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  Blankenburg (bei Donauwörth)  

 

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Die Ursprünge dieser »kommunistischen« Siedlung liegen in einer städtischen Wohnkommune in Berlin. Dort traf sich 1916/17 ein Freundeskreis jugendbewegter Kriegsteilnehmer, einst Freiwillige, jetzt verwundet und desillusioniert, um Hans Koch (Steglitzer Wandervogel), Alfred Kurella (Bonner Wandervogel) und dem künftigen Pädagogen Fritz Klatt, mit anderen freideutschen und freistudentischen Gesinnungsgenossen und Anhängern des Reformpädagogen Gustav Wyneken. Ihr Ziel lag, nachdem ihr patriotischer Idealismus verbraucht war, nicht zuletzt in der antimilitaristischen Propaganda, über die sie auch mit der revolutionären Arbeiterjugend in Kontakt kamen.

Als ihnen in Berlin der Boden zu heiß wurde, sich dort auch die Ernährungslage verschlechterte, setzten sich Mitte 1918 die politisierten Freunde nach Bayern ab, um hier ihre seit 1916 diskutierten Pläne zur Verwirklichung der Wynekenschen »Jugendkultur« durch Gründung einer ländlichen Siedlung weiter-zuverfolgen. Dort verband sich ihr Schicksal schließlich mit der Münchner Novemberrevolution. Während Kurella ganz zum politischen Handeln und zur organisierten Arbeiterklasse überging und der Siedlung abschwor, arbeitete Koch zäh an der Verwirklichung seiner Gemeinschaftsgründung, durch die er eine Brücke zwischen der bürgerlichen und proletarischen Jugend bei ländlichem Siedeln schlagen wollte. Nach der Zwischenstation einer Wohngemeinschaft in einem Häuschen in Berg am Starnberger See gelang es Koch schließlich so viel Geld aufzutreiben, daß er Anfang 1919 einen Bauernhof in Blankenburg bei Donauwörth kaufen konnte.

Dort siedelten dann ungefähr zwanzig männliche und weibliche Jugendliche aus Bürgertum und Arbeiterschaft und suchten sich durch Gartenbau, Tierhaltung und Handwerk (Schlosserei und Schreinerei) über Wasser zu halten, ohne daß aber je die Selbstversorgung erreicht wurde (Koch finanzierte die Siedlung über Mäzene). 


Im Gegensatz zu vielen anderen Jugendbewegungssiedlungen und in Gemeinsamkeit mit Vogelers Barkenhoff plante Koch, die Siedlung zu mechanisieren, um den jungen Stadtmenschen und sich selbst (Kriegsverletzung!) die schwere Handarbeit zu erleichtern (Einflüsse des Sozialreformers Konrad von Meyenburg, den er in Basel aufsuchte); er konnte damals aber seine Vorstellungen noch nicht realisieren.

Nachdem sich in der Siedlung bereits innere Spannungen angehäuft hatten, wurde ihr Ende durch den Gang der politischen Ereignisse beschleunigt. Hatte man sich zunächst in Übereinstimmung mit der revolutionären Politik in München gefühlt und das Wohlwollen Gustav Landauers, kurzfristig bayerischer Kultusminister, genossen, so änderte sich dies mit dem gewaltsamen Ende der Revolution im Mai 1919.

Politische Flüchtlinge benutzten — wie Vogelers Barkenhoff — Blankenburg als Zwischenstation (so Max Levien, der Leiter der Münchner Spartakusgruppe); aber auch die politische Polizei wurde auf die Siedlung aufmerksam und vermutete hier fälschlicherweise eine Hochburg des Spartakismus und das Zentrum einer neuen bayerischen Revolution. 

So wurde im Sommer 1919 die Siedlung kurzerhand militärisch ausgehoben, die Anwesenden wurden arretiert, nach München gebracht, und dort wurde der Kern der Siedler für einen Hochverratsprozeß ausgesondert. Wenn auch die Entlassenen wieder nach Blankenburg zurückkehren konnten und schließlich auch der Prozeß glimpflich ausging, so fand das Unternehmen doch schon 1920 sein Ende, nachdem sich die ökonomischen Schwierigkeiten als unüberwindlich erwiesen. Für kurze Zeit jedoch hatte Blankenburg wie keine andere Siedlung innerhalb der freideutschen Jugendbewegung die Hoffnung auf eine reale Überwindung der Klassengesellschaft durch einen »Klassenkampf der Jugend« gegen die »Alten« belebt.

Koch fuhr jedoch mit kollektiven Experimenten fort. 1920/21 versuchte er es in Berlin auf der ökonomischen Basis einer Schokoladefabrik und eines Stummfilmkinos, dann 1924 mit einer (ihm nicht gehörenden) landwirtschaftlichen Siedlung (und Waldschenke) in Klingberg am Pönitzer See. 1925/26 bewirtschaftete er in Gemeinschaft eine Gemüseplantage mit Konservenfabrik in Harxbüttel bei Braunschweig. Hier konnte Koch zum ersten Mal seine Idee der Motorisierung des Hackbaus in die Tat umsetzen (Patent für eine Motorhacke mit Rückentragmotor). 

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Doch als auch diese Siedlung scheiterte, gab Koch den Gedanken an ein gemeinschaftliches Siedeln auf und wurde zum Produzenten landwirtschaftlicher Geräte; sein ländlicher Kleinbesitz diente ihm nur noch zur Erprobung der Erfindungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann er mit dem Aufbau eines Familien-Fabrikbetriebs (HAKO-Werke) in Bad Oldesloe, bei dem nur noch die Produktionspalette (motorisierte Kleinbauern- und Siedlergeräte) und die für das Unternehmen gewählte Rechtsform des Fideikommiß an den ursprünglichen antikapitalistischen Ansatz erinnerten. 

Erst mit dem altersbedingten Ausscheiden aus der Firma gedachte der Siebzigjährige in der Zeit der Studenten­revolte wieder seiner eigenen jugendbewegten Anfänge und fand durch Besuche auf israelischen Kibbuzim und gegenwärtigen Landkommunen erneut den Anschluß an das ländliche Kommunewesen.

 

45. »Bruder Arbeiter!« 
Aus einem Aufruf von Hans Koch (1919)

[...] Wir sind aus gleichem Blut!  

Unsere Sehnsucht weist nach gleichem Ziel!

Und was bisher trennend zwischen uns stand, waren die Zufälligkeiten der verschiedenen Atmosphäre, in der wir groß geworden waren. Waren die Ungerechtigkeiten einer durch Geld zu erkaufenden Erziehung! Die euch in dumpfen Wohnungen und im Frondienst an der Maschine verenden ließen, hatten in ihrer Überhebung und Sorge, daß nur ja ihre Kinder nicht mit Proletariern zusammenkämen, als feste, kaum übersteigbare Mauer jene Schulen erfunden, in die nur eintreten konnte, wer durch die Vermögenslage seiner Eltern gefahrlos schien.

Wir erkannten und verachteten die erlogene Sicherheit des Bürgers! 
Wir machten uns frei!  
Wir fanden den Weg zu Dir, Bruder Arbeiter! [....]  

 

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46. »Der Bolschewismus, die umfassende Jugendbewegung der Völker« 
(Hans Koch)

Hein, denke einmal über unsere Jugendbewegung nach! Folgend dem Gesetze, das wir in uns lebendig fühlten, gerieten wir, ohne es zunächst zu wollen, tagtäglich in einen Gegensatz zu der uns umgebenden Gesellschaft. Wir versuchten uns ein eigenes sinnvolles Leben aufzubauen außerhalb oder doch neben dieser als feindlich empfundenen Gesellschaft, und je wahrer und vorurteilsloser 'wir unser Leben zu gestalten wagten, desto weiter führte unser Weg von dem der Gesellschaft fort. Hein, was wir Jugendbewegung nannten, diese ständige Auflehnung der Jugend gegen die Mächte der Gesellschaft, die sie zu ungefährlichen guten Staatsbürgern zu erziehen suchten, ist ein Teil der großen revolutionären Bewegung, die die Aufgabe hat, die Menschheit jung zu erhalten, wachzurütteln und die Panzer, die das lebendige Leben einengen, immer wieder zu sprengen.

Nein, Freund, ich glaube, es ist so, daß eine ganz ehrliche Jugend ihrer Zeit ein Stück vorauslebt, daß in ihr schon Kräfte lebendig sind, und Probleme ihrer Lösung entgegengeführt werden, die in großem Maßstabe, im Leben der Völker erst nach Jahren sichtbar werden: Es ist gewiß kein Zweifel, daß wir, in gesundem Instinkt aus den Hochburgen des Kapitalismus, den großen Städten, geflohen sind. Daß wir, entgegen den Anschauungen, in denen man uns erzog, den starken Drang nach körperlicher und handwerklicher Arbeit verspürten. Daß wir schon in den Anfängen unserer Siedelungen den Kommunismus (allerdings im wesentlichen nur der Konsumtion) als selbstverständliche Wirtschaftsform einführten. Und es hat gewiß einen tiefen Sinn, daß seit einiger Zeit in den verschiedensten Kreisen der Jugendbewegung ein starker Drang nach ländlicher Arbeit im Kreise der Gemeinschaft lebendig ist.

[.....] Hein, in diesen Tagen erhellte sich mir unser Weg in blitzartiger Erleuchtung: seit wir uns mit 14 Jahren gegen die geistigen Verbiegungsversuche in Schule und Haus auflehnten, sind wir im Grunde schon vom Geist des Bolschewismus infiziert!

[.....] Dort [im Proletariat] sind meine Brüder! Und je mehr Menschen unserer Art sich dem Bolschewismus, der umfassenden Jugendbewegung der Völker, anschließen und in ihr wirken werden, desto sicherer wird sie sein, und unverfälscht ihre große Sendung erfüllen!

 

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47. Radikaler Eingriff 

 

Alf: Hein, ich leugne die Möglichkeit gar nicht ab, daß unser Weg vielleicht in ein Chaos führen kann! Der komplizierte Apparat unseres Wirtschaftslebens wird vielleicht versagen und die Städte infolge von Verkehrs­schwierigkeiten nicht mehr ausreichend versorgt werden können.

Hein: Aber Alf, das sollte doch wirklich genügen, um Dir selbst klar zu machen, daß Dein Weg unmöglich ist!

Alf: Hör nur erst weiter: Ich ziehe also Deine und der bürgerlichen Presse Befürchtungen in den Bereich der Möglichkeiten. Ich mache mir gar keine Illusionen. Und ich werde dadurch in meinem Wege eher bestärkt als gehemmt. Denn ich sehe in dem Chaos, das vielleicht kommen wird, die Möglichkeit eines umfassenden Abbaues der wahnsinnigen Zustände, unter denen die Völker durch die überspannte Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft geknechtet werden. Die immer mehr um sich greifende Materialisierung und Mechanisierung des gesamten Lebens, die die Menschen »fortschrittsgläubig« vom Wesentlichen abzog und sie ihre Göttlichkeit vergessen ließ, die alle Welt in einen Taumel der Gier nach Besitz und Macht versetzte, dieses ganze giftige Geschwür, das man zusammenfassend Kapitalismus nennen kann, ist überreif. Mit Pflästerchen und milden Kuren ist da nichts mehr zu machen. Ich glaube, daß die Menschheit nur durch einen radikalen Eingriff vor dem völligen Untergang gerettet werden kann [.....]

Hein, wir dürfen nicht erschrecken, wenn ein kommendes Chaos (und Verkehrsschwierigkeiten) die Städte so in Mitleidenschaft zieht, daß es die zusammengepferchten Millionen dort gar nicht mehr aushalten können! Dann wird die Not zu ihrem Befreier werden. In Massen werden sie auswandern aufs Land und in weitgehender Innenkolonisation die ungenützten Landstriche und die unrationellen Ländereien der großen Güter bevölkern. Reicht unser Boden nicht, so finden alle gewiß reichlich Platz auf dem des benachbarten russischen Brudervolkes. Aus Not werden sie den Anschluß wieder finden an die schon fast vergessene Natur. Hunger wird sie zum Landbau treiben. In neuer freier Gesellungsform werden sie sich zusammenfinden zu gegenseitiger Hilfe in brüderlicher Liebe.

Dann werden die Menschen im neuen Bunde mit den Kräften des Himmels und der Erde ihr Wesentliches wieder finden, »fromm« werden.

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Ich glaube an keinen anderen Weg mehr, Hein. Wir sind zu sehr in eine Sackgasse verrannt. Wir werden vieles in Trümmer legen müssen, um Licht und Luft zu schaffen für alle Menschen.

Wir dürfen uns vor den Schrecknissen eines Chaos nicht fürchten, Hein! Was kann uns noch schrecken, nach solchem Kriege! Die Menschheit muß vielleicht einen langen Weg durch die Wüste erleiden, ehe sie in das gelobte Land einziehen kann. Was würde es besagen, wenn auf dem Wege zu unserm Ziel, dem Ziel der Befreiung einer ganzen Menschheit aus jahrhundertelanger Tyrannei, Hein, ein paar Jahre Hungersnot kämen, selbst Menschen Hungers sterben müßten: Es wäre ein sinnvolleres Sterben als das der Millionen »Helden des Schlachtfeldes« - doch schließlich sind auch jene schon Märtyrer der kommenden Freiheit gewesen.

 

48. »Leben aus dem Geiste der Jugend heraus«

a. Auszug aus einem Brief von Hans Koch an Karl Hauptmann von 1919

[.....] nun habe ich im Februar dieses Jahres in Blankenburg bei Nordendorf in Bayerisch-Schwaben, unter Beihilfe von Bekannten ein Anwesen erworben, um dort mit einem Kreis von befreundeten Männern und Frauen ein Gemeinschaftsleben auf der Basis restloser menschlicher Aufgeschlossenheit zu beginnen, und einen Neu-Anfang jugendlichen Lebens, wie es unter den mancherlei Hemmnissen der Stadt nur sehr stückweise gelungen war, in einem Guß zu versuchen. Ich glaube, daß die Art unseres Zusammenlebens und Wirtschaftens in Garten und Werkstätten (wir haben Schlosserei und Schreinerei angefangen) große Ähnlichkeit hatte mit dem, was Ihr Freund Vogeler in letzter Zeit begonnen hat. 

Selbstverständlich leben wir rein kommunistisch, d.h. nicht nur jeder Privatbesitz hat vollständig aufgehört, sondern wir bemühten uns überhaupt um die Umschaltung aus dem kapitalistischen Besitz- und Machtgedanken in den kommunistischen Geist brüderlicher Liebe und gegenseitiger Hilfe. Diese Siedlung, die im besten Werden war, ist nun am Fronleichnamstag, heute vor 14 Tagen durch die Münchner politische Polizei wegen Verdacht politischer Umtriebe aufgehoben worden. Man behauptete, daß die ganze Wirtschaft und das Gemeinschaftsleben nur Deckmantel seien für neue spartacistische Umsturzbewegungen. 

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Seitdem sitze ich nun zusammen mit 11 Freunden im Gefängnis in München. Mir geht es recht gut, und ich betrachte es als eine Ehre, für diese Idee in dieser Weise eintreten zu können. Es besteht nun aber die große Gefahr, ganz einerlei wie der Ausgang meines Verfahrens vor dem Standgericht sein wird, daß man alle nichtbayerische Glieder der Siedlung, darunter also auch mich, aus Bayern ausweisen wird.

Es wurde mir nahegelegt, eine Eingabe an die Regierung zu machen, in der sich recht viele namhafte Persönlichkeiten aus allen Kreisen dahin aussprechen sollten, daß sie die Fortsetzung der Siedlung Blankenburg als einen ganz wichtigen Versuch innerhalb Deutschlands auf das wärmste befürworten, und daß ich selbstverständlich freie Hand behalten muß in der Auswahl der Menschen, die ich auf der Siedlung aufnehmen will, da natürlich eine Beschränkung auf Nur-Bayern im Rahmen der Sache ganz widersinnig und unmöglich wäre.

Auf alle Fälle wäre zu betonen, daß es sich bei diesem Versuch nicht um die Sache irgendeiner Partei handelt, sondern daß hier einmal ein Leben aus dem Geiste der Jugend heraus versucht wird, und daß wir selbst noch absolut nicht übersehen können, wohin unser Weg führt. Daß wir aber in uns keimhaft eine neue Welt lebendig fühlen, deren rückhaltlose Verwirklichung uns ganz besonders am Herzen liegt in einer Zeit, da alle Werte der Welt wankend geworden sind, und sich überall nur die große Angst vor dem Hereinbrechen des Chaos bemerkbar macht.

 

b. Eine Petition (1919)

Berlin, 10.8.1919 An die Regierung des Volksstaates Bayern, zu Händen des Herrn Ministerpräsidenten Hoffmann Bamberg

Das Streben nach menschlicher und gemeinschaftlicher Erneuerung, das insbesondere die ihrer Verantwortung bewußtesten Kreise der deutschen Jugend kennzeichnet, fand einen Ausdruck in der Gründung der Siedlung Blankenburg bei Augsburg. Hier gründeten im Januar dieses Jahres Friedrich Bauermeister, Hans Koch und Alfred Kurella eine Gemeinschaft von Menschen, die — Arbeiter und Intellektuelle — in unbehindertem geistigem Austausch und in täglicher ländlicher Arbeit einen Zusammenschluß erreichen wollten, der von den Merkmalen und Unterscheidungen eines früheren Lebens in keiner Weise mehr bestimmt wäre.

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Mitte Juni wurden die Mitglieder der Siedlung unter der Beschuldigung verhaftet, ihre Gemeinschafts­bestrebungen wollten nichts andres als nur als Deckmantel neuer Unruhen dienen. Gründer und Mitarbeiter von Blankenburg sind mit dem Gedanken der Siedlung und dem begonnenen Weg so verknüpft, daß jede charakterologische Gewähr gegeben ist, daß sie keine anderen Absichten verfolgten, als solche, die ihnen zur Verwirklichung der neuen Form ihrer Existenz wesentlich schienen. 

Wenn trotzdem irgend eine Handlung von Angehörigen der Siedlung zur gerichtlichen Beanstandung Anlaß böte, so dürfte doch dieser Handlung innerhalb der Gesamttätigkeit und der Gesamtwesenheit der Siedler keine so beträchtliche Bedeutung zukommen, daß dadurch der Wert dieses wichtigen Versuches zum Aufbau einer produktiven, von Klassenunterschieden nicht mehr bestimmten Gesellschaftsform negiert würde. Das Besondere der Gesinnung, die hier einen ersten Versuch zu solidarischer wirtschaftlicher Arbeit unternimmt, ist, daß sie unmittelbar dem Gemeinschaftsgeiste der Jugend entstammt. 

Darin liegt die Bedeutung dieses Versuches auch für einen durch seine Fähigkeiten wichtigen Teil der deutschen Jugend. Selbst wenn also diese Bestrebungen bei ihren ersten Schritten nicht ohne jeden Konflikt mit den Gesetzen des Staates ausgekommen sein sollten, so sollte doch selbst hier der Jugend das Recht auf ihre Gesinnung und eigene Entwicklung dieser Gesinnung zugestanden werden, um sie zu ermutigen, nach den Zusammenbrüchen und Schrecken dieses Krieges, die die Jugend am unmittelbarsten selbst erleben mußte, einen neuen Aufbau zu vollbringen. — Wie auch die Folgen dieser Verhaftung sein mögen: Auf jeden Fall besteht die Gefahr, daß die Fortsetzung der blankenburger Siedlungstätigkeit durch die Ausweisung der Nichtbayern verhindert werde.

Die Unterzeichneten ersuchen die Regierung des Volksstaates Bayern dem kaum begonnenen Versuch nicht schon in seinen Anfängen ein vorzeitiges Ende zu setzen, sondern den Fortbestand der Siedlung dadurch zu ermöglichen, daß die Regierung die Gründer und Mitarbeiter dem Werke erhalten und von jeglicher Ausweisung absehen wolle.

Achim von Arnim, Hauptmann im Generalstab / Dr. Martin Buber / Theodor Däubler / Engelbert Graf / Arthur Holitscher / Käthe Kollwitz / Ernst Joel / Gesandter Graf Harry Kessler / Privatdozent Dr. K. Korsch / Rudolf Leonhardt / Prof. Dr. Franz Oppenheimer / Curt Papst-Weisse / Dr. Hans Reichenbach / Freiherr Günther v. Reinbaben / Dr. Alexander Schwab / Dr. Helene Stöcker / Bruno Taut / Paul Westheim / Walther Rilla, Breslau / Bernhard Reichenbach. Berlin 16. 9. 1919 (.....) 

Ergänzend haben sich angeschlossen: Paul Zech/Dr. Rudolf Kayser/Chefre-dakteur Walter Oehme/Dr. Alexander Rüstow/Armin T. Wegner, Berlin/Otto Flake, z. Zt. Zürich/Dr. Kurt Thesing, Bichl bei Kochel/Walther Rilla, Breslau.

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49. Tagesablauf

Uns weckte nur in Ausnahmefällen jemand, sonst begann der Morgen ohne Uhrzeit, nur zum mageren Frühstück war es erwünscht, sich auch dazu einzufinden. Allerdings war der Anreiz dafür nur gering, denn unsere Mädchen verstanden es regelmäßig die Haferflocken anbrennen zu lassen. Für ein solches Produkt hatten wir den Ausdruck »Hi drahte Kohle« [hingedrehte Kohle] eine Abwandlung von Kohlehydrate. 

Für notorische Langschläfer hatten wir ein probates Mittel. Man überfiel den Schlafenden und wickelte ihn in eine Decke ein. Kräftige Hände zerrten ihn aus dem Bett, schleiften ihn die Treppe und den Wiesenhang hinunter zum Flüßchen und mit Schwung wurde er dann in die Schmutter geschleudert, zum Hallo der Zuschauenden.

Zum Frühstück gab es weiter keine Zuspeise, jedoch noch etwas geistige Nahrung. Verschiedene Gedichte, einzelne Abschnitte aus Werken oder Romanen, die von allgemeinem Interesse waren, und zur Zeit vor der Staatsaktion wurde der <Olympische Frühling> von Spitteler gelesen, der ja auch ein Sturz aus unserem Olymp folgte. Mit solcher Seelenspeise ging es dann an die Arbeit. Eine Vesper oder, wie man in Bayern sagt, eine Brotzeit gab es nicht.

Das Mittagessen war besonders in den Anfangszeiten eine recht dürftige Angelegenheit. Bei aller Bereitschaft, Opfer zu bringen, gab es doch dann, wenn die Mahlzeit eingenommen wurde, oft Schielaugen, ob es denn noch einen Nachschlag abgeben wird. Kartoffeln konnte man essen, soviel jeder mochte, denn solche konnten wir auch ganz umsonst uns holen aus unserem großen Keller, der zu Einlagerung derselben an den größten Bauern des Ortes vermietet war. Jedoch an den Zutaten an unser Hauptgericht herrschte chronischer Mangel. 

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Daher wurden solche, wie sie auf den Wiesen und Feldern zu finden sind, eifrig gesammelt. Da wurden Löwenzahn, Schafgarbe, Gänseblumenblätter, Brennessel usw. willkommene Hilfen zur Verbesserung unserer Mahlzeiten. Fette dazu gab es nur auf Lebensmittelmarken zu kaufen; um Fleisch oder Wurst kaufen zu können, dazu hätten wir mehr Geld benötigt, als wir zu besitzen pflegten. Um sich nun einmal ganz satt essen zu können, war der Vorschlag gemacht worden, Kartoffelknödel zu kochen, zu denen man ja nur rohe und gekochte Kartoffel und etwas Brot benötigt. 

Es waren dann 36 Knödel, die auf den Tisch kamen, und nun war dem Appetit keine Grenzen gesetzt. Ein Norddeutscher konnte nur einen Knödel bezwingen, die allerdings ganz schön groß ausgefallen waren. Die Mehrzahl der Esser kam auf drei oder vier Stück und ein Münchener, der noch dazu der Koch war, brachte es fertig, sieben seiner Knödel zu verdrücken. Es blieben aber noch etliche davon übrig, die sollten nun auch noch aufgegessen werden, und man fand Möglichkeiten dazu, indem mit Essig und Ol nachgeholfen -wurde, andere Marmelade dafür als geeigneter fanden. Eine allgemeine Zufriedenheit und Heiterkeit beschloß diese Knödelinvasion.

Das Kochen war die Arbeit der Mädchen, später jedoch wurden auch die Jungs dazu herangezogen, um ihre Künste zu zeigen. Die zur Verfügung stehenden Mengen der Lebensmittel zum Kochen mußten jeweils eine Woche reichen, solange eben der Kochdienst dauerte. Bis zum Donnerstag waren dieselben aber meistens verbraucht, aber ebenso auch die Kenntnisse, um sich nicht wiederholen zu müssen in dem zu Bietenden. Glücklich der, welcher es verstand, über diesen kritischen Tag hinwegzukommen, und am Freitag und Sonnabend auch noch ein zufriedenstellendes Essen auf den Tisch bringen konnte.

Zum Abendessen hatte es sich eingebürgert, ganzen Weizen, am Abend vorher in Milch eingeweicht, dann gekocht auf den Tisch zu bringen. Wir fanden, daß der Weizen, am Abend vorher in einem Tongefäß zum Aufquellen gebracht, einen besonders feinen Geschmack bekommt, und auch sonst wurde versucht, die Nahrung möglichst wesenhaft zu bereiten. Die Abwechslung im Abendessen war natürlich auch beschränkt gewesen.

Wenn auch der Einzelne in der Gemeinschaft sich individuell gab, so kam man doch zu der Anschauung, daß es uns eigentlich fremd ist, wenn jeder auf seinem Stuhl sitzt und auf diese Weise sich einer Art von Thrönchen bedient, womit er sich von den Mitmenschen absondert, sich ein eigenes Reich abgrenzt, was ja doch dem Streben nach Gemeinschaft entgegengesetzt ist.

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Um eine neue gemeinschaftsmäßige Form zu haben, wurde ein etwas erhöhtes Podium gebaut, darauf Matratzen von den Feldbetten gebracht, welche Hans Koch noch bunt mit Stoffarben bemalte. Damit war ein Lager geschaffen, auf das man sich im orientalischen oder Schneidersitz setzen konnte, wenn man das fertig brachte, sonst war das Lager auch als Liegestatt geeignet. 

Die Stühle waren somit unnötig geworden und wurden abgeschafft. Aber einen Tisch wollte man anfangs noch nicht entbehren, also schnitt man demselben die Beine ab und stellte ihn in die Mitte des Podiums, um den herum saßen dann alle bei den Mahlzeiten. Später aber wurde auch dieser als entbehrlich angesehen und ebenfalls abgeschafft. Teller wurden auch nicht mehr gedeckt, man aß aus einer gemeinsamen Schüssel. Um das Einnehmen der Speisen etwas zu erleichtern, benützte man dazu Limonadelöffel, weil diese einen längeren Stiel hatten, damit man sich nicht mehr so sehr strecken mußte. Wir hatten auch einen Fletscherer (langer, sorgfältiger Kauer), der es auch begrüßte, daß dieselben etwas weniger aufnahmen, auf diese Weise "würde man auch "weniger zum Schlingen veranlaßt und jeder Löffel voll mit mehr Bewußtsein zu sich genommen. Auch eine Form für eine neue Lebensweise, welche sich recht gut einführte.

Da uns keine geheizten Zimmer zur Verfügung standen, spielte sich das Leben in der Hauptsache in der vom Kochen warmen Küche ab und da speziell auf dem Podium. In der warmen Jahreszeit lagerten wir uns gerne im Freien unter dem großen Birnbaum. Auch sonst waren wir angewiesen, ohne Wohnkultur auf unseren Zimmern zu leben, wir hatten ja kaum ein paar Möbel im ganzen Haus. In Feldbetten, von der Heeresverwaltung bezogen, schliefen wir mit Decken, welche auch gekauftes Heeresgut waren. Einige von uns versuchten etwas Farbe in ihr Zimmer zu bringen und bemalten deren Wände in expressionistischer Weise. Eigenartig fiel ein Zimmer aus in der Bemalung, das Formen eines Urwaldes aufwies und auch ganz in dunklen Farbtönen gehalten war. Seltsam ist, daß dieser Mensch, der es sich ausmalte, später 7 Jahre im brasilianischen Urwald als Flüchtling leben mußte. Hans Koch hatte sich eine Wandfläche im Flur des Hauses erwählt, um darauf sein Pfingstbild mit Taube und Ausgießung des Heiligen Geistes zu malen. 

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Als der Holzener Wachtmeister wieder einmal in unser Haus kam, sah er sich das Bild auch an und meinte, es sei aber viel Rot darin, worauf ihm erwidert wurde: »Und sehr viel violett.« »Ja und?« meinte der Wachtmeister. »Das bedeutet viel Religiosität«, bekam er ganz aus der Empfindung und dem Gefühl heraus gesprochen zur Antwort. Unserem Bedürfnis nach Farbe wurde etwas noch abgeholfen, indem wir unsere Hemden alle mit Stoffarben, je nach Lieblingsfarbe einfärbten, was ein buntes Bild ergab.

Trotz aller Einfachheit und Dürftigkeit unserer Lebenshaltung, ohne geheizte Zimmer unter anderem, traten keine ernsthaften Krankheiten auf, so daß nie ein Arzt ins Haus kommen mußte. Es gab auch sonst keine größeren Sorgen, die Einschränkungen mannigfaltigster Art wurden als bedingte Einschränkungen hingenommen. Ebenso gab es kaum einen Ärger oder Verdruß, und was erst später in das Bewußtsein kam und sehr beachtenswert sowie bedeutsam ist, es gab keinen Streit unter den so verschiedenartigen Menschen und auch keinen Zank. Wohl gab es Meinungsverschiedenheiten, aber keine Rechthaberei machte sich breit.

Viel wurde während des Tages und besonders abends gesungen. Ein wesentlicher Bestandteil für unsere Fröhlichkeit. Es waren Wandervogellieder, welche in ihrer Mannigfaltigkeit stets fähig waren, auch eine gehobene Stimmung zu erzeugen und auch zu allen Situationen herhalten mußten, wenn man sich durch ein Lied aussprechen wollte. Einer, der lange Zeit zu Besuch bei uns war, konnte fast nie ohne seine Laute gesehen werden, die er aber auch meisterhaft spielte und nachts auch stets bei seinen Spaziergängen mitnahm, verursachte ein lustiges Ereignis. Er wollte nämlich zur späten Stunde einem von uns ein Ständchen bringen und stellte sich dabei vor das Fenster eines Zimmers auf, in das sich kurz vorher ein Mädchen einlogiert hatte, das sehr spät von der Bahnreise eintraf, zum erstenmal zu uns kam und einfach in das unbewohnte Zimmer einstieg. Das Erstaunen dieser beiden war aber groß, als bei näherer Betrachtung gegenseitig sich herausstellte, daß ja wohl eine Verwechslung vorlag und [sie] mit schallendem Gelächter dann ihre Verwunderung beendeten. Heute möchte man meinen, daß der »Wandervogel« an seinem Singen gestorben sei, ohne Eier zu legen, welche zukunftsfähige Werte hinterlassen haben.

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Unsere Abende hatten recht oft ein festliches Gepräge, ohne äußeren Aufwand zu benötigen. Bei schönem Wetter lagerten wir uns oft unter dem großen Birnenbaum, unter dem auch recht oft das Mittagessen eingenommen wurde, oder wir gingen hinunter an unser Wäldchen. Sonst lagen oder saßen wir auf unserem Podium und lauschten auf Vorlesungen von Dichtungen, Romanabschnitten usw. Dazu waren modernere Dichter und Schriftsteller wie Rilke, George, Kaiser, Dostojewski, Tolstoi und auch klassische gerne gehört und angetan, uns jeweils in ihre Welt zu begeben, uns erheben oder anregen zu lassen für Gespräche und Diskussionen. 

Auch die akuten Zeitereignisse wurden durchgehechelt und von den Großen in der Weltgeschichte gesprochen. Jedoch die Tagespolitik oder Parteienpolitik waren selten unser Thema. Ja, manchmal zeigte sich sogar eine apolitische Gesinnung, welche zu erkennen gab, daß man mit den herkömmlichen Anschauungen etwas in Konflikt kam, da unser Leben ja andere Maßstäbe setzte und eine Befreiung von Anschauungen erforderte, die man bisher als unumstößliche Wahrheiten angenommen hatte. Es lockerten sich festgefahrene Meinungen und wir durften dieselben nicht schonen, sollte man in aufgeschlossener Weise den Zugang zu neuen Erkenntnissen sich nicht verbauen. Unsere reichlichen Besucher trugen auch dazu bei, andere Ansichten kennen zu lernen, so daß sich unsere Gespräche wandelten und fruchtbar gestalteten.

Aber auch der Humor fehlte nicht bei unseren abendlichen Zusammenkünften, der auch über den Tag hinweg auf seine Rechnung kam. Es wurde allerhand Blödsinn verzapft, Klamauk gemacht und auch Streiche ausgeheckt. Erwähnenswert ist auch unser Vergnügen beim Baden in der Schmutter, einem Flüßchen, das an unserem Grundstück vorbeifloß, so daß wir einen eigenen Badeplatz hatten. Viel schöner erheiternder Allotria wurde da getrieben, wie eben Jugend dazu fähig ist und sich dabei glücklich fühlen kann.

 

50. Die Wasserprozession

Eines Morgens, es war noch sehr früh, wurden wir von Rüben geweckt mit der Begründung: wir wollen doch der Hilde helfen, ihr Gemüse im Garten zu bewässern, da die Erde schon so stark ausgetrocknet ist. Er bat dazu mit so warmer Herzlichkeit, doch aufzustehen, um eine Kette Wassertragender bilden zu können, daß man es gar nicht hätte ausschlagen zu können, dabei mitzuhelfen. Wir sollten unten in der Schmutter so viel Wasser schöpfen und den Berg herauftragen, bis Hilde erklärt,

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es sei dem Boden nun genug Wasser zugeführt worden und auch noch eine Weile vorhalte. Also stand man halt auf zu dieser Hilfeleistung, wenngleich die Müdigkeit vom Vortage noch in den Gliedern steckte. Wir verteilten uns in einer Linie von der Schmutter aufwärts, auf dem kürzesten Weg den Wiesenhang überquerend. Alle Gießkannen, Eimer und sonst tragbaren Gefäße wurden eingesetzt und soviel Wasser aus dem Flüßchen geschöpft und heraufgetragen, bis die Erde gesättigt war und das ging so einige Stunden lang, so daß man das Tragen oder Schleppen den Berg hinauf in seinen Gliedern sehr zu spüren bekam.

Noch während unserer Arbeit sahen wir, wie in der Nachbargemeinde eine Bittprozession vieler gläubiger Menschen sich über die Fluren bewegte und in Gebeten, vom Pfarrer geleitet, um Regen flehte. Ihre Ländereien waren ebenso ausgetrocknet wie unser Garten, und so galten die Gebete der Bauernbevölkerung der Vorsehung, um ihre Kulturen vor dem Ausdörren zu bewahren und ihnen ein willkommener Wassersegen vom Himmel kommen möge. Wenige von uns werden des Glaubens gewesen sein, daß diese Gebete um Regen helfen werden, und man fühlte sich als Mensch der Selbsthilfe klüger als die gläubige Bevölkerung. Man freute sich der eigenen Abhilfe, wobei der Hilde eine große Sorge um ihr Gemüse abgenommen war. Das Gottvertrauen 'war uns ja ganz fremd, auch ihre Sorge um das tägliche Brot und um eine gute Ernte, die ja bestimmend ist für das Maß ihrer Lebensmöglichkeiten, diese bedrückte uns ja nicht. Man meinte mit der Selbsthilfe dem Wettergott ein Schnippchen geschlagen zu haben.

 

51. »Quack, quack ...«  

Mit Jo und Lene zusammen kam die Rede darauf, daß es doch ein großes Wunder sei zu erleben, wie die Pflanzen wachsen und wie alles dazu beiträgt, daß ein Wachstum vor sich gehen kann. Eigentlich nötige eine richtige Betrachtungsweise dazu, in Devotion und Ehrfurcht dem Lebendigen gegenüberzutreten.

Am anderen Tag war es sehr heiß geworden, und ich bereitete ein Stück Land vor, um es bepflanzen zu können, indem ich Mist darauf brachte und es mit dem Spaten umgrub. Gerne hätte ich es gesehen, daß man mir dabei helfen möchte, aber es blieb dabei, daß ich das Land pflanzfertig machte. Am Abend, wenn es kühler würde, wollte ich es mit Kohlrabi bepflanzen.

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Als ich mich dazu anschickte, da sah ich, daß Jo und Lene sich an dem Beet zu schaffen machten und mußte feststellen, daß die beiden dabei waren, es mit Kohlrabi zu bepflanzen. Es fiel mir aber auch auf, daß Lene recht betulich sich dazu anließ, als wolle sie einer Priesterin gleich eine heilige Handlung vornehmen und Jo ihr dabei ministrierte. 

Ich sah aber auch, daß von sachgemäßer Arbeit keine Rede sein konnte. So kann man doch nicht Pflanzen setzen und die Gewähr haben, daß sie auch anwachsen werden! Nun kam noch dazu, daß mir ins Bewußtsein kam, ich hätte mir doch die Arbeit gemacht mit dem Herrichten des Beetes und ohne im Einvernehmen mit mir die beiden sich das Recht herausnahmen, dazu berufen zu sein, die Pflanzung vorzunehmen. Da aber lupfte es mich, ein Unmut überfiel mich, meine innere Erregung setzte sich um in körperliche Bewegung, ich strebte weg und lief in den Wald, immer weiter halt- und fassungslos. 

Bis nach Kühletal trieb mich dieser innere Sturm, und Nacht ist es inzwischen geworden. Ich muß in die Nähe eines Teiches gekommen sein, denn ein hundertfältiges Quack, quack, quack . . . war vernehmbar und bewog mich stehenzubleiben. Dabei begann ich mich zu beruhigen, und als sollte ich eine Erklärung bekommen, verwandelte sich in mir das quack, quack in Quatsch, quatsch. »Ist ja alles Quatsch was die machen«, und mit dieser Einsicht gab ich mich zufrieden und trat den Heimweg an. Am Hause angekommen, hatte ich weder einen Groll noch Unmut in mir und hatte bald die wohltuende Ruhe des Schlafes gewonnen.

 

52. Zeichen und Wunder: Szenen aus einem Prozeß (1919)

[...] Aber abgesehen von dem Verhandlungsvorgang selbst, geschahen im Laufe dieses Tages [vor dem Gericht] in Einzelnen, in kleineren Gruppen, in seltenen Augenblicken wohl unter allen Anwesenden Dinge — herrschte im ganzen eine Atmosphäre, die teils - von den Jungen - beglückend, teils - von den »anderen« - nicht ganz geheuer, etwas unheimlich empfunden wurde; die jedenfalls den entscheidenden Ernst, der in jenen zusammengedrängten Stunden von symbolischer Bedeutung zutage trat, nie - wie zunächst zu erwarten war - in das überlegene Lächeln verkehren ließ, das alte Menschen so gerne zu Hilfe ziehen, wenn sie ihre Position entscheidend bedroht fühlen. 

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Im Gegenteil, es geschahen »Wunder und Zeichen«, so daß die Gerichtsdiener über die Zwischenstufe lächelnden Kopfschüttelns sich in einer neugierig suchenden Offenheit in direkter Frage mit ihren Häftlingen »einließen«. Aber noch mehr: Durch die Andeutungen und in der offiziellen Atmosphäre [des Prozesses] fast quälenden Versuche, die Gedankengänge des Kommunismus klarzulegen, wie er einem Teil der Jugend als notwendige Erfüllung und Ausfluß ihres unbedingten Wahrhaftigkeitsstrebens zur bestimmenden Idee ihres Lebens geworden ist, war in vielen Anwesenden eine suchende Unruhe und Drang nach Klärung aufgewachsen, und es geschah, daß [. . .] in der Stunde, die zwischen Schluß der Verhandlung und Urteilsverkündung lag, ein großer Kreis in buntester Zusammensetzung sich auf den Gängen des Justizpalastes zusammenfand, in dessen Kern der Hauptangeklagte Hans Koch in lebhaftester Aussprache stand, nicht allein mit den beiden Verteidigern und mancherlei jungen Menschen aus Jugendbewegung und Gendarmerie, sondern sogar mit den Vertretern der Anklage, dem Staatsanwalt.9) 

Und alle in gleichem heftigen Grübeln und Auswegsuchen aus den Nöten und Unerforschlichkeiten unserer Zeit [.....] Und so weit führte die Beschäftigung mit dem letzten — man könnte sagen — kosmischen Geschehen, das dem Prozeß dieses Tages zugrunde lag, über den Horizont der Gerichtsstätte, auf der man stand, hinaus, daß, nach beendigter Beratung des Gerichts, ein Gerichtsdiener erst den Staatsanwalt und den Hauptangeklagten — die inzwischen von den Fragen des aktuellpolitischen Kommunismus bis zu den letzten Geheimnissen altindischer Stern- und Körperlehre vorgedrungen waren — aufmerksam machen mußte, daß das Gericht bereits zur Urteilsverkündigung versammelt war [....]

 

*

9)  Nach Joseph Eggerers Erinnerung erkundigte sich dabei sogar der Staatsanwalt mit Wohlwollen bei Koch, ob seine Tochter auch auf die Siedlung kommen könne! - Urteil: die Anklage wegen Flüchtlingsbegünstigung wurde fallengelassen, Hans Koch wegen Aufforderung zum Hochverrat (durch seine Schrift <Der Weg zum Bolschewismus>) auf Bewährung verurteilt, die übrigen drei Angeklagten wurden freigesprochen.

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Lindenhof 

 

Die »kommunistische« Siedlung Lindenhof entstand durch die Initiative des Studenten und Schriftstellers Hugo Hertwig, der verwundet aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekommen war, im Arbeiter- und Soldatenrat in Schwerin an der Revolution mitgewirkt hatte, dann nach Bremen und Düsseldorf gegangen war. Er lernte dabei auch Vogelers Barkenhoff und Leberecht Migges Siedlerschule (chinesische Ackerbeet-Kultur!) kennen, aber auch die Sehnsucht vieler junger Bildungsbürger, denen er nach dem Zusammenbruch der Revolution im Weimarer Bauhaus und in der Künstlerkolonie in Hagen/Westfalen begegnete, nach einer neuen Gemeinschaft. Nicht zuletzt beeinflußt durch die Biosophie Ernst Fuhrmanns10) predigte er der Jugend seinen Lieblings-Aufruf: »Vorwärts zur Natur!«

1919 erwarb er mit gleichgesinnten Freunden — u. a. dem Maler Max Schulze-Sölde, dessen Siedlungs­phantasien während der folgenden Inflationsjahre eine starke Beunruhigung in die deutsche anarcho-syndikalistische Bewegung tragen sollten, einen Hof in der Wüster Marsch bei Kleve

Man zog auf den Lindenhof, ohne daß die Siedler und ihre Freundinnen viel Ahnung von der Land- und Hauswirtschaft hatten. Eigene Werkstätten, so eine Schmiede, sollten die agrarische Tätigkeit ergänzen. Der Anspruch, auf dem Hof »frühere Akademiker, Arbeiter und Handwerker« zu gemeinsamer Arbeit zusammenzuführen, konnte nicht so wie auf dem Barkenhoff und in Blankenburg eingelöst werden; die Siedlung ähnelte eher einer ländlichen Künstlerkolonie. Weniger an den inneren Spannungen und Rivalitäten als an der ökonomischen Realität ging bereits im Winter 1919 das Gemeinschaftsexperiment überraschend schnell zuende. Der Hof brannte einige Zeit später bei einem Gewitter ab.

Hertwig gab nicht auf; angeregt durch Fuhrmann, dachte er zunächst daran, eine Siedlung auf einem Schloß zu gründen. Dann ging er jedoch 1923 zu seiner Cousine und Freundin Maria Reps nach Prerow auf der Halbinsel Darss, wo diese sich mit dem gemeinsamen Kind in einem Fischerhäuschen niedergelassen hatte. 

 

10)  Franz Jung, Erinnerungen an einen Verschollenen (Ernst Fuhrmann). Radio-Manuskript v. 1962, Mschr. (Kopie im Besitz des Hrsg.)

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Prerow war damals schon nicht mehr bloß ein Fischerdorf, sondern hatte nach dem Ersten Weltkrieg vor allem pensionierte Offiziere und viele Künstler angezogen, die auf Existenzsuche waren (Fritz Klatt gründete dort aus kleinen Anfängen seine später bekannte Volkshochschule). Hertwig versuchte aus Prerow eine sozialistische Dorfgemeinschaft zu machen und weitere Siedlerfreunde dorthin zu ziehen. So ließ sich in Born auf dem Darss Walter Mett mit seiner Gralssiedlung nieder. Hertwig gab für diese Freunde 1925/26 das mit Schreibmaschine vervielfältigte Blatt <Der lebendige Weg. Organ einer Siedlungsgesellschaft an der Ostseeküste> heraus. Doch aus der beschworenen Gemeinschaftssiedlung wurde nichts.

So zog Hertwig nach der Geburt seines zweiten Kindes im Jahre 1929 nach Jena, dann nach Berlin, zurück in die Großstadt also, zu den Bibliotheken und besseren Verdienstquellen. Aber auch in der Stadt wirkte er in lebensreformerischem Sinne als Schriftsteller weiter. Zeit seines Lebens betrachtete er es als seine wesentliche Aufgabe nachzuweisen, daß aus einer biologischen Weltanschauung ein neues Ethos und ein neuer Gemeinschaftsgeist geboren werden könnten.

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53. »Was sollen wir tun?«

Der Erste Weltkrieg. Die idealistisch erzogene Jugend erfuhr die Realität ... Der junge Hugo Hertwig, Student und Schriftsteller, hatte den Krieg mitgemacht, er kannte die Kämpfe an der Somme ... Er lernte den Tod kennen — den Tod im Felde mit Lastwagen voller Leichen übereinander gestapelt — und er sah im Urlaub, wie ein bürgerlicher Toter feierlich zu Grabe getragen wurde mit Blumen und Musik ...

Die Revolution. Wer das Christentum ernst nahm, begann sich mit dem Kommunismus zu beschäftigen. Es gab »Jesusnachfolger« wie [Louis] Haeusser, [Leonhard] Stark, [Max] Schulze-Sölde u. a. Soziale Unterschiede zwischen Reich und Arm wurden offenbar. Die Sympathie war von vornherein bei den Ärmsten. Wer aus bürgerlich gesichertem Hause kam, wollte etwas gutmachen, was die Väter versäumt hatten. Die Söhne vergaßen dabei, daß auch die Väter oder Großväter aus armen Hand-werker- und ähnlichen Arbeiterkreisen stammten, daß sie sich »heraufgearbeitet« hatten durch großen Fleiß und Zähigkeit. Es sollte endlich für die Sehnsucht der jungen Menschen ein neues Leben beginnen, in dem soziale Gerechtigkeit herrschte, keine Kriege mehr möglich waren und auch keine Standesunterschiede.

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Als die Revolution ausbrach, war Hertwig gerade bei der Genesenenkompanie in Schwerin. Er schloß sich der Revolution an, wurde in den Arbeiter- und Soldatenrat gewählt und leitete die Presse. .

Nach einem mißglückten Putsch ging er nach Hamburg, Bremen, Düsseldorf. Die Erfahrungen, die er dabei machte, enttäuschten ihn. Er erlebte z.B., daß die Arbeiter einem Kartoffeldieb aus Hunger schärfere Strafen verabfolgten, als es im Bürgerlichen Gesetzbuch vorgesehen war. Er verließ die revolutionären Städte und ging nach Weimar zu Freunden, die am Bauhaus tätig waren. Auch sie waren durch die Zeit im inneren Aufruhr. Alle fragten: »Hertwig, was sollen wir tun? Wie können wir ein neues Leben beginnen?«

Und Hertwig, begabt mit einer starken Phantasie, immer voller Ideen, außerdem befähigt, Menschen mitzureißen, sagte: »Gehen wir aufs Land! Gründen 'wir eine Siedlung! Unsere Losung soll nicht heißen wie bei Rousseau >Zurück zur Natur!< Sondern: >Mit allen geistigen Errungenschaften Vorwärts zur Natur!<«

Das war im Sommer 1919. Im Frühling 1920 wurde der »Lindenhof« gekauft mit dem Geld der »Väter«, denen die Idee der »Landnahme« irgendwie einleuchtend war in einer Zeit des Hungers und der Armut. Vielleicht war das Geld hier besser angelegt als auf der Bank.

 

54. »Eine Kommunistensiedlung bei Itzehoe« (Hugo Hertwig 1920)

[.. .] suchen wir den Beweis zu liefern, daß es dem Menschen, wenn er überhaupt noch Ideale hat, möglich ist, sich von der Geldwirtschaft, in deren immer größere Abhängigkeit er geraten ist, zu befreien und seine alte Unabhängigkeit wieder zu erreichen, um die sich immer wieder im Laufe der Entwicklung der Kampf der Menschen dreht. Das aber kann er nur auf dem Lande durchsetzen, wo er wieder in unmittelbare Berührung mit dem Boden gerät. Er muß sich wie in Rußland in größeren Verbänden zu sogen. Dorfgenossenschaften zusammenschließen und ähnlich wie unsere Siedelung es versucht, sich alle 144

Dinge (Nahrung, Kleidung, Gebrauchsgegenstände), die er zum Leben braucht (und dabei ist nur bei der allgemeinen Not an ein Existenzminimum gedacht), in gemeinsamer Arbeit selbst herzustellen. Durch die gemeinsame freiwillige Arbeitsteilung, die keine Dienstboten und andere Untergebene mehr kennt, werden alle Dinge, die man zum Leben braucht, in kürzester Zeit hergestellt, die Arbeitszeit schrumpft zusammen und die freie Zeit für geistige Interessen wird immer größer [....]

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55. »Menschliches, Allzumenschliches«

Mein Glücksgefühl erreichte seinen Höhepunkt, als ich mit meinem Schimmelchen und dem grün-gestrichenen Bretterwagen vor der Großen Paaschburg erschien, um die Siedlungsgenossen und den Hausrat abzuholen. Es hatte zwar seine Schwierigkeiten, in den engen Straßen den unbeholfenen Wagen zu drehen, und ich mußte einen kleinen Menschenauflauf und einige Verkehrsstockungen mit in Kauf nehmen, als ich versehentlich mit den Hinterrädern auf den Bürgersteig geraten war, aber es ging schließlich doch und ich knallte, um meine Ankunft anzumelden, so heftig mit der Peitsche, daß mir der sonst so brave Schimmel beinahe davon gelaufen wäre.

Das Gerumpel wurde aufgeladen, und ich merkte zu meinem Staunen, daß Hertwig seine ganze Bücherei in den Wagen schleppte. Verwundert stellte ich ihn darauf zur Rede: ich sei bisher in dem Glauben gewesen, wir würden nun alle Theorie und alle Bücherweisheit zu Hause lassen und mit dem frischfromm-fröhlichen Tun beginnen. Ob es nicht besser sei, diese Bücher zu verkaufen und das Geld der Siedlung zuzuführen? Er selbst habe doch immer am heftigsten die Notwendigkeit verfochten, daß das, was in den Büchern stünde, nun endlich einmal gelebt werden müsse. Sie seien also nur noch ein unnötiger Ballast, und den müsse man, wie er ja selber immer predige, hinter sich lassen.

»Das hast du in deiner Trottelhaftigkeit mal wieder mißverstanden, lieber Max,« schnauzte er mich an, aber er konnte nicht verhindern, daß ich hinter seinem Gebrüll seine Verlegenheit bemerkte.

Noch eine andere Enttäuschung wartete meiner: Lina Volquardsen, auf die ich am meisten gerechnet hatte, erklärte, daß sie nicht mitkommen werde, daß sie niemals mit uns zusammen siedeln werde, solange Käthe dabei sei.

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»Ha, ha! Eifersucht!« dachte ich. Wo blieb da die Theorie? Mit derartig veralteten Gefühlen wollten wir uns doch überhaupt nicht mehr aufhalten. Wir hatten doch als getreue Jünger des Meisters Hugo »jenseits aller Sentimentalitäten« zu stehen. Und nun begann die Geschichte sogleich mit dem Menschlichen, Allzumenschlichen

Es blieben also nur noch fünf: Hugo [Hertwig], Johannes [Auerbach], Käthe [Gräfin Sweerts-Sporck], Maria [Reps] und ich [Max Schulze-Sölde].

 

56. »Ein Original-Proletarier«  

Die ganze Unmöglichkeit und verstiegene Weltfremdheit unseres Unternehmens kam mir besonders deutlich zum Bewußtsein, als es sich nun darum handelte, für unsere Schmiede die nötigen Arbeiter zu finden. Es stellte sich heraus, daß wir gänzlich in der Luft schwebten und nicht die leiseste Verbindung hatten mit jenen, als deren Befreier wir uns fühlten und gebärdeten.

Auf vieles Bitten schickte uns schließlich Heinrich Vogeler einen Original-Proletarier von seinem Barkenhofe. Dieser behauptete, er sei Anarchist und nach der Beschäftigung mit Hertwigs Schriften zu der Überzeugung gekommen, daß Hugo der König der Anarchisten sei.

Wir waren nicht wenig erstaunt, als unser Anarchist zum Arbeiten nicht die geringste Lust bezeigte, sondern den ganzen Tag, die Hände lässig in die Hosentaschen vergraben, spazieren ging und unser ohnehin reichlich belastetes Konto beim Kolonialwarenhändler durch einen erheblichen Zigarettenverbrauch vergrößern half.

 

57. Ein Antiautoritärer Erziehungsversuch

Gräfin Käthe wünschte, ihre erlernte Kinderpflege praktisch anzuwenden. So wurde beschlossen, aus dem Waisenhaus Itzehoe ein Kind auf den Hof zu holen und es in der damaligen Hungerzeit an der einfachen, aber guten Landernährung teilhaben zu lassen.

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Es war für Peter [der richtige Name des zwei- bis dreijährigen Jungen war Rudolf Lange] höchste Zeit, daß er aufs Land kam. In dem bunt ausgemalten Bauernhaus, zwischen Pferden, Kühen und Hühnern, auf den sonnigen Wiesen und Feldern erholte er sich bald.

Die Menschen der Siedlung ließen ihn zuerst fast wild aufwachsen. Erst später machte der eine oder andere Erziehungsversuche an ihm, die alle fehlschlugen. Die Männer betrachteten ihn wie ein wildes, kleines Tier oder glaubten sogar, schon den späteren Verbrecher in ihm zu erkennen.

Käthe hatte auf ihren eigenen Wunsch die Erziehung Peters übernommen, und dieser wühlte zu ihrem Kummer ständig in ihrem Zimmer herum. Sie brauchte nur einen Augenblick den Rücken zu drehen, dann hatte Peter ein wahres Chaos angerichtet unter der in malerische Falten gelegten Aussteuer, oder er kletterte auf dem Düngerhaufen herum und schleppte einen Teppich hinter sich her.

Er war ein richtiger Racker, dieser Junge, von ungebändigtem Trotz und wilder Lebendigkeit. Käthe hatte sich die Kindererziehung harmloser vorgestellt; diese Aufgabe ging über ihre Kräfte, und Peter, der das natürlich merkte, machte sich ein Vergnügen daraus, ihr das Leben sauer zu machen, sich heulend an ihre Rockschöße zu hängen und ihr mit stets neuen Wünschen auf die Nerven zu fallen.

Am liebsten hätte sie ihn wieder abgegeben, aber ihr Ehrgeiz duldete nicht, so schnell den Zusammenbruch ihrer pädagogischen Künste anzumelden, und so lebte sie in ständigem Kriegszustande mit dem Jungen.

Hertwig sah sich diesen Kampf eine Zeitlang belustigt an. Er hatte, wie wir anderen übrigens auch, seinen Spaß an dem Bengel und nahm immer seine Partei. »Er ist ein Wikinger, ein Rebell, er kann noch mal gut werden.«

Als die Geschichte aber gar zu bunt wurde, schlug er vor, man solle den Jungen anbinden. Käthe griff diesen Vorschlag begierig auf, und so bekam denn Peter einen Gürtel umgeschnallt und wurde an einer langen Pferdeleine an eine der Linden gebunden, die vor dem Hause standen. Er bekam ein paar Spielsachen vorgelegt und sollte nun, von der Sonne beschienen, im Sande spielen. Diese Lösung war eigentlich gar nicht so dumm, aber Peter hatte keine Lust, den Kettenhund zu spielen. Er schrie Zeter und Mordio und strampelte mit den Beinen wie ein Besessener. Doch merkte er bald, daß diesmal nichts zu machen war, ergab sich in sein Schicksal und fing seelenvergnügt an, mit seinem Hammer Steine zu zerklopfen.

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In den Frauen aber erwachte das Mütterliche. Es wurde nur oft durch alle möglichen sog. modernen Ideen, die damals wucherten, unterdrückt. So steckte einmal eine fast männliche Gärtnerin den kleinen Peter, um ihn abzuhärten, abends nackt in eine Kiste mit Heu. Auf sein jämmerliches Geschrei eilte Maria [Reps] herbei und schob ihm ein Kissen unter.

Von da an blieb Peter unter Marias Obhut. Maria war ein noch verträumtes, junges Mädchen [. . .] Sie war selbst noch ein halbes Kind. Das spürte sicher auch Peter, der sie oft plötzlich und unvermutet mit Zärtlichkeiten überfiel, die wie aus einem tiefen, mit Steinen verschütteten Garten aufblühten.

In dem Dreijährigen wuchsen eine Leidenschaft und ein innerer Stolz, der manchmal rasend zum Ausbruch kam, wenn er sich durch Reizen und Necken von Besuchern getroffen fühlte. Dann nahm das Kind einen Stein oder was ihm gerade in die kleinen Hände geriet, um es dem feindlichen Menschen an den Kopf zu werfen. Dieser Haßausbruch Peters erschrak viele, aber Maria mußte sich immer daran freuen, weil sie das Recht des Kindes fühlte, mit dem die Erwachsenen spielten. Diese Erwachsenen, die es nicht verstanden, das kleine, sich nach Liebe sehnende Herz zu öffnen.

Nach einem Jahr ging das Idyll der ländlichen Siedlung zu Ende [. . .] Wo aber sollte Rudi Lange bleiben, das Proletarierkind, an dessem weiteren Schicksal sich alle schuldig fühlten?

Es zeigte sich, daß von den vielen Menschen der Siedlung keiner für ein kleines Kind zu sorgen vermochte. Dies war das jämmerliche, negative Endergebnis eines kommunistischen Siedlungsversuches bürgerlicher Künstler und Intellektueller.

 

58. Poetisches und Prosaisches

a. »Auch die Tiere wurden >sozial< behandelt« 
Der Kontakt mit dem Dorf Kleve gelang nicht recht, nur der mit dem nächsten Nachbarn. Dabei aber entstand der zu den eigenen Tieren; sie waren einbezogen in das Gemeinschaftsleben: Den Hühnern wurden nicht die Flügel beschnitten, und sie erinnerten sich bald daran, daß sie Vögel waren und begannen auf die Bäume zu fliegen, dort die Nächte zu verbringen und ihre Eier im Garten zu verstecken. Den neu geborenen Kälbern

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wurde nicht - wie allgemein üblich - die Milch ihrer Mütter weggenommen. Niemand mochte ihnen diese kostbare Nahrung verweigern. Anfangs, als es einen schlimmen Regenguß gab, wurde einer Kuh, die sich draußen befand, aus Mitleid einfach das große Ölgemälde eines Malers zum Schutz übergelegt.

b. Sonntags-Dienst   Sonntag: Vormittags
Gemolken, Schweine gefüttert, Pferd geputzt, Pferd angepflockt, Rahm mit Johannes [Auerbach] geholt, Aborteimer geleert, Kartoffeln gehackt, gemolken, Stall gemistet, Ferkel gestreut, Kühe von der Heuwiese geholt, Zaun in Ordnung gebracht.

Nachmittags Heuboden geordnet, Tenne gefegt, Glucke auf das Nest gesetzt, Kartoffeln gehackt, Unkraut aus Erbsen gejätet, beide Kühe gemolken, Schweine und Ferkel gefüttert, Feuer angezündet, Abendessen hergerichtet.

 

59. »Sehnsucht«

Neben dem Gemeinschaftsleben, der Gemeinschaftsarbeit führte eigentlich jeder sein individuelles Leben, wie es bei Künstlern üblich ist. Abends kam man zusammen, dann las Hertwig aus der finnischen Kalewala vor und er packte seine Zuhörer, als wäre er selbst einer der uralten finnischen Zauberer. Der Plan, nach Island auszuwandern, entstand und begeisterte alle.

Es lag überhaupt über dem Hof eine große Sehnsucht, die Sehnsucht junger Menschen. Auch die Natur ringsum wurde zum Märchen. Im Mondschein und Nebel verwandelte sich alles. Mondscheinspaziergänge waren beliebt und das Wandern zu Fuß ans Meer durch die Marsch.

 

60. Geldnöte und Abhilfen dafür

a. »Immer umsetzen«

Besorgt machte ich Hertwig auf unser rasend dahinschwindendes Betriebskapital aufmerksam. Er lachte und meinte: »Immer umsetzen, immer umsetzen, je schneller und angstloser wir die

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alten Mittel verbrauchen, um so schneller werden neue uns zufließen.« Er selber beteiligte sich eifrigst an diesem Umsetzen, schickte eine größere Summe zur Schuldendeckung an seinen Buchhändler und half großmütig einem seiner Itzehoer Bekannten, der wegen irgend einer peinlichen Angelegenheit im Dreck saß, aus der Klemme.

Für die Landwirtschaft blieb dabei nicht viel übrig, sie hielt sich bescheiden im Hintergrunde und begnügte sich mit dem Ankauf von etwas Saatgut und ein paar Obstbäumchen. Den Rest verschlangen die immer mehr anwachsenden Ausgaben für die Lebensmittel. Der arme Hof hatte ja nicht nur uns zu versorgen - es kamen sehr bald Gäste, immer mehr Gäste.

 

b. Der Leib als Ware

Als wir am Abend um den Küchentisch versammelt waren, zeigte Hilde Förster nicht übel Lust, bei uns zu bleiben und überlegte hin und her, wie sie wohl zu Gelde kommen könne. Hertwig schlug ihr lachend vor, sie solle ihre Leiche an irgend eine Anatomie im voraus verkaufen. Das sollten wir überhaupt alle tun, denn das gäbe bei sechs Personen ein ganz schönes Sümmchen, und es könne uns ja gleichgültig sein, was sie nach unserem Tode mit unseren Knochen anstellen würden. 

Oder sie solle es machen wie Käthe und ihren reichen Eltern durch eine Scheinheirat die Mitgift entlocken. Hilde Förster hörte sich alles mit todernstem Gesichte an und versank über Hertwigs Vorschlägen in tiefes Brüten. Wir achteten aber nicht weiter darauf und rechneten uns unterdessen unter fröhlichem Gelächter aus, wieviel wir wohl für unsere Leichen bekommen würden.

Am anderen Morgen stand ich mit Johannes und Maria bei der Arbeit auf dem Felde. Da kam auf einmal Hilde Förster auf mich zu, nahm mich geheimnisvoll beiseite und bat mich, sie müsse dringend mit mir sprechen. Wir schritten schweigend auf dem sandigen Feldwege nebeneinander her und ich dachte: »Was hat sie nur?« Da blieb sie plötzlich vor mir stehen und sagte mit rauher Stimme: »Ich wollte Sie fragen, ob Sie bereit sind, mich zu heiraten!«

Einen Augenblick war ich ganz verdutzt, dann aber brach ich in ein so herzhaftes Lachen aus, daß mir die Tränen die Backen herunterliefen. Sie wurde davon angesteckt und lachte gutmütig mit, setzte dann aber sogleich wieder eine ernsthafte Miene auf und erklärte mir, daß es wegen der Mitgift sei, und daß doch zwischen uns alles so sehr schön passen würde, weil ja doch ihr Papa so etwas ähnliches sei, wie der meinige. Wir könnten uns natürlich sogleich wieder scheiden lassen.

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Ich hatte die größte Mühe, ihr den tollen Plan wieder auszutreiben und erklärte ihr schließlich kurz und bündig, ich sei nicht gewillt, diesen meinen letzten Trumpf so leichtsinnig aus der Hand zu geben.

 

c. »Jenseits von Gut und Böse«

Unser Bankkonto neigte sich seinem Ende zu. Die Mittel, von denen Hertwig phantasiert hatte, blieben aus. »Das liegt an euren Hemmungen«, meinte er, als wir wieder einmal alle im Kreise versammelt saßen, »ihr steht eben immer noch nicht jenseits von Gut und Böse. Wir haben ein Anrecht darauf, uns das zu nehmen, was "wir brauchen, weil unsere Siedlung ja doch nicht Selbstzweck ist, sondern für die Allgemeinheit den Weg bahnen soll zu etwas Neuem. Wer hindert euch denn, euch nachts von den reichen Bauern das zu holen, was ihr nötig habt?«

Da versagte ich zum ersten Male dem Führer den Gehorsam. Ich meuterte. In höchster Erregung sprang ich auf, schlug mit der Faust auf den Tisch und erklärte:

»Nie und nimmer wirst du mich dazu bekommen. Ich weigere mich, irgend etwas zu tun, was das Licht scheuen muß. Für mich heiligt der Zweck die Mittel nichü Wenn ich nicht hinter deinem wahnwitzigen Spiel das Ringen um den allmächtigen Gott und um die letzte große Erlösung witterte, längst hätte ich dir den ganzen Krempel vor die Füße geworfen. Verstehst du mich, du Teufel?!«

Er erbleichte bis an die Haarwurzeln. Einen Augenblick lastende Stille. Nur die Frauen atmeten hörbar. Dann stieß er zähneknirschend hervor: »Du bist eben ein Feigling!«

Da sah ich ihn verächtlich über die Schulter an und verließ, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, das Zimmer.

Ganz anders Johannes. - Der spannte noch in derselben Nacht den Schimmel vor den Wagen und holte sich in einem benachbarten Barackenlager einen ganzen Haufen »Rohmaterial« für seinen Schweinestall. Er wollte sich totlachen, als ihm der Wächter am nächsten Morgen erzählte, es seien doch tolle Zeiten, jetzt kämen die Diebe sogar mit Pferd und Wagen herangefahren, um zu stehlen. Kühn gemacht durch diesen wohlgelungenen Handstreich, und in dem ehrgeizigen Bestreben,

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mich bei Hertwig auszustechen, brachte er es sogar fertig, bei hellichtem Tage nach Itzehoe zu fahren, vor einem Neubau zu halten und seelenruhig Ziegelsteine aufzuladen.

Der Maurer-Polier war erschienen und hatte erstaunt nach der Bedeutung dieses Tuns und nach einer schriftlichen Bescheinigung gefragt. Darauf Johannes, alle seine Taschen durchsuchend, er sei doch bestellt, dummerweise habe er den Ausweis zu Hause liegen lassen. Dann müsse er wieder abladen, hatte der Polier erwidert, und Johannes, der wohl fühlte, daß nun die Grenze der Frechheit erreicht war, hatte mit der harmlosesten Miene wieder abgeladen und war unbehelligt von dannen gezogen.

 

d. Ein Sachverständigen-Gutachten

Je mehr unsere Geldmittel zusammenschmolzen, um so fieberhafter arbeitete Hertwig an der Vergrößerung unseres Betriebes. Er plante den Ankauf eines weiteren Bauernhofes, der den Vorzug hatte, mit einer vollständig eingerichteten Schmiede versehen zu sein.

Johannes sollte die Sache »finanzieren«. Er hatte einen reichen Erbonkel in Jena sitzen, und dieser wurde nun durch ein Trommelfeuer von Briefen mit denselben Gründen wie mein Vater dahin bearbeitet, er solle das Erbteil des Johannes in Grundbesitz anlegen. Eine günstigere Gelegenheit sei nie wieder zu finden.

Auch der Erbonkel konnte sich der Triftigkeit unserer Beweise nicht verschließen und erklärte sich mit dem Ankauf einverstanden. Da er aber ein vorsichtiger Herr -war, verlangte er zunächst ein Gutachten über den zu erwerbenden Hof, und zwar von einem landwirtschaftlichen Fachmanne. Da war guter Rat teuer, denn kein Sachverständiger hätte mit gutem Gewissen den Kauf dieser heruntergewirtschafteten Klitsche empfehlen können. Hertwig war aber nun einmal versessen auf diesen Hof, wegen der Schmiede, die er mit Proletariern zu besetzen gedachte.

Und er wußte Rat, 'wie immer.

»Ein Gutachten will der Onkel? Das soll er haben!« meinte er, setzte sich an den Schreibtisch und schrieb auf tadellosem Aktenpapier zunächst einmal folgenden Briefkopf:

»Dr. Hugo Kirchbach, staatlich vereidigter Güter-Sachverständiger und Wirtschaftsberater.«

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Dann begann er, in einem mit Fachausdrücken reichlich gespickten Schreiben den fraglichen Hof in einer Weise herauszustreichen und zu begutachten, daß man hätte meinen sollen, es handele sich um ein Lehr- und Mustergut.

Der Erfolg stellte sich prompt ein, der Onkel schickte postwendend die nötigen Gelder, und der Einfachheit halber wurde der neue Erwerb im Grundbuche dem Lindenhofe hinzugeschrieben, so daß ich nunmehr Besitzer zweier Rittergüter war.

 

e. Die Erpressung

Der Geldbriefträger erschien eines Morgens auf dem Hofe. Allgemeine Überraschung. Nur Hertwig schien es selbstverständlich zu finden, daß er tausend Mark in Papierscheinen vor ihm aufzählte.

Auf meine Frage, woher das Geld komme, grinste Hugo geheimnisvoll und sagte: »Ach, ich habe da so einen netten alten Herrn im Lande sitzen, der mir immer etwas schickt, 'wenn ich einmal was brauche.«

Ich ließ nicht locker, und schließlich vertraute er mir an, daß mein Vater dieses Geld geschickt habe.

Er hatte es von ihm erpreßt. Auf folgende Weise:

Entgegen der damaligen Vorschrift hatten wir unsere Milch nicht abgeliefert, sondern selbst verbraucht, und waren dafür in eine ziemlich hohe Geldstrafe genommen worden.

»So und soviel Mark oder acht Tage Haft!« stand auf dem Strafbefehl.

»Gut!« erklärte ich, »da wir kein Geld haben, werde ich diese Haft absitzen.«

Darauf hatte Hertwig heimlich an meinen Vater geschrieben, er möge sofort eine größere Summe Geldes schicken, weil ich sonst ins Gefängnis käme.

Das Geld war nun da, aber damit auch der letzte Anstoß, den ich brauchte, um mich endgültig von Hertwig zu lösen.

In aller Ruhe nahm ich die Geldscheine vom Tisch und steckte sie in meine Tasche, ging in meine Zelle, packte mein Zeug in den Wäschesack und zog ein paar derbe Militärstiefel an, die wir zum Torfstechen angeschafft hatten. Zum letzten Male wanderte ich durch die Ställe, streichelte noch einmal das Vieh, und dann klopfte ich feierlich und entschlossen an Hertwigs Türe.

Er saß an seinem Schreibtische, der mit Blumen umstellt war wie ein Altar. Er schrieb. Die Geldangelegenheit schien er schon wieder vergessen zu haben.

Ohne Umschweife erklärte ich ihm, daß ich den Lindenhof verlassen würde und gekommen sei, um von ihm Abschied zu nehmen.

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61. Besucher berichten

 

a. »Ich sehe nur Werden und Gelingen« (1920) 

[...] Der Lindenhof ist wundervoll, lebendig, zukünftig, voller wirkender Kräfte. Alle arbeiten, außer Friedel Hertwig, die aber in diesen Tagen in die Schmiede zieht, wo sie auch wird arbeiten müssen. [Hugo] Hertwig arbeitet mit der größten Geduld und Sorgfalt stundenlang auf dem Felde, jätet und hackt. Er malt die leeren Zimmer in der Schmiede, arbeitet den ganzen Tag. Johannes [Auerbach] hat so viel Arbeit, daß er um 4 oder 5 aufstehen muß, um sein Tagewerk zu bewältigen. Die Frauen sind durchaus fleißig; Wirtschaft, Küche, Haus usw. sind schön instand. Garten, Felder, Wiesen in bestem Zustand; die Erde trägt, das Vieh gibt her, was es kann. Die Schmiede gekauft und in vollem Betrieb; 2 Schmiede und ein Tischler arbeiten dort den ganzen Tag. Die Tischlerei wird hier herauf verlegt werden. Milch wird verkauft; Vieh eingetauscht, die Schweine haben Junge . . . ich sehe nur Werden und Gelingen. Johannes baut eine feine Lehmhütte, zu der wir gestern Lehm geholt haben. Bisher hat es viel geregnet; heut ist es endlich einmal schön warm und sonnig.

Die Menschen untereinander scheinen im Gleichgewicht; das Menschliche drängt sich nicht hervor. Alle sind still, wie mit Einem Plan erfüllt, von Einem Gedanken oder Gefühl getragen. Hertwig ist hier oben ganz anders wie neulich in Hagen: Durchaus auf aufbauende Arbeit eingestellt und absolut ruhig und sicher. Er hat den Kopf voller Projekte; in diesen Tagen kommt Rosam, der hier arbeiten und große Wasseranlagen machen wird.

Was soll ich noch berichten: Hertwig, Johannes, Maria [Reps] sind in der Schmiede, Kaethe [Gräfin Sweerts-Sporck], Peter [Rudolf Lange] und ich sitzen im Abendfrieden in tiefster Stille vor dem Haus; sie sieht ihrer Entbindung tapfer und gelassen entgegen. In diesen Tagen wird mit der Ernte begonnen; Hilfe dafür ist bereits da [.. .]

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b. »Eine ganz andere Welt« (1920) 

Also auf nach Kleve!

Bei drückender Hitze marschierten wir am andern Tag los. Sobald wir im Dorf waren, äugte ich nach jedem Hausgiebel, um die roten Teufel zu entdecken; denn die spukten mir besonders im Kopf herum. Aber nichts zu machen! Erst als wir eine halbe Stunde im Dorf umhergeirrt waren und uns dann erkundigten, entdeckten wir den Lindenhof, noch eine ziemliche Strecke hinter Kleve, über den Berg weg und dann den ersten Feldweg links. Da sahen wir denn richtig die roten Teufel, allerdings nicht am Hausgiebel, aber an der Haustür und außerdem waren's keine Teufel, sondern rote expressionistische Figuren. »Siehst Du«, sagte August, »habe ich nicht recht gehabt?«

Mit einigem Herzklopfen pochten wir an die Tür, indem ich einem der roten Teufel auf den Bauch klopfte. Ein Mensch öffnete uns. Es war ein Mann von recht wildem Aussehen, mit langem struppigen Haar, unrasiert, nur notdürftig mit Hemd und Hose bekleidet - ein Naturmensch! Aber er sagte uns freundlich guten Tag und fragte nach unsern Wünschen.

August und ich fingen nun beide zugleich an zu sprechen und hörten auch beide zugleich wieder auf. »Wir möchten gern einmal ... Wir haben gehört, daß hier .. .« Der freundliche Mann half uns aus der Verlegenheit, indem er sagte: »Wir sind Kommunisten, und Sie wollen sich unsern Betrieb hier ansehen, nicht wahr?« »Jawohl« sagte ich, nachdem ich nun von dem ersten beklemmenden Eindruck, den dieser Mann auf mich gemacht hatte, befreit war. »Darum sind wir gekommen. Wenn es gestattet ist?«

»Natürlich ist es gestattet«, sagte der Kommunist und führte uns nun durch die ganze Siedlung. Es wohnen etwa 15-20 Kommunisten dort, Männer, Weiber und Kinder, die ganz nach kommunistischen Grundsätzen leben und wirtschaften, ohne jede Kultur, ohne jedes Gesetz. Das Haus ist mit den allerein-fachsten Mitteln in viele kleine Kammern geteilt, wobei die Kuh- und Schweineställe ausgenutzt sind. Alle Wände sind in krassen Farben kubistisch bemalt und mit expressionistischen Gemälden behangen. Ebenso sind die Fensterscheiben mit ganz unmöglichen Figuren »verziert«. Die weitere Stubeneinrichtung besteht nur aus den allereinfachsten und primitivsten Tischen, Stühlen und Schlafstätten. Alles was an unsere heutige Kultur erinnert, ist verbannt. Das alles machte auf mich einen ganz eigenartigen Eindruck, als sei ich in einer ganz anderen Welt.

Einer der Kommunisten wohnte in der Scheune in einem Schweinestall, den er sich ganz primitiv zu seiner Wohnung eingerichtet hatte. Als Eingang diente ein rundes Loch in der Wand. Unser Führer kroch uns auf Händen und Füßen voran und August und ich hinterher. Warum soll man als Eingang auch gerade eine Tür nehmen. Wenn's einem Vergnügen macht, sich mit einem Loch in der Wand zu begnügen, wo er gerade hindurch kriechen kann, warum nicht?

 

c. »... daß der Zustand verwahrlost ist«. (1920) 

[....] Das Haus und Grundstück ist jetzt zum Kauf ausgeboten. Selbst ein Laie sieht, daß der Zustand verwahrlost ist. Hergerichtet ist wenig oder garnichts. Denn die Bemalung der Tore zu Haus und Stall mit verrückten Figuren (blutrote Skelett-Menschen, die blutrote Beile über ihren Häuptern schwingen, erstochene Pferde und blaue Hunde) kann man schließlich nicht als Verbesserung des Hauses ansehen. Die Nachbarn meinen, diese Türbemalung und der plötzliche Aufbau von einer Anzahl Lehmhütten sollte dazu dienen, die aus Rußland kommenden Bolschewisten aufzunehmen. Denn nach der Niederlage von Polen meinte man, Rußland werde Deutschland überschwemmen mit Bolschewisten. Das Haus ist weich gedeckt und hat zwei größere Wohnräume und mehrere Kammern. Der kleine Garten war wohl nie gepflegt. Das einzige neu Angelegte ist eine kleine Tomatenpflanzung im Sande des Geestabhanges.

So dürfte dieser Kommunistentraum in kurzer Zeit ausgeträumt sein. »Es wär' zu schön gewesen, es hat nicht sollen sein.«

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