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Anarcho-religiöse Siedlung 

 

 

   Sannerz   

221-240

Ländliche Siedlungen haben eine lange christlich-schwärmerische Tradition. Ihre Stärke erwies sich in Deutschland erneut nach dem Ersten Weltkrieg, als sich Christentum, Sozialismus und Jugendbewegung verbanden. 

Die christliche Brüderlichkeit erhielt damit einen durchaus revolutionären, sozialen Bezug; und dieser »religiöse Sozialismus« gewann enthusiastischen Schwung durch eine christliche (genauer: evangelische und quäkerische) Jugendbewegung, die in der Krise der bürgerlichen Frömmigkeit und eines am Staat orientierten Christentums die Sehnsucht nach einer neuen Religiosität, nach einem radikalen Christentum verspürte. 

Anders als die jugendpflegerischen christlichen Vereine äußerte diese christliche Jugendbewegung das Verlangen nach einer Neugestaltung von Gesellschaft und Kirche. Unter allen jugendbewegt-christlichen Gruppen war es wiederum die »Neuwerk«-Jugend, welche sich mit der sozialistischen und pazifistischen Bewegung (Nähe zu den Quäkern!) solidarisierte und als einzige kirchliche Gruppe ihre Ziele nicht nur über Jugendarbeit, sondern in Siedlungen zu verwirklichen suchte. Denn die Lebens- und Arbeitsgemeinschaft schien ihr der rechte Ort für eine vertiefte Erziehung und eine Verwirklichung von Brüderlichkeit und Menschlichkeit (»aktives Christentum«).

Die charismatische Gründerfigur dieser Bewegung war der ganz und gar unbürgerliche Theologe Eberhard Arnold, für den die Forderung der Bergpredigt, der anarchistische Pazifismus Tolstojs und der Verwirklichungssozialismus Gustav Landauers gedankliche Grundlagen seiner Arbeit wurden. 

Ein unbedingtes Leben aus dem Geiste der Urgemeinde, die vorwegnehmende Verwirklichung des Reiches Gottes in dieser Zeit schienen ihm durchaus im Bereich der Möglichkeit zu liegen. 

Auf dem ersten Schlüchterner Pfingsttreffen 1920 gründete er nicht nur die Neuwerk-Bewegung — der »Aufruf zur Urgemeinde« des »Neuwerkes« war allerdings vor allem von Georg Flemming und Otto Bruder (das ist Otto Salomon), einem späteren Sannerzer, ausgegangen —, sondern faßte nach Bekanntschaft mit der Siedlung Habertshof auch die Absicht zur Siedlungsbildung in der Nähe des kleinen hessischen Ortes Schlüchtern, der nicht nur ein in der Reformation evangelisch gewordenes Kloster besaß, sondern Wohnort des Dorfschullehrers Georg Flemming war. 

Dieser rief 1919 zusammen mit Pfarrer Otto Herpel den demokratisch, religiös-sozial und pazifistisch ausgerichteten <Christlichen Demokraten> ins Leben, später genannt <Das Neue Werk. Der Christ im Volksstaat>. Flemmings Stube wurde »die stille Mitte« der Neuwerk-Bewegung.

Emmy und 
Eberhard Arnold:

 

detopia: 

E.Arnold  

G.Landauer  

L.Tolstoi 

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E. Arnold war zunächst ein größeres Haus in Schlüchtern innerhalb der Klostermauern angeboten worden, noch mehr liebäugelte er mit der Absicht, die alte Ansiedlung des Grafen Zinzendorf auf dem Herrenhag bei Büdingen wiederzubeleben. Doch die mangelnden Geldmittel zwangen ihn schließlich dazu, kurz nach der Pfingsttagung in Schlüchtern mit einer kleinen Gemeinschaft nach Sannerz (bei Schlüchtern) zu ziehen, wo sie nach vorübergehend knappster Einschränkung in einigen Zimmern im Hinterhaus einer Gastwirtschaft noch im gleichen Jahr ein Haus mit Grundstück pachten konnten. 

So war der Anfang der Siedlung auch hier bescheidener als die Pläne. Landwirtschaft und Gärtnerei wurden mehr schlecht als recht betrieben. Jedoch kam <Das neue Werk> unter der Mitherausgeberschaft von Arnold nach Sannerz, jetzt mit dem programmatischen Untertitel <Ein Dienst am Werdenden>. 

Neben der Zeitschrift wurde der »Neuwerk-Verlag« als Genossenschaft aufgebaut. Dann wurde die aus der sozialen Verpflichtung erwachsene Absicht realisiert, elternlosen Kindern auf der Siedlung eine Heimat zu verschaffen. Propagandistisch aktiv waren die Sannerzer besonders in der Jugendbewegung (neben den Schlüchterner Pfingsttreffen wirkten sie durch ihr Buch <Die junge Saat; Lebensbuch für eine Jugendbewegung> und die <Sonnenlieder; Lieder für Naturfreunde, Menschheitsfriede und Gottesgemeinschaft>15) und in der internationalen Friedensbewegung. 

Von der bescheidenen Wirklichkeit der Siedlung hoben sich die schwärmerischen Visionen ihrer Gemeinschaft als einer zellenhaften Verwirklichung des Reiches Gottes um so leuchtender ab.

Mit dem Abklingen der apokalyptischen, weltverwandelnden Erregtheit nach dem Weltkrieg kam es schon 1922 zur Spaltung der Neuwerk-Bewegung (auf dem Wallrother Pfingsttreffen). 

15)  Die Siedlung Sannerz wurde auch manchmal »Sonnherz« genannt. — Die schönsten Sonnenlieder hatten Otto Bruder (d. i. Salomon) zum Verfasser, den bedeutenden christlichen Laienspieldichter (>Ein Spiel vom heiligen Franz, wie das Wort zu ihm kam<. Schlüchtern/Habertshof 1924; >Himmelsschlüssel. Ein liebend mütterlich Märchenspiel. Schlüchtern/Habertshof 1924; >Christofferus<. Legendenspiel. Schlüchtern 1925).

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Die »theologische«, unter Einfluß Karl Barths stehende Richtung vertrug sich nicht mit der »aktivistischen« um Arnold, und die Mehrheit der Jugendlichen wollte eher eine sozialreformerische Mitarbeit an den Institutionen als Arnold, der Kirche und Dogma fernstand und auf die Verwirklichung der radikal gedeuteten christlichen Botschaft der »Bergrede« im realen Lebensvollzug hinarbeitete. So schieden die anarcho-religiösen Sannerzer als spiritualistische Minderheit aus der die Versöhnung mit der Welt suchenden Neuwerk-Bewegung aus.

Im gleichen Jahr 1922 kam es über wirtschaftliche Probleme auch zur inneren Krise der Sannerzer Siedlung, die mit der Liquidation des Verlags und dem Abzug der meisten Siedler endete; der größere Teil der Bücher wurde zusammen mit der Zeitschrift vom neuen Zentrum der Neuwerker auf dem Habertshof bei Schlüchtern übernommen. (Der Versuch von Heinrich Schultheis, nach dem Weggang von Sannerz eine eigene Siedlung aufzubauen, scheiterte.)

Zurück blieb aber Arnold mit sieben Getreuen. Nach einer schwierigen Übergangszeit wuchs schließlich ihre Gemeinschaft wieder. 1924 erhielt sie auch ein neues Organ mit <Die Wegwarte. Monatsschrift der Weggenossen, des Freideutschen Werkbundes und des Sannerzer Bruderhofes>. Auch der Buch-Verlag (»Eberhard-Arnold-Verlag G.m.b.H.«) blühte auf und wurde das finanzielle Rückgrat der Siedlung. Landwirtschaft, Gärtnerei und Handwerk wurden ausgebaut, und die betreute »Kindergemeinde« (1927: 23 Kinder) wuchs zusammen mit der für sie eingerichteten Schule.

Als 1926 der alte Pächter dem »Bruderhof« kündigte, wollte Arnold zunächst unter Aufgabe der Landwirtschaft in der Nähe einer Großstadt ein größeres Gebäude mit Gartengrundstück mieten (schon 1919 hatte er ursprünglich nicht an eine ländliche Siedlung, sondern an ein »Settlement« im Berliner Großstadt-Slum zur geistigen und sozialen Betreuung der Armen gedacht16). 

Doch dann griff er zu, als günstig der Sparhof in der Rhön (Gemeinde Veitsteinbach) erworben werden konnte und gründete hier 1927 den »Rhön-Bruderhof«. Die durch den Kauf eingetretene hohe Verschuldung führte zur Anlehnung an die Mennoniten; damit wandelte sich schon ab 1927 der Charakter des Bruderhofes: er verlor seinen anarcho-religiösen Charakter (1927 Einführung einer eigenen Ordnung), nachdem schon in Sannerz der Übergang vom undogmatischen Spiritualismus zum Täufertum (Erwachsenentaufe) erfolgt war.

16)  Die englische Settlement-Bewegung hatte in der deutschen Jugendbewegung mit der Gründung des »Charlottenburger Siedlungsheims« in Berlin durch einen studentischen Kreis um Ernst Joel 1913 Fuß gefaßt.

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1930 schloß sich die Arnoldsche Gemeinde den Hutterischen Brüdern in Amerika an und gewann damit die reale Verbindung zu der schon immer betonten ideellen Ausrichtung an einer vierhundertjährigen Tradition christlichen Gemeinschaftslebens17). Die Siedlung nannte sich jetzt »Neuwerk-Bruderhof der Hutterischen Brüder«.

Der »Rhön-Bruderhof« wuchs ständig — so stießen in den dreißiger Jahren Kräfte aus dem Züricher »Werkhof« (einer Gründung von Leonhard Ragaz) und aus der religiös-sozialen Siedlung Ziegelwald in Eisenach (unter Führung von Bernhard Jansa) hinzu. Schon vor der Schließung dieser Gemeinschaft durch die Nationalsozialisten 1937 — zwei Jahre nach Arnolds Tod — begann das Ausweichen der Bruderhöfler ins europäische Ausland, bis ihr Weg sie schließlich bis nach Süd- und Nordamerika führte. Einer Rückkehr nach Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg war nur ein zeitweiliger Erfolg beschieden (Sinntalhof bei Bad Brückenau). Neben den Kibbuzim wird in den Bruderhöfen ein weiterer internationaler Ableger der Gemeinschaftssiedlungen der deutschen Jugendbewegung faßbar, der bis heute am Prinzip der Gütergemeinschaft festhält und — zusammen mit den Hutterischen Brüdern — etwa 25.000 Mitglieder umfaßt.

 

     Dokumente:    

 

98.   »Stimme des Geistes«   

[.....] Die Erkenntnis des religiösen Sozialismus und der geistigen kommunistischen Gemeinschafts­forderung war der äußere historische Anstoß, der einige von uns in den Jahren 1918 und 1919 auf den Weg des gemeinsamen Lebens drängte. Innerlichst waren wir von Anfang an davon überzeugt, daß alle Gemeinschaftsversuche zum Scheitern verurteilt sind, soweit sie nicht den Geist der Bergpredigt und der Urgemeinde in sich tragen. 

17)  Nicht alle Brüder waren mit dieser Entscheidung einverstanden. So heißt es in einem Brief an den Verfasser: »1929 waren alle Türen weit offen zum Hineingehen und Hinausgehen! Erst durch die Vereinigung mit den Hutterern sind die Türen verschlossen worden - leider! 1929 hatten die Formen Inhalt. Der Inhalt war wichtiger als die Form. Heute ist die Form zwar geblieben - aber der Inhalt ist gewichen!«

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In öffentlichen Vorträgen und offenen Abenden wurden wir in größeren und kleineren Kreisen suchender Menschen in das Erlebnis der Bergrede Jesus und der Urgemeinde hineingeführt, wie sie in den ersten Kapiteln der Apostelgeschichte zu uns sprach. Die völlige Hingabe als die völlige Liebe, die Gemeinsamkeit des Lebens, auch in allen äußeren Dingen, leuchtete uns als ein Weg auf, der uns zu den Menschen führen sollte, die damals so leidenschaftlich um Gemeinschaft und Gemeinsamkeit rangen und litten. Die Hauptsache ging uns schon damals als innerster Antrieb auf, daß wir in tiefster gemeinsamer Sammlung die Stimme des Geistes hörten, der allein Einheit in sich trägt [....]

 

99.  »Erweckte Jugend« der Nachkriegsjahre  

Die Ströme von Hunderten, die aus der Jugendbewegung aller Art durch unser Haus fluteten, brachten viel Chaos und Störung, aber ebenso viel positive Bewegtheit und tiefste Anregung mit sich. Was wir diesem Gesamterlebnis dieser erweckten Jugend verdanken, die besonders seit 1918, am stärksten in dem damaligen Freideutschtum und in der proletarischen Jugend, auf uns einwirkte, ist so tief und groß, daß hier nur darauf hingewiesen 'werden kann: Es war ein Ereignis, das nicht von Menschen herrührte, sondern vielmehr das damalige Menschentum auf die große Zukunft Gottes hin erschütterte.

 

100.  Christliche »Protestbewegung«  

[....] Was vorher von Einzelnen hier und da schon kürzere oder zum Teil längere Zeit vertreten oder gesagt worden war, das war jetzt gemeinsamer Kampfruf einer geschlossen vorstoßenden Front: Feindschaft dem Antigott Gold und seinem furchtbaren Gefolgsmann Krieg; — freiwillige Armut; — vollkommen freie Hand, nach dem Gewissen zu leben; — Leben aus dem Unbedingten heraus; — ein Müssen von oben her, auch gerade in der Sozialdemokratie; — immer in Bewegung bleiben; — Gemeinschaft mit jeder Gewissensregung, die sich irgendwie gegen Unrecht, Haß und Mammon erhebt; — Freiheit von jeder programmatischen Bindung; — Freiheit zum Dienst in der Liebe Christi; — missionarischer Auftrag, besonders in Gemeinschaft mit freideutschen und sozialistischen Kreisen; — Brüderlichkeit

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und gegenseitiges Vertrauen; — Zeugnis des lebendigen Heilands als des persönlichen Erlösers und als des einzigen Erfüllers aller Menschheitsideale; — das Nahekommen der ersten christlichen Gütergemeinschaft; — Glaube an das kommende Reich der Gerechtigkeit und des Friedens. 

Man könnte in diesen kurzen Anführungen unaufhörlich fortfahren, um das Drängen der gemeinsamen enthusiastischen Erwartung von allen Seiten zu zeigen. Oft schien diese Erwartung ganz nahe an manche freideutsche, pazifistische, sozialdemokratische, kommunistische und anarchistische Ideale heranzuführen, — und doch blieb sie immer von ihnen allen unterschieden, weil sie sich ganz auf Christus und sein Kommen, auf die Auswirkung seines Geistes richtete. Für diese Auswirkung war uns der Glaube gemeinsam: »Wenn man uns noch so überzeugend die Unmöglichkeit eines solchen Lebens, wie es die Bergrede darstellt, beweisen will: wir glauben dennoch das Unmögliche: Jesus verwirklicht das Reich Gottes.« [.....]

 

101.  »Das neue Leben leben« (Schlüchterner Pfingsttreffen 1920) 

Der Frage, die unbewußt hinter allem steht: Was sollen wir tun? — dieser Frage konnte endlich nähergetreten werden. Und es zeigte sich, daß der Gedanke der freien Siedlung auf kommunistischer Grundlage als unmittelbarste Auswirkung für das, was wir wollen, sich darbietet. Das neue Leben leben, nicht darüber reden und nicht durch Polemisieren gegen das alte Leben es hervorbringen wollen! Damit verbindet sich selbstverständlich der Gedanke der Volkshochschule auf dem Lande, wie er jetzt in vielen Köpfen sich entfaltet. Es wurde klar, daß dies Gebilde in der Luft hängenbleibt, wenn es sich nicht volkswirtschaftlich auf die Siedlung gründet.

 

102. Schritte der Verwirklichung (Schlüchterner Pfingsttreffen 1920)

In diesen Pfingsttagen 1920 faßte der Neuwerkverlag für die sich langsam um seine Mitarbeiter bildende Lebensgemeinschaft Fuß in Sannerz. Die innere Gewißheit für die Gütergemeinschaft und Arbeitsgemeinschaft, für die offene Tür und für die autonome Freiheit dieses Gemeinschaftslebens war dem werdenden Kreis bereits in Berlin-Steglitz [Kreis um Arnold während des Winters 1918/191918] geschenkt worden. In Sannerz sollten die ersten Schritte der praktischen gemeinsamen Arbeit gewagt werden.

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103. Christlicher Anarchismus

a. Mit dem Pfingsttreffen in Schlüchtern 1920 war eine Jugendgruppe gesammelt, die künftig den tragenden Kreis der Neuwerkgruppe darstellte, ein Kreis der sich freilich im Laufe der Jahre mannigfach verändert hat. Als Otto Herpel von der Schriftleitung des Blattes [>Das neue Werk<] zurücktrat, wurde von den Neuwerkfreunden Eberhard Arnold zur Weiterführung des Blattes gerufen. Er zog in das Schlüchtern nahe gelegene Dorf Sannerz, gründete dort den Neuwerk-Verlag und lebte mit seinen Mitarbeitern in Gütergemeinschaft. 

In der Gestalt Eberhard Arnolds fand das enthusiastisch-eschatologische Moment der Neuwerkbewegung einen markanten Vertreter. Er führte die Bewegung in scharfer Ablehnung von Staat und Kirche einen ausgesprochen christlich-anarchistischen Weg. Die nächsten Jahre brachten für Neuwerk eine Ernüchterung, die kirchlich-evangelischen Elemente traten in Gegensatz zur extremen Führung der Bewegung. Unter ihnen Georg Flemming, der stets die maßvolle kirchliche Richtung vertrat und in seiner Person den Kreis Neuwerks immer stark zusammengehalten hat. Die reformatorische und die täuferische Linie hoben sich schärfer als bisher von einander ab und brachten in ihrem Auseinanderlaufen eine Krise ins Neuwerk.

b. Die Darstellung kommt der Wahrheit erstaunlich nahe. Die Charakterisierung als »Gütergemeinschaft«, als »täuferisch« und als »enthusiastisch-eschatologisch« und als »extrem« entspricht völlig unserem innersten Anliegen. Auch von scharfer Ablehnung des Staates und der Kirche durch die Sannerzer Führung der Neuwerk-Bewegung kann man mit gutem Grunde sprechen (obwohl wir damals leider allzu sehr mit kirchlich Gebundenen zusammenwirkten), so daß es begreiflich ist, wenn Emil Blum von einem »ausgesprochen christlich-anarchistischen Weg« spricht, auf den Sannerz »geführt« hätte. 

18)  Beeinflussung durch die »Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost«, einem von Friedrich Siegmund-Schultze 1911 gegründeten Settlement.

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Nur bedürfen alle diese Worte aufs dringendste einer näheren Erklärung, welchen Radikalismus dieser extreme Weg meint, welche Gruppe des Täufertums nämlich, welche Christlichkeit, und welche Art von Anarchismus gemeint war. Die Notwendigkeit und [die] von Gottes Gerichts-Macht wirklich gewollte Geschichtlichkeit des Staates haben wir nach Römer 13 stets auch durch die Steuer anerkannt, beteiligten uns damals sogar an staatlichen Aktionen, nämlich an Wahlen, was wir heute nicht mehr tun [.. .]

[Es ist von größter Bedeutung,] daß diese Ernüchterung einer ins tiefste erregten Bewegung durch evangelisch-kirchliche Elemente, durch den Einfluß einer maßvoll kirchlichen Richtung eintrat, daß also 1922 Neuwerk wie Habertshof von der Kirche in die Hand genommen, gut kirchlich wurden. Das war der Sinn der ganzen Krisis für Schlüchtern und den Habertshof.

 

104. Christlich-radikale Lebensgemeinschaft (1920)

[...] Am Montag wanderten wir [....] von Büdingen nach Herrenhaag. Unterwegs erzählten wir uns von der wunderbaren mystischen Linie, die durch die Jahrhunderte hindurch dieses Stückchen Land unter den besonderen Einfluß Gottes gestellt hat. In seltsamer Schwingung hat Gottes Geist immer wieder in der Wetterau Bewegungen ausgewirkt, die in revolutionärer Befreiung und religiöser Geistestiefe eine weittragende Bedeutung hatten. Im 13. Jahrhundert war der Herrenhaag durch Zisterzienser besiedelt, später durch Inspirierte, Täufer und Sektierer aller Art. 

1736 ließ sich Graf Zinzendorf, aus Herrnhut verbannt, mit seiner wandernden »Pilgergemeinde« auf der Ronneburg und auf dem Herrenhaag nieder. Fünfzehn Jahre lang erstrahlte der Herrenhaager Berg in den häufigen Illuminationsfesten der enthusiastischen, lebensbejahenden Epoche der Brüdergemeinde. Hier war die sogenannte Sichtungsperiode der Brüdergemeinde, die von der späteren gesetzlichen Gesetztheit so scharf verurteilt wurde. Es war eine Jugendbewegung mit dem 1727 geborenen Christian Renatus von Zinzendorf an der Spitze, eine Jugendbewegung, die alles offen, unbefangen und natürlich aussprechen wollte und »keinen Kopf mehr, nur noch Herz« haben wollte. Ihnen war das Leben der Christen ein Fest. Auch wir wollen Freudengemeinschaft und Arbeitsgemeinschaft.

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Handelt es sich doch darum, daß unsere religiössoziale Bewegung und unsere frei von Christus bewegte Jugend auf gemeinsame Arbeit und Siedlungsgemeinschaft hindrängt. Wir brauchen ein Lebenszentrum auf dem Lande, in welchem wir wandernden Gruppen eine schöne Bleibe bieten und in welchem "wir zugleich einen engeren Zusammenschluß verschiedener Arbeitsgruppen [gedacht ist an Baugemeinschaft, landwirtschaftliche Arbeitsgemeinschaft und Verlag] zu produktivem Schaffen und gegenseitigem Güteraustausch herbeiführen. Es handelt sich um eine Lebensgemeinschaft, die Arbeitsgemeinschaft, Tischgemeinschaft, Gütergemeinschaft und Glaubensgemeinschaft sein soll.

[....] Die Einkünfte sämtlicher Angestellter aus dem Neuwerk-Verlag, also auch mein Gehalt, fließen ebenso "wie die Einkünfte aus der Baugemeinschaft und aus der landwirtschaftlichen Arbeitsgemeinschaft in eine gemeinsame Kasse, die von zwei tüchtigen Finanzleuten und Verwaltungsmenschen [....] verwaltet wird f. . .] Ferner würde unsere Gemeinschaft aus dem [eigenen] Pachtgut so gut wie alle Lebensmittel beziehen. Auch unsere Kleidung würde innerhalb unserer Lebensgemeinschaft ohne Geldverkehr hergestellt und in Ordnung gehalten werden. Es handelt sich hier also um ein kleines Beispiel einer kommunistischen, von Christus und seinem Geist geleiteten Lebensgemeinschaft, die in produktiver Arbeit der Gesamtheit dient. Die Räume unserer Häuser wollen wir für die Bewegung offen halten und besonderen pädagogischen Zwecken widmen [....]

Aus der Geschichte der Gemeinde Gottes geht es ja hervor, daß es in der Brüdergemeinde, in Kornthal, in Täufergemeinschaften, unter den Quäkern, bei Jean von Labady, in Rußland, in Palästina und noch sonst oft zu solchen Lebensgemeinschaften gekommen ist, wobei es unwesentlich ist, welche Form der kommunistische Gemeinschaftsgedanke angenommen hat. Wir sind von dem Glauben durchdrungen, daß heute der lebendige Christusgeist darauf drängt, daß wieder zahlreiche kleine Brennpunkte entstehen, in denen nicht nur Versammlungsgemeinschaft und Erbauungsgemeinschaft, sondern wirkliche Lebensgemeinschaft und produktive Arbeits- und Berufsgemeinschaft zu finden sind. Selbstverständlich ist die entscheidende Frage die nach den Menschen, die eine solche Gemeinschaft bilden. Sicherlich werden nicht alle, die einmal zu uns kommen, dauernd bei uns bleiben können. 

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Aber wir sind gewiß, schon jetzt unter den von Christus ergriffenen Freideutschen, unter den zu Christus gezogenen Proletariern und unter den in Christus freigewordenen D.C.S.V.ern [Deutsche Christliche Studentenvereinigung] und Treubündlern solche Menschen zu haben, in denen die Liebe und der Gemeinschaftsgeist alle störenden und hemmenden Instinkte überwinden wird.

Das Wertvollste an unserm Zusammenleben wird sein, daß wir eine Erziehungsgemeinschaft sind, die durch den gemeinsamen Christusgeist getragen ohne Zwang und ohne gesetzliche Ordnung aus einem jeden das herausholt, was aus ihm werden soll und werden kann. Es werden viele Jugendliche bei uns teils dauernd wohnen, teils auf Wochen oder Monate zu Gast sein. Wir werden heranwachsende Kinder bei uns haben und eine neue Art Landerziehungsheim bilden, in welchem es nicht auf ein abzuarbeitendes Pensum ankommt, sondern vielmehr auf die lebendige Einführung in das geistige Erlebnis aller natürlichen, religiösen und kulturellen Zusammenhänge. Später muß aus den kunsthandwerklichen Erzeugnissen, die in Verbindung mit dieser Erziehungsarbeit entstehen werden, eine weitere Einnahmequelle erschlossen werden [.....]

Wir wollen uns bemühen, zunächst keinen zu großen Kreis zu bilden, um den Charakter der Siedlung mit etwa 40 zuerst Beteiligten so rein darzustellen, wie es mit uns, wie wir heute sind, jetzt möglich ist [....]

 

105. Geplanter Aufbau der Siedlung

Du weißt, daß sich uns der Aufbau unserer Siedlung in drei Arbeitsgruppen ergibt. Die erste eigentliche Urzelle der Siedlung ist und bleibt die landwirtschaftliche Gruppe; als zweite tritt die handwerklich arbeitende Gruppe der Maurer und Schreiner und Kunsthandwerker hinzu und die dritte, die literarisch-pädagogisch und sonst geistig arbeitende Abteilung. Es versteht sich von selbst, daß die handwerkliche und die verlegerisch und pädagogisch arbeitende Gruppe soviel wie irgend möglich auf dem Felde mitarbeiten will. In Zeiten, in denen es auf jede Hand ankommt, werden wir alles zurückstellen können und uns gleichsam als Hilfsarbeiter ganz der Landarbeit zur Verfügung stellen. Umgekehrt können wir in für die landwirtschaftliche Arbeit ruhigeren Zeiten dem gesamten Kreis aus dem Strom unseres geistigen Austausches mitteilen, können manchem auch auf diesem Gebiet eine befriedigende Tätigkeit oder Nebenbeschäftigung geben.

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106.  »Starker Eindruck«  (Schlüchterner Pfingsttreffen 1921)

[.....] So fuhren wir denn auf die Siedlung »Sannerz« bei Schlüchtern.

Unterwegs erklärte mir mein Begleiter, es sei »Jugendbewegung«, die sich da zu einer großen Pfingst-Tagung treffen werde. Ich wußte nicht, was ich mir unter »Jugendbewegung« vorstellen sollte. Gemeint waren wohl diese Leute, die für alte Ritterburgen schwärmten, eine »Kluft« trugen und auf dem Rücken Eßgeschirre und Klampfen mit sich herumschleppten.

Meine gespannte Erwartung wurde dadurch etwas herabgemindert, daß sich die Siedlung äußerlich als eine »Villa« entpuppte. Das Ländliche war durch zwei Kühe und eine Ziege dargestellt und einen liebevoll gepflegten Gemüsegarten. Ein jugendlicher Original-Proletarier war ebenfalls da. - Ich mußte an den Lindenhof denken.

Die Atmosphäre im Inneren der »Villa« dagegen versetzte mich in eine ziemliche Erregung. Vieles von dem, worum ich auf dem Lindenhofe vergeblich gerungen hatte, war hier mit müheloser Selbstverständlichkeit erreicht, und obwohl die Liebe und Brüderlichkeit der Siedler untereinander echter gewirkt hätte, wenn sie weniger stark betont gewesen wäre, so war dennoch die gemeinsame Schwingung der Seelen so stark zu spüren, daß ich beglückt davon mitgerissen wurde. Zudem machte Eberhard Arnold, der geistige Mittelpunkt dieser »Gemeinschaft im Sinne des Urchristentums«, einen starken Eindruck auf mich.

Unter dem Blick seiner klugen, fanatisch-dämonischen Augen fühlte ich die inneren Widerstände durch all seine Freundlichkeit hindurch. Ich sah wohl auch nicht gerade aus wie einer, der zur Erhöhung der Gemütlichkeit beiträgt. Aber die Verwandtschaft in Ziel und Gesinnung war zu groß, als daß wir voneinander hätten lassen können, und als ich ihm auf seine Frage, ob wir auch Decken mitgebracht hätten, lachend antwortete, wer auf der richtigen Spur sei, fände die Decken rechts und links am Wege liegen, war das Eis gebrochen.

Allmählich stellten sich die Pfingstgäste ein, und der Strom der festlichen Erregung wuchs von Stunde zu Stunde. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus über die Art dieser jugendlichen Menschen. Wie sie sich kleideten, wie sie unbefangen miteinander umgingen, wie sie in Selbstdisziplin ihre Decken empfingen und ihre Strohlager aufsuchten, wie sie sich unter frohem La-

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chen begnügten mit trockenem Brote und ein wenig Suppe aus dem großen Kessel, wie sie ihre Reigen tanzten auf der Wiese dahinten, wie sie barfüßig mit wehenden Haaren und hängenden Zöpfen dahinstürmten, wie ihnen die fromme Ergriffenheit aus den weitgeöffneten Augen strahlte — das alles stürzte traumartig, märchenhaft auf mich ein, als seien meine geheimsten Wünsche plötzlich lebendig geworden, und ich ging umher wie ein Trunkener.

Ich sprach nur wenig mit ihnen, aber wenn ich etwas sagte, nickten sie mit dem Kopfe und — verstanden mich. Das war mir lange nicht mehr geschehen.

So tat sich in einem Augenblicke der Gnade blitzartig die Ahnung von dem großen Gottesgeschehen der Jugendbewegung vor mir auf, und ich begriff, warum ich hierher geführt worden war.

Aber meine berauschte Phantasie hatte die Wirklichkeit wieder einmal in einer veredelten Verzerrung gesehen.

Als die sangesselige Romantik und die im Grunde harmlosbürgerliche, durchaus unrevolutionäre innere Haltung dieser Menschen mir immer deutlicher wurde, die Reigen aber und die Klampfenlieder kein Ende nehmen wollten, kam die Ernüchterung über mich, und ich stellte bei mir fest, daß mir diese Art von Christentum zu zahm sei.

 

107. Arbeitsethos  

a. Wie Pfarrer Emil Blum in Sannerz zur Handarbeit degradiert wurde (Ende 1921)

[. ..] besuchte ich Sannerz. Hier lebte Eberhard Arnold mit seiner Frau, zwei Schwägerinnen, mit dem Theologen Heinrich Schultheis und dessen Frau, mit Otto Salomon und andern jungen Mitarbeitern in gemeinsamem Haushalt. Er gab die Zeitschrift >Das neue Werk< heraus und führte einen kleinen Buchverlag. Gemäß dem Prinzip der »offenen Türe« galten Gäste immer als willkommen, hatten sich dabei aber an der Arbeit zu beteiligen. Diesem Grundsatz gemäß hackte ich stundenlang Holz. Der Metzgermeister -war gerade jenes Tages zum Schlachten des Hausschweines da und ließ beim Mittagstisch erklären, wenn ihm nicht nachmittags wieder wie vormittags geholfen werde, würde er bis zum Abend mit Wursten nicht fertig.

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b. »Arbeitsgemeinschaft«

Es gibt keine Gemeinschaft, die nicht Arbeitsgemeinschaft wäre. Die wenigsten, die im Laufe des Sommers auf unsere Siedlungen oder in unsre Hausgemeinschaften gekommen sind, hatten die Bedeutung dieser Wahrheit geahnt. Die Notwendigkeit täglicher harter Arbeit wird nirgends tiefer bewußt, als in einer solchen Siedlungs-Gütergemeinschaft. In Wahrheit kann niemand auch nur einen Tag ein solches Gemeinschaftsleben »miterleben«, der nicht seine ganze Kraft in die gemeinsame Arbeitsaufgabe drangeben will. Jede Arbeit, die wirklich Arbeit ist, führt in die Welt und ihre Not hinein. Sie wendet sich niemals von der Welt weg. Arbeit fordert praktische Einzelentscheidungen, Willensentschlüsse, bei denen auch der Verstand mit zu reden hat. Es handelt sich jetzt in unserer Bewegung um Mann-Werden, nicht zuletzt in diesem Sinne um Mensch-Werdung. Die meisten von uns sind noch zu wenig Männer, noch zu sehr Jungens, als daß sie schon immer auf die harten Anforderungen der Tagesfragen jene heiß ersehnten Antworten praktisch befreiender Arbeit finden könnten, die für die heutige Lage die Alten nicht mehr zu finden vermögen.

 

108. »Offene Tür«

Wir erkannten, daß unser Christentum nichts war im Vergleich zu dem der Urgemeinde. Was uns allen bewußt wurde, setzte Eberhard Arnold in die Tat um, indem er seine gesicherte Stellung in Berlin aufgab und auf dem kleinen Hof in Sannerz einen Mittelpunkt brüderlichen Lebens in Gütergemeinschaft schuf. Er hatte in seiner Arbeit als Studentensekretär erlebt, wie viele Menschen den Weg zur Kirche nicht fanden. Seine Siedlung, in die ihm seine Frau mit 5 Kindern folgte, wollte nichts mehr sein als »eine immer offene Tür« für die vielen, eine geistige Heimat suchenden Menschen dieser Zeit.

Ich erlebte, wie verschieden die Menschen waren, die den Weg dorthin fanden. Für die meisten war es nur Durchgangsstation. Doch durften auch diese »Gäste« einmal erleben, welche Kraft der Liebe und der Zucht von einer Gemeinschaft ausgeht, deren Glieder, ganz hingegeben an Christus als den Mittelpunkt ihres Lebens, sich für einander und für alle einsetzen. Es war nicht Eberhard Arnolds Meinung, daß alle Neu-werker seinen Weg des Verzichtes auf eine bürgerliche Existenz und Besitz gehen müßten, wohl aber war er überzeugt, daß es in unserer materialistischen Welt seine Berufung war, ein Beispiel solch urchristlichen Zusammenlebens zu geben.

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Trotz der hohen Ideale war die moralische Verwirrung in der Jugendbewegung damals groß. Es gab z.B. eine Richtung, die aus Überschätzung der inneren Bindung Liebender auf jede äußere Bindung der Eheschließung glaubte verzichten zu sollen. Ein solcher Jüngling saß neben mir, als ich einmal in Sannerz war. Ich spürte ihm seine Bedrückung an und fragte Eberhard Arnold, was wohl mit ihm los sei. Eberhard erzählte mir, daß er ihm habe ins Gewissen reden müssen wegen solcher Anschauung und fügte hinzu: »Wo kämen wir hin in Sannerz, wenn wir uns da nicht leiten ließen von der Heiligen Schrift?« Nachher las ich im Gästebuch die Eintragung des jungen Mannes: Ich kam als Hans im Glück und ging als Hans im Leide. Möge er sich besonnen haben!

Ein andermal bediente uns »Karlchen« bei Tisch — ein älterer Mann. Er hatte eine weiße Schürze umgebunden und eine Kochmütze auf - eine seltsam vornehme Bedienung, wo nur ein Eintopf im Napf mit Blechlöffel gereicht wurde. Eberhard flüsterte mir zu: »Karlchen ist ein sehr geschickter, dienstwilliger >Bruder von der Landstraßen der immer im Winter zu uns kommt. Die weiße Uniform hat ihm geholfen, den Schmutz aus seinem Wanderleben abzulegen.« Karlchen mahnte auch stets die Gäste zum rechtzeitigen Aufbruch bei Abreisen — sonst ein schwacher Punkt in Sannerz.

Daß jeder seinen Gaben gemäß aufgenommen und eingegliedert wurde, erlebten wir einmal bei einem anderen Wanderer, der an einem Sonntagnachmittag, recht heruntergekommen, vorbeikam. Nach dem Abendessen eröffnete Eberhard: »Ein >Hofsänger< aus Berlin ist heute bei uns, -wir dürfen ihn jetzt hören«. - Vor unsren staunenden Augen stand der Bruder von der Landstraße auf, sauber gewaschen und gekämmt, in einem neuen Hemde und erzählte aus seinem Leben und sang und sang — wohl fast zwei Stunden —, niemand wäre hinausgegangen oder hätte gewagt, ihn zu unterbrechen, am 'wenigsten Eberhard — denn ein Heimatloser fühlte sich daheim!

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Anläßlich einer Konferenz stellten wir Eberhard Arnold die Frage, wie er bei seiner radikalen Bejahung der Bergpredigt und der Lehre Jesu allen Ansichten, Richtungen und Religionen gegenüber so tolerant sein könne. Seine Antwort geht lebenslang mit mir und hat mir schon oft geholfen. Er sagte: »Man muß nur weit genug zurückgehen. In der letzten Tiefe kommt alles Gute und Wahre, was Menschen je erkannt, gedacht oder gelebt haben aus der einen Quelle des Lichtes. Ihr den Weg zu bahnen, sind wir berufen.«

 

109. »Fasse Mut!« (Ermunterung Arnolds nach dem drohenden Auseinanderfall der Kommune 1922)

Fasse Mut! Wir dürfen das Kleine nicht mehr sehen. Das Große muß uns so ergreifen, daß es auch das Kleine durchdringt und verändert.

Ich habe wieder Mut und Freude für unser Leben; allerdings in der Gewißheit, daß es großen aber herrlichen Kampf kostet. Der Geist wird siegen über das Fleisch. Der Geist ist der Stärkere. Er überwältigt mich, Dich, einen nach dem anderen. Dieser Geist ist Güte und Unabhängigkeit, Beweglichkeit.

Unser Leben wird nicht enger sondern weiter werden, nicht umgrenzter sondern uferloser, nicht angeordneter sondern flutender, nicht pedantischer sondern großzügiger, nicht nüchterner sondern enthusiastischer, nicht kleinmütiger sondern -waghalsiger, nicht menschlicher und schlechter sondern gotterfüllt und immer besser, nicht trauriger sondern glücklicher, nicht untüchtiger sondern schöpferischer. Das alles ist Jesus und sein Geist der Freiheit. Er kommt zu uns. Deshalb wollen -wir uns über nichts grämen, allen alles vergessen, -wie uns alles vergessen werden muß - und strahlend vor Freude in die Zukunft gehen. Bleibet und wartet bis ihr ausgerüstet werdet mit der Kraft aus der Höhe!

 

110.  Beerdigung einer Protestbewegung  (1922)

[. . .] So hat es sich in Wallroth [Pfingsttreffen 1922] zeigen müssen, was sich innerhalb des Jahres ergeben hatte, daß sich auch in Schlüchterner Kreisen und in Neuwerkkreisen starke Verschiedenheiten des Ausdrucks und der Lebenshaltung aus demselben Geist herausbilden mußten. Auf der einen Seite sind starke Bedenklichkeiten gegen jede extrem revolutionäre Anwendung der Bergrede aufgestiegen; auf der anderen Seite wer-

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den ebenso starke Bedenken gegen jede Vergottung des menschlichen Denkens, gerade auch des theologischen Denkens, und gegen jede Ergebung in die Abhängigkeiten menschlicher Verhältnisse und Ordnungen geltend gemacht. Die so fromm scheinende Ergebenheit in die Gegebenheiten erscheint vielen von uns als ein Götzendienst, der sich damit zufrieden gibt, daß alles so sein muß, wie es ist. Die geschichtliche Erschlaffung der Revolutionsbewegung hat starke reaktionäre Tendenzen in Europa hervorgerufen. Sie hat nach unserem Eindruck auch für manche unserer Freunde als Rückwärtsbewegung gewirkt.

Diesem und jenem wird deshalb die Frage auftauchen müssen, ob sein Eingehen auf den Gewissensruf der Revolution vielleicht ebenso zeitgeschichtlich bestimmt war wie jetzt seine Betonung des Bleibenden und des Alten. Ich sehe vielfach eine Erschlaffung der Protest-Bewegung, die sich vom Überge-schichtlichen, vom Unbedingten her der Ungerechtigkeit, dem Haß und dem Gewaltsamen unter den Menschen entgegengestellt hatte. In Wallroth ist der Protest gegen Krieg und Kapitalismus, gegen die sklavische Unterdrückung der meisten Menschen durch eine Minderzahl anderer Menschen kaum hörbar geworden. Soweit er vereinzelt laut wurde, stieß er nicht überall auf starkes Echo. Der Neuwerk-Auf ruf zur Einheitsfront gegen die Übergriffe bevorzugter Menschengruppen, gegen die Hartherzigkeit der Satten und Reichen, der Ruf der hingebenden Liebe Jesu im Eins-Sein mit der Schuld und Not aller trat diesmal im Vergleich mit den früheren Pfingsttreffen zurück.

[. . .] als vorwärtsgetriebener Keil, als leidenschaftliche, fest zusammenhaftende Protestbewegung und unnachgiebige Geistesrevolution - ist die Schlüchterner Bewegung - als Ganzes -gestorben und in Wallroth beerdigt worden. Aber der Geist kann nicht getötet 'werden. Das Unbedingte erliegt niemals den Bedingtheiten [. . .]

 

111. »Entscheidende Wendung« (Trennung zwischen Arnold und Neuwerk 1922)

Auf dem Pfingsttreffen in Wallroth, nicht weit von Schlüchtern, im Jahre 1922 nahm die Entwicklung im Neuwerklager nach bewegten Auseinandersetzungen die entscheidende Wendung: [. . .] Eberhard Arnold und die Seinen folgten [. . .] dem ihnen

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zuteil gewordenen Auftrag, »immer wieder dieses Eine« - nach den Worten Arnolds - »so einseitig, so extrem, so radikal, wie es ihnen geschenkt ward, zu glauben und zu wagen; die Botschaft des lebendigen Christus und Seines Gerichts über unser tägliches Leben und Treiben aus dem immer wiederholten Antrieb zur Verwirklichung der Bergpredigt im praktischen Leben. « - Uns aber, deren Wege sich damals von denen Arnolds trennten, ging es darum, den Ewigkeitswert auch der zeitlichen Dinge inmitten der so andersartigen »Widerweit« in Ehrfurcht zu erfahren. Nicht »hier Zeit, dort Ewigkeit«, sondern Ewigkeit in der Zeit, das Reich Gottes schon hier beginnend — das suchten wir in der Jugend des Neuwerk.

 

112. Zwei Arten, Christ zu sein: Sannerz und Neuwerk-Habertshof

Damals ist schon der Grundunterschied deutlich geworden, der sich auch in dem verschiedenen Weg vom Habertshof und von Sannerz verkörpert.

Es handelt sich um zwei Wege christlicher Existenz, die sich beide gegenseitig anerkennen und die sich in ihrem Verhältnis zu Staat und Gesellschaft unterscheiden. Auf beiden Wegen wird es abgelehnt, im Sinne Spenglers oder Naumanns, den Gegensatz von Gottesreich und Reich der Welt unverbunden nebeneinander stehen zu lassen. Die Welt, wie sie ist, können wir nicht unmittelbar in den Leib Christi verwandeln. Es gibt nirgendwo (auch in den Siedlungen neuer Menschen) schon das Gottesreich, und die Siedlungen neuer Menschen leben ungestört dadurch, daß die Macht des Staates, durch Polizei und Gewalt und Ordnung des Rechtes sie vor zerstörenden Übergriffen schützt. Trotzdem hat der Versuch eines Lebens im Sinne Eberhard Arnolds oder der Quäker hinweisende Bedeutung. Der »symbolische Mensch«, wie wir dann in späteren Gesprächen zwischen Habertshof und Sannerz ihn genannt haben, hat die Bedeutung, die Vorläufigkeit der bestehenden politischen und gesellschaftlichen Ordnung vor Augen zu halten. Deshalb sein »Nein« zum Schwören, zum Kriegsdienst usw. - Der politische Mensch auf der anderen Seite geht ein in den bestehenden Lebenszusammenhang, in die bestehende Ordnung des Staates und der Gesellschaft und versucht innerhalb dieser Ordnung aus dem Geist Christi heraus zu kämpfen und zu wandeln. 

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Das bedeutet vielleicht in den meisten Fällen die Entscheidung zwischen zwei Übeln. Das innere Gerichtetsein auf das vollendete Gottesreich wird aber auch hier in keiner Weise aufgegeben.

Beide Arten Christ zu sein — so haben wir uns gegenseitig zuletzt verstanden - erkennen sich gegenseitig an, und wissen um ihre besondere Gefahr. Der politische Mensch ist in Gefahr, im Kampf um die Wandlung der Welt zu ermatten und gewissenlos und taktisch zu handeln. Der symbolische Mensch ist in Gefahr, seine Besonderheit als ungebrochenes Christsein gesetzlich und pharisäisch mißzuverstehen und den politischen Menschen als Christen zweiten Grades anzusehen. Beide sollten sich als Glieder der Gemeinde kennen, die in gleichem Kampf stehen und sich von der Gefahr frei halten, daß man einen im politischen Leben stehenden Christen für einen unaufrichtigen Kompromißmenschen, den symbolischen Menschen für einen Pharisäer hält.

Es würde zu weit führen, diese grundsätzliche Unterscheidung, auch an der Entwicklung der Rechtsformen der Siedlungen Habertshof und Sannerz zu veranschaulichen, die auf der einen Seite zu einer gemeinnützigen Genossenschaft, auf der anderen Seite zum »Bruderhof« führte.

 

113. »Der spezifische Auftrag des Sannerzer Gemeinschaftslebens«  

Wenn ich hier eine persönliche Anwendung machen darf, so wird sich naturgemäß der spezifische Auftrag des Sannerzer Gemeinschaftslebens immer schärfer herausarbeiten müssen. Die Solidarität mit dem Proletariat, mit den unterdrücktesten und gequältesten Menschen muß immer lebendiger hervortreten. Insbesondere haben wir diesen Menschen Heimatrecht und Arbeitsmöglichkeit zu schaffen, weil ihnen irgendwie Heimat, Lebensmöglichkeit oder Arbeitsmöglichkeit beschnitten ist. Es handelt sich um eine Menschwerdung der Menschheit, die eine besondere Aufgabe an den Kindern und an der Jugend bedeutet. Den Kindern eine freie, unter dem Einfluß des Geistes Gottes stehende Erziehung und Lebensausrüstung zu geben, die Jugend zu einer Erziehung untereinander, zu einer freien Erziehungsgemeinschaft aller Gemeinschaftsglieder zu führen und ihnen zu solider vielseitiger Arbeitsmöglichkeit tüchtiger produktiver Leistung zu verhelfen, wird eine unserer Hauptaufga-

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ben sein, wobei uns die bis heute so mangelhafte Verwirklichung nicht beirren kann. Die offene Tür soll für alle offen bleiben. Der Protest gegen die scheinbaren Vorzüge des Intellektualismus, des Reichtums aller Art, muß schärfer hervortreten als bisher. Die besitzlose Gütergemeinschaft und Freiheit von aller menschlichen Autorität wird immer brennender von uns ersehnt. Die Gemeinschaft mit den vielen ausgestoßenen oder sich selbst ausschließenden Menschen, die auf großer Fahrt zu uns kommen, soll immer lebendiger werden.  

 

114. Feuerlied  von   Eberhard und Emmy Arnold.

Strahle herab! Strahle herab! 
Sonne der ewigen Liebe, 
daß alle feindlichen Triebe 
sinken ins Grab, sinken ins Grab.

Feuer verzehrt! Feuer verzehrt! 
Alles dem Tode Geweihtes, 
Alle Gewalten des Neides. 
Feuer verzehrt! Feuer verzehrt!

Leuchtet empor! Leuchtet empor! 
Sonnen der glühenden Strahlen, 
Sterne unzählbarer Zahlen. 
Leuchtet empor! Leuchtet empor!

Brechet herein! Brechet herein! 
Kräfte der ewigen Gluten, 
Ströme der lodernden Fluten 
Weihe zu sein! Weihe zu sein!

Strahle herauf! Strahle herauf! 
Du auferstandenes Leben, 
Ewige Kräfte zu geben. 
Strahle herauf! Strahle herauf!

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