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Frauen-Siedlung

 

    Schwarzerden    

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Die Wurzeln der jugendbewegt-ländlichen Gymnastikschulen für Frauen reichen in die Kultur­revolution des letzten Jahrhunderts zurück, welche durch die Rückkehr zum ursprünglichen Rhythmus der Bewegung auch zu einer Reform des Tanzes und zur Sakralisierung der Tanzvorführung beitrug. Ausgehend von den Lehren des Bewegungstheoretikers Francois Delsarte setzte Isadora Duncan als erste dem traditionellen Ballett den neuen Tanz entgegen und verbreitete ihre Ideen mit Vorführungen ab 1899 in Europa. 

Ein paar Jahre später glaubte Emile Jaques-Dalcroze zu erkennen, daß das ursprüngliche rhythmische Gefühl bei den Zeitgenossen nur verkümmert war; ab 1906 führte der ehemalige Lehrer am Konservatorium in Genf dann mit seinen Schülern öffentlich eine rhythmische Gymnastik als Auslegung von Musik vor. 1911 baute ihm ein Mäzen eine eigene Bildungsanstalt in der Gartenstadt Hellerau bei Dresden. Eine weitere Schule des neuen Tanzes wurde 1910 von Rudolf von Laban in München ins Leben gerufen, die von der Bewegung und nicht von der Musik ausging. 

1913 gründete dann Laban als Sommerfiliale seines Münchner Instituts in Ascona die »Schule für Kunst der Cooperative individuelle des Monte Verita«, in welcher die Bewegungskunst mit anderen Formen des einfachen naturgemäßen Lebens verknüpft wurde. Auf dieser »Tanzfarm« (so Laban) gehörten nicht nur das Tanzen, sondern auch die Gartenarbeit und die anderen Verrichtungen, aber auch die vegetarische Kost und die Luftbäder zur Erziehungsarbeit. Frauengruppen nähten dort Tanzkleider und fertigten Sandalen, später lieferten sogar eigene Webstühle die notwendigen Stoffe. In Sommerspielen wurden dort in einem Naturtheater Tanzdramen vorgeführt, die chorischen Spielen ähnelten. 

Von den Genannten erhielten andere Tänzerinnen wieder ihr Rüstzeug, so die Ausdruckstänzerinnen Mary Wigman und Charlotte Bara. Sie alle, so sahen es die Zeitgenossen, waren dazu berufen, Europa die Heiligkeit des Tanzes zu verkünden und durch die Gestaltung von Raum, Licht und Bewegung neue sakrale Aufführungs­formen zu entwickeln.

Wie in anderen Dingen erwies sich die Jugendbewegung auch hier als Erbe der Lebensreform. Denn die bürgerliche Jugendbewegung hatte nicht nur die Natur entdeckt, sondern sie betonte auch die Natürlichkeit von Kleidung, Essen, Haltung und menschlicher Bewegung. Ihre Absage galt jeder Form von Verkrampftheit, auch dem eigenen und fremden Leib gegenüber. Ein neues Körpergefühl wurde so geboren. 

Es holte sich Anregungen für improvisatorische Bewegungsgestaltung aus den Volkstänzen (so Eugen Diederichs Sera-Kreis), nahm Impulse aus der neuen Singkreisbewegung (Fritz Jode) auf, adaptierte lebensreformerische Vorstellungen von der richtigen Ernährung ohne Alkohol und Nikotin und entwickelte eine neue Entspannungsschulung (etwa die Atemgymnastik von Alice Schaarschuch, Elsa Gindler und Gertrud von Hollander). Aus dieser Einstellung erwuchs der Gedanke einer naturgemäßen Leibeserziehung, insbesondere auch der Frau, in welcher das Bewegungsspiel, das Schwingende, die anmutige Harmonie im Mittelpunkt standen (Ganzkörperbewegung in fließender Form). Und aus der Lebensreform wurde der Gedanke der »Tanzfarm« weiterentwickelt, wie er sich dann schließlich in den beiden Gymnastikschulen für Frauen in der Rhön — in Loheland und in der jüngeren Schwestersiedlung Schwarzerden konkretisierte, wo außerhalb der Großstadt eine natur- und bodennahe Heimstätte in einer Siedlung gesucht wurde.

Dem Landsiedlungsversuch »Schwarze Erde« ging eine »Stadtsiedlung« voran: Junge Studenten und Werktätige beiderlei Geschlechts lebten nach dem Ersten Weltkrieg in einem Darmstädter Studenten­wohn­heim zusammen und schufen durch regelmäßige gesellige Zusammenkünfte und Diskussionen mit Sympathisierenden einen geistigen Mittelpunkt, in dem auch gesellschaftskritische Fragen diskutiert wurden. Hierbei entstand der Gedanke an eine ländliche »Freie Handwerksgemeinde« auf dem Frankenfeld (zwischen Gernsheim und Worms), der sich die jungen Frauen anschlossen.

Träger dieser Siedlung war also einmal eine aus dem Jungwandervogel hervorgegangene Darmstädter Mädchen- und Frauengruppe, ein Freundschaftskreis um die Lehrerin Marie Buchhold und Emilie (»Malchen«) Hermann, die bereits explizit den Gedanken einer Mädchen-Siedlung vertrat. 

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Doch die von ihnen angestrebte landgebundene Bildungs- und Ausbildungsstätte trauten sie sich noch nicht als reines Frauenunternehmen ins Leben zu rufen, sondern verbanden sich mit einer aus dem Darmstädter Wandervogel hervorgegangenen Männergruppe unter Führung des Malers und Illustrators Hermann Pfeiffer, der »Freien Handwerksgemeinde E.V.«.

Deren Ziel war es, auf dem Frankenfeld neben der gärtnerischen und landwirtschaftlichen Tätigkeit eine Buch- und Kunstdruckwerkstatt aufzubauen. Die Mädchen dagegen erstrebten über die Bodenbearbeitung die Schaffung einer sozialen Frauenschule, die nebengeordnet einen Unterrichtsaufbau vom Kindergarten bis zur ländlichen Volkshochschule vorsah.

Doch die über die Landwirtschaft hinausgehenden Absichten ließen sich aus wirtschaftlichen Gründen nicht verwirklichen; dazu zerbrach über der dadurch eingetretenen Skepsis und durch den eruptiven Besuch einer Gruppe ehemaliger freideutscher Mädchen aus Neuwied unter Führung der Lehrerin Elisabeth Vogler (sie standen damals in der gymnastischen Ausbildung in Loheland) im Sommer 1920 auch der Konsens der Frankenfelder Frauengruppe selbst. 

Die meisten Mädchen gaben daraufhin das Siedeln auf; ein Kern dagegen beschloß, nach dem Fehlschlag des Frankenfelder Unternehmens, einen Neuanfang in der Rhön — diesesmal als reine Mädchengruppe (was nicht heißt, daß bei ihnen später nicht auch jugendbewegte Besucher mit Hand anlegten).

Nach einem bescheidenen Beginn auf dem Altenteil eines Hofes im Weiler Rabennest pachteten die Siedlerinnen um Buchhold und die zu ihnen gestoßene Vogler, den beiden nun schon dreißigjährigen Führerinnen, 1923 einen Hof im Weiler Schwarzerden, betrieben dort Landwirtschaft und stellten im Winter kunstgewerbliche Artikel her, besonders Bast- und Webarbeiten, die über die Dürerhäuser vertrieben wurden. Die ländliche und handwerkliche Tätigkeit sollte die Grundlage für die pädagogische Arbeit sein, dachte man doch an die Gründung einer »Wirtschafts- und Bildungsstätte«, einer »Produktionsschule« im damaligen Wortgebrauch. 

So richteten die Siedlerinnen ab 1924 für gleichgesinnte junge Lehrerinnen und Sozialtätige Ferienkurse ein, die ebenso Gymnastik wie allgemeine geistige und musische Bildung umfaßten. Im Gegensatz zu Loheland (»klassische Gymnastik«) wurde die Gymnastik in die soziale Arbeit integriert. Da die Kursteilnehmerinnen gegen Bezahlung bei den umliegenden Bauern wohnten, wurde nicht zuletzt dadurch das nachbarschaftliche Band zwischen Landbevölkerung und Siedlerinnen enger geknüpft. In keinem Bericht über andere Siedlungen ist von einem so herzlichen Einvernehmen zwischen ansässigen Bauern und zugewanderten Siedlern die Rede.

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Aus der Praxis der Ferien- und (ab 1925) Arbeitskurse heraus wurde die Grundlage für die »Frauenbildungs­stätte Schwarzerden« als einem Beitrag zur Frauenbildung aus jugendbewegtem Geiste gelegt. Was hier als alternative Frauenkultur mit einem gesellschaftlichen Veränderungsanspruch begann, wäre wohl den wirtschaftlichen Unzulänglichkeiten erlegen, wenn nicht der Staat auf diese Arbeit aufmerksam geworden wäre, sie subventioniert und schließlich die staatliche Lehrgenehmigung erteilt hätte. So konnte ab 1927 erstmals mit elf Schülerinnen ein zunächst dreisemestriger Lehrgang in der »Ausbildungsstätte für sozial angewandte Gymnastik und Körperpflege« begonnen werden.

Das Wachstum der Bildungsstätte und staatliche Zuschüsse brachten es mit sich, daß 1928 das inzwischen der Schulsiedlung gehörende Anwesen in Schwarzerden (»Alt-Schwarzerden«) verkauft und stattdessen der verkehrsgünstiger gelegene Bodenhof in der Nähe von Poppenhausen erworben werden konnte. Die sozialpflegerische und musische Ausbildung trat jetzt ganz in den Vordergrund, die landwirtschaftliche Tätigkeit verlor an Bedeutung: nach dem Wegzug der leitenden Landwirtin 1934 arbeitete man zunächst mit einem bezahlten Landwirt und Knecht weiter; vor zehn Jahren etwa wurde dann die Landwirtschaft verpachtet.

Die Nationalsozialisten integrierten die Schule geschickt in das Programm der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt; Widerstand übte die Schule nicht aus, schon weil sie bisher ihre Existenz nicht unter primär politischen, sondern sozialhelferischen Vorzeichen gesehen hatte. 1935 wurden den Mitarbeitern auch erstmals Gehälter bezahlt.

1946 konnte das Seminar wieder eröffnet werden; in der »Gymnastikschule Schwarzerden« sind derzeit in modernen Gebäuden etwa 120 Schülerinnen in sechssemestrigen Kursen, und die Gymnastikschule gilt als eine der führenden Ausbildungsstätten dieser Art in der Bundesrepublik. Und es ist dort noch immer etwas von den Einflüssen des Reformpädagogen Gustav Wyneken zu spüren, dessen Gedanke Elisabeth Vogeler begleitete, »daß Jugend das Recht zu eigener Kultur habe, auch zur Mitgestaltung in der Schule, und daß Lehrer und Schüler verpflichtet seien, hohen Wertmaßstäben zu dienen«.

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   Dokumente:  

 

62. Ein Programm (1918)  

Die Mädchenbund-Siedlung als werdende Frauengemeinschaft setzt sich zur Aufgabe, eigenes Frauenleben zu entfalten, [...] den Frauen zur rechten Lebensform und Wirkung zu verhelfen; indem wir so dem Wesentlichen in uns einen Dienst leisten, fühlen wir uns täglich verbunden mit allem, auf dem Wege zu den höchsten Menschheitsidealen.

 

63. »Sofort nach Hause kommen — Vater«  

Mitten in der Abschlußfeier der Gartenbauschule — im Juni 1921 — rückte Agnes [....] neben meinen Platz und fragte mich, ob ich als Gärtnerin nach Frankenfeld gehen wollte, die bisherige Gärtnerin sei durchgebrannt und Agnes sollte Grete Brock und mich fragen, ob einer von uns kommen wollte. Am liebsten wäre es ihnen, wenn ich käme. Ich sagte bedenkenlos sofort zu, obwohl ich einen mit meinen Eltern festgelegten Plan hatte und Gartenarchitektin werden wollte. 

In der Stadtgärtnerei in Aschaffenburg war meine Anstellung als Gartengehilfin schon vereinbart und später sollte und wollte ich nach Geisenheim zur Weiterbildung. — Ich warf alles über den Haufen, sagte dem Stadtgärtner von Aschaffenburg ab und schrieb meinen Entschluß mit ausführlichen Begründungen nach Haus. Darauf bekam ich umgehend ein Telegramm »Frankenfeld absagen, sofort nach Hause kommen — Vater.« - Das war ein »Schlag ins Kontor«! Ich war fest entschlossen nach Frankenfeld zu gehen und mußte gegen den Willen meines Vaters handeln, mit dem ich mich bisher immer sehr gut verstanden habe. — Ich schrieb wieder — kurz und bündig, daß ich in einigen Tagen volljährig würde — Anfang Juli wurde ich 21 —, und wenn sie versuchten mich mit vier schweren »Belgiern« abzuholen, käme ich nicht mit. Diese schweren Ackerpferde haben mich schon als Kind stark beeindruckt. 

Dann bekam ich einen ebenso kurzen Brief vom Vater — ich hätte mich gegen das Elternhaus für Frankenfeld entschieden und hätte in Zukunft nichts mehr von daheim zu erwarten. — Das war eine bittere Pille, die ich schlucken mußte. Bisher wurde ich von Vater — auch mit Taschengeld — sehr verwöhnt. Das fiel also alles weg.

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Losgelöst vom Elternhaus war auch noch das Einleben in Frankenfeld sehr schwer [.....] Im September mußten wir Frankenfeld auflösen [.....] Ich suchte eine Stelle, weil ich ja nicht nach Hause konnte [nachdem ein Versuch fehlschlug, in einem Irrenhaus als Putzfrau angenommen zu werden, fand sie endlich ein Unterkommen bei einem Landschaftsgärtner als Gehilfin]. Dann schrieb ich ausführlich nach Haus, daß Frankenfeld aufgelöst sei, daß ich eine Stelle hätte und Weihnachten heimfahren wollte.

Zu Haus waren alle entsetzt über mein schlechtes Aussehen. Durch die Fasterei [sie hatte vorher eine Fastenkur nach der Masdasnan-Lehre gemacht!] war ich ja recht dünn geworden (für normales Essen hätte das Geld nicht gereicht). — Die Tage zu Haus waren schwer für mich als Außenseiter, der für alle Einwände gegen meine Kleidung und gegen meine Weltanschauung etc. unzugänglich war. Alle standen gegen mich, und ich war froh, als ich wieder abreisen konnte, um [.....] meine Arbeit als Gartengehilfin zu beginnen.

[Die Stellung erwies sich als Reinfall; sie konnte aber woanders — diesmal in einer sehr netten Gärtnerei — unterkommen]. 

Ich schrieb alles nach Haus, und daß ich mich auf die neue Stelle freue. Daraufhin kam von meiner Mutter ein Brief, der mir starken Eindruck machte und mich bewog, meiner schönen neuen Stelle wieder abzusagen. Mutter schrieb, daß es ihr gesundheitlich so schlecht gehe, daß ich nach Haus kommen und sie im Haushalt entlasten müßte. Gedanklich war ich ganz darauf eingestellt, meine »kranke« Mutter zu vertreten und war sehr überrascht, sie gesund und wohlauf vorzufinden. In ihrem Brief täuschte sie die Krankheit vor, um mich zu bewegen wieder heim zu kommen. Von Übernahme verantwortlicher Arbeit war keine Rede. Meine Mutter wollte mir Kochen und Haushaltsführung beibringen, dabei mußte ich aber aufpassen, daß ich den beiden Hausmädchen keine Arbeit abnahm. Das war für mich so unbefriedigend, daß ich mich entschloß, unseren Garten neu anzulegen nach einem von mir genau ausgearbeiteten Plan. [.....]

Meine Eltern hatten Angst, daß ich — bei meinen »verschrobenen freideutschen Ideen« — wieder ausbrechen könnte und wollten mich dringend »unter die Haube« bringen mit Hilfe meiner liebsten Tante Bella. Bei ihr lernte ich einen netten jungen Lehrer kennen, dem ich trotz meines widerspenstigen Wesens sympathisch war. So gemein war ich, ihn hinzuhalten im Hinblick auf eine Aussteuer, die ich später für Schwarzerden brauchte (reinwollene Decken, Bettwäsche etc., was 1922 nur durch gute Geschäftsverbindungen zu haben war).

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Nach einem Jahr hielt ich es zu Haus nicht mehr aus, setzte mich mit Marie Buchhold und Elisabeth Vogler brieflich in Verbindung und erfuhr von ihren Siedlungsplänen. Zur näheren Informierung sollte ich einfach mal zu ihnen kommen [.....] Meinen Eltern sagte ich, es war vor Ostern 1923, daß ich von zwei Freundinnen aus der Gartenbauschule eingeladen wäre, vierzehn Tage zu ihnen zu kommen. Mit Marie Buchhold und Elisabeth Vogler wieder zusammen zu kommen hatten sie mir verboten.

[.....] Wie gesagt, sollte ich unbedingt zu Hause bleiben, und es war recht schwierig, bei meinen Eltern durchzusetzen, daß ich bis zum Herbst eine Stelle in der Rhön — im Kurhaus Sofienhöhe in Frankenheim — als Gärtnerin und Hausdame annehmen durfte [.....] Nach Sofienhöhe nahm ich einen großen Reisekorb voll Sachen mit, z. B. auch die schöne neue Aussteuer. Für mich stand fest, ab Herbst in Schwarzerden mitzuarbeiten. Ich hoffte, dies meinen Eltern, die mich doch mit dem jungen. Lehrer verheiraten wollten, mit der Zeit beibringen zu können. -[...]

Am Ende der Sofienhöher Zeit schrieb ich meinen Eltern, daß ich durch die anstrengende Arbeit nervlich vollkommen herunter wäre, und daß ich mich bei meinen Freundinnen in Schwarzerden erholen könnte. Wohl oder übel waren sie einverstanden.

[.....] Nun schrieb ich meinen Eltern, daß aus der Verheiratung mit dem Lehrer nichts würde, und daß die beiden Freundinnen mich gebeten hätten, bei einer Aufbauarbeit mitzuhelfen, daß ich also vorläufig in Schwarzerden bleiben wollte. Sie gaben nach und ich konnte bleiben. Nun mußten wir sehen, wie wir durchkamen [....]

Mein kleiner elfjähriger Bruder Paul kam in seinen Schulferien 14 Tage zu uns [....] Meine Mutter wollte Paul abholen und bei der Gelegenheit Schwarzerden kennenlernen. Ich brachte sie im Gasthaus zum Hirsch in Poppenhausen unter. Sie war entsetzt, als sie sah, wie wir hausten und behauptete, wir lebten wie in einer Räuberhöhle. Sie bekam nun heraus, daß die Freundinnen Marie Buchhold und Elisabeth Vogler waren. Ein fürchterlicher Krach kam hinterher, und es war wieder alles aus. Keiner der Familie durfte mir schreiben, und ich empfand, wie stark Blutsbande sein können. Ein Jahr lang hielt ich es aus, dann wollte ich zu Weihnachten heim, um zu hören und zu sehen, wie alles ging. 

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Ich kriegte die besten Sachen, die wir hatten, zum Anziehen — an den schönen Mantel von Dora Werner erinnere ich mich noch genau — und fuhr mit so viel Geld, daß es für Hin- und Rückfahrt reichte. Wenn alles schief ging, wollte ich sofort mit dem nächsten Zug zurückkommen. — Vater begrüßte mich eisig und wollte wissen, woher ich kam. Erstaunt über diese Frage, sagte ich »von Schwarzerden«, heulte los, weil ich die »Hochspannung« nicht ertrug. Das wirkte auf ihn lösend und er meinte, ich sähe nicht so schlimm aus, wie er sich's vorgestellt hätte. Ich dürfte bleiben, wenn ich mich seinen und Mutters Anordnungen fügen wollte — und ich wollte. — Die Tage wurden deshalb schwer für mich, weil alle mir klarzumachen versuchten, wie hirnverbrannt es ist, so primitiv in Schwarzerden zu leben, wo ich es doch viel besser haben konnte. — Ich war froh, als ich wieder in Schwarzerden war.

Erst später, als mein Vater feststellte, daß wir trotz der schweren Zeiten es fertig brachten, die Gymnastik­schule aufzubauen, sagte er mir anerkennend: Ihr habt trotz der schlechten Zeiten es zu was gebracht, und Du bist Deinen Weg über alle Hindernisse geradeaus gegangen [....]

 

64. Bildungselemente beim ländlichen Wirtschaften. Aus einer Siedlungslehre   

 

Das alltägliche Wirtschaften auf dem Lande hat nun schon einige Gruppen junger Menschen miteinander vereinigt, und es liegt vielleicht etwas vor, was mit dem Namen Siedlungslehre zu bezeichnen ist. Allerdings sehr in ersten Anfängen, und viele einzelne Lehren mit negativen Vorzeichen. Die Reihe: Siedeln ist nicht ..... usw. ist länger als die andere Reihe: Siedeln ist. . . usw. Aus beiden Reihen will ich einige Sätze mitteilen, die vielleicht die Andeutung einer beginnenden Lehre enthalten mögen, einer Lehre, die nach oft recht schmerzlichen Erfahrungen Einigen anfing aufzugehen, die den Mut hatten, nicht davonzulaufen, als vieles schief ging, die aber auch den Mut hatten, einzusehen, was möglich war und was unmöglich war, also Mut genug, ihre »Ideale«, oder Utopien, zu korrigieren, ohne dabei der Wahrheit im Kern der Idee untreu zu werden. Ganz allgemein gesprochen: es gehört ebensoviel Mut dazu, mit Bewußtsein aufzuhören, was dann nicht gleichbedeutend ist mit davonlaufen, als Mut dazu gehört, dabeizubleiben, durchzuhalten, ohne in Fallen zu geraten, die einem gerade durch die heutige Wirtschaftslage leicht und viel über den Weg gestellt werden.

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[...] Nachfolgende Sätze entstammen den Erfahrungen, die ich selber beim Aufbau einer Siedlung mit anderen Menschen gemacht habe. Sie tragen somit die Beweiskraft des praktischen Lebens in sich, sind aber auch zugleich unter dem Vorbehalt geschrieben, eines wenn auch typisch allgemein gültigen, so doch auch lokal, technisch, menschlich-individuell und zeitlich besonders gelegenen Ereignisses.

 

Es genügt nicht, zum Siedeln zu kommen aus lauter negativen Gründen. Ablehnung der bestehenden Wirtschaft und Gesellschaftsordnung und bloße theoretische Vorstellung neuer Ideale vom Leben genügen nicht. Man muß etwas wissen und etwas können, und das gründlich. Beim ländlichen Siedeln vor allem muß gründliche Kenntnis in landwirtschaftlichen, gärtnerischen, haushandwerklichen und haushälterischen Dingen vorhanden sein. Jeder, der mit hinausgeht, muß eine Sache ganz gut können, oder doch mindestens kein einfacher Lehrling mehr sein in seinem Fach, damit er an einem Platz stehen kann, den er fürs Erste ausfüllt, und damit sich sein Dasein lohnt. 

Denn jedes Menschen Dasein muß bei einem solchen Anfang einen ganzen, auch im Äußerlichen sichtbaren Sinn haben. Jeder muß von Anfang an wissen, was er jetzt zu tun hat. Es darf nicht dazu kommen, daß eine Wirtschaft von Gelegenheitsarbeitern lebt, die sich erst »ihre Arbeit« suchen wollen und zu den einfachsten Dingen problematisch stehen. Wenn schon, denn schon, Stallmisten, Garten- und Feldbestellung, Hausarbeit, dies alles darf nicht als Aufgabe an und für sich ins Bereich problematischer Auseinandersetzung geraten. Dann ist schon viel verloren, wenn es geschieht. Damit ist nicht gesagt, daß nicht fortwährend als wichtigster geistiger, ja! geistiger Austausch zwischen den Anfängern gerade das Gespräch von der Arbeit sein sollte. Es darf gar nichts Interessanteres geben fürs Erste als dies, wie bewältigen wir am besten das vor uns Liegende, wie kommt es am besten für uns aus, welche Folge wird unsere Arbeitsweise für Mensch und Tier, Pflanze, Boden und jedwedes Ding haben. 

Und hier beginnt dann das Positive zu wachsen, das, was den ländlichen Siedler nicht nur in der bloßen Gesinnung von den Bauern oder Großgrundbesitzern unterscheidet, kurz: vom Kapitalisten, nämlich die sich in der Wirtschaftsweise ausdrücklich treubleibende Art des wahren Idealisten. Hier liegen auch die Konflikte. Von einigen nur will ich sprechen: Fangen wir heute mit bescheidenen Mitteln, oder auch, es ist fast gleich, mit etwas reichlicheren Mitteln eine Wirtschaft an, so treten wir

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durch Kauf und Verkauf, auch wenn wir nur Selbstversorger sein wollen - und wer kann es wirklich am Anfang? - sicher aber, da wir meistens bei Überproduktion auf Verkauf angewiesen sind und entsprechenden Einkauf, mit jener Wirtschaft in Verbindung, die wir im Prinzip ablehnen. 

Denn Siedler sein heißt allerdings: eine neue, edlere, gerechte Form der Wirtschaft als Grundlage des Lebens wollen. Ob sich alle heutigen Siedler darüber im Letzten klar sind, und aus dieser Klarheit konsequent handeln, ist zu bezweifeln. Es gehört eben Mut dazu, auch aus sich selber den Kapitalismus auszutreiben; denn aus uns selber muß er erst vertrieben sein, wenn wir weiter "wirken wollen. Hier liegen eben die Berührungspunkte zwischen Wirtschaft und Moral. 

Und hier scheitern die meisten Siedlungslustigen mehr an sich selber, als an der Ungunst äußerer Umstände. Es gehört etwas dazu, moralische Entscheidungskraft nämlich, um in Verbindung mit der kapitalistischen Außenwelt das zu sein und zu bleiben und immer mehr zu werden, was man ist. Und allen Siedlern sei es gesagt: unsere Wirtschaft, wie sie im kleinsten Ereignis des Alltags sich zeigt, richtet uns augenblicklich, und jeder Tag ist beim Aufbau einer ländlichen Siedlungsstätte ein Gerichtstag. Dem sei gewachsen, laß dich richten, sei heiter und werde einfach dabei, lerne die letzten kapitalistischen Reste von Besitzlust jedem Geschöpf, auch dir selbst gegenüber, austreiben. Dir selbst gegenüber? Ja, denn wenn du dich vielleicht nicht mehr fühlen brauchst im äußeren Besitz — man kann das lernen und einsehen -, so willst du dich doch fühlen in deiner besitzeifrigen Liebe und Ehre den Menschen und dir selbst gegenüber. 

Da liegt das Letzte und Schwerste, kaum zu Überwältigende, Elementare Deiner Bildungsaufgabe beim ländlichen Wirtschaften. Denn nirgends so wie da gehen dir sichtbar die Dinge und Geschöpfe durch die Hände, nirgends so wie da bist du so mit den Menschen auf gemeinsames alltägliches Tun verwiesen. Und nirgends so wie da ist Gelegenheit, seine seelischen Kräfte im kommunistischen Mit-den-Menschen-Sein zu bilden. So wächst aus der alltäglichen Wirtschaft das Feinste, Menschliche, unsere Beziehung zueinander in allen Formen und Stufen hervor und gibt uns, wirklich »aus dem Boden gewachsen«, die höchsten Aufgaben, die höchsten Pflichten. Nun habe ich das Wort kommunistisch hier gebraucht und will auch dazu noch etwas sagen. Es ist klar, daß wir beim Beginn eines Aufbaus alles miteinander und zu gleichen Teilen teilen. Es ist klar? Es sollte doch sein! 

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Es war nicht immer so, das muß ich sagen. Aber man kommt dazu, wenn man ehrlich ist auf dem Wege. Gibt es später Gewinn, so wird er am besten auch entweder gleichmäßig verteilt oder als Spareinlage der Gemeinschaft aufbewahrt, je nachdem. Heute ist es allerdings stets besser, man legt Geld in wirklichen Werten an. Unter Gewinn verstehe ich das, was übrig bleibt, nachdem jeder das Seine, sein Existenzminimum, erhalten hat, nachdem auch die Wirtschaft als Betrieb das Ihre erhalten hat. Ich halte aus mehreren Gründen nicht viel von dem »Aus einer Gemeinschaftskasse-Wirtschaften«. 

Es scheint mir billig und angemessen, einem Jedem das Seine zu geben. Unterschiede machen? Gehaltsstufen? Kaum in der kleinen Gemeinschaft, wohl auch kaum zu Beginn eines Aufbaus, später aber können da Wege gefunden 'werden, die durchaus gemeinwirtschaftlich bleiben können. Aber hier fehlt mir die Praxis. Wir hatten noch keine Unterschiede, doch ist daran zu denken. Am Verhalten zum Geld allein kann man schon viel sehen und lernen. Gleicherweise ist eine ständige Lehre im Verhalten zu den Dingen, zu Pflanzen und Tieren wie zum Menschen gegeben. Wirtschaft und Gemeinschaft hängen eben auf das Innigste zusammen. Die praktische Wirtschaftsprobe ist die Probe für eine Gemeinschaft. Auch hier gibt es Stufen. Die schwerste Probe ist wohl die praktische Siedlung, da hier fortwährend der Alltag und seine sichtbare Arbeit zum nie endenden Stoff werden, an dem sich die Probe erkennbar vollzieht. Gemeinsamer Existenzkampf des Leibes wie der Seele, das ist es.

Zum Schluß noch einiges über die technische Bewirtschaftung des Bodens. Die »kapitalistische« Bauern- und Großgrundbesitzerschicht hat eine Art, die Felder zu bewirtschaften, die einem von wirklichem Körper- und Gemeinschaftsgefühl erfüllten Menschen zuwider sein muß. Ausnutzung ist Prinzip, nicht nur des Menschen, sondern auch des Bodens, auf dem er steht, wovon er lebt. So verankert ist die heutige »wissenschaftliche« Bodenbearbeitung, die Chemie, die der Erfindung von Düngemitteln dient, die Technik, die der Erfindung von Maschinen dient. Zuerst wird der Siedler meist ohne Nachdenken sich den Errungenschaften von Chemie und Technik anpassen, mit ihnen wirtschaften, was soll er auch anders tun, •will er, worauf er angewiesen sein wird, gleichen Schritt halten mit der umliegenden Wirtschaft. Aber wenn er nachzudenken beginnt, wird ihm aufgehen, was auch in den hervorragendsten und modernen Erfindungen für ein Teufel sein Wesen treibt. 

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Die Konsequenz von all dem wird ihm aufgehen. Man wird zum kritisch denkenden Volkswirtschaftler beim Siedeln. Es wird Problem, welcher Maschinen, welcher Düngemittel man sich bedient; und zwar nicht nur von der Seite her, die allein gültig ist für den kapitalistischen Landwirt, welche Bewirtschaftung bringt den höchsten Gewinn?, sondern auch von der Seite des in uns wieder erd- und bodentreu gewordenen Gefühls her und von der Seite der Veredelung der Arbeit her, ihres Materials und ihrer Ergebnisse, die nicht nur augenblicklich gewertet werden sollen, wie die »problematisch-dickste Kartoffel oder Futterrübe«, sondern auch Glieder darstellen sollen einer wirklichen Kette von Kulturergebnissen, die tatsächlich zur allgemeinen Veredelung der Lebenshaltung beitragen sollen. Hier steht das Problem der Intensivwirtschaft, hier das Problem der Rasseveredelung durch Darreichung edelster Nahrung usw.

Genug geistige Arbeit, aber solche für den mit Leib und Seele der Arbeit Hingegebenen. Wollen wir überhaupt, dann nur so.

 

65. Der Mietvertrag  

 

In den 14 Tagen suchten und fanden wir einen alten verlassenen Bauernhof im Ort Schwarzerden, der dem Gastwirt Köhler aus Poppenhausen gehörte. Dem alten »Köhleri« mußte ich erst durch Schneiden seiner verwilderten Apfelbäume und seiner Hecken beweisen, daß ich praktisch arbeiten - auch sein Vieh versorgen — konnte. Erst danach willigte er in folgenden Mietvertrag ein: Wir mußten die Arbeiten eines Weidehirten verrichten, ca. 8 Stück Vieh, Ochsen und Kühe auf der Weide hüten, füttern, putzen und den Stall sauber halten. Dafür durften wir in dem Haus wohnen, bekamen pachtweise eine Wiese und einen Acker. Außerdem durften wir eine »Mietkuh« vom »langen Walhaus« halten, die ca. 1/2-1 Liter Milch gab, eine armselige Kuh, die der Viehhändler für ganz geringes Entgelt uns bis zum Herbst in Pflege gab, um sie dann in besserem Zustand teuer zu verkaufen.

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66. Der Einzug

Mein Einzug in Schwarzerden war höchst dramatisch. Bahn- oder Busverbindung von Sofienhöhe nach Schwarzerden gab es nicht. Zwei Frankenheimer Jungens waren schließlich bereit, gegen gestrickte Wollsocken mit mir zu gehen und mein großes Gepäck auf einem Schubkarren herüberzubringen. Die Route ging über Wüstensachsen, Gersfeld, Brembach, Schachen. Es regnete furchtbar, und die Jungens meuterten, weil ihnen der Weg zu weit und beschwerlich wurde und sie wieder zurück mußten. 

Außer den Socken hatte ich nichts anzubieten, was sie interessierte. Meine ganze Überredungskunst reichte gerade noch bis zum Schachener Loch, und da ließen sie mich mit meinen Reisekörben im triefenden Regen ratlos stehen. — Weiter oben sah ich ein Kuhfuhrwerk. Ich raste hinauf und nach langem Hin- und Herreden brachte ich die Leute gegen eine Rolle gehäkelter Spitzen dazu, meine Sachen aufzuladen und nach Schwarzerden zu bringen. Als ich endlich da war, war ich völlig durchnäßt und erschöpft und meine Tränen mischten sich mit den Regentropfen. - Das war Mitte September 1923.

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67. Rosen für die Kommunardin

Wenn ich daran denke, wie es 'war, als Dora Werner zu uns kam, muß ich heute noch lachen. Ein Tag vor ihrer Ankunft brachte der Briefträger einen großen Strauß Rosen, den wir auspackten und auf die Kiste neben ihr Bett (Sprungrahmen mit Strohsack) stellten. Mehr war nicht in ihrem Schlafraum, und dies war ein kleiner Gang zwischen dem Wohnteil des Hauses und dem Holzstall, der tiefer lag. - Man stelle sich vor: der wunderschöne große Rosenstrauß in dem armseligen Raum. Zum Glück hatte Dora damals schon genug Humor, es so hinzunehmen, wie es eben war.

 

68. »Wotan« und »Siegfried«

Der alte Köhler brachte mir die landwirtschaftlichen Arbeiten bei, mit dem Vieh umzugehen, es zu pflegen, striegeln, auf der Weide zu halten, nachfüttern, Stall säubern etc. Für die Ackerarbeit mußten wir die ungelernten Stiere einarbeiten. Der Schwiegersohn von Köhler, der in einer Wagneroper gewesen war, gab dem Vieh die eindrucksvollen Namen Wotan, Siegfried, Brunhilde usw. Wotan war groß und stark; aber Siegfried, klein und mickrig, ließ an Stärke sehr zu wünschen übrig. Aber mächtig bockig waren beide, und wir hatten unsere liebe Not auf dem Acker mit ihnen. Elisabeth und ich rackerten uns ab. Mit Flüchen und bäuerlichen Ratschlägen zogen sie schließlich den Pflug bis zum Ackerende. Aber das Wenden war unmöglich. Wir mußten sie abschirren, herumdrehen und wieder anschirren. Unsere Anstrengung kann man sich kaum vorstellen, bis wir die beiden endlich zu Zugtieren umwandelten. Einmal, Köhler war gerade im Haus, hatte ich Wotan und Siegfried angespannt, um mit dem Fuhrwerk Steine zu fahren. Während ich auflud, legten sich beide um und verstrickten sich mit dem Geschirr derart, daß schon die Augen herausquollen. Ich kriegte sie nicht hoch und holte schnell den Nazebauer, der die Halfter durchschnitt, weil die Ochsen sonst erstickt 'wären. Zum Glück merkte Köhler nichts, und unser guter Nazebauer brachte mit mir zusammen alles wieder in Ordnung.

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69. »Schwein, komm herauf!«

Um in der Landwirtschaft möglichst rentabel zu wirtschaften, hielten wir eine gute Zuchtsau, mit der Gisela Reiners besonders gut umgehen konnte. Wenn z. B. das Schwein unerlaubterweise ins hohe Gras der Wiese hinunterging, rief Gisela mit energischer Stimme: »Schwein, komm herauf«, und es kam herauf.

 

70. »Frisch gewaschen«

Ich schlief eine Zeitlang mit Blanche Moll zusammen in einem Raum direkt unter dem unverschalten Ziegeldach. Im Sommer war das oft so heiß, daß wir nasse Bettücher aufhängten oder uns nachts im Bach vor dem Haus abkühlten. Und im Winter war es so eisig kalt, daß wir mit warmem Kopftuch schliefen und uns morgens mit gefrorenen Waschlappen wuschen. Merkwürdigerweise haben -wir uns dabei nicht erkältet.

Richtig gründlich waschen, in der Waschbütt mit warmem Wasser, durften wir uns samstags. Dafür wurde für jeden eine Stunde im einzig geheizten Raum eingeteilt.

Zur Feier des Wochenendes saßen wir am Samstag Abend frisch gewaschen und sauber angezogen bei Kakao und Brötchen.

 

71. »Halt!«  

 

Zwei denkwürdige Abfahrten [mit dem Heuwagen] erlebten wir. Die eine mit Dora Werner an der seitlichen Bremse. Sie hatte wegen des Raines auf dem schmalen Weg kaum Platz zum Gehen, rutschte aus, ließ die Bremse los. Ich an der Hinterbremse sah es, schrie laut »halt« und Tilla [Winz] konnte sofort anhalten, sonst wäre Dora vom Hinterrad überfahren worden. Sie lag ganz knapp davor.

Die andere Abfahrt war die letzte vor unserem Umzug nach dem Bodenhof. Ausgerechnet die letzte Fuhre Heu von der Eube herunter auf einem steinigen Weg haben wir umgeworfen. Schuld war Wasser, das über den Weg lief. Der Wagen kam ins Rutschen, trotz der Bremsen - Tilla mußte mit dem Kuhgespann laufen, dann kam das linke Vorderrad auf einen großen Stein, der die Fuhre so ins Wanken brachte, daß sie umfiel. Das war bitter - abends um 1/2 8 Uhr.

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72. »Mitten in der Hölle«

Das Dreschen im Spätherbst war ein besonderes Erlebnis. Wir lernten es noch mit drei und vier Dreschflegeln im dreier und im vierer Takt. Eine kleine alte Stiftemaschine, die zu viert gedreht werden mußte, war schon ein Fortschritt. Die Garben wurden durch eine Walze mit Stiften durchgedreht, und wir mußten — zu je zweien rechts und links an der Maschine — das große Schwungrad in Gang halten. Als Beleuchtung hatten wir nur eine Stall-Laterne mit Spiritusdocht, und es war — im Halbdunkeln — ein unheimlicher Krach, daß ich mir vorkam wie mitten in der Hölle.

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73. Der »Westöstliche«

Durch Dora [Werners] Raum hindurch ging es hinunter in den Holzstall zum »Westöstlichen«. Das war unser Eimerklo, eine Kiste mit ausgesägtem Loch über einem Eimer. Die alten Bretterwände des Holzstalles hatten so viele Löcher und Ritzen, daß wir die schönste Aussicht westöstlich in der Richtung nach dem Pferdskopf hatten.

Wöchentlich abwechselnd hatten wir zu zweit Eimerausleerdienst. Mit Zeitungen die Hände schützend, faßten wir den Henkel an und hielten den Eimer möglichst weit von der Nase weg, bis wir ihn auf einem Quecken-Komposthaufen ausleeren und im Bach reinigen konnten.

 

74. Das Klavier und die Kuh

Marie [Buchhold] verkaufte ihr Klavier, und wir konnten mit dem Geld unsere erste [eigene] Kuh »Alma« beim Bauern Johann Paul in Sandberg kaufen. Die vom »langen Walhaus« gemietete Kuh, die noch nicht gelernt hatte, am Halfter zu gehen, mußte nach Gersfeld zurückgebracht werden. Hüsis Josef ging mit und nahm die Kuh ans Seil, das er fest um seine Hand schlang. Die Kuh war recht wild, vielleicht auch weil etwas Schnee lag, und sie war nur mit meinen Schlägen nach Josefs Anweisungen hinten und vorne zu bändigen. 

In Güntersberg riß der Strang, und die Kuh war im Nu verschwunden. Zum Glück hatte sie sich im Schweineauslauf hinter einem Bauernhaus verfangen. Sie bis Gersfeld zu bringen war eine wirkliche Leistung. Die Kuh blutete aus der Nase, und wir waren gespannt, was Walhaus dazu sagen würde. Aber er war froh, daß er sie nicht herunterbringen mußte. — Dann holten wir »Alma« ab, eine wunderschöne Kuh, die tadellos an der Leine ging. Stolz führte ich sie durch Gersfeld und ließ sie von den Leuten bewundern.

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75. »Rauhe Gesellen«

Wir arbeiteten wie die Bauern, z. B. zogen wir in der Heuernte morgens um 3 Uhr mit unseren Sensen auf die Eube, mähten bis ca. 6 Uhr, ohne was zu essen. Wenn der Haushalt uns das Frühstück brachte, brüllten wir ihm »Hunger, Hunger, Hunger« entgegen. Ab 10 Uhr wurde gewendet und abends brachten wir ein bis zwei Fuhren Heu nach Haus mit vier Stück Vieh auf schlechtem Feldweg von der hohen Eube herunter. Das kleine kräuterduftende Heu mußte recht fest gepackt werden (das war meine Aufgabe), daß "wir unterwegs nichts verloren. Beim Wetzen der Sense passierte es einmal, daß Hillis [Menze] die Sense ausrutschte und die Pulsader durchschnitt, aus der Blut herausspritzte. Tilla [Wenz] drückte sofort die Ader unter der Achsel ab und sprang mit Hillis den Berg herunter nach Haus. Dort band sie einen Kochlöffel ein und Hillis ging ganz allein zum Arzt nach Gersfeld. So rauhe Gesellen waren wir damals.

 

76.  Amazonen  

Paule Domke, die damals Lehrerin an einer Volksschule in Hamburg war, besuchte uns in allen ihren Ferien. Sie wohnte beim Nazebauer und war ständig bei uns. An einem der Abende wollte sie nicht nach Haus, und wir wollten Schluß machen. Um sie hinauszuwerfen kam es zum Ringkampf, bei dem unser kostbarer von Marie [Buchhold] gemauerter Ofen einfiel. Marie mußte ihn am nächsten Tag wieder neu mauern.

 

77.  »... Fuhren wir in die Wurst«  

Im Winter gab es mit den Nachbarn gemeinsame Abende, z. B. veranstaltete jeder die sogenannte »Spinnstub« und einmal eine »Bälleri«. Bei der Spinnstub wurde zuerst gearbeitet, gestrickt, gesponnen, Körbe geflochten und dabei erzählt. Dann gab es einen großen Teller voll hausgemachter Wurst, selbstgebackenes Brot und Bier vom Faß. Dabei wurden Spiele mit Streichhölzern etc. gemacht, und die Männer spielten Schafskopf oder Skat. Beim Ball ging es feiner zu. Es wurde nicht gearbeitet, viel gespielt und getanzt und, wenn man nach Hause wollte, gab es Kaffee und Kuchen. Wir waren so ausgehungert, daß uns das Essen sehr wichtig war. Zuerst warteten wir immer auf Kaffee und Kuchen, bis wir herauskriegten, daß das erst kam, wenn wir uns verabschieden wollten.

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Wenn bei einem Bauern geschlachtet wurde, »fuhren wir in die Wurst«, ein alter Rhönbrauch. Wir verkleideten uns mit umgekehrten Jacken und Strümpfen über den Kopf. Dann gab es einen Vers, den wir aufsagten. Und nun mußten wir uns wehren, daß wir nicht durch Herabreißen der Verkleidung erkannt wurden. Zum Schluß kriegten wir Würste mit oder wurden zum Essen eingeladen. - Wir hatten so guten Kontakt mit der Nachbarschaft, wie wenn wir die besten Verwandten wären.

 

78. »Nun danket alle Gott!« 

Schön war das gesellige Leben der Bauern im Winter, an dem auch wir teilnahmen. Sie ruhten sich aus, flochten Körbe, die Frauen strickten und spannen, eine behäbige Ruhe trat ein. Ungehemmte Heiterkeit und Fröhlichkeit durchzog die Bauernstuben bis in die Nächte hinein. Die Jugend war voller lustiger Einfälle, Eimer voll Schnee flogen ins Zimmer, die Mädchen flohen mit viel Gekreisch und Lachen, und es gab manch lustigen Kampf mit den Jungen.

Wir genossen das deftige Abendessen, um den großen Familientisch sitzend, der eine mächtig dicke Eichen­platte hatte. In der Mitte stand die große Schüssel mit Kartoffelsalat. Alle gruben sich von ihrem Platz aus in die Herrlichkeit hinein, respektierten die entstehenden Grenzmauern, aßen dazu heiße Kochwurst und Brot und waren nicht abgeneigt, aus der Flasche, die rundging, ein Schlückchen Schnaps zu trinken. Dann kam der gesellige Teil mit gemütlicher Handarbeit, humorvollen Spielen, Tanzen und Singen. Erst um zwölf Uhr - und zwar Punkt 12 - kam der duftende Kaffee ins Zimmer, die Rhöner Streusel- und Apfelkuchen - ach, was taten sie uns, die wir immer hungrig waren, gut! 

Drei Uhr wurde es jedesmal. Draußen war die große, weite erfrorene Landschaft mit grünlichem Mond, Schattenwürfe von den Bergen und Bäumen, die Sterne so nah, ihre klare Bilderschrift verständlicher als anderswo, so schien es uns. Dicht vermummt, denn der Ost blies scharf, stapften wir die kurzen Pfade nach Hause. Ein andermal waren wir die Einladenden; ca. 50 Bauern saßen, wie im Theater, auf Stühlen und Bänken in unserer großen Bauernstube. Im Eisenofen, der von der Küche aus geheizt wurde, bollerte das Holzfeuer - jeder Eingeladene hatte einen Arm voll Holz mitgebracht, wir hatten ja so wenig Heizmaterial. Alt und Jung — auch Kinder mit ihren im Wind schwingenden Stallaternen - kamen aus den näheren und ferneren Höfen. 

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In der großen Stube stand nun die »Laterna Magica«, meine Kinderlaterne, rot war sie und konnte viele, viele Bilder auf die weiße Wand zaubern, biblische Geschichten, Märchen, humorvolle Szenen, sich drehende bunte Sterne, alles mit entsprechenden phantasievollen Erzählungen durch uns reizvoll gestaltet. Die Bauern fanden, daß sie am Schluß »Nun danket alle Gott« singen müßten. Die Stube dröhnte von ihren kräftigen Stimmen. Kaffee und Kuchen gab es dann auch bei uns - und wenn die Gesellschaft nach Mitternacht den Hof verlassen hatte, sahen wir im Nebenraum auf Tisch und Stühlen Kuhseile, Axt, Werkzeug, Speck und Wurst liegen, alles Geschenke, die die Bauern dort ganz heimlich hingelegt hatten. Dies und noch vieles andere an Nachbarschaftshilfen, auch tatkräftiges Einspringen in Notfällen, hat uns eng mit den Bauern verbunden bis auf den heutigen Tag. 

 

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Die Rhöner sind offene und humorvolle Menschen, klug und tüchtig. Ihre Gesichter großzügig, ihre Augen hell — Originale gibt es auch dazwischen. Wir waren ja eine Sensation für sie: »Was wollt ihr denn hier? Ihr seid doch aus der Stadt; wie kommt das nur, daß es euch hier gefällt und daß ihr keine Arbeit scheut?«

Wir hießen die »hängerschen Maderies« — die Mädchen, die im letzten Haus wohnten. Sie liebten uns und wir sie. Wir brauchten uns nicht um die Sympathie der Bauern zu bemühen; es war keine Kluft zwischen Stadt und Land, zwischen Gebildet-Sein und Bauer-Sein zu bemerken; wir waren Nachbarn. 

Die Bauern waren in helfender Stellung, wir waren die Hilfsbedürftigen, die Lernenden und dankbar Annehmenden. Durch manche Erntehilfe konnten wir unsere Dankbarkeit später beweisen. Auch in Krankheitsfällen sprangen wir ein, und ich pflegte manche Nacht hindurch. Die Bauern waren durch ihre weiten Wiesen und Hutflächen im Wasserkuppengebiet — für die Rhön gesehen — reich, hatten 18 bis 20 Stück Vieh im Stall, aber sie sparten auch gern, zum Beispiel den Arzt!

 

79. Vom Träumen und der Pflicht

Die Hutweiden zogen sich durch die romantischen, einsamen Schluchten der Eube hinauf zu schönen Gipfeln mit weiter Sicht ins Land. Dort hinauf hüteten wir unser Pachtvieh, später das eigene. Ausgerüstet mit einem guten Hütehund, mit Stekken und Ledertasche, in der das Vesperbrot - aber auch irgendein Buch — Platz hatten, zog jeweils abwechselnd eine von unseren Mitarbeiterinnen zu langen Hütestunden in die Berge hinauf. War das Vieh ruhig und sorgte der Hund für das Nicht-überschreiten der Grenzen (er kannte sie genau), so verlor man sich in Nachdenken und Träumen oder in sein Buch, oder man schwätzte an der Grenze mit dem Nachbarhirten, bis man vom hartnäckigen, unzufriedenen Bellen des Hundes auf die Pflichten aufmerksam gemacht wurde.

 

80. »Blitz und Donner«

Schwere Gewitter erlebten wir in Schwarzerden. — Es passierte mir einmal beim Viehhüten oben auf der Eube, daß die Gewitterwolken schneller da waren, als ich voraussehen konnte. 

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Sie entluden sich, und ich rannte unter Blitz und Donner mit meiner Viehherde den Berg herunter. Bei den nahen Einschlägen hatte ich gräßliche Angst, daß eine Kuh getroffen werden könnte. Am schlimmsten aber war, daß mir eine Helferin entgegengeschickt wurde, so mußte ich auch Angst um sie haben. Zuletzt mußten wir durch einen tief aufgeweichten lehmigen Hohlweg barfuß waten, weil die Holzschuhe steckenblieben. Unten angelangt, wurde ich von Tilla schimpfend empfangen, weil ich nicht rechtzeitig aufgebrochen war. Aber ich ging schnell in mein Dachzimmer, um allein zu sein. Es war wirklich wie ein Wunder, daß wir alle heil unten ankamen. Nicht weit hinter uns hat es eingeschlagen.

Ein andermal waren wir gerade beim Aufladen einer Fuhre Heu auf der Hauswiese. Ich - auf dem Wagen ladend - konnte die schwarzgelben drohenden Wolken sehen und trieb zur Eile. Aber das Gewitter mit einem Wolkenbruch kam so schnell über uns herunter, daß wir durch mindestens 20 cm hohes Wasser den Hang hinauf nach Haus fahren mußten. Dann hatte Tilla auch noch Mühe, mit dem bockig gewordenen Zugvieh in die Scheune zu kommen. - Wir konnten nicht schnell genug am Stalleingang einen Damm mit Mist machen und im kleinen Garten daneben ein Stück Mauer ausbrechen. Wie ein reißender Bach floß das Wasser durch. Die Schweine vom benachbarten »Nazebauer« mußten gerettet werden, weil der Stall unter Wasser stand. - Hinterher kamen noch triefende Bauern mit ihren durchnäßten Heuwagen vom Hang der Wasserkuppe.

Überall — auch im Haus — geriet alles in Unordnung durch die nassen Sachen. Wo einer stand, hinterließ er eine Pfütze. Wie gut, daß alles Wasser bald von unserem Hang weg ins Tal abfloß.

Die nächtlichen Gewitter waren in Schwarzerden oft so schlimm, daß wir aufbleiben mußten. Hundemüde hockten wir auf den Bänken in der großen Stube bei dem schwachen Licht einer Stall-Laterne. Jeder mußte einen Stock neben sich haben für den Fall, daß es einschlug und wir das Vieh aus dem Stall treiben müßten. Zum Glück ist das nie passiert.

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81. »Männersache« 

 

Die vollgepackten Heuwagen auf den schmalen, steinigen, steilen Wegen zum Hof - Kühe als Gespann - zu lenken, war auch so eine Sache, eine Männersache, aber Tilla Winz und ihre Helferinnen meisterten sie immer, von den Bauern bewundert; nur einmal fiel ein Heuwagen um. 

 

 

 

Den besten Bauern passierte dies, und man sah beinahe täglich an heißen Heutagen irgendwo auf den Wasserkuppenbergen einen Wagen liegen. Frühmorgens um drei Uhr gingen, noch müde, die Mäherinnen auf die Eube; sie mähten, stundenlang sich gegen die Steilheit der Wiesenhänge stemmend, lange abfallende Strecken. Die Arbeit des Wendens, Häufeins, Aufladens, Abfahrens dauerte bis in die tiefe Abenddämmerung, und dann hörte man noch, wie bei Stallaternenschein die Sensen gedengelt wurden. 

Die Nächte waren kurz, drei bis vier Stunden Schlaf mußten genügen. Die Sonnwendnacht verbrachten wir trotzdem am Feuer hoch auf der Eube. Maschinen gab es nicht. Die Kornernte wurde in der Scheune mit Dreschflegeln gedroschen, eine alte mit der Hand gedrehte Dreschmaschine war schon ein großer Fortschritt.

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82. Wirtschaft und Gemeinschaft. 
Zur Problematik einer Praxis  

 

Die Jugend versucht sich in der Verwirklichung von Werk- und Lebensgemeinschaften. Sie will anders wirtschaften als die alte Generation, sie will Gemeinwirtschaft, sie will ein auf dieser Gemeinwirtschaft aufgebautes Gemeinschaftsleben. Der Mut zum Anfang hat den Meisten nicht gefehlt. Viele Versuche scheiterten nach den ersten Stadien. Wenn sie nicht nach außen scheiterten, so weiß man, daß im Innern die Angelegenheiten trotzdem nicht gut standen. Heute ist es so, daß die bestehenden Werk- und Lebensgemeinschaften noch alle mehr oder weniger in einem sehr aufreibenden Existenzkampf stehen, der sowohl nach außen wie nach innen geführt wird. 

Einmal geht es um die rein wirtschaftliche Existenz, zum andernmal geht es um den Kampf zwischen den Charakteren, um die Verwirklichung der Idee vom neuen Leben, das als Gemeinschaftsleben gewollt wird. Außerordentliche Unklarheit der Begriffe »Gemeinwirtschaft« und »Gemeinschaftsleben« in Gedanken und Gefühlen der Jugend ergab sich in der Praxis. Laientum in fast jeder praktischen Arbeit, Unkenntnis der einfachsten organisatorischen Erfordernisse, irrige Ideologien von einem Sein-Soll, ohne jede praktische wie psychologische Vorerkenntnis, Unberatbarkeit und oft Unbelehrbarkeit einer trotzigen Jugend, die aus »eigener Kraft und auf Grund eigener Verantwortung« ihr Leben gestalten wollte, zeitigten Erlebnisse und Schicksale Einzelner wie ganzer Gruppen, die keineswegs angetan sind, günstige Urteile bei dem in »bürgerlichen« Bahnen gehenden Beschauer zu erzielen. 

Wichtiger als das Urteil Außenstehender dürfte die Kritik aus den eigenen Reihen sein. Sie kann nicht nur positiv sein. Wo sie verneint, liegen erwiesene Gründe, Erfahrungen, Erkenntnisse vor, letzten Endes will die Kritik aber doch Rechtfertigung der elementaren Idee der Jugend. Es erwächst eine Lehre aus der eigenen Tätigkeit, eine gewisse Objektivität im Chaos des Subjektivismus. - Die praktische, d.h. durch den Lebensversuch klargewordene Erfahrung über die Möglichkeit einer Gemeinwirtschaft ist folgende: Es gibt verschiedene Formen (Stufen!) einer Gemeinwirtschaft. Betrachten wir das Problem zunächst in Hinsicht auf die Mitarbeiter innerhalb eines gemeinsamen Werkes. Ein primitiver und kleiner Anfang diktiert von selbst die einfachste Form. Es wird aus einer Kasse gelebt, man findet den einfachsten Teilungsmodus, d.h. jeder erhält dasselbe, man versucht einander in diesem Sinne gerecht zu werden. 

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Das geht zu Zweien, Dreien, Vieren, auch noch bei einer höheren Zahl von Mitarbeitern. Jedoch lehrt die Praxis, daß die Zahl kaum Neun erreicht, ohne daß sich merkliche Hemmungen im friedlichen Ablauf des Gemeinschaftsverkehrs zeigen. Kurz angedeutet seien die psychologischen Gründe: die Jugend, Erbe eines extremen Individualismus, 'will zwar miteinander teilen, gefühlsmäßig, aber nicht sachlich. Solange Friede zwischen den Meinungen der Einzelnen ist, vielleicht die gemeinsame Einigung, ausgesprochen oder unausgesprochen auf einer Idee (Dogma irgendeiner Art!) besteht, geht es gut. Entsteht aber Meinungsverschiedenheit, hält die Idee bezw. das Dogma nicht stand, zeigt es sich, daß das Glaubens- oder Humanitätsideal, was es auch sei, unter der kritischen Zersetzung der Individualauffassungen zerfällt, ist diese erste Form primitiver Gemeinwirtschaft, die auch als brüderliche Wirtschaft bezeichnet werden kann, nicht mehr möglich. Gerade das eigensinnige Suchen, welches nun beginnt und welches fast nie freibleibt von Ressentiment, (schmerzlich verbittertes Rückwärtsgefühl und Hängen am Bild des Einst-Gewollten!) zersetzt nicht nur das geistige Inbild der Sache, sondern auch die Stoßkraft, die zu einer auf wirklicher Erkenntnis basierenden Umstellung nötig wäre. Hier scheitern die Meisten, resignieren und ziehen sich zurück, werden je nach Anlage zum Abenteurer oder ergreifen in rechtzeitiger Bescheidung einen bürgerlichen Beruf.

Noch schwieriger gestaltet sich die Lage, wenn nahe Verbindungen innerhalb des Gemeinschaftskreises zu Ehe- und Familiengründung drängen. Die erste brüderliche Wirtschafts- und Lebensform ist dann immer gestört und schließlich zerstört worden. Organisatorisch mißlang eben aus Mangel an Studium und Erfahrung, der Versuch, die primitive Form zu erweitern und vernünftig umzugestalten. Auch mißlang der Versuch deshalb, weil oft derartige seelische Zerwürfnisse zwischen den miteinander als Kameraden ausgezogenen Freunden eintraten, daß nur Trennung eine Lösung bringen konnte. Der Deutsche, mit einer gewissen Neigung, tragisch zu leben, wobei aber der Begriff des tragischen Lebens von ihm ganz willkürlich, leider auch etwas theatralisch fixiert ist, hat nicht die geistige Grundlage a priori, die nottut, das zu leben, was er, mitgetrieben von dem vorwärtseilenden Zeitgeist, wohl erahnt, aber, aus Mangel an sachlicher Konzentration und nüchterner Selbstschulung, nicht oder noch nicht leben kann. 

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Belastet mit einer suggestiven Ladung von als Ideale bezeichneten irrigen Vorstellungen, ist der gesunde Elementarkern, in dem sich das Neue vorahnend rührt, verdeckt und kann nicht ans Licht, wie er will, sondern gerät in die Wirrnis.

 

Wir haben also bereits zwei Formen sich entwickeln sehen, und gesehen, daß es nur Stufen sein können in einer Entwicklungsreihe. 1. Primitive brüderliche Wirtschaft, die zu Ende gehen muß, wenn die Zahl sich vergrößert, und weil der heutige Mensch sie nicht ehrlich durchhalten kann. 2. Familienwirtschaft, die unter bestimmten organisatorischen Maßnahmen innerhalb einer mehr nach der genossenschaftlichen Seite gehenden Gemeinwirtschaft einbezogen werden kann. (Beispiel: Der durchsozialisierte Betrieb der Landsassen-Werkgemeinschaft, Leipzig.) 

Ein solcher Betrieb bietet die Möglichkeit, sowohl die soziologische Form der Ehe- und Familie als auch die Ledi-gengruppen einzuorganisieren. Wie aber gestaltet sich die Wirtschaftsform weiter, wenn die brüderliche Form des Anfangs nun einmal unmöglich geworden ist? Immobilien, Mobilien und Einkünfte können nicht mehr allen zu gleichen Teilen gehören. Was dann? Hier ist eine Klippe. Vor allem ist es nunmehr richtig und notwendig, daß die Gemeinschaft sich eine Verfassung gibt, die auch nach außen juristisch formuliert 'werden muß. Es entsteht die Firma. Sich vor solchen praktischen Folgerungen scheuen, hieße infantil bleiben und nicht erwachsen werden wollen.

Nach außen muß eine Werkgemeinschaft den Mut haben, genau so gut wie jede andere Geschäftsunternehmung kaufmännisch und ohne Sentimentalität zu arbeiten. Wie sie nach innen arbeitet, geht ja »die Welt« zunächst nichts an. Nach außen aber muß sie ein realer und reeller Kaufmann werden und sich soviel wie nur irgend möglich geschäftliche, wirtschaftliche und volkswirtschaftliche Bildung aneignen. Die Frage des 'wirtschaftlichen Durchkommens ist auch vor allem die Frage der richtigen Postenbesetzung. Die ewigen Idealisten sind analysiert eigentlich Hypochonder und bringen es zu nichts. Nach innen aber organisiere man nach folgenden Gesichtspunkten: Man setze ein allgemeines Existenzminimum fest, das für alle Mitarbeiter gilt. Man unterscheide aber Mitarbeiter und Helfer, also bleibende und ihre Existenz im Werk und durch das Werk suchende Gemeinschaftsmitglieder, und vorübergehende, vielleicht ihre Probe machende Hilfskräfte. In der persönlichen Beziehung zwischen den Einzelnen muß das nichts ausmachen. 

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Die Qualität der Mitarbeiter bestimmt sich nach Leistung und Treue. Das scheint einfach, ist aber sehr schwer, indem ein fortwährendes Ingefühl für den Einzelnen und das Ganze wach und bildsam bleiben muß, um beide Begriffe nie erstarren zu lassen. Außer einem allen gemeinsam gleichen Existenzminimum an Nahrung, Kleidung, Raum, Licht, Heizung — einerlei ob in Materialen oder Geld ausgegeben — gestatte man - ja pflege! - die Vermehrung des Eigentums der Einzelnen, damit einem natürlichen Bedürfnis des Menschen entgegenkommend. 

Gemeinsam, d.h. auch juristisch formuliert, müssen bleiben die Produktionsmittel, Land (falls es dazu gehört) und Wirtschaftsräume. Private Geldgeschenke an die einzelnen Mitarbeiter sollten einem prozentual nach der Höhe der Summe sich steigernden Abgabenmodus unterstehen. Sachwerte als Privatgeschenke an Einzelne unterliegen dem nicht. In dieser organisatorischen Richtung liegt eine Gewähr für eine Entwicklung von beruhigender Dauer. 

Das »Seelische«, die innere Problematik, welche heute noch der im Übergang der Zeiten stehende junge Mensch unterworfen ist, Wachstum und Wandlung des Herzens und des Erkenntnisvermögens, darf nicht fortwährend ein doch von allen gewolltes gemeinsames Wirtschaftsunternehmen in Schwankung bringen und gefährden. Das Wirtschaftsunternehmen muß als Körper betrachtet werden, der so gesund und ruhig wie möglich gestaltet werden muß. Die Einrichtungen, die man trifft, müssen in diesem Sinne für das Ganze einen körper- und damit seelenhygienischen Charakter tragen. Man muß der menschlichen Natur und ihrer heutigen Lage Rechnung tragen und nichts wollen, was diese Natur nicht, nie, oder noch nicht kann. Aber man glaube und wisse vom Sinn des Geistes in der Natur! Der Zusammenschluß der einzelnen bestehenden und sich durchkämpfenden Werk-und Lebensgemeinschaften der Jugend steht noch aus. Er wird erst gelingen, wenn die schwersten inneren Übergangskrisen für die einzelnen Gemeinschaften vorüber sind. Ob die Beispiele der Werk- und Lebensgemeinschaften von Einfluß sein werden auf eine zukünftige (nicht amerikanische!) Weltwirtschaftsgestaltung, ist schwer zu sagen. Als Beispiel für Gestaltung von Lebensschulen werden sie wichtiger sein, d. h. als Beispiele dafür, wie das Leben selber die Elementarschule des Menschen ist.

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83. Die Frauenbildungsstätte  

Seit Jahren schon, und seit Herbst 1921 in regelmäßig fortgesetzter pädagogischer Praxis, stehen wir in den Problemen der modernen und zukünftigen Frauenbildung. Auch unser wirtschaftliches Arbeiten ist Suchen und Versuch nach einem Beispiel und Beitrag zur Frauenexistenzfrage. Im doppelten, leiblich-wirtschaftlichen und geistig-beruflichbildenden Sinne. Seit Jahren besuchen uns und nehmen an unseren Ferien- und Arbeitskursen teil: Beruf-suchende und berufstätige Frauen. 

Die letzterwähnten sind meistens Lehrerinnen, Sozial- und Fürsorgebeamtinnen, kaufmännische Angestellte, studierende Frauen, aber auch Frauen in praktisch-handarbeitenden Berufen, Gärtnerinnen, Kunstgewerblerinnen, alles aber solche, die im Existenzkampf mehr oder weniger hart je nach ihrer Anstellung und Berufsart stehen. Unter den Berufsuchenden bzw. den sogenannten Berufslosen sind zu nennen die als Haustöchter lebenden heranwachsenden Frauen, die nicht recht wissen, was sie wollen und sollen, andererseits aber auch die vielen im Haushalt arbeitenden Frauen, die entweder durch die Heirat ohne Weiteres ihren natürlichen Beruf antreten, oder diejenigen, die in den Haushalt gegangen sind, weil sie nichts anderes gelernt haben. 

Alle diese Frauen kommen als Suchende, zum Teil unzufrieden zu uns, nicht recht wissend, was sie wollen und sollen, die Einen fast resigniert, erschöpft und überanstrengt die Anderen. Wir haben gesehen, daß ihnen, so vielseitig ihre Spezialausbildung auch in einzelnen Fällen war, doch eins fehlt: Eine grundlegende Erkenntnis der körper-seelischen Zusammenhänge ihrer eigenen Wesenheit und, von da ausgehend, die grundsätzliche und bewußte Einstellung ihrer sich selber bewußt werdenden Frauenart zur Welt, die ebenfalls von der Frau als körper-seelischer Zusammenhang eines Natur-Ganzen (Kosmos) begriffen werden muß. Es fehlt den geschulten und ungeschulten Frauen die befriedigende sicherheitsgebende Einsicht in eine eigentliche Naturlehre, die mehr [ist] als bloß physisch-empirischer Materialismus einer Natur-Fach-Wissenschaft, die Natur als Emanation des Geistes erlöst aus der Gefangenschaft »rein wissenschaftlichen Experimentes«. Denken und Tun der Frau verlangt nach Totalität. 

Die im »Spezialfach« verbrauchte Frau bleibt unerfüllt, ebenso unerfüllt und darum in ihren eigentlichen Kräften nicht genützt bleibt die »hauptamtliche« Hausfrau, die doch in einer Fülle von Kleinarbeit und

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Nebenbeschäftigungen untergeht, eine gedankenlose und durchschnittlich im Benehmen selbstverständlich-egoistischbrutal lebende Familie nimmt die alltäglichen Dienste einer Mutter und Hausfrau hin, ohne nur im Geringsten den wirtschaftlichen oder gar kulturellen Wert ihrer rastlosen Tätigkeit auch nur zu sehen, ohne auch nur danach zu fragen, wie die Hausfrau sich selber dabei fühlt, ob sie verkümmert, lebendig bleibt, geistiges Leben hat usw. 

Die Mutter und Hausfrau ist eben eines Tages »altmodisch«, die Töchter beginnen sie zu »bemuttern«, »aufzuklären« oder zu »verschönen«, also letzten Endes in der schrecklichsten Weise über sie wegzugehen. Die Frau, ohne das geistige Mittel einer von ihr erarbeiteten und darum ihr gemäßen organischen Welt- und Menschenauffassung wird nicht erfüllt sein von ihrer Tätigkeit im Modernen und [in der] Zukunft. Sie braucht eine von sich aus gefundene frauenhafte (ohne den üblichen Beigeschmack von feminischer Inferiorität!) Naturlehre als Weltanschauung. Von da aus kann erst die Um- und Neugestaltung ihrer Existenz im doppelten Sinne geschehen. Von da aus nimmt Frauenbildung ihren Ausgang. In der Erkenntnis, daß dies den Frauen fehlt, und daß sie dies aber suchen, gestaltet sich unsere pädagogische Aufgabe in erster Linie aus zur Schaffung eines allgemeinen Frauenbildungsjahres. 

Indem wir den Bildungsstoff und die Bildungsmittel in fortwährender praktischer pädagogischer und wissenschaftlicher Arbeit auffinden, erweitern, ordnen, verbinden und vertiefen, sind wir uns bewußt, an unserem Teil und an unserer Stätte eine Vorarbeit zu leisten, die unter so erschwerten Umständen, wie sie bei uns jetzt noch vorliegen und auch angesichts der wirtschaftlichen Gesamtlage der Frauen (und aller Menschen überhaupt) natürlich so umfassend nicht betrieben werden kann, wie das einmal sein muß. Ganz anders und im vorausgesehenen Sinne kann eine solche praktische Forschungsstätte für geistige Frauenbildung erst ausgebaut und wirksam werden, wenn in der wirtschaftlichen Gesamtlage grundsätzliche Änderungen eintreten. Eine solche grundsätzliche Veränderung wäre z.B. die absolute und anerkannte wirtschaftliche Selbständigkeit der Frau, einerlei in welchen sonstigen, persönlichen Verbindungen sie außerdem zu leben gewillt ist.

Zukunft und allgemeine Forderungen nie aus dem Auge lassend, befassen wir uns aber heute mit der Frage: Was kann heute für eine allgemeine Frauen-Vorbildung geschehen? 

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Denn das allgemeine Frauenbildungsjahr ist gedacht für die heranwachsenden Frauen, die noch vor der Berufsentscheidung stehen oder auch für solche, die bereits in einem Berufe stehend, unzufrieden und unerfüllt sind und den Beruf wechseln wollen. Sofort wird gefragt: Wer kann sich das heute noch leisten? Nun, wer ernstlich will, kann auch heute noch manches durchsetzen, und wir sehen auch in der wirtschaftlichen Ermöglichung eines solchen allgemeinen Bildungsjahres eine Aufgabe. 

Unsere Bildungsstätte ist im Begriff als Produktionsschule ausgebaut zu werden. Jedenfalls müssen wir es dahin bringen, daß die Teilnehmer an solch einem jährlichen Bildungsgang mit einem Minimum an Nähr- und Lehrgeld aufgenommen werden können, und daß, wie das jetzt schon vorkommt, ein Teil und nach einiger Zeit das ganze Nähr- und Lehrgeld durch Teilnahme am Produktionsgang der Wirtschaft erarbeitet 'werden kann. Der Bildungsgang ist beim allgemeinen Frauenbildungsjahr von außen gesehen denkbar einfach. Einführung in alltägliche praktische Verrichtungen - wie sie die Wirtschaft bietet. Sowohl Hausarbeit, wie Umgang mit Tieren und Pflanzen sind natürliche Gegebenheit. Es ist und bleibt wichtig für die Frau, den täglich sich wiederholenden Hergang von Arbeiten, die sich mit der Unterbauung eines täglichen Lebens befassen, praktisch zu lernen, einerlei, was sie später beruflich tun wird, einfach deshalb, um den wirklichen Zusammenhang zwischen diesen Verrichtungen und dem Leben zu begreifen. 

Aus dieser natürlichen Beschäftigung erhebt sich eine neue Elementarlehre von Feuer, Wasser, Luft und Erde, mit deren unmittelbaren und verwandelten Formen man ja immer zu tun hat.

Ganz selbstzweckhaft ist auch die Körperlehre als Gymnastik, die zur Lockerung und Neuspannung des Körpers von vornherein geübt wird. In keiner Weise wird allerdings hier — wie auch nirgends sonst — schematisch vorgegangen. Man wird sehen, welche Übungen für den Einzelnen, welche Übungen für alle zusammen und wann sie gut sind. Danach wird man handeln, d.h. es kann gerade so gut auch einmal der Fall eintreten, daß die Gymnastik für Eine oder die Andere nicht der Angriffspunkt ist, an welchem bei ihr begonnen wird, sie zu sich selbst zu befreien [.....]

 

 

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