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Einführung  - Landkommunen - 1890-1933  -  Linse-1983

 

Und auch wir fragen uns: Wer ist unser Nächster? Müssen wir nicht (...) zum kritischen Zweifel zurückkehren und schlußfolgern, daß die unmittelbare Begegnung eines Menschen — die Begegnung, die aus mir den Nächsten dieses konkreten Menschen machen könnte —, ein Mythos ist; angesichts des tatsächlichen Lebens in der Gesellschaft — der Traum von einem anderen Modus der menschlichen Beziehungen als dem wirklichen Modus?     (Paul Ricoeur, Der Sozius und der Nächste) 

  wikipedia  Paul_Ricoeur   *1913 in Südfrankreich bis 2005 (92)    qwant.com/?q=Paul+Ricoeur&t=web

 

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<Siedeln> war vom Beginn der wilhelminischen Zeit bis zum Ende der Weimarer Republik nicht nur ein Begriff, sondern auch eine Bewegung. Sie war Ausdruck der Großstadtkritik und Großstadtflucht, sie verkörperte die Sehnsucht nach dem Lande und ein Streben <Zurück zum Boden>. 

Das Resultat dieser in sich zersplitterten Siedlungsbewegung war eine Vielzahl von Siedlungsformen. In einer <Gesamtdarstellung des deutschen Siedlungs­wesens in allen Formen und Spielarten>, die just im Jahr 1933, mit dem unser Buch abschließt, erschien, wird die ungeheure Vielzahl historisch entwickelter Siedlungsarten deutlich.1

1) Gustav Adolf Küppers-Sonnenberg, <Deutsche Siedlung. Idee und Wirklichkeit>. Teil 1, Berlin 1933 (mehr nicht erschienen); Küppers war selbst ein aus der Jugendbewegung kommender Einzelsiedler; er wurde vor allem durch seine Topinamburzucht bekannt. Während der Welt­wirt­schaftskrise gründete er einen Siedlungsbund der Erwerbslosen.

Da gab es als Typen: 

Bauernsiedlung, Landarbeitersiedlung, Gärtnersiedlung, Anlieger­siedlung, Ableger­siedlung, Tier­zucht­siedlung (Geflügel- und Pelztierfarm), gewerbliche Siedlung, industrielle Siedlung, Kurz­schichten- oder Neben­erwerbs­siedlung, produktive Garten­heimstätte, Arbeiter­rentengut, Gutsrandsiedlung, Erwerbs­losen­vollsiedlung, Beschäftigungs- oder Durch­halte­siedlung, Genossen­schafts­siedlung, Sanatorien­siedlung. Klein­haussiedlung, Villen­kolonie, Vorort­siedlung. Garten­stadt­siedlung, Trabanten­stadt­siedlung, Wochenend-Wohnsiedlung, Werk(wohn)siedlung, Lauben(wohn)-kolonie. 

Waldkolonie, Seesiedlung, Sanitär- oder Erholungs­sied­lung, Wochen­end-Sportsiedlung (Zeltstädte, Sportlager, Körper­kulturgelände, Sportkolonie), ländliche Pflegestätte (ein­schließ­lich Kinderheim), Settlement, Künstlerkolonie, Forschungs­siedlung, Schulsiedlung (ländliche Volks­hochschule, Land­schulheim), Siedlerschule, Arbeitslager, usw, usw.

Aus dieser Fülle will dieses Buch nur einen kleinen Ausschnitt zeigen: die ländliche Gemein­schafts­siedlung.  

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Wir finden sie bereits in der Darstellung von 1933, in der neben Wirtschaftssiedlungen, Wohnsiedlungen, Not- und Ergänzungs­siedlungen, Parzellen­siedlungen, Nutzgartensiedlungen und Kleingartensiedlungen auch die »kulturellen« oder »romantischen« Siedlungen genannt werden. »Hierunter sind«, so führt der Verfasser aus, »die durch einen besonderen, in irgendeiner Weise mehr ideell als materiell bestimmten Zweck gekennzeichneten [Siedlungs-]Formen zu verstehen.«

Künstlich und akademisch ist dagegen die Untergliederung dieser »kulturellen Siedlung« in biologisch (Gesundheit, Sport, Kinderpflege), religiös, politisch, sozial, ästhetisch und theoretisch-pädagogisch bestimmte Formen. Denn in der Wirklichkeit vermischen sich diese Aspekte. Wir reden deshalb in diesem Buch zusammenfassend von weltanschaulich motivierten Siedlungen, und diese können vielerlei Gestalt annehmen. Sie führen oft Kinderheime, zeigen häufig eine politische oder religiöse Motivation und soziale Ausrichtung, betreiben öfters neben der Landwirtschaft auch Volkshochschulen und Landschulheime, und sie ähneln in einigen Fällen einer Künstlerkolonie.

Was sie aber in jedem Falle eint, ist die Tatsache, daß sie eben »romantisch« sind, genauer gesagt, daß sie augenblicksgebundene ökonomische, politische und soziale Zwecksetzungen einer diese transzendierenden Zielsetzung unterwerfen. Sie wollen »gelebte Utopien« sein, die das künftig Mögliche keimhaft vorwegnehmen.

Wir könnten jetzt zur besseren Erfassung des Wesens dieser Gemeinschaftssiedlungen einen histor­ischen Exkurs einschalten, der beginnen würde mit der »Gemeinde« der Hutterischen Brüder oder vielleicht gar zurückgriffe bis auf die klösterliche Gemeinschaft der Essener in Qumran.

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Durch eine solche geschichtliche Darstellung würden einige wesentliche Elemente der kommunitären Lebens­weise faßbar: die »ideelle«, wertorientierte, nicht auf bloßen Nützlichkeitserwägungen fußende Begründung des Miteinanderlebens, das Streben nach einem Leben in Gleichheit und Brüderlichkeit, also die Beseitigung der sozialen Unterschiede, des Privatbesitzes, der autoritären Zwangseinrichtungen (wenn diese auch nur durch verbindliche Wertvorstellungen und durch den Gruppendruck als informelle soziale Kontrollinstanzen ersetzt werden) und der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen.

Stattdessen wird die aktive genossenschaftliche Kooperation sowohl in der Produktion wie im Konsum angestrebt. Die Kommune wird damit zur erweiterten Hausgemeinschaft und zur Produktionseinheit (Gemeinsamkeit von Arbeit und Besitz). Die Siedlung sieht sich dabei nicht als untergeordneten Teil eines umfassenderen ökonomischen (Volks­wirtschaft), politischen (Staat) oder weltanschaulichen (Kirche, Partei) Ganzen, sondern als eigenständige wirtschaftliche, politische und geistige Einheit — eben als »Gemein« (so die Hutterer), in der alle diese in der sie umgebenden Gesellschaft ausdifferenzierten Funktionen in einer sichtbaren Einheit konzentriert sind.

Weitere soziologische Bemühungen sind darauf gerichtet, von dieser deskriptiven Ebene auf das Wesen der Gemein­schafts­siedlungen vorzustoßen. Philip Abrams und Andrew McCulloch2) sehen hinter den kommunitären Bestrebungen den Versuch, die »Freundschaft« (die philia, wie sie Aristoteles im 8. und 9. Buch seiner Nikomachischen Ethik analysierte3) sozial zu institutionalisieren.

Der Freundschafts-Bund wurde von Aristoteles als lebendige Triebkraft der gesamten Gesellschaft gesehen, als wesentlicher Inhalt sowohl der familiären, verwandtschaftlichen und kameradschaftlichen Gesellung wie des politischen Zusammenschlusses in der Polisgemeinschaft, deren Eintracht durch die ihr zugrunde liegende aktive und gegenseitige Freundschaft Gleicher garantiert ist. Das Wesen dieser politischen Freundschaft (politike philia) ist durch eben diese Gleichheit bestimmt, die auf der Freundschaft eines jeden zu sich selbst, das heißt zum Guten in sich und dann auch im anderen — seinem zweiten Ich — beruht.

Die Eintracht wiederum basiert auf der harmonischen Existenz des Menschen, auf der Übereinstimmung mit seinem wahren Selbst, und auf der darauf fußenden Übereinstimmung der Menschen untereinander.

2)  Philip Abrams und Andrew McCulloch, Communes, sociology and society. Cambridge 1976.
3)  Vgl. Siegfried Kracauer, Über die Freundschaft. Frankfurt a. Main 1971; Robert Brain, Freunde und Liebende. Zwischenmenschliche Beziehungen im Kulturvergleich. Frankfurt a. Main 1978.

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Aus dieser Freundschaft resultiert der Wunsch nach dem gemein­schaftlichen Leben, das optimale Selbst­verwirklichung und Gestaltung einer gerechten Ordnung bedeutet. Die mit der Entstehung des modernen Staates — so die weitere Schlußfolgerung der Verfasser — erfolgte Verdrängung der Freundschaft in den privaten Bereich bei gleichzeitiger Bürokratisierung und Hierarchisierung des öffentlich-herrschaftlichen Sektors, versuche die Kommune­bewegung wieder rückgängig zu machen, indem sie sich ernsthaft bemühe, die Freundschaft in der Form einer öffentlichen Vereinigung wieder­zubeleben.

Dieser soziologische Ansatz wirft Licht auf Außenaspekte der Kommunen, etwa ihre Suche nach »Nestwärme in erkalteter Gesellschaft« (Gerd-Klaus Kaltenbrunner).

Noch besser läßt er die psychologischen und sozialen Binnenprobleme der Siedlungs­gemeinschaften verstehen: ihre Instabilität, sobald nicht die »Liebe zum Guten«, zur »Tugend«, sondern der gegenseitige Nutzen und Vorteil oder der persönliche Lustgewinn sie motiviert — Eintracht ist ja nach Aristoteles nur gewährt, wenn sie auf objektiven Werten, welche der Freund verkörpert, beruht; oder die Schwierigkeiten, die daraus entstehen, daß die Freundschaft Gleicher nur möglich ist, wenn sie auf Selbstkenntnis und Selbstachtung fußt — denn erst die Offenbarung der eigenen Identität enthüllt die des anderen; oder der Hinweis, daß die aktive (nicht die rezeptive) Beziehung der Gleichen nur wechselseitig vollzogen werden kann — während man den anderen Freundesliebe erweist, erkennt man auch erst das Gute in ihnen. Dieser Austausch aber setzt Vertrauen, also Zeit zum gegenseitigen Vertrautwerden voraus, nur so gewinnt auch die Freundschaft Dauer.

Ein weiterer Vorteil dieser soziologischen Perspektive liegt darin, daß sie das mögliche gesellschaftliche und politische Regenerations­potential der Kommunen erhellt: Es scheint alles andere als zufällig, daß einer der großen Sänger der westlichen Demokratie, der amerikanische Dichter Walt Whitman, nicht nur die Freundschaft in seinen Gesängen beschwor, sondern — in seiner Schrift <Democratic vistas> — die Freiheit des demokratischen Gemeinwesens auf der aktiven Kooperation vollentfalteter Persönlichkeiten, Männern wie Frauen, aufgebaut wissen wollte.

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Freilich ist die Kategorie der Freundschaft allein nicht ausreichend, um das Wesen der Kommune zu verstehen. Der sektiererisch-schwärmerische Inhalt dieser Gemeinschaft bleibt dabei ebenso im Dunkel wie ihr spannungsgeladenes Verhältnis zur »Welt«, die sie »gegen«-kulturell verneint4). Hier scheint uns der von Max Weber systematisierte Begriff der »Brüderlichkeit« weiterzuführen. Weber5) sah die Wurzel der Brüderlichkeit in der Nothilfe des Nachbarschafts­verbandes. Sie ist zunächst universale Volksethik, beruhend auf dem Aufeinander­angewiesensein in der Not. Die wirtschaftsethische Gesinnung der Brüderlichkeit ist in diesem Sinne also durchaus nüchtern und unpathetisch zu verstehen als das Prinzip der gegenseitigen Hilfe (»Reziprozitätsethik«).

Doch die Brüderlichkeit entwickelte sich weiter zum spezifischen Inhalt der religiösen Ethik der prophetischen Erlöserreligionen, wobei die brüderliche Haltung entweder in vollem Umfang nur innerhalb des Kreises der Glaubensgenossen (Gemeindereligiosität) oder auch losgelöst vom konkreten religiösen Verband (Liebesuniversalismus) gilt. Weber sah diese Brüderlichkeit in den religiös oder weltanschauungs­mäßig kommunistischen Wirtschaften (Mönchs- oder Sekten­gemeinschaften, ikarischer Sozialismus) wirksam und verband sie mit einer »primär außerwirtschaftlich orientierten Gesinnungs-Einstellung«.

Denn die kommunistische und dabei rechnungsfremde Leistungsvergemeinschaftung gründe sich eben nicht auf der Errechnung von Versorgungsoptima, sondern auf unmittelbar gefühlter Solidarität. Die kommunistische Wirtschaft — entweder selbst arbeitend oder »mäzenatisch susteniert« — setze sich so in Gegensatz zur traditional oder zweckrational, d.h. rechenhaft und leistungsteilig arbeitenden Umwelt.

Aufgehoben werde dieser Gegensatz in der protestantisch-asketisch rationalen Religiosität und der aus ihr erwachsenden kapitalistischen Ethik, verschärft dagegen in einer mystischen Religiosität, welche die Forderung der Nächstenliebe zum Postulat der schlechthin wahllosen Güte und Selbsthingabe (»objektlos liebende Hingabe«) steigert.

4)  Wir wollen uns mit dieser Bemerkung nicht der Zwei-Kulturen-Theorie anschließen, da unserer Meinung nach alle Formen der sogenannten gegen-kulturellen Bewegung Teile einer umfassenderen Kultur sind. Auch das alternative Leben ist Teil unseres Lebens, insofern es die Defizite (oder was als solche empfunden wird) und möglichen Auswege aus unserer Situation anspricht. Es kann nicht eine Kultur aus der anderen ausgegrenzt werden, sondern die etablierte Kultur produziert Ängste und Wünsche, die in der Gegenkultur sichtbare Gestalt annehmen.
5)  Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 1972, S. 88 f., 215ff., 350ft.; ders.. Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I. Tübingen 1972, S. 542 ff. Dazu: Paul Ricoeur, Der Sozius und der Nächste. In: ders., Geschichte und Wahrheit. München 1974.

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Durch diesen Ansatz wird der Konflikt der Brüderlichkeitsethik mit der »Welt« deutlich sichtbar, geht doch Weber in immer erneuten Wendungen diesem »prinzipiellen Scheitern der Brüderlichkeitspostulate an der lieblosen Realität der ökonomischen Welt, sobald in ihr rational gehandelt wird«, nach. Denn das ökonomische wie das politisch rationale Handeln, ja jedes Handeln innerhalb der »Welt«, folge Eigen­gesetz­lichkeiten, da es »unentrinnbar an die brüderlichkeitsfremden Bedingungen der Welt, die seine Mittel und Zwecke sein müssen, gebunden« sei.

So müsse die Brüderlichkeitsethik zur »antiökonomischen« und »antipolitischen« Weltablehnung führen, aber auch zu eigenen Formen orgiastischer Sexualität (oder Askese) und einer mystischen Kunst (oder zum Ikonoklasmus). Hier liegen also die Wurzeln des Konflikts der »kommunistischen« Kommunen mit dem modernen Staat ebenso wie mit der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, aber auch zur »bürgerlichen« Sexualität und Kunst. (Die orgiastische Kunstrevolution wird im vorliegenden Band am deutlichsten bei Heinrich Vogeler sichtbar). Der Bruch mit der »alten Welt« und die Sehnsucht nach einer »neuen Welt«, die Isolation der Kommune und die Sehnsucht nach der großen Wende (apokalyptische und millenarische Erwartungen) resultieren hieraus.

Die Isolation wird teilweise geradezu die Voraussetzung des Überlebens in einer der Brüderlichkeitsethik feindlichen Welt; aber selbst in einer der Siedlung prinzipiell sympathischen »kommunistischen« Umwelt müßte der »Idealismus« der Gemeinschaft andauernd gegen nivellierende Einflüsse von »draußen« verteidigt werden. Webers Analyse führt uns auch zu einer typischen inneren Problematik kommunitären Handelns (sie wird in diesem Buch besonders an der Debatte zwischen Eberhard Arnold und Emil Blum um die Gestaltung des Habertshofes dokumentiert): Soll es sich am Erfolg, wie immer dieser rational in der politischen, sozioökonomischen, psychologischen, pädagogischen Sphäre bestimmt wird, orientieren, oder an einem ethisch zu bestimmenden Eigenwert des solidarischen Handelns? Wie verhalten sich die ethische Gesinnung und die eingesetzten Mittel zueinander, etwa beim Konflikt um die Frage der Technisierung und Mechanisierung der landwirtschaftlichen Arbeitstätigkeit auf den Siedlungen? Ist überhaupt schon ein Handeln unter den Kategorien Mittel und Zweck als weltgebunden abzulehnen?

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Hier liegen auch Erklärungsmöglichkeiten für das Scheitern von Kommunen: Bei wirklich konsequenter Durchführung der Brüder­lichkeitsethik, so meinte Weber, werde »das eigene Handeln gegenüber den Eigengesetzlichkeiten der Welt zur Irrationalität der Wirkung verurteilt«.

Freilich muß Webers Aussage gerade in diesem Punkt auch am historischen Material relativiert werden. Schon die Tatsache, daß die Hutterer ihre kommunistische Lebensweise jahrhundertelang bewahren konnten, zeigt, daß diese mit den ökonomischen Notwendigkeiten, zumindest in einer agrarischen Gesellschaft, nicht im Konflikt stand; im Gegenteil, die genossenschaftliche Produktionsweise ermöglichte es, daß sie für die technische Ausrüstung ihrer Betriebe mehr Kapital einsetzen und bei der Wahl der Produktionsmethoden das Wirtschaftsprinzip besser berücksichtigen konnten.

Auch die ländlichen Kommunen in Deutschland fanden für die durch die antiindustrielle Revolte motivierten kunsthandwerklichen Produkte oder für Reformwaren auf dem Nahrungsmittelsektor bei Teilen der städtischen Gesellschaft guten Absatz (Vertrieb über Dürerhäuser bzw. Reformhäuser). Auch ihr Bildungsangebot (Landschulheime, Gymnastikschulen, Volkshochschulen, Verlagsprodukte) wurde durchaus von der umgebenden Gesellschaft angenommen. Trotzdem kämpfte jede Kommune irgendwann einmal diesen von Weber herausgestellten Kampf zwischen dem kommunistischen Ethos und der kapitalistischen Zweckmäßigkeit.

Webers Begriff der Brüderlichkeit verweist auch auf einen möglichen Beitrag der Kommunen zur Überwindung von Einseitigkeiten bisherigen kapitalistischen Wirtschaftens. Jürgen Habermas6) hat jüngst die »Brüderlichkeitsfeindschaft der kapitalistischen Wirtschaft« angeprangert und vorgeschlagen, die von Weber analysierte Brüderlichkeitsethik als ein moralisch-praktisches Potential zu sehen, das bisher zwar nicht in die kapitalistische Wirtschaft eingegangen sei7), deshalb jedoch nicht als irrational gebrandmarkt werden könne.

6)  Vgl. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt a. Main 1982, Bd. 1 , S. 312ff. und Bd. 2, S. 450; ders., Dialektik der Rationalisierung. In: Ästhetik und Kommunikation, Heft 45/46.
7)  Hier wäre Habermas freilich entgegenzuhalten, daß der sozialen Marktwirtschaft dieses Element nicht ganz fremd ist.

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Vielmehr sei die protestantische Ethik und ihre egozentrische, gnaden-partikularistische Berufs­askese selbst als »eine höchst irrationale Verkörperung der religiösen Brüderlichkeitsethik« zu relativieren und stattdessen historisch antithetisch entwickelte ethische Visionen und institutionelle Formen »kommunikativen Handelns« (er nennt die Gemeinschaften der Täufer und die moderne Alternativ­bewegung) zu aktivieren. Nur so könne die Selektivität des Musters der kapitalistischen Rationalisierung durch eine »kommunikative Rationalität« korrigiert werden.

Die beiden genannten sozialen Kategorien »Freundschaft« und »Brüderlichkeit« verbergen freilich gerade dank ihrer allgemein­gültigen Abstraktheit die Tatsache, daß die Kommunen nur in einem ganz bestimmten historischen Kontext aufgetreten sind: Sie sind — will man klösterliche Gemeinschaften nur als Vorläufer gelten lassen — ein Produkt Europas (wenn sie auch exportierbar waren) und eine Erscheinung der Neuzeit. Innerhalb der Neuzeit wiederum lassen sich drei historische Schichten der Kommune-Entwicklung ausmachen, die drei Typen der Kommune zur besonderen Ausprägung verhalfen:

Die religiöse Kommune. Sie hatte, nach Anfängen zu Beginn des 16. Jahrhunderts, ihren Höhepunkt im 17. und 18. Jahrhundert. Wenn auch die Jesuiten zum Zwecke der Mission in Übersee solche Projekte ins Leben riefen, so war doch die Mehrzahl der Siedlungen protestantischen bzw. reformatorischen Charakters. Ihre Motivation war meist ein religiöser Purismus, d.h. der Wunsch, zur Lebensweise der Urgemeinde zurückzukehren und den Glauben in Lebenspraxis umzusetzen. Dieser Wunsch stieß sich meist hart an den staatlichen bzw. kirchlichen Obrigkeiten, so daß viele sektiererischen protestantischen Gruppen Europas in Nordamerika vor religiöser oder politischer Unterdrückung Zuflucht suchten und die Neue Welt damit zum bevorzugten Schauplatz ihrer religiösen Lebensexperimente in Gemeinschaft wurde. Die religiöse Kommune lebt bis heute weiter, wenn sie sich auch vielfach von ihrem christlichen Hintergrund gelöst hat und spirituelle oder mystische Zielsetzungen mit fernöstlichem Einschlag als Ausdruck eines neuen Synkretismus beinhaltet.

Die sozialreformerische Kommune. Sie schloß sich zumindest in Amerika zeitlich bruchlos an die religiös-sozialistische Kommune an, übernahm sozusagen deren Erbe und war eine Erscheinung des 19. Jahrhunderts. Sie begann ihren Siegeszug mit den Frühsozialisten — den Fourieristen, Owenisten, Ikariern usw. —, und so sehr sich deren Zielsetzungen voneinander unter­schieden, so war ihnen doch die Unzufriedenheit mit den sozialen Bedingungen der industriell-kapitalistischen Umwelt, insbesondere mit der Lage der arbeitenden Klasse, gemeinsam.

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Vorzugsweise ebenfalls in der Neuen Welt wollten sie in der Abgeschiedenheit ihrer kooperativen Siedlungen eine ideale Gemeinschaft errichten und so der Unordnung der Gesellschaft eine »utopische« Neuordnung entgegensetzen. Es ist bekannt, daß auch dieser Typus in gewandelter Form weiterexistiert, da sich heute vielfältige politische und sozialreformerische Zielsetzungen für Kommunen anbieten — Homosexuellen-Emanzipation, Frauenbefreiung, Friedensarbeit, Umweltschutz usw. Gemeinsam ist diesen Kommunen, daß sie mit ihrem Zusammenleben ein außerhalb ihrer Gemeinschaft liegendes, das größere Ganze umfassendes Ziel verfolgen.

Während die Kommuneliteratur bis zu den fünfziger Jahren nur diese beiden Typen kannte, wurde in der zweiten Hälfte der sechziger und in den siebziger Jahren ein dritter Typus von Siedlung sichtbar: die psychosoziale Kommune. Ihr Ziel war es, die Selbstentfremdung, die Einsamkeit und soziale Isolation, die innere Fragmentierung des Menschen aufzuheben und zur Selbst­verwirklichung, zu persönlichem Wachstum, zur Totalität des Ichs vorzudringen. Seine bezeichnendste Form fand dieser Typus in selbstkonzentrierten Therapie-Kommunen.

Gemeinsam haben die religiöse und sozialreformerische Kommune, daß sie ihr Zusammenleben mehr als ein Mittel zu einem religiösen oder sozialreformerischen Zweck betrachten, während bei der psychosozialen Kommune das Gemeinschaftsleben eher zum Selbstzweck geworden ist. Auch die Erfolgskontrolle wird bei den drei Typen unterschiedlich sein: Die religiöse Kommune müßte daran gemessen werden, ob sie ihre lebendige Spiritualität bewahren und erfolgreich über die Zeiten retten konnte. Die sozialreformerische Kommune wäre zu befragen (so wie dies etwa Martin Buber in seinem Buch <Pfade in Utopia> macht), ob sie nicht nur in sich selbst, sondern vor allem auch, was die Gesamtgesellschaft betrifft, einen Beitrag zur »sozialen Rekon­struktion« vorzuweisen hat. 

Die psychosoziale Kommune dagegen steht und fällt mit ihrer Fähigkeit, das gesellschaftlich gestörte Gleichgewicht zwischen individueller Freiheit und Selbstverwirklichung auf der einen Seite und dem gegenseitigen Austausch und der Solidarität auf der anderen Seite in ein neues harmonisches Gleichgewicht zu bringen.

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Übrigens sind nicht nur die genannten Erwartungen, sondern auch die geäußerten Vorwürfe gegenüber den drei Typen unterschiedlich: Den religiösen Kommunen wird entgegengehalten, sie seien, wenn nicht überhaupt von kurzer Lebensdauer, dann doch geistig steril geworden. An den sozialreformerischen Experimenten wird kritisiert, sie seien meist schon an ihren eigenen sozialen und ökonomischen Mängeln und der Unfähigkeit zur übergreifenden Föderation (als Voraussetzung einer nach außen strahlenden Wirksamkeit) in ihren gesellschaftsverändernden Zielsetzungen gescheitert. Und gegenüber den psycho-sozial motivierten Gründungen wird skeptisch geäußert, sie seien nicht in der Lage, einen wirklichen Ausgleich zwischen Selbstgewißheit und Gegenseitigkeit zustandezubringen; zudem habe sie das Fehlschlagen der Gesellschaftstransformation in der vorausgehenden Phase der sozialreformerischen Kommunen in das Extrem einer sozialen Wirklichkeitsflucht (»Nabelschau«) geführt.

Während auf der einen Seite die Soziologie die kontemporäre Kommunebewegung verständlich zu machen sucht — als Suche nach »Nestwärme in erkalteter Gesellschaft« oder als tentative Ansätze zur theoretischen und praktischen Bearbeitung von ungelösten Problemfeldern der etablierten Kultur —, hat die gleiche Wissenschaft andererseits die Zweifel an einer Wirksamkeit der Kommune als Heilmittel für die gesellschaftlichen Übel und die psychosozialen Gebrechen der Person verstärkt. Denn die soziologische Untersuchung von Kommunen brachte u.a. ans Licht, daß diese zwar vorgeblich die Nöte der Gesellschaft bzw. des Menschen beschwören, sie in Wirklichkeit aber diese nur aus der Sichtweise einer Klasse wahrnehmen: die kontemporären Kommunen also aus dem Blickwinkel der weißen Mittelklasse, genauer gesagt, dem bildungsbürgerlichen Sektor (erziehende, sozial helfende und heilende Berufe) dieser Klasse.

Droht in der modernen Gesellschaft der klassische bildungsbürgerliche Zusammenhang von Bildungswissen und daraus resultierender Identität und Selbstbestimmung immer mehr verloren zu gehen, so bietet sich in der Kommune eine Nische an, in welcher besser als im Berufs- und Familienleben diese traditionellen Werthaltungen bewahrt und ausgelebt werden können, ohne daß man zu den perhorreszierten Mitteln einer übergreifenden und darob unpersönlichen Interessengruppen-Organisation greift. Die bildungsbürgerliche Führungsposition ist dabei noch soweit unter der Jugend wirksam, daß auch Arbeiterjugendliche in den Sog dieser Haltung gezogen werden können, soweit sie durch Leistungsverweigerung, Arbeitslosigkeit usw. zur Ohne-mich-Haltung neigen.

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Statt Vorstoß in den öffentlichen Bereich und dessen Gestaltung also Rückzug in die Innerlichkeit, statt partieller und kompromißbereiter — eine individuelle Vervollkommnung also zurückstellender — Kollektiv­organisation der Eskapismus in eine Welt gesamtheitlicher Beziehungen und die Abneigung gegen jede formal organisierte Organisation und Aktion. Damit aber werden soziale Probleme der Gesamtgesellschaft nur noch gebrochen durch das Medium der kommunitären Primärgruppe erfahren, d.h. als persönliche Schwierigkeiten ihrer Mitglieder. Diesen gilt das therapeutische Bemühen der Lebensgemeinschaft, wobei Enttäuschungen nicht ausbleiben können.

Noch zu Beginn der dritten Phase kommunitärer Versuche herrschte die Meinung vor, man betrete mit den psychosozialen Kommunen das Feld erregender Sozialexperimente, es entstünden hier soziale Labors, in denen neue (und daher radikale) gesellschaftliche Theorien sozialen Verhaltens, menschlicher Motivation und zwischenmenschlicher Beziehungen auf ihre Realisierbarkeit getestet und so der Gesellschaft Auswege aus möglichen Krisen eröffnet würden. Heute überwiegen die Zweifel an diesem Bild der Kommunen als Instrumenten eines von der Basis kommenden und auf Selbsthilfe beruhenden sozialen Wandels. Man glaubt vielmehr zu sehen, daß es zum pathetischen Selbstbild der Kommunen gehört, sich irgendwie als Modelle für die Lösung sozialer Probleme, ja sogar der Probleme der Gesellschaft zu verstehen, daß sie aber bisher daran gescheitert sind, Zugänge zu einer besseren Neuen Welt zu öffnen.

Die Interpretation der Kommunen als »Himmel auf Erden« gehört zum Mythos der Kommune. Nähme man dieses Bild einer möglichen Verwirklichung eines innerweltlichen Neuen Jerusalem ernst, dann müßte man deutlich auf die »Grenzen der Utopie«, ja ihre Unmöglichkeit verweisen und den Blick auf <Pfade aus Utopia> lenken. Denn inzwischen meinen wir zu wissen, daß die Erfahrungen und Ergebnisse experimenteller Kleingruppen wohl nicht direkt auf größere Einheiten, ja auf ganze Gesellschaften übertragen werden können, da gerade mit dem zahlenmäßigen Wachstum einer sozialen Gruppe auch deren Komplexität, innere Differenzierung und äußere Distanzierung ihrer Mitglieder zunimmt — und damit auch die Ursachen für Ungleichheit und Entfremdung gelegt werden.

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Die Umformung einer Gemeinde, ja eines ganzen Landes in ein Netzwerk autonomer Gruppen unter Ausschaltung jeglicher Bürokratie und herrschaftlicher Kontrolle bleibt jedenfalls vorläufig noch im Bereich einer anarchistischen Utopie. Und diese ist mitsamt dem ihr zugrunde liegenden Glaubenssatz einer Perfektibilität des menschlichen Geschlechts durch bloße Wiederholung nicht glaubwürdiger geworden. Aber selbst die Binnenziele kommunitären Daseins haben unter dem soziologischen Blick viel von ihrem Glanz verloren, ist doch sichtbar geworden, daß Egalität, Freiheit, Fraternität, Zusammengehörigkeit, Herrschaftslosigkeit zwar ständige Forderungen der Kommunen sind, aber kaum völlig und gleichzeitig in die kommunitäre Praxis umgesetzt werden können.

Wir wollen uns deshalb mit einer weniger dramatischen Sichtweise der Kommunen begnügen: Sie sind zweifellos Indikatoren für die Natur und die Dringlichkeit einer Reihe von sozialen Problemen wie Generationenkonflikt, Krise der traditionellen Familie, neues Rollenverständnis der Frau, Absage an die Konsumgesellschaft, Zweifel an der ökonomischen Leistungsethik, Streben nach einer authentischen persönlichen Identität usw. Selbst wenn es wahrscheinlich ist, daß diese Schwierigkeiten nicht innerhalb der Kommunen oder durch sie gelöst werden können, verweisen die Kommunen auf die Sehnsucht nach neuen sozialen Werthaltungen.

Ferner wissen wir, daß die gegenwärtige Gesellschaft vielfältige Bedürfnisse erzeugt, von denen einige für manche Menschen optimal in Gemeinschaftssiedlungen befriedigt werden — auch wenn dabei keine soziale Veränderung, ja nicht einmal eine persönliche Erlösung bewirkt wird. Der experimentelle Charakter kommunitärer Gruppen macht sie besonders für Jugendliche attraktiv, die tradierte Rollenbilder des Erwachsenseins, der Mutter- oder Vaterschaft, der Berufstätigkeit usw. nicht übernehmen möchten, sondern neue erproben wollen. Freilich soll auch beachtet werden, daß zumindest die herkömmliche religiöse und sozialreformerische Kommune gerade für einen solchen experimentellen Lebensstil wenig Raum bot, da sich ihre Mitglieder festen Regeln und Ideologien unterwarfen.

Statt Verteufelung oder Idealisierung der kommunitären Lebensform brauchen wir eine nüchterne Kenntnis ihrer bisherigen Leistungen und Fehlschläge. Denn es wäre voreilig zu propagieren, daß die gesellschaftlichen Übel auf dem Wege einer Übernahme des kommunitären Modells beseitigt werden können, solange nicht einmal die sozialen Schwierigkeiten des kommunitären Zusammenlebens selbst ganz erforscht sind.

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Es wäre aber auch töricht, die Heilung sozial verursachter individueller Schäden allein traditionellen Instanzen wie der Familie oder der staatlichen Erziehung und Fürsorge zu überlassen, ohne das therapeutische und regenerative Potential der Kommune zu kennen. Für eine solche Bestandsaufnahme will dieser Band einen Beitrag aus der Sicht des Historikers leisten, wobei das Unter­suchungs­feld auf Deutschland beschränkt bleibt.

In der deutschen Geschichte der Neuzeit lassen sich, ähnlich wie in Amerika, jedoch mit stärkerer Unterbrechung der Kontinuität, drei Phasen der kommunitären Bewegung unterscheiden:

Die erste religiöse Phase reichte vom 16. bis ins 18. Jahrhundert, also von den Täufern bis zu den Herrnhuter Brüdern. Eine gewisse, wenn auch schon unter dem Vorzeichen der Gesellschaftsreform stehende Fortsetzung fand diese erste Periode in der kirchlichen Sozialtätigkeit des 19. Jahrhunderts (etwa in der Gründung der Arbeiterkolonie Wilmersdorf 1882 durch Friedrich von Bodelschwingh). Ihr folgte — allerdings mit einer erheblichen Phasen­verschiebung im Vergleich zum Westen aufgrund des späteren Einsetzens der Industrialisierung — eine zweite sozialreformerische Siedlungswelle. Sie war seit der Mitte des 19. Jahrhunderts literarisch vorbereitet, wurde jedoch erst während der wilhelminischen und Weimarer Zeit in die Praxis umgesetzt und fand ihren Endpunkt in den staatlichen und privaten Siedlungsunternehmen während der Weltwirtschaftskrise. Der Erste Weltkrieg selbst beschleunigte lediglich die Gründung sozialreformerischer Kommunen (besonders aus dem Kreise der Jugendbewegung), schied aber nicht zwei Kommunetypen voneinander. Die dritte Periode, die der psychosozialen Kommune, setzte dann mit der Alternativbewegung in den siebziger Jahren ein und reicht bis zur Gegenwart.

 

Die vorliegende Dokumentation ist auf die zweite Phase beschränkt. Diese bildet eine deutlich inhaltlich und zeitlich geschlossene Einheit. Während sich die erste Phase um die Seele (in einem transzendenten Sinne) und die dritte Phase um die Psyche (in einer innerweltlichen Bedeutung) kümmert, liegt der Schwerpunkt in der zweiten Phase auf der Gesellschafts­transformation. Man darf freilich trotz dieser schematischen Akzentuierung nicht übersehen, daß die Regeneration von Seele und Sozietät immer zusammen gesehen wird und deshalb hinter allen weltanschaulich motivierten Siedlungen Entwürfe einer Totaltransformation von Mensch und Welt stehen.

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Zeitlich bildet die zweite Phase auch dadurch eine Einheit, daß sie weder durch ihre Träger noch durch ihre Siedlungsgründungen mit anderen Phasen verzahnt ist. Dies gilt freilich mit der Einschränkung, daß ein christlich-radikaler und »anti-materialistischer« Traditionskern alle drei Phasen miteinander verbindet.

Ferner sind die zweite und dritte Phase — wenn auch durch die tiefe zeitliche Kluft von National­sozialismus und Nachkriegs-Wirtschaftswunder voneinander geschieden — einander dadurch ähnlich, daß sie Reaktionsweisen auf Krisenerfahrungen in einer industriellen Welt sind, daß diese Krise sehr stark unter dem Aspekt eines Generationenkonflikts erlebt wird (Jugendrevolte!) und daß schließlich die intellektuellen Berufe die Führung der Bewegung in der Hand haben (Gebildetenrevolte!) und wohl auch die Mehrzahl der Teilnehmer stellen. 

So liegen auch ausgeprägt proletarische, aber nicht im engeren Sinne kommunitäre Siedlungsformen wie »Waldheime« (sie gingen von der Stuttgarter Arbeiterbewegung aus), Schreber- und Laubengärten, »rote Kinderrepubliken« (Ferien-Zeltdörfer der Arbeiterjugend) und genossenschaftliche Selbsthilfe zur Wohnungsbeschaffung nach Art der Wiener Siedlungsbewegung (1918 bis 1934) außerhalb unserer Betrachtung.

Innerhalb der sozialreformerischen Phase der Kommunegründungen, die wir untersuchen, lassen sich wiederum drei Aktivitäts­schübe unterscheiden8): Eine einleitende Periode beginnt Ende des 19. Jahr­hunderts (mit Wurzeln in der Romantik und der Jahrhundertmitte). Wir nennen sie die lebens­reformerische Phase nach der die Siedlungen tragenden breiten kulturkritischen Strömung. Ihre Stoßkraft für Siedlungsgründungen war jedoch schon gleich nach der Jahrhundertwende verpufft. Ihr folgt eine zweite Phase nach dem Ersten Weltkrieg (deren Ansätze noch in die unmittelbare Vorkriegszeit zurückreichen); sie erstreckt sich bis in den Beginn der zwanziger Jahre. Aufgrund ihres ideenmäßigen und sozialen Trägers bezeichnen wir sie als freideutsch-jugendbewegte Phase.

Es ist deutlich, daß die Jugendbewegung lebensreformerisches Gedankengut aufgriff und popularisierte; trotzdem ist die zweite Phase nicht bloß die Weiterführung, sondern aufgrund der obwaltenden politischen und ökonomischen Umstände (Weltkrieg und Inflation) auch eine Radikalisierung der lebensreformerischen Siedlungs-Gründerzeit.

8)  Am stärksten entzieht sich die Geschichte der jüdisch-jugendbewegten Kollektivsiedlung diesem Schema, da sie von außerdeutschen Ereignissen mitgeprägt wurde.

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Aber auch dieser zweite Impuls erlahmte sehr schnell wieder. Denn die galoppierende Inflation stellte bereits die Siedlungen vor fast unüberwindliche finanzielle Schwierigkeiten. Mit dem Zusammenbruch der Revolution von 1918/19 und mit der Währungsreform von 1923 versackte der in den Siedlungen zum Ausdruck kommende radikale Erneuerungswille schnell. Dem folgte eine dritte und letzte Phase Ende der zwanziger und zu Beginn der dreißiger Jahre — wir nennen sie die bündisch-jugendbewegte Phase.

Wenn auch ihre Ansätze teilweise bis in die beginnenden zwanziger Jahre zurückreichen, so erhielt sie ihre Durchsetzungskraft erst mit der Weltwirtschafts­krise. Das Ende dieser Phase kam wiederum überraschend schnell von außen durch den Nationalsozialismus. Innerlich war diese dritte Phase stärkstens mit der zweiten verbunden, da auch sie aus dem Geiste der Jugendbewegung heraus lebte; während jedoch die zweite Phase der Freideutschen Epoche (nicht aber in jedem Falle der Freideutschen Organisation) zuzuordnen wäre (sie wird durch die beiden Fixpunkte des ersten Meißnertreffens 1913 und der Zehnjahresfeier 1923 begrenzt), so die dritte Phase der bündischen Jugend (auch hier wiederum als Zeit-, nicht unbedingt als Organisationsbegriff).

Von der Zahl und Vielfalt der Siedlungs­gründungen her gesehen ist die erste lebensreformerische Phase der Auftakt, die freideutsche Phase der Höhepunkt und die bündische Phase der Ausklang der deutschen gesellschaftsreformerischen Siedlungsgründungen. Die eigentlichen Gründungs­aktivitäten beschränkten sich aber in jedem Falle nur auf ca. je vier Jahre, wenn auch die dabei erfolgten Gründungen oft sehr viel länger am Leben blieben.

Jede der drei Unterphasen wird jedoch nur verständlich durch ihre Einbettung in den gesamt­gesell­schaftlichen politischen, sozio­ökonomischen, kulturellen und psychosozialen Hintergrund. Bedeutsam dürfte dabei vor allem die Tatsache sein, daß Kommune­gründungen dann eine besondere Konjunktur haben und hatten, wenn infolge wirtschaftlicher Depressionsphasen (1890 bis 1895 bzw. 1900 bis 1902; Kriegs- und Nachkriegs-Inflation; Welt-Wirtschaftskrise; Rezession der siebziger Jahre) der soziale und politische Konsens zerbricht, das gesamtgesellschaftliche Handeln weniger einsichtig wird und entgegen der schmerzhaft bewußt werdenden Komplexität ökonomischer Zusammenhänge die einfachen Lösungen gesucht werden.

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Die Verweigerungs­haltung gegenüber der nicht mehr als heil und transparent erfahrenen Welt, die Hinwendung der Großstädte zum Mythos von der guten Mutter Erde und zu nicht-materiellen Werten, eben die typische Abwendungs- und Aufbruchshaltung der Alternativbewegung, lassen dann die Kommune als klar umrissenen, durchsichtig strukturierten und sinnvollen Handlungsraum erscheinen.

Diese umfassenden gesellschaftlichen Vorgänge wurden von den Siedlungswilligen selbst weniger real und verstandes­mäßig-analytisch und mehr unter apokalyptischen Vorzeichen, d.h. als Anzeichen einer dem Untergang geweihten Alten Welt oder als Vorboten einer aufsteigenden Neuen Welt, gedeutet. Gerade aus dieser Überhöhung der Realität gewannen die Kommunen ihr besonderes Pathos.

Max Weber, der dem Erwartungsdruck der apokalyptisch erregten Jugend in dem Bewußtsein standhielt, in einer prophetenlosen Zeit sei es besser, nüchtern auszuharren als sich falschen Führern zu opfern, wurde selbst mit der siedlungsfreudigen studentischen Jugend im Januar 1920 in München konfrontiert — und erfuhr so aus eigenem Augenschein einen Ausschnitt aus der Deutschen Apokalypse:

»Was sie u.a. umtreibt, ist der Glaube, daß man durch Begründung kommunistischer Oasen — ländlicher Siedlungen und dgl. — die natürlichen Zellen einer neuen höheren Weltordnung schaffen könne — die friedliche Überwindung des Kapitalismus, oder wenigstens Befreiung von ihm für diejenigen, die ernstlich davon frei sein wollen. Und indem sie gemeinsam der Erde die Nahrung abgewinnen, hoffen sie auch frei zu bleiben von spezialistischer Berufsarbeit. Denn sie sehen darin einen die Seele ertötenden Zwang. Aber Kulturmenschen wollen sie trotzdem bleiben, <Landwirtschaft mit Kunstgewerbe> hat Spengler ironisch bemerkt.  

Der Dichter Paul Ernst, der selbst seit einigen Jahren mit Hilfe seiner überaus tüchtigen und klugen Gattin eine Bauernstelle bewirtschaftet, um sich den Unterbau seiner geistigen Existenz zu schaffen, weiß, was dazu gehört an Fleiß und Energie und warnt.  

Einige von den Jungen haben schon praktische Versuche gemacht, sind jedoch gescheitert. Ein besonders junger Mann [der christlich-radikale, Eberhard Arnold nahestehende Traugott von Stackelberg] will eine größere Gefolgschaft von Intellektuellen und Proletariern nach Sibirien führen, das er durch den Krieg kennt, und mit ihnen dort ein vorbildliches kommunistisches Gemeinwesen schaffen. Dabei schwebt ihm nicht nur solidarisches Wirtschaften, sondern auch das anarchistische Ideal der Befreiung von den staatlichen Formen der Herrschaft vor.  

Weber bemüht sich, ihnen klar zu machen, daß nur kleine, familienhafte Gemeinschaften, nicht aber größere Gemeinwesen ohne Gesetz und Gewalt organisiert werden können. Aber ihr chiliastischer Enthusiasmus ergreift ihn — er erklärt sich bereit, sie in praktischen volks-wirtschaftlichen Fragen zu beraten. Aber die jungen Siedler fühlen, daß er keiner der Ihren werden kann. Sie sind enttäuscht und werfen ihn zum alten Eisen.«9)  

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Soziologische und wirtschaftsrationale Überlegungen konnten in der Tat der Siedlungsbegeist­erung nichts anhaben; die psychosozialen Ängste, durch die sie gespeist wurde, und die weltverwandelnden Hoffnungen, die sie trug, wurzelten tiefer.

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9)  Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild. Tübingen 1926, S. 686 f.

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Einführung 1983