Entwicklungs­trends erkennen und beschreiben: das Bevölkerungs­wachstum; die Entwicklung von Armut und Reichtum; die Migration; die Verstädterung; die Entwicklung der organisierten Kriminalität; die Globalisierung der Wirtschaft; die Belastung der Atmosphäre mit Giftstoffen; die Abnahme der Fischbestände im Meer; die Abholzung der Regenwälder; die Verknappung des Wassers; die Erwärmung des Klimas; das Artensterben — um nur einige Beispiele zu nennen. Aber jeder einzelne dieser Einflußfaktoren steht in vielfältigen Wechsel­beziehungen mit anderen — das heißt er wirkt verstärkend oder abschwächend auf andere und wird selbst von anderen verstärkt oder abgeschwächt. Man nennt dies Rückkoppelung.

Nehmen wir als Beispiel den Einzelfaktor Armut. Armut führt zu Hunger, zu Krankheiten, zu Analpha­betis­mus, zur Übernutzung der Böden, zur Abholzung von Wäldern, zu einem verstärkten Bevölkerungswachstum — und jeder dieser Faktoren verstärkt wiederum die Armut. Wir haben es mit sich wechselseitig verstärkenden Kräften zu tun. Armut führt aber auch zu Migration, zu Verstädterung, zu Kriminalität, zu Gewalt in der Gesellschaft — und jeder einzelne dieser Faktoren wirkt wiederum auf eine ganze Reihe anderer Einflußgrößen, beispielsweise auf die innere Sicherheit eines Landes oder auf die politischen Kräfteverhältnisse. Wenn man versuchen würde, die Wechselwirkungen zwischen den unzähligen Faktoren, welche die Entwicklung unserer Zivilisation und unserer Umwelt bestimmen, grafisch aufzuzeichnen, würde ein Diagramm entstehen, das verwirrender wäre als der Schaltplan des kompliziertesten Computers.

In der lebendigen Welt ist letztlich alles mit allem — direkt oder um einige Ecken herum — vernetzt. Doch genau hier liegt ein zentrales Problem unserer Wahrnehmung: Wir lesen mal einen Artikel über das Ozonloch; wir sehen ein andermal eine Fernseh­sendung über Kurden, die als Wirtschaftsflüchtlinge über die Adria nach Italien einzuwandern versuchen; wir lesen etwas über einen Wirbelsturm in der Karibik; wir hören von einer Ein­bruchserie in der Nachbarstadt; die Fusion zweier großer Konzerne sorgt während einiger Wochen für Gesprächsstoff; bei einer Wahlkampf­veranstaltung wird heftig über den Staats­haushalt debattiert. 

Jeder der­art­ige Vorgang erscheint uns als isoliertes Einzelproblem — und bei jedem denken wir: Da gibt es Leute, die sich darum kümmern. Die Welt ist für uns ein Kaleidoskop. Wir sehen die Dinge nicht in ihren inneren Zu­sa­m­men­hängen und Wechselwirkungen. Wir haben keine Gesamtschau — und erkennen deshalb Gefahren zu spät. 

  wikipedia  Kaleidoskop      Gruhl-1992:  Das Gesetz der gleitenden Fügungen   

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  Der Bremsweg des Supertankers  

Lebendige Organismen und soziale Gebilde befinden sich letztlich nie in einem Ruhezustand, sondern ständig in Bewegung. Sie können nur existieren, indem sie sich durch ununterbrochenes Ausgleichen von Unwuchten und Störfaktoren in einem flexiblen Gleichgewicht halten. Die Wissenschaft nennt dies "Fließ­gleichgewicht". Solche Systeme entwickeln mit der Zeit eine beachtliche Fähigkeit, sich durch Regeneration selbst zu erhalten.

Wenn einem Baum oder einem Busch die Krone gestutzt wird, treibt er weiter unten dafür um so stärker aus. Wenn einem See durch die Landwirtschaft eine erhöhte Fracht an Nährstoffen zugeführt wird, vermehren sich Kleinst­organismen, die von diesen Stoffen leben und so den See vor dem Ersticken bewahren. Bis an eine kritische Belastungsgrenze bringt sich also das System durch Regeneration selbst immer wieder ins Gleich­gewicht. Es kann deshalb auch bei widrigen Umwelt­bedingungen lange dauern, bis ein System kollabiert. Es ist wie bei einem Supertanker: Man braucht viel Zeit und Energie, um ihn in Fahrt zu bringen — wenn es aber einmal soweit ist, kann man ihn nicht einfach wieder anhalten.

Ein solcher Supertanker ist beispielsweise unser Weltklima. In der Natur gibt es Kräfte, die das Klima im Rahmen bestimmter Grenzen im Gleichgewicht halten. Das Plankton im Meer scheidet schwefelhaltige Gase aus und gibt sie an die Atmosphäre ab. Hier verwandeln sich diese Gase durch eine chemische Reaktion in sogenannte Aerosole, die als Kondensations­kerne für Wasser­dampf wirken und so die Wolkenbildung anregen. Wolken aber reflektieren die Sonnenstrahlen, welche sonst die Erdober­fläche erreichen und aufwärmen würden, in den Weltraum zurück. Es wird kühler. Fällt die Temperatur aber unter einen kritischen Wert, nimmt die Planktondichte ab. Es bilden sich weniger Wolken, die Temperatur steigt wieder an. Das Plankton funktioniert also wie ein Thermostat. Es versucht, die Erdtemperatur innerhalb eines bestimmten Bereiches zu regulieren. Die Wissenschaft geht heute davon aus, daß es in der Natur unzählige derartige biologische Rück­koppelungs­mechanismen gibt. Ihnen haben wir aller Wahrscheinlichkeit nach die einigermaßen konstanten Lebensbedingungen auf diesem Planeten zu verdanken.

Doch leider sind wir im Begriff, diese Verhältnisse radikal aus dem Gleichgewicht zu bringen. Die Erwärmung des Klimas hat beispielsweise bereits begonnen. Wir wissen nicht, wie schnell und wie weit diese Erwärmung gehen wird — und schon gar nicht, welche konkreten Konsequenzen dies für die einzelnen Regionen der Erde haben wird. Zu viele verschiedene Faktoren wirken auf das System "Erdklima" ein, als daß wir es langfristig vorausberechnen könnten. 

Aber es gibt Erfahrungen. "Seit 1945 beobachten wir, wie sich die Eisdecke in der Antarktis verringert — etwa ein Kilometer pro Jahr", gaben südamerikanische Antarktis­forscher kürzlich zu Protokoll: "Jetzt plötzlich verlieren wir 15 Kilometer." Der Rand des Südpolargebietes steht möglicherweise kurz vor einem Klima-Kollaps. 

Modell­rechnungen aber haben ergeben: Wenn der Ausstoß an Treibhausgasen weltweit von heute auf morgen vollständig gestoppt würde, hätte dies kurzfristig nicht den geringsten Effekt. Die Erwärmung des Erdklimas würde sich noch während mehrerer Jahrzehnte fortsetzen. Die Klimamaschine ist ein komplexes und dynamisches System. Man kann sie nicht einfach ein- und ausknipsen wie einen Lichtschalter.

Noch viel beunruhigender aber ist das dramatisch zunehmende, weltweite Artensterben. Dieser Vorgang ist zwar allgemein bekannt. Aber die meisten Menschen sagen: Was kümmern mich irgendwelche Pflanzen oder Tiere, von denen ich noch nicht einmal gewußt habe, daß es sie gibt? Nun, dies ist der Grund, weshalb sie uns kümmern sollten: Die Natur ist ein hoch­komplexes, vernetztes ökologisches System. Seine Regenerations­fähigkeit beruht auf der Artenvielfalt. Mit jeder Art, die ausstirbt — mögen wir sie kennen oder nicht — nimmt die Regenerations­fähigkeit ab. Seit einiger Zeit haben wir es auf diesem Planeten mit einem regelrechten Massen­sterben der Arten zu tun. Wohin dies führt, ist im nächsten Kapitel beschrieben.

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Christoph Lauterburg 1998