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29 - Rette sich, wer kann! 

Lauterburg-1998

 

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Ein Crash tritt nicht völlig überraschend von heute auf morgen ein. Wer darauf vorbereitet ist, merkt bereits im Vorfeld, daß sich etwas zusammenbraut. Der Zusammenbruch vollzieht sich nicht flächen­deckend in Minuten oder Stunden, sondern in Wochen, Monaten, in einzelnen Regionen vielleicht sogar Jahren. Und er weitet sich chaotisch aus. Nicht alle Menschen sind überall zur gleichen Zeit gleich stark davon betroffen.

Praktisch alle Länder sind heute durch internationale Wirtschaftsbeziehungen und Verkehrswege mehr oder weniger eng mit anderen verflochten und deshalb bis zu einem gewissen Grade vom Ausland abhängig. Wenn irgendwo eine ernsthafte Krise ausbricht, hat dies sofort Auswirkungen auf die umliegenden Länder. Wenn dort ebenfalls eine instabile Lage herrscht, kommt es leicht zu Kettenreaktionen. Und wenn die internationalen Kommunikations- und Verkehrs­verbind­ungen zusammenbrechen, hat dies für alle Beteiligten weitreichende Konsequenzen. 

Aber je nach geographischer Lage, klimatischen Bedingungen, innerer Verfassung der Gesellschaft sowie vorhand­enen Ressourcen kann in der einen Region noch ein einigermaßen normaler Zustand herrschen, wenn anderswo bereits das Chaos ausgebrochen ist und ganze Populationen durch Krieg, Hungersnot und Epidemien dezimiert worden sind. Es wird also mit national und regional unterschiedlichen Formen und Geschwindig­keiten des Zusammen­bruchs zu rechnen sein.

Für Gebiete, in denen eine Selbstversorgung der Bevölkerung möglich ist, wird der Zusammenbruch der Verkehrs­verbindungen sogar ein entscheidender Überlebens­vorteil sein. Sie werden nämlich von außen nicht so leicht angegriffen und ausgeplündert werden können. In Gebieten anderseits, die ihre Bewohner nicht selbst ernähren können, bedeutet ein Zusammenbruch der Verkehrs­wege leicht das Aus für alle.

Lassen Sie uns ein Gedankenspiel machen. Was kann Überleben im Crash bedeuten? Wie verändert sich das Leben, wenn im Umfeld Chaos ausbricht? Wie würden Menschen versuchen zu überleben? Es ist nützlich, sich mehr als nur durch abstrakte Überlegungen und Begriffshülsen zu vergegenwärtigen was eines nicht allzu fernen Tages tatsächlich aktuell werden könnte. Nur wer weiß, wohin die Reise gehen könnte, kann sich, wenn es soweit ist, darauf vorbereiten.

    Arche Noah  

Je weiter man von einer Großstadt entfernt ist, desto sicherer wird man zunächst sein. Das Leben wird zwar auch auf dem Lande gefährlich. Aber es gibt nicht so viele Menschen. Organisierte Banden kommen nicht so leicht hierher — besonders, wenn es kaum mehr Treibstoff gibt. Man kann sich besser verstecken. Es gibt eher Möglich­keiten zur Selbst­versorgung. Diese ist überlebens­entscheidend, denn Vorratshaltung ist immer nur eine kurz- bis mittelfristige Übergangslösung. Nur wenige Lebens­mittel sind langfristig haltbar. 

Hat man sich aber nicht lange im Voraus mit Vorräten versorgt, kann man gar keine mehr anlegen, weil dann, wenn alle dies tun wollen, nichts mehr zu kriegen ist. Und wer in nennenswertem Umfang über Vorrate verfügt, muß sie erst noch sehr gut verstecken können — sonst wird er bei der erstbesten Gelegenheit ausgeplündert. Wenn man länger­fristig überleben will, muß man deshalb in der Lage sein, selbst Nahrung zu produzieren. Und je schwerer der Ort, wo dies geschieht, von außen zugänglich ist, desto höher ist die Chance, daß man unbe­helligt bleibt.

Dicht besiedelte Gebiete sind von vornherein gefährlich, denn wo es keine Agrarflächen gibt, muß jede Kartoffel von weit her angekarrt werden — und wo es zu viele Menschen gibt, wird es am ehesten zu Lebens­mittel­verknappung, Hunger und Elend kommen. Außerdem gibt es in der Stadt nicht nur Versorgungs-, sondern auch Entsorgungsprobleme. Es genügt bereits, daß der Abfall nicht mehr weggeschafft werden kann — und es dauert nicht lange, bis akute Gefahr von Epidemien droht. Am Anfang wird man die Nahrungsmittel rationieren. Die Menschen müssen lediglich den Gürtel enger schnallen. Aber irgendeinmal dankt der Staat ab, der Nachschub versiegt. Dann geht es um Leben oder Sterben.

Wie bereits im vorangehenden Kapitel dargelegt, gibt es auch in Krisen- und Kriegsgebieten, manchmal mitten im Chaos, kleine Überlebensinseln, geschützte Zonen relativer Ruhe. Aber für viele Menschen ist dort nicht Platz. Außerdem wird man sich nicht erst dann in eine solche zurückziehen können, wenn die Situation bereits chaotisch geworden ist. Entweder man hat rechtzeitig vorgesorgt, oder man wird von den Ereignissen überrollt werden und mit der Masse untergehen.

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  Besinnung auf die Notwendigkeiten des Lebens 

Angenommen, Sie wüßten von so einem Ort. Was braucht man, um allenfalls überleben zu können? Um das Gedankenspiel fortzuführen: Was würden Sie mitnehmen, wenn Sie sich zurückziehen müßten? Es kann hier natürlich nicht darum gehen, eine ernstfall­taugliche Checkliste von Überlebensutensilien zu erstellen. So schnell wird der Crash nicht erfolgen. Aber es ist interessant, sich bewußt zu machen, wie stark wir abhängig geworden sind von einer funktionierenden Infrastruktur — und wie wenig wir vorbereitet sind auf ein Leben ohne Luxus, Komfort und Versorgung.

Vorweg: Was Sie nicht brauchen, ist Ihr großes Farbfernsehgerät. Es wird zwar möglicherweise mit Solarstrom versorgt sein, so daß Sie es auch dort, wo Sie überleben wollen, betreiben können. Aber bei der ersten Panne wird niemand zu finden sein, der Ihnen das Gerät repariert. Außerdem wird es bald einmal keine Sendungen mehr geben. Ein einfaches, robustes Radio — mit Solarzellen, versteht sich — macht da schon mehr Sinn. Den Computer lassen Sie ebenfalls am besten zu Hause. Dort, wo Sie hingehen, würden Sie ohnehin nicht viel mit ihm anfangen können. Das Auto werden Sie zwar im Alltag auch nicht benötigen. Aber es kann nichts schaden, es in der Nähe — zusammen mit genügend Treibstoff — bereit zu halten für den Fall, daß Sie plötzlich in Gefahr geraten und flüchten müssen. Aber gut versteckt muß es sein. Sonst ist es weg, wenn Sie es benötigen.

Es sind ganz andere, viel einfachere Dinge, die wichtig werden. Das erste und wichtigste ist Wasser, frisches, sauberes Wasser. Das ist schon die halbe Miete. Zweitens: Boden, um Eßbares anzupflanzen. Saatgut sowie ein paar Hühner sind Gold wert, ebenso Gerät, um den Boden zu bewirtschaften — und ein gewisses Know-how, wie man das macht. Wer auch noch über einen gewissen Vorrat an Öl, Salz und Zucker verfügt, ist bereits ein Glückspilz.

Sie werden sich kleiden müssen. Und da kann es sein, daß nichts, was Sie in Ihrem Schrank finden, für das, was Sie vorhaben, geeignet ist. Die Designerbluse und der Nadelstreifenanzug mögen zwar hübsch anzusehen sein, aber ob und wie lange Sie werden heizen können, steht in den Sternen. Sie brauchen deshalb warme, robuste und dauerhafte Klamotten. Und Schuhe. Denken Sie vor allem an robustes Schuhwerk. Und nicht nur für zwei Monate. Gummistiefel sind übrigens nicht nur allwettertauglich, sondern auch besonders solide. Sie halten Jahre.

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Von Ihren wichtigsten Accessoires, dem Aktenköfferchen und der Damenhandtasche werden Sie sich nicht trennen können. Das wäre zuviel verlangt. Nehmen Sie sie halt als Andenken an frühere Zeiten mit — aber füllen Sie sie zumindest mit Dingen, die Sie wirklich brauchen: Zahnbürsten, Nähzeug Klebstoff, Messer, Scheren, und etwas, womit Sie Messer und Scheren schleifen können. Denn es könnte länger dauern, bis Sie wieder irgendwo neues Gerät kaufen können.

Sie werden dringend etwas brauchen, womit Sie Feuer anzünden können. Aber das goldene Gasfeuerzeug brauchen Sie gar nicht erst mitzunehmen. Sie würden es bald einmal nicht mehr nachfüllen können. Sie brauchen etwas handfestes und vor allem dauerhaftes. Zündhölzer sind eine prima Sache — aber nur, solange man hat. Wie wär's mit einem Feuerstein? 

Alsdann brauchen Sie Werkzeug, um Holz schlagen und bearbeiten zu können. An Ihrer einfachen Behausung wird es immer etwas zu zimmern geben. Wo Plastik fehlt, ist Holz allemal der Werkstoff der Wahl. Im übrigen brauchen Sie Brennholz zum Kochen und Wärmen. Und wenn es eben geht, nehmen Sie genügend Seife und Toilettenpapier mit. Vor allem letzteres wird gerne vergessen. Dort, wo Sie überleben wollen, gibt es keine Zeitungen und möglicher­weise auch keine Palmenblätter. 

 

   Überlebensgemeinschaften   

Freunde und gute Nachbarn zu haben, wird dann entscheidend sein. Denn plötzlich zählt die Solidarität der Menschen vor Ort — und nicht diejenige in den virtuellen Räumen des Cyberspace. Im engeren lokalen und regionalen Umfeld, und nicht bei den Antipoden, entscheidet sich, ob man genug zu essen und zu trinken hat — und ob man sich gegen eventuelle Überfälle schützen kann.

Wo mehrere Menschen in einer überschaubaren Gemeinschaft zusammenleben und zusammenhalten, erhöhen sich sofort die Chancen aller, zu überleben. Man hilft sich gegenseitig. Schwierigere Probleme können gelöst, größere Vorhaben erfolgreich verwirklicht werden. Wo das Wissen, die Ideen und das Know-how mehrerer Menschen zusammenkommen, findet sich fast immer eine Lösung. Was ein einzelner nie schaffen würde — gemeinsam kann man es erreichen.

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Es wäre eine Verschwendung von Zeit und Kraft, wenn jeder für sich allein sorgen würde. Der eine baut etwas Getreide an, der zweite Kartoffeln, der dritte vielleicht Gemüse. Man teilt, was man hat, denn man ist ohnehin wechselseitig aufeinander angewiesen. Man wird immer wieder gemeinsam Rat halten, was zu tun und zu lassen ist. Aber man kommt ohne Hierarchie und Bürokratie aus. Koordination und Steuerung erfolgen durch direkten Dialog.

Nicht zuletzt im Hinblick auf gute Verständigung und Zusammenarbeit tun Sie gut daran, sich rechtzeitig nicht nur darüber Gedanken zu machen, wohin Sie sich zurückziehen könnten, sondern vor allem auch, mit wem. Verbündete zu haben, ist das wichtigste. Und am besten gelingt das Projekt, wenn man es von Anfang an mit ihnen gemeinsam geplant hat. 

 

   Tauschhandel und Selbstverteidigung   

Daß es dann noch eine intakte Industrie mit funktionierenden, internationalen Vertriebskanälen gibt, ist nicht anzunehmen. Banken und Versicherungen werden mangels Kunden ihre Büros ebenfalls geschlossen haben. Es ist sehr zu bezweifeln, daß Ihr Geld noch irgendeinen Wert besitzt. Denn niemand kann ihn zuverlässig beziffern, niemand ist bereit für einen Fetzen Papier so wertvolle Dinge wie eine Handsäge, einen Feldstecher oder gar einen Sack Mehl herzugeben.

Hingegen werden, wo immer Kontakte mit anderen Überlebenden zustande kommen, Waren und Dienst­leistungen getauscht werden. Einer weiß, wie man eine Wunde versorgt, der andere, wie man eine brauchbare Feuerstelle einrichtet. Einer hat etwas Käse anzubieten, der andere ein Stück Hammelfleisch. Flicke ich dir dein Fenster, gibst Du mir ein paar Kartoffeln. Einer hat noch viel Mehl und einen Holzbackofen. Sie haben noch einiges an Zucker, aber seit Monaten kein Brot mehr gegessen. 

Sie glauben gar nicht, wie sehr Sie Brot vermissen können, wenn es keines gibt. Einfaches, gewöhnliches, trockenes Brot. Eine Delikatesse.

Und dann ist da noch die Gewissensfrage: Waffen — oder keine Waffen? Soll man sich verteidigen, wenn man überfallen wird? Oder gefährdet man sich gerade dadurch, daß man Waffen hat? Wird der Angreifer nicht provoziert, wenn er merkt, daß man sich verteidigen will und kann? Und davon abgesehen: In einem Kampf riskiert man sein Leben. Sind die Überlebenschancen nicht eventuell höher, wenn man sich von vornherein kampflos ergibt und unterwirft? 

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Auf diese Fragen gibt es letztlich keine allgemein­gültigen, in jeder denkbaren Situation einzig richtigen Antworten. Man kann von vornherein mit einer Übermacht konfrontiert sein und sich tatsächlich besser gleich ergeben. Man kann mal Glück haben, und die Angreifer ziehen weiter, ohne allzu großen Schaden angerichtet zu haben. Aber im Normalfall gilt ein Prinzip, das da heißt: Wer sich nicht wehrt, kommt unter die Räder. Die Erfahrung zeigt immer wieder: In Krisengebieten werden oft gerade unter der unbewaffneten Zivilbevölkerung Blutbäder angerichtet. Die Möglichkeit, sich zu verteidigen, ist und bleibt eine wichtige Voraus­setzung für das Überleben im Crash.

Nicht zuletzt sprechen auch Sicherheitsgründe dafür, in einer Gemeinschaft zu leben. Es ist für jeden Angreifer schwieriger, eine Siedlung zu überfallen als eine einzelne Familie. Und sogar wenn Sie nicht bewaffnet sind — er weiß es nicht. Er überlegt sich immer vorher, welche Risiken er eingehen will. Je mehr Hürden man aufbaut, desto größer der Aufwand und die Risiken für jemanden, der Ihnen ans Leder will. Aber die perfekte Sicherheit gibt es nicht. Am Schluß hat man Glück oder Pech. 

 

    Alte Werte — neue Werte   

Glück oder Pech beginnen schon damit, in welcher Gegend man lebt; wie gewalttätig der Zusammenbruch sich gestaltet; ob Nischen zu finden sind, in denen Chancen bestehen, längerfristig zu überleben; wie groß oder klein die Gemeinschaft ist, an die man Anschluß gefunden hat.

Aber auch wenn man Glück hätte: 

Es wäre ein hartes, gefahrvolles Leben. Medizinische Versorgung wäre weitgehend in Frage gestellt — zumindest in der Form, wie wir sie heute haben. Wer noch Zugang hätte zu einfacher Unfallchirurgie, könnte von Glück reden — denn auch sie ist auf ein Minimum von Geräten und Medikamenten angewiesen. Es wäre ein einfaches Leben voller Entbehrungen. 

Aber Lebensqualität ist eine relative Angelegenheit — und sie wird subjektiv höchst unterschiedlich empfunden. Die Abwesenheit von Hektik, Gestank, Lärm und Streß, genügend frische Luft und körperliche Arbeit, ja sogar der Verzicht auf manch liebgewordenen Luxus — all dies würde sich möglicherweise nicht nur negativ auf die Gesundheit und das Befinden auswirken.

Die Reduktion der Komplexität würde uns jedenfalls besser bekommen, als wir es je vermutet hätten. Und die Renaissance alter, in der Leistungs­gesell­schaft verloren gegangener Werte wie Gemeinschaft und Solidarität wäre nicht nur kein Rückschritt, sondern sogar ein bemerkenswerter Fortschritt gegenüber unserer gewohnten Lebensweise. Manch einer würde vielleicht erstmals erleben und möglicher­weise von Grund auf lernen müssen, was es heißt, Mensch zu sein. 

Doch soweit müßte man erst einmal kommen, wenn das Chaos wirklich ausgebrochen ist. Gerade in unseren hochentwickelten, dichtbesiedelten und auf Konsum ausgerichteten Ländern wird sehr viel Glück dazu gehören, zu überleben, wenn die Strukturen, die wir Zivilisation nennen, einmal zusammen­brechen.

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Christoph Lauterburg   Fünf nach Zwölf   Der globale Crash und die Zukunft des Lebens