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    Vogelhof  

 

199-220

Der Vogelhof — an der südlichen Abdachung der Schwäbischen Alb bei Hayingen gelegen — hatte seine ideelle Grundlage in einer Mischung von deutsch-völkischen, deutsch-christlichen und lebensreformerischen (hier besonders Alkohol-Abstentionismus) Gedanken.

Die Gründer kamen aus dem württembergischen Raum: Da war einmal als ältester Kern die Stuttgarter Gruppe um den Oberreallehrer Friedrich Scholl, einem rührigen Publizisten. Er gab bereits vor dem Ersten Weltkrieg die Zeitschrift <Hellauf> zur »Förderung der Enthaltsamkeit« heraus; ferner leitete er den »Mimir-Verlag«, bis zum Kriegsende »Verlag für deutsche Kultur und soziale Hygiene«, nach der Revolution »Verlag für deutsche Erneuerung«. 

Nach der Revolution hielt Scholl, Anhänger eines deutschen Christentums im Sinne Paul de Lagardes, auch Vorträge über »Christentum und Sozialismus«; in diesem deutsch-sozialen Christentum der Volksgemeinschaft stand er den »Christlichen Revolutionären« um den lebensreformerischen Priester-Arzt Carl Strünckmann und dem Stuttgarter Herausgeber des <Christlichen Revolutionär> Alfred Daniel, nahe. Die Konstellation seiner Gedanken wird in den beiden Schrifttiteln >Obst und Trauben als Nahrungsmittel. Praktische Anleitung zur Obstverwertung im Haushalt und Anstaltsbetrieb< und >Nordische Lebensbejahung oder christlicher Erlösungsglaube< sichtbar.11) Sein Siedlungsziel formulierte er als die »Schaffung einer arisch-christlichen Lebensgemeinschaft«. Als Lehrer verfolgte er mit seiner »Hell-auf«-Siedlung insbesondere die Absicht der Errichtung einer »deutschbewußten« Schule.

Zu Scholl stieß eine Gruppe von kriegsbeschädigten Tübinger abstinenten Wandervögeln (Guttempler, Wehrtempler) um die beiden Bankbeamten Hans Reichart und Matthäus (Matts) Schwender, die zur Natur und Einfachheit des Bauernlebens zurückstrebten, und — wie Schwender heute sagt — eher jugendbewegt-volklich als völkisch ausgerichtet waren. Und schließlich verband sich mit ihnen ein Kreis um den Stuttgarter Musikdirektor Otto Mayr, der eine Musikersiedlung verwirklichen wollte, jedoch durch seinen plötzlichen Tod seine musischen Ziele nicht mehr in das Siedlungsprojekt einbringen konnte.

Nach der Verbindung aller drei Gruppen beschlossen diese 1920 die Gründung der »Siedlung Hellauf GmbH« und faßten schließlich nach mancherlei theoretischen Vorerwägungen auf einem spannungs­reichen Siedlertag (Jahreswende 1920/21 auf dem Schloß Hohentübingen mit über 100 Teilnehmern) und einer harten Auseinandersetzung zwischen den theorielastigen »Alten« und den ungeduldigen jungen Aktivisten den Entschluß zum praktischen Beginnen. 

11)  Nur am Rande sei hier angemerkt, daß es nicht nur eine völkische Lebensreform gab, sondern diese auch einen kommunistischen Flügel besaß (etwa verkörpert durch Ernst Raffalowicz alias Ostweg und seinen Berliner Strom-Verlag); in der »Mitte« standen die Hamburger Nationalkommunisten um Heinrich Laufenberg und Fritz Wolffheim und ihren Affiliationen in der Naturheilbewegung. 

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Ehe ein passender Hof gefunden war, zogen Anfang 1921 die ersten vier tatendurstigsten Siedlungswilligen zur Erprobung ihrer Fähigkeiten auf die Künstler-Siedlung Runheim bei Gaildorf am Kocher, deren Zentrum der Maler und Dichter Willo Rall war, sozusagen der einzige Anhänger des bemerkenswerten Wanderpredigers Gusto Gräser. Schon im Frühjahr 1921 konnte dann der Vogelhof erworben und gemeinschaftlich besiedelt werden.

Die Siedlung fußte zunächst auf Landwirtschaft, Gärtnerei und Obstbau mit biologischer Grundlage, dazu kam gelegentlich etwas Viehwirtschaft und Handwerkstätten (so ein Schusterbetrieb). Wegen der mangelnden Rentabilität des Anbaus wurde das Einkommen ergänzt durch ein Erholungsheim. Als Nebenbetriebe waren ferner zeitweilig ein Verlag (»Siegfried«-Verlag) und eine Verlagsbuchhandlung angeschlossen. Zum eigentlichen Rivalen der Siedlung entwickelte sich jedoch das von Scholl von Anfang an ins Auge gefaßte Landerziehungsheim »Sonnenheim«, zumal als Scholl nach der Pensionierung 1925 mit seiner Familie auf den Vogelhof zog und dort seine Absicht einer Schulsiedlung realisierte. 

Es scheint symptomatisch, daß 1923 die Siedler mit der Ausführung eines schon lange gehegten Plans zum Bau eines Werkgemeindehauses mit Windmotorenturm12) begannen, dieser Bau jedoch aus wirtschaftlichen Gründen in noch unfertigem Zustand 1925/26 zum Heim der neuen Schule umgewandelt wurde. (Neben dem Landerziehungsheim gab es auch kurzzeitige Versuche mit einer Bauernvolkshochschule.) 

Es zeigte sich bald, daß mangels eines geeigneten Absatzmarktes die gärtnerischen Produkte der Siedlung am besten von der Küche der eigenen Schule verwertet wurden, so daß zumindest ökonomisch Siedlung und Schule voneinander profitierten.

Neben den Spannungen zwischen der Konzeption der Landwirtschafts- und Schul-Siedlung, die 1942 bei der drohenden Liquidation der Siedlung ihren Höhepunkt erreichten, blieben auch andere persönliche Konflikte nicht aus. Besonders gravierend waren die mit den Vorgängen in Sontra vergleichbaren Auseinandersetzungen um die Verwirklichung der Mittgart-Mehrehe. 

12)  Diese Entwicklung alternativer Energie war nicht einzigartig; z.B. errichtete der Vegetarier Friedrich Köhnlein, Einzelsiedler in Obersontheim, hinter seinem aus Natursteinen, Lehm und Holz selbst errichteten Wohnhaus einen Windmotor (Abbildung in: Georg Herrmann, Hausbuch der Lebenserneuerung 1977, Obersontheim 1977, S. 139).

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Diese Debatte brachte 1924 für die ganze Siedlung eine starke Erschütterung, die schließlich zum Wegzug des Anhängers der Mehrehe (Hans Reichart) und seines Kreises führte, da nach Meinung der Mehrheit die beiden Ehebegriffe miteinander unvereinbar waren. Weitere Probleme entstanden dadurch, daß andere im Unguten ausgeschiedene Siedler — wenn auch vergeblich — versuchten, gegenüber der Siedlungsgemeinde nachträgliche Versicherungs- und Lohnansprüche durchzusetzen.

Trotzdem war die Siedlung kräftig genug, Ende 1923/Anfang 1924 eine Schwestersiedlung ins Leben zu rufen, den Schurrenhof bei Rechberg (Kreis Schwäbisch-Gmünd), der vor allem für einen breiten, mit Automobil beschickten Absatzmarkt Gartenbau in Gewächshäusern betrieb. 1936 nahm der Stifter des Grundstücks, Karl Solleder, dieses nach einem Entschuldungsverfahren wieder in Privatbesitz zurück.

Der Versuch, während der Inflationsjahre alle jugendbewegten Siedlungen und Werkstätten in Deutschland vom Vogelhof aus zu einem Revisionsverband zusammenzufassen, scheiterte. Dagegen gelang es Scholl, dessen Deutung der Siedlung als eines nordisch-rassischen »Aufbau-Ordens« von den Siedlern nie ganz übernommen wurde, den Vogelhof dadurch zu einem Zentrum völkischer Bestrebungen in der Weimarer Zeit zu machen, daß er einmal jährlich führende Völkische zu Vorträgen und Gesprächen innerhalb einer »Arbeitsgemeinschaft für die geistigen Grundlagen der deutschen Zukunft« einlud.

Die Genossenschaft bestand, bei stets sinkender Zahl der Genossen, bis zu ihrer Auflösung Ende der dreißiger Jahre weiter; die Schule wurde von den Nationalsozialisten 1938 geschlossen (Scholl aber durch einen Lehrauftrag in einer Ordensschule belohnt). Erst in den vierziger Jahren wurde die Siedlung reprivatisiert. Nachdem die Familien Schwender und Scholl bereits vorher Grundstücke und Gebäude in Erbpacht erhalten hatten, zerfiel jetzt die Siedlung vollends in ihre natürlichen Bestandteile Siedlung (Privatbesitz Schwender ) und Schule (Privatbesitz Scholl). 1956 ist das Schulgebäude in ein Schullandheim umgewandelt worden. Eine weitere Besitzteilung kam dadurch zustande, daß ab 1962 auch Grundstücke an frühere Vogelhof er und Freunde als Ferien- und Alterssitz abgegeben wurden. In ihrem baulichen und landwirtschaftlichen Charakter hat dagegen die alte Siedlung Vogelhof bis heute ohne allzu große Modernisierungs-Veränderungen die Zeit überdauert.

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89. »Hellaufsiedlung«

a. Die Siedlung steht auf dem Boden eines arisch-christlichen Glaubens.

b. Lange hat uns bei unserer Aussprache die völkische Frage beschäftigt. Ich habe geltend gemacht, daß wir unsere Aufgabe nur erfüllen können bei restloser Treue gegen uns selbst, d.h gegen die uns als Eigenart geschenkte Gottesoffenbarung. Aucl unsere Gemeinschaft muß ihre Eigenart haben, sie kann nich anders. Eigenart aber ist nicht rein geistig, sondern wir al: Geist, Seele und Leib sind eine vollkommene Einheit, d. h. den Wesen (dem Geist) entspricht restlos bis auf die nebensächlich sten Äußerlichkeiten die Erscheinung (der Körper, das Blut, de: Bau, die Farbe, die Handlinien, der Gang, die Handschrif usw.). Gegen diese Einheit und Eigenart dürfen wir nicht sün digen, weil sie gottgegeben ist. Wir dürfen also in unserer Gemeinschaft keine fremde Art, kein fremdes Blut hereinnehmen.

 

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Wir haben selbst als einzelne schon viel zu viel »Dunkles« in uns und unter uns, das wir allmählich wieder ausmerzen müssen, teils durch ein Streben zum »Hellen« in Gesinnung und Lebensführung, teils durch Herbeisehnen und Herbeirufen blonder, lichtvoller Seelen als unsere Kinder, teils durch Erziehung unserer Kinder im Hell-auf-Sinne. Zur dreifachen Reinheit gehört auch die Helligkeit, die Lichtheit der Augen, des Haares, der Haut als Ausdruck der lichten Seele und des sonnenhellen Geistes. 

Also, liebe Freunde, wir wollen das Dunkle aus uns selbst mit allem Bedacht, mit aller Liebe zum Hellen ausschalten, darum müssen wir auf peinliche Fernhaltung weiterer Verdunklung und Vermischung bedacht sein. Nur reines Blut entspricht reiner Seele, und nur reine Seelen können einheitlich und ihrer Eigenart treu sein und Höchstes schaffen. Mischseelen sind meist innerlich zerrissen. Wir wollen den Seelen der gefallenen Freiwilligen, der »Heiligen Schar« eine reine, weihevolle Stätte unter uns bereiten! Heil und Hellauf, ihr Frauen unserer Gemeinschaft! Sehnet sie herbei und weihet eure Leiber und eure Seelen für sie! Heil und Hellauf! Ihr Männer unserer Gemeinschaft, seid stolz und treu und wahr und ganz rein, damit das Schöpferische in euch Höchstes, Feinstes, Heiligstes zeuge!

[...] Wir Ovaren alle gegen eine Stimme geneigt, dieser Form uns zu fügen [. ..] Aber ich wünschte bei der Schaffung der Grundlagen unseres Hauses volle Einheitlichkeit, und so haben wir uns der einen Stimme gefügt und auf die Form des Blutsbekenntnisses verzichtet. Aber es wird in der Satzung niedergelegt werden: »Wir wollen völkische Reinhaltung der Siedlung und Pflege deutscher Eigenart.«

 

90. »Wirtschaftsgemeinschaft«

a. Eine besonders bewegte Aussprache hat die Frage der Gemeinwirtschaft hervorgerufen. Wir waren uns zwar alle klar darüber, daß wir eine neue Zukunft einzuleiten haben. Aber nicht alle Freunde konnten jetzt schon ihre Bedenken überwinden. Und so werden wir zwei Stufen einführen müssen: 1) Die Stufe der Planwirtschaft mit Rechenwirtschaft unter Festhaltung der Privatwirtschaft, d.h. der betr. Siedler erhält den Ertrag seiner Arbeit als sein Einkommen gutgeschrieben, ist aber an die Preise und an die Rechenwirtschaft der Genossenschaft gebunden. 

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2) Die Stufe der vollen Gemeinwirtschaft, d.h. der Siedler arbeitet für die Gemeinschaft als eine große Familie und erhält von ihr einen bestimmten für alle — auch die Frauen — gleichen Einkommenssatz gutgeschrieben. Die Kinder erhalten eine Kinderrente, Kranke und Alte ein Mindesteinkommen. Die Einzelheiten darüber sind einer Beratung über die Verfassung vorbehalten. Auf der 2. Stufe gilt der Grundsatz: »Einer trage des anderen Last.« Ob eine 3. Stufe (Gütergemeinschaft) sich noch angliedern wird, mag der Zukunft vorbehalten sein. Alle Bedenken gegen die Gemeinwirtschaft sind hinfällig, wenn wir uns über uns selbst klar sind. Wir müssen den festen Glauben, jeder an sich, jeder an seine Mitsiedler und alle an die Seelengemeinschaft als Grundlage der Wirtschaftsgemeinschaft haben. Dieser Glaube muß einfach da sein, wer ihn nicht aufzubringen vermag, ist kein taugliches Glied unserer Gemeinschaft

Ich muß noch besonders erwähnen, daß ich eine Abstufung des Einkommens vorgeschlagen hatte nach der Art der Leistung (gelernt oder ungelernt, Hand- oder Kopfarbeit), daß aber jede Berücksichtigung des Unterschieds der Leistung verworfen wurde mit der Begründung 1. daß es innerhalb einer »Familie« solche Unterschiede nicht geben dürfe, 2. daß wir alle die gleichen Bedürfnisse haben oder uns dazu erziehen wollen, also auch Anspruch auf gleiches Einkommen haben. Wir »tragen« einander, und die Kinder der Siedlerfamilien sind die Kinder der Genossenschaftsfamilie. Bitte Matth. 20, 1-6, besonders V. 10 zu vergleichen [Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg].

b. Gegenstand des Unternehmens ist der Erwerb von Boden, der dauernd unveräußerliches Eigentum der Genossenschaft bleibt [. . .], ferner die Errichtung von Gebäuden, der Betrieb von Gewerben und gemeinnützigen Einrichtungen, gemeinwirtschaftliche Verwertung aller in der Siedlung erzeugten geistigen und stofflichen Arbeitswerte, gemeinsamer Ein- und Verkauf von Waren, Pflege des bargeldlosen und zinslosen Rechnungswesens.

c. Alle Siedler ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht erhalten ein gleiches Einkommen (Gewinnanteil).

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d. Die Siedlung ist gemeinwirtschaftlich aufgebaut, d. h. es gibt auf ihr weder Privatbesitz noch Privatbetrieb. Alle Betriebe haben zwar ihre Sonderabschlüsse, laufen aber in einer Gesamtbilanz zusammen. Jeder Betriebsleiter führt seinen Betrieb so, wie er ihn als guter Wirtschafter für sich führen würde. Die Mitarbeiter eines Betriebs sind nicht Angestellte, sondern Mitunternehmer. Sie erhalten also keinen Lohn oder Gehalt sondern einen gleichen Anteil am Jahresend-Ertrag. Sie sind für das Gedeihen des Betriebs ebenso mitverantwortlich wie der Betriebsleiter. Dieser hat jedoch, wie in den einzelnen Häusern die Hausmütter, die besondere Verantwortung für das Ganze des Betriebs und hält seine Mitarbeiter über dessen Zusammenhänge auf dem Laufenden. Er hat auch die Rechnungsführung seines Betriebs in der Hand.

Neu eintretende Siedler können als Probesiedler oder Gastsiedler eintreten. In beiden Fällen erkennen sie den der Siedlungsverfassung zugrund liegenden Gesellschaftsvertrag durch Unterschrift an und verpflichten sich, die Lebensführung der Siedlung zu befolgen. Probesiedler sind grundsätzlich auch am Ertrag beteiligt, also nicht angestellt. Sie erhalten außer der freien Station einen festen Betrag als vorläufig nach unten und oben begrenzende Vorwegnahme des voraussichtlichen Jahresertrags gutgeschrieben. Diese Gutschrift gilt deshalb nicht als Lohn oder Gehalt, und der Probesiedler ist sowenig wie der Vollsiedler versicherungspflichtig. Von dieser Gutschrift können Auslagen für notwendige Bedürfnisse über die freie Station hinaus (kleines Taschengeld, Kleidung, Bücher, Musik usw.) je nach Lage der Verhältnisse und nach vorheriger Verständigung mit dem Betriebsleiter bestritten werden. Wenn irgendmöglich sind sämtliche Bezüge in Verrechnung durch die Siedlung zu betätigen. Der Rest bleibt als unverzinslicher, aber wertbeständiger Anteil am Betriebskapital stehen und kann nach etwaigem Ausscheiden in jeweils festzusetzenden monatlichen Raten zurückgefordert werden. Die Probezeit dauert je nach Einzelfall ein halbes bis zwei Jahre.

Alle übrigen auf der Siedlung weilenden Menschen, seien es nun Dauergäste (Pensionäre), Erholungsgäste, für besondere Aufgaben gerufene und angestellte Hilfskräfte oder ungerufen zu uns kommende Helfer, sind Gastsiedler. Die wirtschaftliche Stellung der Gastsiedler wird jeweils durch besondere Abmachungen geregelt. Liegen solche besonderen Abmachungen nicht oder noch nicht vor, dann handelt es sich in jedem Fall um Gastverhältnisse, schlicht um schlicht, bei denen jedoch von Seiten der Siedlung im Hinblick auf ihre harte Wirtschaftslage von den Gastsiedlern selbstverständliche, vorbehaltslose Mitarbeit vorausgesetzt wird. Das trifft natürlich nicht für zahlende Gäste des Erholungsheims zu.

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91. »Besuche ...«

Besuche [auf dem Vogelhof] bitten wir dringend nur nach vorheriger schriftlicher Abmachung und unter Spendung eines Gastgeschenks [....] zu machen. Besuche sollten möglichst mitarbeiten. Hamstern muß mit Rücksicht auf den Ruf der Siedlung streng vermieden werden.

 

 

92. »Auszug aus unserer Hausordnung«

Die Arbeit beginnt um 5 Uhr früh auf dem Feld, im Garten, am Bau, in der Hauswirtschaft. Um 6½ Uhr ist Frühstückszeit, um 12 Uhr findet das Mittagsmahl, um ½ 7 Uhr Abendessen statt.

Die Gemeinschaftsstunde dient gemeinsamer Musik oder der Besprechung von Fragen, die uns bewegen, und von Meinungsverschiedenheiten oder Reibungen, die ausgetragen werden müssen. Vor oder nach jeder Mahlzeit wird etwas Anregendes oder Erbauliches gelesen. 

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Besuche beteiligen sich an der Arbeit oder entrichten ein den Verhältnissen entsprechendes Taggeld. Die Arbeit wird von den Gruppenleitern verteilt, denen nach geschehener Verteilung unbedingt Folge zu leisten ist. Die allgemeinen Regeln der Hausordnung betreffen 1. strengste Einhaltung der Zeiten, 2. sorgfältigste Reinlichkeit und Ordnung, 3. brüderlichen Ton (bei allem, was man tut und sagt, an den andern denken und ihm über Schwierigkeiten und Fehler hinweghelfen), 4. »Jede Arbeit sei dir Bruderdienst und Gottesdienst.«

 

92. Stadt und Land

a. »Das Große am Bauernwerken«

Das Große am Bauernwerken und -wirken hat sogar bis heute trotz aller Versicherungen und vorheriger Rentabilitätsberechnungen u. ä. noch nicht ganz umgebracht werden können. Und das ist dies, daß der Bauer gläubig Arbeit und Saat in die Scholle legen muß und trotzdem nirgends ein verbrieftes und einklagbares Recht auf den sicheren Ertrag seiner Arbeit und seiner Aufwendungen hat und bekommt. Er muß dankbar hinnehmen, was da wächst und gedeiht und muß oft noch an Erntearbeit mehr aufwenden, als der ganze, vielleicht gar verhagelte oder verseuchte Jahresertrag wert ist. 

Da macht das Gesetz der Rentabilität sogar stille Halt. Das ertragen unsre Bauern als gewohnte Spannung. Der eine dumpf und fast unbewußt, der andere bewußt und königlich und dazwischen wieder einer auf die oder jene Seite neigend. Anders ging es uns Städtern, die Lohnarbeiter geworden waren bis fast in die letzte Faser. Wir waren gewohnt, fest umgrenzte, vertraglich gewährleistete Ansprüche zu machen. Dazu kam noch bei fast allen die körperliche Umstellung. 

Wir mußten erkennen, daß Landarbeit von Tagesgrauen bis zur sinkenden Nacht einen Körper braucht von Stahl und Eisen und dazu zum Wartenkönnen auf das Sichtbarwerden des Erfolges oder auch Nichterfolges eine Seele und ein Herz diesem Körper gleich. Weit und groß und unverzagt. Und das alles mußten wir neuen Bauern vom Vogelhof erst lernen und uns erwerben. Da reichten die Kräfte trotz allem guten Willen meist nicht aus, und bis auf wenig Ausnahmen zerbrachen an dem, was notwendig war, die Menschen, die bei uns waren, oder die, die Lücken füllend, aus dem damals noch fast unerschöpflichen großen, lebendigen Kreis der Jugendbewegung zu uns kamen.

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Zu diesen mit der Arbeit an der Scholle unlöslich verbundenen Forderungen und Spannungen kamen noch viele fast gleich schwere Nöte, die aus dem begonnenen Werk und den dabei beteiligten Menschen herauswuchsen. Freunde, die bisher aufeinander gebaut hatten, verstanden einander auf einmal nicht mehr. Denn es ist etwas ungleich anderes und Schwereres, gewissermaßen an einem schweren Pflug gemeinsam freiwillig ziehen und die gegenseitigen Schwächen erleben und ertragen zu müssen oder aber der in einer Maschinenfabrik, jener in einem Büro und der dritte wieder als Student je in verschiedenen Sielen stehend, einander zu kennen in einigen wenigen froh gespannten Stunden und allenfalls noch in tiefem persönlichen Leid.

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Da fehlt das Kleine und Fressende, das jeder mit dem Werktagsgewand ablegt und nach Möglichkeit zu Hause läßt, wenn er zu Nestabenden und »feinen Stunden« geht. Für uns war (und ist es teils heute noch) aus uns selbst heraus die schwere Aufgabe zu lösen, die der Kapitalismus mit der Knute des Aufsehers und im modernsten Sinne mit der Knute des laufenden Bandes und dahinterstehend der Entlassungsdrohung brutal und einfach löst. Es ist der Gedanke und die Aufgabe der »Werkgemeinde«, die mit der Gründung von Siedlungen (ob Landbau, Gartenbau oder Handwerk) vor uns Menschen stand mit einem vorher nicht für möglich gehaltenen Pack an Schwierigkeiten und Nöten. 

Auch daran zeigte sich, wie gemeinschaftsfern wir alle waren und wie sehr es der Stadt schon gelungen war, uns in lauter »Einzelne« zu zerteilen und möglichst auch für jeden gleich eine Spezialaufgabe zu erfinden, in die sich jeder dann auch tüchtig verrannt hat. Dadurch nur ist das Volk und die Masse so hilflos zu erhalten, daß sie gegen die Macht des Kapitalismus nichts Geschlossenes mehr ins Feld zu stellen vermag. Denn bis alle »selbständigen« Menschen geeinigt sind, hat der Wolf sein Schäfchen längst verzehrt.

 

b. »Kärgliche Verhältnisse«

Nun mußte die Umstellung vom Stadtmenschen zum Land- und Werkgemeindemenschen noch erfolgen unter kärglichsten Verhältnissen. Außer dem notwendigsten an Nahrung für 30 Menschen konnte unsre Scholle nichts hergeben. Unser Gartenbau gab in den ersten Jahren keine Erträge, die sich im Küchenzettel deutlich bemerkbar machten. Auf diesem Gebiet waren wir alle Anfänger bzw. Theoretiker. Und soweit Praxis vorhanden war, mußte eine große Umstellung und Anpassung an unsern Boden und unser Klima erfolgen. Das galt auch für die Landwirtschaft und unsern bescheidenen Obstbau, zu dessen rascherer Ausdehnung das Geld ebenso fehlte, wie zu einer intensiveren Bewirtschaftung des Landes überhaupt. Dazu waren oft die Arbeitskräfte für Garten und Land völlig unzureichend, weil Menschen und Tiere vom Hausbau völlig absorbiert wurden (wir hatten Jahre, in denen gar nichts oder fast nichts an Wintersaaten in die Erde kam und auch nicht eine Furche von der notwendigen Ackerarbeit nach der Ernte geleistet werden konnte) und wieder andere oft entscheidende Saat-,

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Pflege- oder Erntestunden auf das Wälzen der aus unsrer Gemeinschaft herauswachsenden Probleme verwandt werden mußten. 

Die Führenden und Tragenden der Siedlungsgemeinde waren deshalb von Herzen dankbar, wenn die oft als eintönig und nicht menschenwürdig geschmähte Nahrung, bestehend aus Kartoffeln und Getreidespeisen in allen nur denkbaren Zubereitungsarten wenigstens zureichte. Wenn ich heute gelegentlich alte Küchenaufschriebe in die Hand bekomme, dann muß ich selbst den Kopf schütteln. Man muß sich deutlich vor Augen halten, daß wir in den Jahren 1921 bis 1925 keinerlei Ausfuhr an Werten hatten (außer gelegentlicher Arbeitskraft) und die schon immer knappen Erträgnisse reichten kaum zu für den Kreislauf innerhalb der Siedlungsgemeinde und des Betriebes selbst. Alle Zukaufe (mancherlei konnten wir eben bei bestem Willen und Können nicht selbst erzeugen) mußten gemacht werden aus den hin und wieder aufgenommenen Darlehen von Freunden unsrer Sache. Diese Darlehen stellten den damit teilweise in Geld umgewandelten Aufwand an eigenen Arbeitswerten beim Bau der Gebäude dar. In erster Linie mußten aus solchen Geldern jedoch die Baustoff- und Handwerkerrechnungen bezahlt werden. Und oft reichten die Mittel dazu nicht einmal aus und der Zukauf des Notwendigsten zur Nahrungsergänzung blieb oft unter dem Mindestmaß. Unsre Kleidung bestritten wir in der Hauptsache aus alten auf die Siedlung mitgebrachten Beständen und aus geschenkten getragenen Kleidern. Die Anschaffung neuer Kleidung wurde manchesmal und dies nicht nur aus Geldnöten ein »Siedlungsproblem«. Unsre Ansprüche an Kleidung waren jedoch immer sehr bescheiden, besonders im Sommer, in dem wir am liebsten im Licht-Luftkleid herumliefen, wenn uns nicht böse Nachbarn das versalzten. Trotz allen Nöten waren wir ein meist frohes Völklein, das aus dem Lauf der Natur bald gelernt hatte, daß die Sonne trotz aller Wolkenberge und Unwetter doch immer da ist.

 

94. »Junge« gegen »Alte«

a. [....] Bedenken [der Jungen]: Ist nicht unsere dringendste Aufgabe jetzt die rasche Verwirklichung der Siedlung, die Beschaffung eines Gutes? [....] Die Frage ließ ein starkes Drängen »heraus aus der Not« der Widersprüche, die der »neue Mensch« im »alten Leben« empfindet, erkennen, zeigte aber auch, daß in diesem Drängen der Gemeinschaftsgedanke nicht genügend beachtet wurde.

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Es klang ein störender Gegensatz zwischen »Jungen« und »Alten« durch die Arbeit hindurch, der in zweierlei begründet schien. Erstens darin, daß die Jugend der Meinung war, die »Alten« wollten die praktische Arbeit verzögern. Das ist durchaus unzutreffend. Ich hatte zum Ausdruck gebracht: »Die Gemeinschaft ist noch nicht reif.« [....] Es können zunächst nur kleine Kreise ans Siedeln denken. Die Jugend hat von ihrer Not gesprochen. Wir haben sie in vollem Maße anerkannt und mitempfunden. Aber stehen wir Älteren denn nicht in der gleichen Not? Und empfinden wir sie weniger stark? Diese Not bindet uns ja zusammen, nur darf sie uns nicht beherrschen, sonst besteht die Gefahr des Drängens [....] Im übrigen haben wir [....] nichts versäumt, um ein geeignetes Gut zu finden. 

Unsere Bemühungen waren aber erfolglos, teils wegen der ungenügenden Geldmittel, teils wegen der ungenügenden Lage [der Projekte]. Zweitens darin, daß wir »Alten« zu papieren, zu schulmeisterlich seien. Die Jugend will das Leben unmittelbar erleben, will keine Richtlinien irgend welcher Art (Erlösungswege usw.), will nichts Gedrucktes und Geschriebenes, empfindet das als Belehrung, als eine Beengung des Lebens und Erlebens [...]

Niemand ist es schmerzlicher als mir, daß ein solcher Gegensatz zwischen Jugend und Alten entstehen, ja daß man davon überhaupt reden konnte.

 

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Das heiß drängende Erleben der Jugend und das Werden des Neuen in der Jugend tragen auch wir Alteren noch als Sehnsucht in uns. Auch wir drängen heraus und wollen einen »völligen Bruch mit dem alten Leben«; auch wir kennen die Welt von Diefenbach und Fidus12a, sonst hätten wir uns nicht mit der Jugend zusammengefunden, sonst wäre der Ruf zu einer solchen Siedlung überhaupt nicht ausgegangen. [....] In uns Älteren lebt das Sehnen nach wahrer Gemeinschaft, die uns bisher nur ein »Fern-Erleben«, ein mittelbares Erleben war, so stark wie in der Jugend, weil wir uns in einer Umwelt, der das Neue so völlig fremd ist, bitter einsam fühlen und weil unser Leben reich an Enttäuschungen gewesen ist. Aber die Gemeinschaft muß von selbst wachsen, und Vertrauen zu verlangen, wo die Voraussetzungen dafür noch ungenügend sind, ist eine unbillige Forderung.

[....] Aus dem Verlauf der Verhandlungen erwähnte ich noch folgendes: Hans Reichart und Fritz Jaquet redeten von der Not der Jugend und ihrem Weg: Drang nach körperlicher Arbeit und Boden. Wilfried Busse klagte, daß die Jugend in Not und Gemeinheit nicht mehr wachsen könne, sondern zu Grunde gehe [....]12b

b. Gegen die von Dir [Friedrich Scholl] zuletzt erstrebte Umkehrung des ganzen Siedlungsaufbaues und Eingliederung der Siedlung in die Schule wehrten wir uns mit allen Kräften, weil wir nicht nur ein Anhängsel eines Schulbetriebes sein wollten, sondern weil wir den Werkgemeindegedanken, in dem auch die Schule vollständig Raum hatte, für richtiger hielten. Leider fanden wir bei Dir für unser Denken und Fühlen sehr wenig Verstehen [....]

 

12a Karl Wilhelm Diefenbach und sein Schüler Fidus drückten das Lebensgefühl dieser Jugend am besten aus: Körperkultur (Licht, Luft, Sonne, Nacktheit, Beschwingtheit) und kosmisches Pathos verbanden sich zu einer Weihekunst, in der die völkische Gemeinschaft ebenso einen Platz hatte wie der Wunsch nach sexueller Erlösung.

12  Reichart und Busse gehörten zum Runheimer Kreis, der bereits einen Anfang mit Siedeln gemacht hatte und sein jugendbewegtes Drängen und seine Opposition gegen die »Alten« am 9./19. Eiser 1921 in einem »Ruhe-Brief« zum Ausdruck brachte. Sein Verfasser - Willo Rall - wurde stark beeinflußt durch den »Wanderprediger« Gusto Gräser.

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Der Zusammenbruch des ganzen Siedlungsaufbaues durch das Schließen der Schule [1938] zeigte mit aller Deutlichkeit auf, daß das Fühlen und Denken und Streben von uns Jungen das Richtigere war. Für uns war der Beginn der Siedlung vorweg die Weiterführung unseres schon vorher bestehenden Wirtschaftslebens­zieles: Erarbeitung und Erringung einer tatsächlichen irdischen Heimat für uns und unsere teils schon bestehenden und teils noch zu gründenden Familien. 

Wir waren bereit, allereinfachstes Leben und Not auf uns zu nehmen, dieses Ziel in innerlich sauberer, wenn auch härtester Arbeit auf der Scholle zu erkämpfen. Wir gaben aussichtsreiche Stellungen [Spitze gegen Scholl, der sich durch den Verbleib im Staatsschuldienst den Anspruch auf ein Ruhegehalt erworben hatte!], die uns bequemer zum Ziele geführt hätten, ohne Bedenken auf, denn wir wußten und fühlten, daß nur die Rückkehr aufs Land die Erreichung dieses Zieles ermöglicht. 

Selbstverständlich war uns Jungen auf diesem Wege die eigene, saubere und rauschgiftfreie Lebens­führung und das Miterstreben einer unserer Lebensauffassung entsprechenden Volks- und Wirtschaftsführung [wichtig]. Doch erhofften wir bei diesen Zielsetzungen mehr von der lebendigen Ausstrahlung gesund aufgebauter und gesunderhaltender Kleinzellen als von Werbung und Propaganda. Wir berichteten deshalb auch lieber dankbar von Erreichtem anstatt für Geplantes mächtig zu werben. Sicher hat auch Letzteres seine volle Berechtigung. Doch setzt dies in der Regel das Erreichthaben des ersten Fundamentzieles voraus. [....] Aus dieser verschiedenen Rangordnung unserer im Gesamten und Einzelnen völlig gleichen Zielsetzungen wuchsen wohl die meisten unserer Siedlungsnöte und -Spannungen heraus.

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95. »Weizen-Währung«  

 

a. »Nullenwährungszeitalter«

Dem Nullenwährungszeitalter 1922/23 gaben wir auf dem Vogelhof schnell den Abschied und führten eine eigene Währung auf Weizengrundlage ein. 1922 schon boten wir den mit uns in Verbindung stehenden Geschäftsleuten und Handwerkern die Weizenrechnungsgrundlage an. Einige nahmen dies, wenn auch kopfschüttelnd an. Andere lachten uns aus. 1922/23 gaben wir zur Beschaffung von Bau- und Betriebsmitteln unsre Hellauf-siedlungsbriefe (H.S.B.) auf Weizen lautend aus. Auf dieser Basis haben wir mit der wiederkehrenden Festwährung auch alle Freundesdarlehen voll aufgewertet.

b. »Vogelhofer Währung«

Eine rege Aussprache ergab sich auch über die Vogelhofer Währung, die auf dem Weizenwert aufgebaut ist. Der Wert eines Pfundes Weizens gilt hier eben gleich 1 Teut (T); 1 T = 100 Kreuzer (+). [Das Verhältnis der Reichs-Mark zum »Teut« wurde Ostern 1923 mit 10:1 angegeben.]

 

96. »Deutsches Erbübel«

a. »Revisionsverband«

In diesen Jahren [um 1923] versuchten wir noch mit viel Mühe und Arbeit all die vielen Siedlungen in deutschen Landen zu einem Revisionsverband zusammenzuschließen. So verwandt jedoch alle uns und auch untereinander waren, so litten doch alle zu sehr am deutschen Erbübel »Eigenart« und das brachte alle Mühe und alle Pläne zum Scheitern. (Und auch fast die Mehrzahl der Siedlungen selbst. Denn das Gesagte galt und gilt auch für die andern Siedlungen und ihre einzelnen Menschen ebenso.)

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b. Ein Beschluß

[. . .] fand eine Beratung mit den Vertretern auswärtiger Genossenschaften und Siedlungen (Koburg und Graz) statt. Das Ergebnis war ein Beschluß, an weitere verwandte Vereinigungen und Genossenschaften heranzutreten, um zunächst einen Verband zur Wahrung gemeinsamer Belange und Erfüllung gemeinsamer Aufgaben zu schaffen. Die weiteren Verhandlungen sollen bei der Pfingsttagung in Weimar stattfinden13.

c. »An alle Siedlungs-, Wirtschafts- und Werkgemeinschaften!« Schon oft ist versucht worden, die im Gemeinschaftsgeiste arbeitenden Vereinigungen enger zusammenzuführen, innerlich und äußerlich. Wirtschaftlich schon stehen dem allerhand Schwierigkeiten entgegen (Erzeugnis-Austausch infolge Entfernung meist unwirtschaftlich; wirtschaftlich stärkere Vereinigungen meiden 'wirtschaftliches Zusammengehen mit schwächeren oder unbekannten usw.). Wir glauben nun aber doch einen Weg zu sehen, der alle in Frage kommenden Vereinigungen zu praktischer Zusammenarbeit führen kann: Bei der an Ostern stattgehabten Genossenversammlung der Hellauf-Genossenschaft beschlossen die Vertreter der unterzeichneten Vereinigungen, an alle anderen in unserem Sinne arbeitenden Siedlungs-, Wirtschafts- und Werkgemeinden mit dem Vorschlag heranzutreten, einen gemeinsamen Revisionsverband zu schaffen, der dann die Grundlage eines engeren Zusammengehens bilden könnte (Wahrung und Förderung der gemeinsamen Belange vor Behörden und Öffentlichkeit; später gemeinsame Bank usw.); denn durch die Revisionen, die ja für alle Genossenschaften gesetzlich vorgeschrieben sind, würde sich ein besserer Einblick in die Grundlagen und über die Art der Wirtschaftsformen und der Bewirtschaftung der einzelnen Inseln ergeben, der zunächst zu einem regen Erfahrungsaustausch, dann aber auch zum engeren Zusammenschluß richtungsgleicher Gruppen führen kann. Wir bitten nun alle in unserem Sinne arbeitenden Vereinigungen, sich zu diesem Plane zu äußern und bestimmte Vorschläge zu machen. Da es bis jetzt keine Stelle gibt, die über eine umfassende Anschriftensammlung aller in Frage kommenden Vereinigungen verfügt, so teilt

 

13)  Fortschritte wurden auf dieser Pfingsttagung des »Bundes für deutsche Lebenserneuerung« (Weimar 20.-22. Mai 1923) offenbar nicht gemacht, denn im Protokoll heißt es lediglich: »Neben diesem geistigen Zusammenschluß soll auch ein wirtschaftlicher in die Wege geleitet werden, der als »Wirtschaftsbund« alle Siedlungen u. a. wirtschaftliche Unternehmungen der Erneuerungsbewegung zusammenfaßt und den Untergrund für die Durchführung der neuen [Weizen-] Währung bildet. Die Vorarbeiten dafür sind von Hans Reichart schon in Gang gebracht.«

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uns bitte solche mit, die euch bekannt sind, damit wir diesen Aufruf an sie weiterleiten können. An Ostern wurde vorgeschlagen, die Gründung des Verbandes für Pfingsten vorzusehen (Weimar). Die Siedlung Habertshof, die inzwischen auch ihre Beteiligung zugesagt hat, weist aber darauf hin, daß bei manchen Vereinigungen Pfingsten durch eigene Tagungen belegt sind, so daß wohl besser der erste oder zweite Sonntag nach Pfingsten in Frage kämen. Macht auch über Zeit und Ort (Habertshof ladet nach Schlüchtern ein) eure Vorschläge; die endgültige Festsetzung wird dann unter möglichster Berücksichtigung aller Wünsche erfolgen und allen mitgeteilt, die sich zur Teilnahme und Bereitwilligkeit melden. Über die Sache selber glauben wir kein weiteres Wort verlieren zu müssen. Schreibt nun sofort eure Vorschläge, sendet eure Satzungen oder Veröffentlichungen, ferner eine Aufstellung der euch bekannten Vereinigungen an Siedlung Vogelhof, Post Hayingen, Württ.!

Heil unserem gemeinsamen Werke! Am 1.4. 1923.

Im Auftrag der Siedlungs- und Erneuerungshaus-Genossenschaft, e. gem. G.m.b.H., Koburg:

gez. Karl le Maire. »Hellauf« gemeinnützige eingetragene Siedlungs- und Wirt-schaits-Genossenschaft m. beschränkt. Haftpflicht:

i. A. gez. Hans Reichart.

 

d. »Siedlungs-Liste«14

1. Siedlung Bergfried, Söllhuben, Oberbayern.

2. Siedlung Blankensee, bei Strelitz, Mecklenburg.

3. Siedlung Frankenfeld.

4. Haus Asel, Post Herzhausen b. Cassel.

5. Siedlung Donnershag bei Sontra in Hessen.

6. Siedlung Lichtland Springe.

7. Siedlung Loh[e]land.

8. Klappholttal auf Sylt.

9. Siedlung Brieselang-Lindenhof bei Nauen (Berlin-Nordbahn).

10. Siedlung Wust bei Brandenburg/Havel.

11. Sonnenhof Worpswede [Leberecht Migge].

12. Heinrich Vogeler, Worpswede.

 

14 Sie führt offenbar die für den Revisionsverband vorgesehenen Mitglieder auf. Unbekannt ist, welche dieser Siedlungs- und Werkgemeinden dann tatsächlich bei dem folgenden Treffen auf dem Habertshof vertreten waren.

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13. Landsassen, Hans Albert Förster, Leipzig, Königstr. 11.

14. Märkischer Bergfried, Gg. Eckert, Berlin W 15, Uhlandstr. 40.

15. Hellauf-Siedlung Vogelhof, Post Hayingen, Württ.

16. Siedlung Habertshof, Elm Kr. Schlüchtern.

17. Neue Schar, Dresden-A., Güterbahnhofstr. 3.

18. Siedlung Moorhof, Kurt Ortlepp, Hamburg 27, Vierlän-derstr. 6 a.

19. Siedlung Jungborn, Hameln.

20. Siedlung Lichtland, Bücksburg.

21. Wirtschaftsbund Soest i. W., Hch. Dolle.

22. Kleinsiedlungsamt des Dt. Vereins für ländliche Siedlung, Berlin-Steglitz, Treitschkestr. 15.

23. Berhard Jansa, Neudietendorf b. Erfurt.

24. Reichsgegenzinsbund, Grundhof bei Dollerup, Schleswig.

25. Nordisches Sekretariat, Zepernick b. Berlin.

26. Schaffersiedlung Bergedorf bei Hamburg, Ernst Mantiusstr. 5 (Karl Weissleder).

27. Wirtschaftsbund Sanatorium Lehmrade Post Mölln in Lauenburg.

28. Freie Schulgemeinde Wickersdorf bei Saalfeld.

29. Siedlung Struppen bei Pirna (Arthur Zinke).

30. Siedlung Heimland.

31. Deutsche Werkgemeinschaft Göttingen.

32. Bund der Werkgemeinschaften, Berlin-Wilmersdorf, Sigma-ringerstr. 16.

33. Hanse, Wirtschaftsstelle Dt. Jugendbünde GmbH, Spandau.

 

e. »Grenzenlose Solidarität mit anderen Siedlungsunternehmen«? 

Max Zink unternahm die Gründung eines Verbandes einiger aus der Jugendbewegung hervorgegangener Siedlungen. Deren Delegierte tagten bei uns [auf dem Habertshof]. Erich Herrmann alarmierte mich mit der warnenden Frage: »Weißt du, was vorgeht? Sie planen einen Verband, in welchem wir für die Schulden der andern haften sollen.« Wir forderten von Max Zink eine sofortige Besprechung mit uns beiden Vorstandsmitgliedern. Zink bestätigte, es sei geplant, dem Vorstand dieses Siedlungsverbandes ein unbeschränktes Umlagerecht auf alle Mitglieder zu erteilen. Wir, Erich Herrmann und ich, weigerten uns, unsere Unterschrift unter einen solchen Pakt zu setzen. 

Damit war die Situation für Zink gegenüber den Vertretern der andern Siedlungen sehr peinlich. Die Beschränkung seiner persönlichen Verfügungsgewalt über den Habertshof trat zutage. Gerade diese Vollmacht aber beanspruchte er und rief darum am selben Abend alle ständigen Siedler zusammen. Er erklärte: »Ich habe den Habertshof seinerzeit gekauft. Ich weiß, was ich damit gewollt habe. Ich trage die Idee der Siedlung in mir. Ich fordere das Recht, den Habertshof zu führen und ihn nach außen zu vertreten.« Erich Herrmann und ich blieben hart. Der Anspruch eines Einzelnen auf absolute Führungsgewalt vertrug sich nicht mit der proklamierten Gemeinschaft. Als Vorstandsmitglieder wußten wir uns der Genossenschaft Habertshof gegenüber verantwortlich. Eine grenzenlose Solidarität mit andern Siedlungsunternehmen erachteten wir als unsern kommenden Ruin. Es blieb bei unserer Weigerung, in den eben auf Habertshof gegründeten Siedlungsverband einzutreten. Ich habe in meinem Leben kaum je solch heftiges Herzklopfen wie an jenem Abend gehabt.

 

97. »... der bleibe uns fern« 

Allen denen, die gerne zu uns kommen möchten, wollen wir recht deutlich vorher sagen: Wer sich der Sache nicht ganz, unter Verzicht auf eigenes Wünschen und Bequemlichkeiten, widmen will, wer nicht schon in naturfroher und naturgemäßer Weise (frei von Fleisch, Alkohol und Tabak) lebt, wer nicht räumliche und wirtschaftliche Enge, ein Leben ohne Geld, zu ertragen vermag, wer nicht im Geiste der Jugendbewegung zu Hause ist, wer nicht von früh bis spät zu jeder Arbeit bereit ist, wer Menschen verschiedener seelischer Artung nicht mit liebevollem Verstehen zu ertragen weiß: der bleibe uns fern, er wird nicht zu uns passen, er wird es bei uns nicht aushalten, er wird uns nicht fördern sondern belasten. Wer aber hier nichts verdienen, sondern mit ganzer Seele dem Aufbau eines Werkes und der Erreichung eines hohen Zieles dienen will, der ist uns willkommen.

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