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Teil 1    Aufbruch ins neue Jahrhundert

 

   Agrarromantik und Großstadtfeindschaft   

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Die Erfahrungen, die zu Ausgangspunkten der späteren sozialreformerischen Siedlungsgründungen in Deutschland wurden, sind das industrielle Take-off um 1850 und das Scheitern der Revolution von 1848.

Zwei Richtungen der Reform wurden dadurch ausgelöst: Überlegungen zu einer metapolitischen, geist- und bewußtseins­revolutionären (und damit individualistischen), geistig-sittlichen und sozialethischen Erneuerung, die sowohl von enttäuschten 1848ern (wie Eduard Baltzer, dem lebens­reformerischen Vater der Lehre von der »naturgemäßen Lebensweise«) als auch von konservativen Gegenrevolutionären (wie Victor Aime Huber, dem christlichen Genossenschaftstheoretiker1) ausgingen, verbanden sich mit Versuchen zur Veränderung der ökonomisch-materiellen Lage der vom Industrialisierungs­prozeß Betroffenen, der Arbeiter und Kleinbauern, des handwerklichen und kleingewerblichen Mittelstandes.

Als Kristallisationspunkt beider Tendenzen erwies sich dabei insbesondere die Genossenschafts­bewegung, die natürlich stark vom Ausland — man denke etwa an Robert Owen und Charles Fourier — beeinflußt wurde. Diese Tendenzen mußten nicht notwendigerweise zur Siedlungs-Romantik führen, sondern konnten ebenso belebend in den breiten Strom sozialreformerischer Bestrebungen einmünden.

Hier ist nicht der Ort für eine Geschichte des deutschen Genossenschaftswesen zwischen Selbst- und Staatshilfe. Aber es soll deutlich werden, daß gerade die Siedlungsgenossenschaft (deren »Vater« in Deutschland Victor Aimé Huber gewesen war) um die Jahrhundertwende zu einem Brennpunkt sowohl sozialutopischer wie -reformerischer Hoffnungen wurde. Symptomatisch scheint uns das 1901 von Benedict Friedländer veröffentlichte Werk <Die vier Hauptrichtungen der modernen socialen Bewegung> zu sein.

1)  Für die hier behauptete Kontinuität der sozialreformerischen Siedlungen ist es bezeichnend, daß Hubers Werk <Die Selbsthülfe der arbeitenden Klassen durch Wirtschaftsvereine und innere Ansiedlung> (1848) erneut von Karl Bittel, einem der Gründerväter jugendbewegten Siedelns, herausgegeben wurde (als Heft 21/23 der <Genossenschaftlichen Kultur>, Esslingen 1916).


Darin beurteilt er die beiden ersten »Hauptrichtungen«, die marxistische Sozialdemokratie und den Anarch­ismus, als überholt, obwohl sie »wegen des Trägheits­moments der Parteien, Sekten und Schulen einstweilen noch in der Öffentlichkeit und der Meinung des Publikums den breitesten Raum einnehmen und vielleicht auch noch auf einige Jahrzehnte einnehmen werden«.

Friedländer stellt sich an die Seite des Bernsteinschen Revisionismus, plädiert aber für eine Reform der Sozial­demokratie durch eine Öffnung zu Eugen Dühring hin. Denn er meint, daß Eugen Dührings »socialitärem System« und Henry George's »Neophysiokratie«, wenn sie auch gegenwärtig noch einen geringfügigen äußeren Einfluß hätten, »nach Überwindung der im Wege stehenden Hindernisse, die Zukunft gehören wird«.

Dühring — das ist für ihn der Verfasser des <Cursus der National- und Socialökonomie> (1. Auflage 1873, 2. Auflage 1876), der das Eigentum an Boden, Produktionsanstalten und Wohnstätten »Wirtschaftskommunen« übertragen, d.h. an die Stelle der industriellen und landwirtschaftlichen Unternehmer Genossenschaften treten lassen wollte. Friedländer führt weiter aus:

»Boden- und Produktionsanstalten wären Eigentum der Gesellschaft, da jedermann die Benutzung unentgeltlich freistünde. Besser noch als Gesellschaftseigentum scheint mir der Hertzkasche Ausdruck Herrenlosigkeit zu sein. Denn eben wegen der Pflicht der Aufnahme aller sich meldender Mitglieder auf dem Fuße völliger Gleichheit, einer Pflicht, der alle Wirtschafts­kommunen unterworfen wären, würde es erreicht werden, daß Boden und Produktions­mittel sozusagen niemand gehörten; wenigstens nicht im Sinne des ausschließlichen Eigentumsrechts der Gegenwart gehörten.«

Dieses System der Wirtschaftskommunen sei von Dühring in dem Augenblick zurückgezogen worden (nämlich in der 3. Auflage seines <Cursus> von 1892), als es durch »seinen Nachahmer« Theodor Hertzka und dessen <Freiland> (1890) als neues »sociales Zukunftsbild« (so der Untertitel von Hertzkas Buch) unter verändertem Namen populär geworden sei. Freilich kritisiert Friedländer den sozialutopischen Charakter von Hertzkas Entwurf (»die Seligkeit wird beginnen, diesmal aber nicht im Himmel, sondern auf der alten, soliden Erde; denn das ist der Hauptunterschied zwischen der altchristlichen und der sozialen Illusion«) und sucht ihm durch den Hinweis auf die Gedanken des Amerikaners Henry George entgegenzuwirken.

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George's Werk <Progress and Poverty> war 1880, ein Jahr nach der Veröffentlichung, bereits ins Deutsche übersetzt (<Fortschritt und Armuth>). Friedländer sieht den Kern von Georges Lehre in dem Nachweis, daß der von einer Nation in Besitz genommene Boden Naturmitgift und gleichzeitig die materielle, notwendige, unvermehrbare Grundlage aller Existenz sei. Ein absolutes Eigentum am Boden sei ein Verstoß gegen das Naturrecht und letzte Ursache aller sozialen Schäden. Deshalb müsse das private Bodeneigentum rückgängig gemacht und das gleiche Anrecht aller auf den Grund und Boden wiederhergestellt werden. Wiederum in Anlehnung an den »impôt unique« der Physiokraten fordert George als Weg der Reform die Besteuerung der Grund-Werte durch eine einzige staatliche Steuer, die »Single Tax«.

Friedländer weist des weiteren darauf hin, daß solche Gedanken in Deutschland bereits im »Bund für Boden­besitzreform« (unter Vorsitz von Michael Flürscheim, dann Adolf Damaschkes) eine organisierte Vertretung fänden, der unter anderem eine »Wegsteuerung der Bodenrente« bzw. eine »Bodenwertsteuer« fordere. Freilich kritisiert er an dem Bund, daß er »sich vorwiegend an Elemente [wendet], die gar nicht zur Arbeiterklasse gehören, weswegen sein ganzes Auftreten mitunter einen etwas schwächlich philanthropischen und auch nicht immer ganz freiheitlichen Charakter trägt«.

Es scheint, daß Friedländer abschließend seine ganze Hoffnung auf Franz Oppenheimer richtete, dessen Werk <Die Siedlungs­genossenschaft> erstmals 1896 erschienen war, und den Friedländer für einen eigenständigen Schüler Dührings wie Georges hielt; nicht zuletzt gefiel ihm an diesem wohl, daß er seine Genossenschaftsidee — wenn auch vergeblich — mit der Sozialdemokratie zu erreichen suchte. Und forderte Friedländer die Absage an die »staatskommunistischen Träumereien« und den Einsatz aller Kraft und Leidenschaft, um »gegenwärtige und unmittelbare Verbesserungen für die Arbeiter durchzusetzen«, so muß der Untertitel von Oppenheimers Werk <Versuch einer positiven Überwindung des Kommunismus durch Lösung des Genossen­schaftsproblems und der Agrarfrage> wie Musik in seinen Ohren geklungen haben.

Oppenheimer jedenfalls wurde, bis die Nationalsozialisten seine letzten praktischen Versuche in dieser Richtung in Deutschland liquidierten, zum entschiedensten Vorkämpfer der Siedlungsgenossenschaft. 

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Und hatte sich Damaschke vergeblich eine Realisierung seiner Bodenreform-Ideen von der deutschen Kolonialpolitik erhofft (<Kamerun oder Kiautschou>), so warb Oppenheimer zunächst — entgegen Hertzkas Afrika-Plänen — für <Freiland in Deutschland> (1894); 1903 plädierte er auf dem Sechsten Zionistenkongreß in Basel auch für den »Aufbau einer jüdischen Genossen­schafts­siedlung in Palästina« und fand damit Widerhall durch die Gründung einer Arbeiter­produktiv­genossen­schaft nach seinem Plan unter der Leitung seines Schülers Dyck 1911 in Merhavia, nur wenige Monate, nachdem in Degania am See Genesareth die erste Genossenschaft dieser Art in Palästina entstanden war.

Doch aus Damaschkes wie Oppenheimers Memoiren wird sichtbar, daß sie im Klima der Jahrhundertwende für ihre sozial­reform­erischen Bestrebungen in den Großstädten auf wenig geneigte Ohren stießen. Hier verband sich vielmehr die durch Agrarromantik und Großstadtfeindschaft gekennzeichnete Krisenstimmung des Fin de siecle mit einer fast religiösen Aufbruchs­stimmung. 

So berichtet Damaschke, wie sich die Freiland-Vereine Hertzkas zur Konkurrenz seines »Bundes für Bodenbesitzreform« entwickelten und er vergeblich den Hertzkaschen Utopien entgegentrat: »... die Aussicht, in absehbarer Zeit, in zwei, drei oder zehn Jahren nun wirklich in das gelobte Land der Verheißung eingehen zu können, hatte etwas Berauschendes.«

Und in einer anderen Studie heißt es über die apokalyptische Erregtheit jener Jahre:

»An den Winterabenden der Jahre 1894 und 1895 wurde in Berliner Versammlungen viel und mancherlei über soziale Zukunftsgestaltung debattiert — endlos und unermüdlich, als gelte es, über Nacht eine neue Welt zu schaffen. Mißvergnügte, Enttäuschte und Verärgerte, sozialpolitische Einzelgänger, Leute, die Wahrheit suchten, und solche, die schon ein fertiges Programm in der Tasche trugen, Bodenreformer, Preiländer, Egidyaner [Anhänger der sozial­ethischen Lehre Moritz von Egidys], Sozialisten aus der Schule Proudhons, Carlylisten, konservative Radikale und radikale Konservative [...] kurz eine bunte Gesellschaft von allerlei Zukunftsmenschen, die in vielerlei Zungen redeten und doch einander verstanden, weil ihnen allen die großen Fragen und Nöte der Zeit auf der Seele lasteten, und weil sie allzumeist von ehrlichem Wollen und von dem heißen Drange erfüllt waren, irgend etwas Positives zu tun. In diesen Kreis fiel wie ein zündender Funke die Genossenschaftsidee.«2)

2)  P. Lange, Die Konsumgenossenschaft Berlin und Umgebung und ihre Vorläufer. Berlin 1924, S. 48 ff.

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Solche Menschen waren es, welche 1893 die Siedlungsgenossenschaft Eden bei Berlin ins Leben riefen: »Es waren lauter sozusagen pflastermüde Städter, eine ganze Anzahl von Sonderlingen und Sektierern aller Art dazwischen; sie wollten ihre Existenz auf den Obstbau stellen, von dem kaum einer von ihnen die geringste Ahnung hatte«, äußert Oppenheimer über Edens Anfänge.

Solche Bestrebungen führten um die Jahrhundertwende auch zur Gründung der Vegetarier-Ansiedlung auf dem Monte Verità in Ascona3) — so schreibt die Frau des Gründers Henri Oedenkoven über das Thema von Flucht und Neubeginn:

»Innerhalb der bestehenden, gesellschaftlichen Organisationen, welche jede individuelle Regung im Menschen ersticken und dessen Kraft und natürliche Anlagen in den Dienst der Machtbesitzenden zwingen, ist eine freie Entwicklung nach Befreiung strebender Menschen undenkbar. Auf neuem Boden, auf hiezu neu zu erwerbendem Grunde sollte daher das Unternehmen entstehen.«

Und ebenfalls um die Jahrhundertwende schufen auch die beiden »Zukunftsmenschen« Heinrich und Julius Hart in Berlin die »Neue Gemeinschaft«, über welche eine Zeitgenossin urteilt:

»Das Wort >neu< hatte damals ganz besonderen Klang, ganz besondere Bedeutung. Es geschah wohl auch, daß man jedes neu mit nouveau verwechselte und Offenbarungen davon erhoffte. Die Jahrhundertwende regte die Menschen auf, machte sie erhebungswillig. Die vom Materialismus Enttäuschten suchten eine naturwissenschaftliche Romantik zur Weltanschauung zu erheben.«4)

Und wie eine Zusammenfassung der genannten Themen von Krise und Aufbruch heißt es in Gustav Landauers Aufsatz <Die Siedlung> (1909):

»Es liegt alles brach um uns, es ist alles verfallen, es regt sich fast noch nichts da draußen; es blüht in uns und ringt sich empor, unsäglich ist die Arbeit, die auf uns wartet; wenige sind wir und jeder unter uns möchte sich verzehnfachen, möchte den Tag spalten, damit mehr Zeit sei, möchte hundert Arme haben, um überall mitanzugreifen; es ruft uns von überall her zur Hilfe, zum Fassen, zum Stoßen, zum Werken: es ist eine Lust zu leben!« Die Siedlung aber, so führt er aus, sei nicht mehr bloßer Fluchtpunkt; »Mitten im eigenen Lande, mitten unter unserem Volke wollen wir den Pflock einrammen und allen, die uns hören können, zurufen: <Seht alle, ein Wegweiser!>«   

 

3) Vgl. Ida Hofmann-Oedenkoven, Monte Veritä. Wahrheit ohne Dichtung. l.urch 1906; A. Grohmann, Die Vegetarier-Ansiedlung in Ascona und die sogenannten Naturmenschen im Tessin. Halle a. S. 1904; Erich Mühsam, Ascona. Locarno 1905; Harald Szeemann (Hrsg.), Monte Veritá (Katalog). Mailand 1978; Robert Landmann, Ascona-Monte Veritá. Auf der Suche nach dem Paradies. Zürich 1973.
4)  Anselma Heine, Schriftstellerkolonien III. »Die neue Gemeinschaft«. In: Das literarische Echo 14 (1911/12), Sp. 688.

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Erst mußte der Glaube an eine Heilbarkeit der sozialen Gebrechen über tradierte politische Institutionen sowie an die Integrationsfähigkeit der bestehenden politischen Kultur verschwunden sein, ehe der bemerkenswerte Exodus aus der bestehenden Gesellschaft in ländliche Siedlungen einsetzte. Dieser Zustand war im wilhelminischen Kaiserreich erreicht. Jetzt plötzlich erwies sich das von Bismarck geschaffene Reich ohne ausreichende spirituelle Fundierung. Die Folge war die durch zahlreiche rivalisierende Weltanschauungs­gemeinschaften betriebene Suche nach gesamtgesellschaftlichen Ordnungsentwürfen.

Die sozioökonomischen Auswirkungen der mit der Reichsgründung einsetzenden Hochindustrialisierung erwiesen sich als irreversibel bei einer gleichzeitigen unkorrigierbaren Beharrungskraft des tradierten Herrschaftssystems. Die Konsequenz war ein Anwachsen der agrarromantischen Großstadtfeindschaft und eine »individual-anarchistische« Staatsverdrossenheit.

Sie galt nicht für die Mehrheit der Gesellschaft (diese spürte nur die zunehmende Langeweile ihrer Existenz, aus der sie dann der große Krieg erlöste), ja nicht einmal für die Mehrheit des alten und neuen Mittelstandes, sondern nur für jene Gebildeten, die den alten führenden bildungsbürgerlichen Status der Kulturträger bedroht sahen durch die neue Rolle einer staatlich oder privatwirtschaftlich verbeamteten Intelligenz. Sie brachen lieber aus diesen »Zwängen« aus, wurden unbürgerlich, bekannten sich gar zur Boheme. 

In diesem Milieu fand die Gebildetenrevolte statt und der Exodus aus Staat und Gesellschaft, der sich in vielerlei kulturrevolutionären Formen vollzog. Es war eine anti-urbanistische Revolte der städtischen, progressiv ausgerichteten Intelligenz, es war Landkult und Agrarutopismus der Großstadtliteraten, die den Auszug aus der Kernstadt in die durchgrünte Siedlung (»Gartenstadt«5), die Übersiedlung an den Stadtrand (als »Vorort-Boheme«, wie etwa die Friedrichshagener bei Berlin) oder in die ländliche, wenn auch großstadtnahe Künstlerkolonie (wie Worpswede oder Dachau) propagierten.

5)  Die Priorität der Gartenstadt-Idee in Deutschland kommt Theodor Fritsch zu (>Die Stadt der Zukunft<, 1896 und >Die neue Gemeinde<, 1897); doch erst der »Neuen Gemeinschaft« gelang es, eine erfolgreiche Gartenstadt-Bewegung ins Leben zu rufen.

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Die pädagogische Intelligenz wanderte aufs Land ab (»Landschulheime«), die Bohème drängte über den Vorort und die Künstlerkolonie weiter hinaus in einer exotischen Reisepassion, die sie in einen nichtindustrialisierten mythischen Süden (Capri) und bis in die Südsee führte. Schüler und Studenten wanderten in die agrarischen und nicht erschlossenen Landesteile und Staaten, von der klassischen Böhmerwald-Fahrt bis zur Fahrt nach Finnland. Und schließlich gehört in diesen Zusammenhang eben auch die Siedlungsgründung — ebenso im Vorort der Großstadt (Berlin-Schlachtensee), wie in der Nähe der Großstadt (Eden bei Oranienburg-Berlin) wie im mythischen Süden (Monte Verità bei Ascona am Lago Maggiore).

Diese kulturrevolutionäre Gebildetenrevolte6) trat in Gestalt der individuellen Rebellion, im »bündischen« Zusammenschluß (»Verein der Eigenen«) scheinbar autonomer »Freier« auf, nicht aber in Form von Partei- oder Interessenorganisationen — und dies zu einer Zeit, als das liberale Individuum, gekennzeichnet durch eine spontane politische und wirtschaftsbürgerliche Aktivität und die von ihm zu bestimmten Zwecken gebildete freie Assoziation, bereits durch den »Organisierten Kapitalismus« und (Staats-)Sozialismus verdrängt war. 

Die Reaktion von Teilgruppen des Bildungsbürgertums, insbesondere von Künstlern und Literaten, Lehrern und Pfarrern, höheren Schülern, Studenten und Privatdozenten (alles Angehörige des »alten« Bildungs­bürgertums, nicht der neuen technischen und verwaltenden Intelligenz) bestand so in einem Rückfall in — vermutlich vom Pietismus und in seinem Gefolge vom Deutschen Idealismus tradierten — welttranszendierenden apokalyptischen Denk- und sektiererischen Organisationsmustern. Wollte man nicht von Kapital und Arbeit wie zwischen Hammer und Amboß zermalmt werden, dann galt es gerade seine angestammte Rolle als Vertreter allgemeiner Interessen, des »Geistes«, gegenüber partikularen Interessen zu behaupten.

6)  Zur Gebildeten-Revolte um 1900 vgl.: 
William Richard Cantwell, The Friedrichshagener Dichterkreis. A study in change and continuity in the German literature of the Jahrhundertwende. Diss. Wisconsin 1967 (Mschr.); Josef Poläcck, 
Zum Thema der bürgerlich-individualistischen Revolte in der deutschen pseudosozialen Prosa. In: 
Philologica Pragensia, 46 (1964); Herbert Scherer, Bürgerlich-oppositionelle Literaten und sozialdemokratische Arbeiterbewegung nach 1890. Die »Friedrichshagener« und ihr Einfluß auf die sozialdemokratische Kulturpolitik. Stuttgart 1974.

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Dieser Verteidigungskampf nahm heroische Züge an, wenn er in Gestalt des Übermenschenkultes und eines extremen anarchistischen Individualismus auftrat. Diese Richtung konnte ebenso an Nietzsche wie an Max Stirner anknüpfen; letzterer wurde Anfang der neunziger Jahre gerade wieder durch den Dichter John Henry Mackay bis zu einem bestimmten Grade populär. Benedict Friedländer bestätigte 1901, daß es sich hier ausschließlich um eine Gebildetenrevolte handelte: »Der individualistische Anarchismus existiert in der Form literarischer, belletristischer und philosophischer Richtungen, ohne einen erheblichen Einfluß auf die Massen.«

Die Gebildetenrevolte war unvereinbar mit den liberalen parteipolitischen Positionen. Unter den Bedingungen des Hoch­kapitalismus hatte die klassische liberale Programmatik weitgehend ihre Überzeugungs­kraft eingebüßt; Anfang der achtziger Jahre setzte auch der Zerfall der liberalen Bewegung in eine Vielzahl sich erbittert bekämpfender Richtungen ein. Denn mit der Hochindustrialisierung desintegrierte jene bürgerliche Sozialschicht, die man bisher mit der Bezeichnung »Besitz und Bildung« umschrieben hatte; anstelle einer gewissen politischen und sozialen Kohäsion dieser Schicht traten jetzt die konkurrierenden Gruppeninteressen von Industrie, Handel, Gewerbe, freier Berufe und einer staatlich oder privatwirtschaftlich verbeamteten Intelligenz. Diese Gebildeten, das wurde deutlich, je mehr sie ihren Zusammenhalt mit dem Besitzbürgertum verloren, waren besitzlos, auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen, Geistes-Arbeiter.

Was lag also näher, als nicht mehr in den liberalen Parteien, sondern in der Sozialdemokratie ihre wahre Interessenorganisation zu sehen! Und so kam es zum Versuch der Eroberung dieser Arbeiterpartei, besonders über den kulturellen Sektor. Es begann 1890 nach dem Ende des Sozialistengesetzes — bei der Reichstagswahl von 1890 hatte die Sozialdemokratie in Berlin die absolute Mehrheit der Wähler gewonnen — mit der Revolte der »Jungen«7) und der Berliner Volksbühnen-Bewegung.

7)  Seit Eduard Bernsteins >Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung< (2. Teil 1907, 3. Teil 1910) ist diese Bewegung der »Jungen« differenzierter zu sehen, als Engels es mit seiner Diffamierung als bloßer »Literaten- und Studentenrevolte« (1890) tat. Die Wortführer waren Schrittsteller und schriftstellernde Akademiker, das Gros der Bewegung aber Arbeiter und aus der Arbeiterschaft hervorgegangene Agitatoren, »nur daß von den Arbeitern ein namhafter Teil sich weniger von doktrinären Rücksichten beherrschen ließ als die >Akademiker< und den Streit weniger persönlich nahm als ein Teil der Agitatoren«.

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Es ist überdeutlich, daß die literarischen »Eigenen« keine proletarische Klassensolidarität anstrebten, sondern eine Auflockerung der sozialdemokratischen Positionen durch individual-anarchistische Theoreme (Egoismus, freie Konkurrenz), die ihrem Geist-Radikalismus angemessen waren. Doch das Unterfangen dieser Intelligenz, sich bei dem ihnen unvermeidlich erscheinenden Sieg der Arbeiterorganisation an deren Spitze zu setzen, scheiterte: 1891 wurden die »Jungen« aus der Partei ausgeschlossen, 1892 kam es zur Spaltung der Volksbühne. 

Jetzt erst kam bei der sozialistischen Intelligenz jene Stimmung auf, der Landauer so unnachahmlich seine Stimme lieh: »Ungeheuerlich und fast unaussprechbar groß ist der Abstand geworden, der uns, die wir uns selbst als die Vorhut fühlen, von der übrigen Menschheit trennt.«

Nicht mehr der Arbeitermasse und dem »Massenmenschen« galt jetzt die Verehrung, sondern durch »Absonderung« von ihnen galt es »Neue Gemeinschaft« zu finden. Ganz deutlich spricht Landauer es in seinem schon zitierten Aufsatz über »Siedlung« (1909) aus: »Unser Volk ist das neue Volk; ist das Volk und das Kulturleben, wie es in unserm Geist als Ziel lebt.« Aber auch diese Geist-Revolution konnte nicht ohne organisierte Bewegung sein — nachdem Liberalismus und Sozialdemokratie (ebenso wie der wilhelminische Arbeiter-Anarchismus) ausgefallen waren, kam es zur Abwendung von der Politik überhaupt.

So blieb als einzige umfassende Orientierung, als »Dritter Weg« zwischen Kapitalismus und Kommunis­mus, die Lebens­reform­bewegung das Instrument für die erdachte Transformation der Wirklichkeit. Und durch sie stieß man dann auch auf das Rezept der genossenschaftlichen Siedlung.

Die Lebensreformbewegung paßte gut zu dem rousseauisrisch-revolutionären Zwitter der Rebellion der Intelligenz. Denn die Lebensreform stand selbst in einem eigentümlichen Spannungsverhältnis zwischen angewandter Aufklärung und Eskapismus. Sie war als Fluchtbewegung großstadtfeindlich, agrarromantisch, rückwärtsgewandt, realitätsfern; auf der anderen Seite handelte es sich aber um einen bürgerlichen Typus von Gesellschaftsveränderung. Denn die Lebensreform regredierte nicht nur zu Natur und Boden, sie strebte auch die Dezentralisierung der Industrie, eine gleichmäßigere Verteilung der Bevölkerung, eine großzügigere Stadtplanung, eine intensivere Durchgrünung der industriell geprägten Stadtlandschaft, eine Humanisierung der Wohn- und eine Gesundung der Lebensverhältnisse an.

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Sie war auf der einen Seite präfaschistisch, auf der anderen Seite aber ein durchaus positiver Beitrag von Teilen des deutschen Bildungsbürgertums zur Lösung der durch Industrialisierung und Urbanisierung aufgeworfenen ökologischen, hygienischen und sozialpsychologischen Fragen.

Freilich erkannte diese Bewegung — sei es als Naturheilkunde, Ernährungsreform (bis zum Vegetarismus und Abstinenzlertum), Freikörperkultur oder Kleiderreform — die gesellschaftliche Bedingtheit der anstehenden Fragen nicht ganz und bedachte nicht die Zusammenhänge von Bewußtseinsveränderung bzw. Selbstreform und politischer Praxis bzw. Gesellschaftsreform. Während das Proletariat vorrangig um die Verbesserung seiner primären Lebens- und Arbeits­bedingungen im Produktionsbereich kämpfte, geriet immerhin bei der Lebensreformbewegung der Reproduktionsbereich der Arbeitskraft (im Bereich des Wohnens, Kleidens, Ernährens und Erziehens) in das Blickfeld.

Aber der von der Lebensreform beschrittene Weg der Bewußtseins- und Selbstreform war doch nur in jenen Bereichen erfolgreich, in denen die Herrschafts- und Besitzstruktur der Gesellschaft selbst nicht in Frage gestellt wurde, also bei Teilreformen etwa in den Sektoren Kleidung, Nahrung, Leibeserziehung (neues Körpergefühl). An der Lösung der umfassenderen ökonomischen Fragen, etwa der von ihr gesehenen Notwendigkeit einer Bodenbesitzreform, mußte sie dagegen sowohl vom limitierten Problembewußtsein wie von der eigenen sektiererischen Organisationsstruktur her scheitern.

Auch geriet die Lebensreform leicht in die Sackgasse einer nur individuellen Flucht aus der mißlichen Gegenwart, wobei dieser Weg in die Innerlichkeit eine durchaus religiöse Dimension besaß (das pietistische Erbe!). Denn die Lebensreformbewegung wollte nicht nur durch Reformprogramme die menschlichen Lebensumstände verbessern, sondern erstrebte als quasireligiöse Heilslehre auch einen weltimmanenten Heilszustand. 

Die individual-reformerischen und bewußtseinsverändernden Ziele waren in eine Heiligung und Reinigung der Einzelperson und der Gesellschaft eingebunden. Die Lebensreformbewegung zeitigte damit nicht nur eine wichtige Sensibilisierung für Fragen der richtigen Ernährung, gerechteren Bodenordnung, Suchtgefährdung und Umweltverschmutzung, sondern verband diese rationalen Ansätze mit chiliastischen Elementen zu einer merkwürdigen innerweltlich-sendungsbewußten Mentalität, wobei sich diese schwärmerische Neigung stets mit dem kulturellen Führungsanspruch des Bildungsbürgertums in der Gesellschaft verband.

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Damit sind jene Züge der Gebildetenrevolte beschrieben, die sich in den Siedlungen dieser ersten lebens­reformerischen Phase finden. Sie zeigen die bürgerlich-antibürgerliche, individual-anarchistische Oppositions­haltung zu Staat, Parteien und Gesamtgesellschaft und einen reformerischen Aktivismus, der im Hier und Jetzt durch Selbsttun die Erlösung von den Übeln der Zivilisation erstrebt. Die Neue Gemeinschaft wird der alten »Zufalls-« und Zerfallsgemeinschaft entgegengesetzt. Von Hyper­individualisten werden die Werte der Gemeinschaft betont und in genossenschaftliche und gemeinwirtschaftliche Anstrengungen umgesetzt.

»Dies Individuum-sein-Wollen-sein-Müssen macht auch den regelmäßig wiederkehrenden Traum einer Schriftstellerkolonie zur liebenswürdigen Chimäre«, heißt es bei Anselma Heine über die Neue Gemeinschaft.

Die regenerierende Kraft von Natur und Boden wird der Unnatur der Industriewelt und Großstadt entgegengehalten — und dies von Großstadtmenschen, welche keine landwirtschaftlichen Fertigkeiten mitbringen. Anselma Heine sagt dazu: »<Gesunde Landarbeit> verlangt Regelmäßigkeit, Gehorchen und stete Willigkeit. Gerade alles, was dem dichterischen Menschen zuwiderläuft.«

Ebenso aus Überzeugung (das heißt aus Abneigung gegen massenhafte Industriewaren und Landwirt­schafts­produkte) wie aus Kapitalmangel suchen die Siedler möglichst viele Dinge selbst herzustellen. Der Kunstdünger wird von ihnen durch die biologische Anbauweise bekämpft, Anti-Alkoholismus und Vegetarismus werden bis in die Extremform der Vegan-Ernährung dogmatisiert. Reformkleider getragen, die den natürlichen Körper nicht einschnüren, oder man trägt das nudistische »Lichtkleid« hinterm schützenden Bretterzaun — Natürlichkeit ist Trumpf.

Freikörperkultur und Lichtbad lassen einen »neuheidnischen« Sonnenkult entstehen. 

Gemeinschafts­fördernde Rituale (Feste, Spiele und Tänze) suchen die vorindustrielle Volkskultur wiederzubeleben oder neue Riten zu schaffen und den durch Urbanisierung und Industrialisierung obsolet gewordenen Natur- und Jahreskreislauf wieder für die Neu-Agrarier sinnfällig werden zu lassen. Tiefsinn und Unsinn liegen dabei immer dicht beieinander, und Experimente um den besten Weg der Abfall-Kompostierung gehen Hand in Hand mit der Suche nach dem Neuen Gott.

Noch dauerte es eine Generation, bis aus dieser Tradition das »eigentümliche Amalgam aus Sektierertum und <Normalität>« erwuchs, das auch die fürchterliche Verbindung von »Konzen­trationslager und Kräutergärten« (Joachim Fest) durch den Reichsführer-SS Heinrich Himmler und seinen neu-adeligen »Orden« hervorbrachte. Aus dieser Erfahrungsperspektive mochten dann Lebensreform und Geist-Revolte als bloßer Präfaschismus erscheinen.

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