Evangelische Siedlung
Habertshof
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1919 erwarb der jugendbewegte Gärtner Max Zink den Habertshof (zu dem damals die Ausflugsgaststätte <Waldeslust> gehörte) bei Schlüchtern und gründete dort mit Gleichgesinnten eine Siedlung, basierend auf Gemeineigentum.
Die Wirtschaft sollte auf einem intensiv gärtnerischen Beeren- und Obstanbau fußen; 1920 kam eine Samenhandlung hinzu. Soziales Engagement war auch in dieser Siedlung spürbar, da die Zinks ein Kinderheim einrichten wollten, doch der 1921 begonnene Bau des Heims konnte aus wirtschaftlichen Gründen nicht vollendet werden.
Ein Jahr später wurde die Gründung in eine Genossenschaft umgewandelt. Es zeigte sich bald, daß die weltanschauliche Inhomogenität und die ungünstigen ökonomischen Bedingungen (kein richtiger Absatzmarkt für die gärtnerischen Produkte) die Siedlung so weit schwächten, daß diese 1922 durch innere Zerwürfnisse zerfiel.
Genau in dieser Zeit aber suchte die Neuwerk-Bewegung, die schon beim ersten Schlüchterner Pfingsttreffen 1920 mit dem Habertshof in Kontakt gekommen war, nach der Trennung von Eberhard Arnold und seiner Sannerzer Siedlung nach einer neuen Stätte. Nachdem Zink das Angebot der geschwächten Sannerzer abgelehnt hatte, mit ihnen zusammenzugehen, erklärte er sich bereit, den von Arnold abgegebenen Neuwerk-Verlag und die Zeitschrift auf seinem Hof zu übernehmen. Gleichzeitig traten der Schweizer Pfarrer Emil Blum und eine Reihe von Neuwerk-Anhängern in die Zinksche Genossenschaft ein.
Nach der Trennung von Arnold verlor die Neuwerk-Bewegung ihre schwärmerische Unbedingtheit. Der Ernüchterungsprozeß wurde schon durch die Titeländerung der bisherigen Zeitschrift <Das neue Werk> in <Neuwerk> manifestiert, durch die verdeutlicht werden sollte, daß nicht der Mensch, sondern nur Gott das neue Werk bewirken könne.
Unter der Führung Hermann Schaffts wandte man sich - nach Arnolds schwärmerischer Abseitsstellung - nun auch der evangelischen Kirche zu, innerhalb derer man sich gegen die Erstarrung und für den Aufbau einer lebendigen Gemeinde einsetzen wollte (»Kampf gegen die Kirche für die Kirche«).
Auch trat die ursprüngliche, nach der Revolution stürmisch einsetzende Umarmung des Proletariats zurück, das sozialreformerische Engagement wurde aber fortgeführt. Die Bewegung selbst, zu der ursprünglich auch proletarische Jugendliche gezählt hatten, akademisierte sich. Wie sehr der radikale brüderliche Gemeinschaftsgedanke entschärft wurde, sieht man am besten daran, daß Schafft kein Bedürfnis verspürte, sich der Siedlung anzuschließen.
Am deutlichsten erhalten blieb die sozialpädagogische und sozialpolitische Ausrichtung bei Blum, dem es freilich auf dem Hof nicht um Siedlung und Landarbeit, sondern um die Verwirklichung eines älteren Plans von Neuwerk zur Gründung einer ländlichen Volkshochschule ging. So betrieb er dort zielstrebig die Errichtung einer Arbeiter-Heimvolkshochschule. Während Arnold den Weg zur Lösung der sozialen Frage über kommunistische Siedlungen gesucht hatte, setzte der nüchterne Blum auf die verwandelnde Wirkung einer praktischen Arbeiterbildung. Die von der kapitalistischen Welt abgehobene brüderliche Lebensgemeinschaft Arnolds wurde hier von einer gegenüber der Welt und ihren Einflüssen offenen und zeitlich begrenzten Erziehungsgemeinschaft abgelöst.
Blum unterwarf die Zinksche Siedlung immer mehr dem für ihn vorrangigen Schulziel. Da es sich zeigte, daß Gelder, die für die Schule bestimmt gewesen waren, in die Siedlung flossen, statt dem Heim zugute zu kommen, gab er den verschiedenen Abteilungen der Siedlung — Landwirtschaft, Gärtnerei, Samenhandlung, Verlag, Verlagsbuchhandlung und Kinderheim — eine gewisse Selbständigkeit und verantwortliche Leiter und ab 1923/24 auch eine getrennte Kassenführung mit Rentabilitätsüberprüfungen.
Anstelle des religiös-anarchistischen Enthusiasmus von Arnold trat bei Blum das ökonomische Erfolgsprinzip. Zink, der die Verlagsleitung übernommen hatte und im Gegensatz zu Blum an der Gemeinwirtschaft festhalten wollte19), verließ schließlich 1925 mit seiner todkranken Frau die Siedlung, nachdem die Rentabilitätsprüfung 1924 ans Licht gebracht hatte, daß der Verlag stark verschuldet war. Die Dezentralisierung der Geschäfte wurde jetzt aufgehoben und Blum 1926 der alleinige Geschäftsführer der Siedlung.
19) Vgl. auch im Kapitel über den »Vogelhof« den Konflikt zwischen Zink und Blum über die Gründung eines umfassenden Siedler-Verbandes.
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Die ursprüngliche Gütergemeinschaft wandelte sich bald, sämtliche Mitglieder der Siedlung wurden zu gehaltsbeziehenden Angestellten, seit 1928 sogar mit einer Einkommensabstufung nach Leistung. Schließlich wurden von 1924 bis 1927, ebenfalls aus Rentabilitätsgründen, die verschiedenen Zweige der Siedlung nacheinander aufgegeben: 1924 die Samenhandlung, 1925 das Kinderheim, 1927 der Verlag, dann die Handelsgärtnerei. Schließlich mußte 1931 nach einer Mißernte auch die Landwirtschaft verpachtet werden.
Seit 1927 war die 1924 von Blum ins Leben gerufene Arbeiter-Heimvolkshochschule der Hauptzweig der Siedlung. Blum wollte zunächst eine »produktive Volkshochschule«, in der — wie etwa auch in Schwarzerden — die meist arbeitslosen proletarischen Kursgänger (Kursdauer drei Monate) ihr Schulgeld durch ihrer Hände Arbeit sich auf der Siedlung selbst verdienen sollten. Dieses Ziel konnte nicht verwirklicht werden, schon weil die städtischen Proletarier in der Landarbeit keine Erfahrung besaßen. Seit 1925 wurde die Schule durch öffentliche Zuschüsse und private Spenden finanziert; zur Bewahrung der Unabhängigkeit lehnte Blum die Unterstützung durch Parteien, Gewerkschaften oder Kirchen ab. Nachdem die Schule von 1924 bis 1927 hart um ihre Existenz hatte kämpfen müssen, schien ab 1928 ihre Zukunft durch einen Fördererkreis gesichert.
Wenn Blum auch von Arnolds Siedlungskommunismus abgegangen war (und dafür in der hier zum ersten Male in Auszügen veröffentlichten Schrift Arnolds über den Habertshof harte Kritik einstecken mußte) und mancherlei Zugeständnisse an die kapitalistische Umwelt gemacht hatte, hielt er dennoch am Ziel fest, durch seine pädagogische Tätigkeit den Boden für eine kommende sozialistische Volksgemeinschaft zu bereiten.
Er und seine Schule nahmen, bei Bindung an den evangelischen Glauben, Partei für die sozialistische Arbeiterbewegung. Die soziale Bildung orientierte sich am realen Leben der proletarischen Jugendlichen, wollte aber den Kapitalismus zunächst im Innern des Menschen selbst überwinden (»Arbeiterbildung als existentielle Bildung«). Verständigungsschwierigkeiten zwischen den proletarischen Schülern und der akademisierten Neuwerk-Bewegung blieben ebensowenig aus wie Konflikte zwischen Schule und Siedlung; ähnliche Differenzen zwischen dem Bildungs- und Produktionsbereich gab es auch auf dem Vogelhof.
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Die Weltwirtschaftskrise verschlechterte die finanzielle Lage der Schule. Ende 1931 verließ Blum die Siedlung, um sie wirtschaftlich zu entlasten. Sein Vertreter intensivierte die Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen durch die Abhaltung freiwilliger Arbeitslager; die »Freizeit für Erwerbslose« im November/ Dezember 1931 war einer der ersten Versuche dieser Art in Hessen überhaupt. Bald änderte sich der bisher demokratische Charakter der Schule, indem dort seit September 1932 Führungskader für den Arbeitsdienst ausgebildet wurden.
1933 fand in Schlüchtern das letzte Pfingsttreffen der zusammengeschmolzenen Neuwerk-Bewegung statt. Dabei wurde von ihrem Wortführer Schafft die Hoffnung auf eine gute Zusammenarbeit mit dem nationalsozialistischen Staat im Dienste des Volkes ausgesprochen. Im gleichen Jahr besetzte die Hitlerjugend das Heim. Dann wurde der Hof zwangsenteignet. Nachdem das Schulgebäude unter wechselnden Funktionen das Dritte Reich überdauert hatte, wurde es schließlich 1963 bei einer Katastrophenschutzübung absichtlich abgebrannt. In einem »Habertshöfer Kreis« ehemaliger Schüler und Freunde lebt bis heute der »Habertshöfer Geist« einer Lebensgestaltung aus christlichen und sozialistischen Idealen in der Erinnerung weiter.
Dokumente:
115. Edle Wilde (1919-1922)
a. Man lebte in den äußeren Formen auf das Allereinfachste; wurde doch das Ideal der Primitivität spürbar unterstützt durch den Zwang zur Sparsamkeit. Die Siedler des Habertshofes gingen vor Jahren schon ohne Strümpfe nach Schlüchtern, bevor die Mode dasselbe in Frankfurt und London gestattete. Bei der Feldarbeit trugen die Burschen nur die kurze, zu den Knieen reichende Hose und ließen sich die Leiber von der Sonne braun brennen. Kein Wunder, daß man in der Gegend die Siedler mit Staunen und etwas Mißtrauen betrachtete. Es konnte geschehen, daß der Religionslehrer im Städtchen Schlüchtern bei der Missionsstunde auf die Frage, wo es Wilde gäbe, zur Antwort erhielt: auf dem Habertshof, Herr Lehrer!
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Familie Maria und Max Zink
b. Unser soziales Werk ist im Entstehen begriffen! Kindern, die weder eine Heimat noch Eltern haben, eine Heimat zu geben. Nicht im Sinne bestehender Anstalten, sondern so, daß ein Kreis von Kindern seine »Mutter« erhält. Als »Mütter« sollen auch Mädchen ihre Lebensaufgabe finden, die ihre eigene Mutterschaft aus irgend einem Grunde versäumt haben und doch geborene Mütter sind. Die ersten beiden Kinder sollen im August [1920] aufgenommen werden. Wir wollen all unsere Kraft und Liebe für diese Menschlein einsetzen und den Ertrag der Siedlung. Unsere Gedanken - die vielen, die in der sozialen Arbeit stehen, so neu sind - werden überall mit Begeisterung aufgenommen. Dr. [Ferdinand] Avenarius hat uns sofort 300 Mark gesandt und den Aufruf im >Kunstwart< veröffentlicht. Ein Baptist [....] hat mir sofort 1000 Mark gestiftet, als ich ihm erzählte. Wir haben jetzt 2000 Mark. Ständig kommen mit der Post Gaben. Helft uns auch ein wenig durch Werbung für eine so wichtige Sache!
c. [....] Aber seit jenen Tagen ist es über mich gekommen, daß ich meinen Weg sehe, ein Weg, der bedingungslos derjenige Christi ist - ein Weg des Kreuzes, des Glaubens und der Liebe.
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Aber! Ihr kennt den Deutschen und wißt, daß er über dem Grübeln und Suchen das Nächstliegende vergißt, Aufgaben sucht und den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht. So gings uns auch auf dem Habertshof. Heute sind wir uns in der Auswirkung unsres religiösen Seins klar, heute, wo wir manches von der Eitelkeit abgelegt haben, etwas »ganz Besonderes« schaffen zu wollen. Und gerade diese Eitelkeit hatte es uns ja unmöglich gemacht, wirklich etwas für die Welt Außergewöhnliches zu tun. Wir wissen, daß es unsre Aufgabe ist, direkt und ohne Umweg über das geschriebene und gesprochene Wort den Menschen zu helfen. Nicht erst das Zeugnis durch das Wort geben und dann krampfhaft versuchen, darnach zu leben - sondern: leben und ganz aufgehen im Dienste für Gott und die Menschen; dann wird die Welt unser Zeugnis suchen; sie wird wissen wollen, woher wir die Kraft nehmen; dann wird unser Zeugnis auch nicht als eine Forderung aufgefaßt, die Opposition 'weckt, sondern als Evangelium, das Menschen ohne unsre Absicht überwältigt.
Stille sein und für das Reich Gottes arbeiten; demütig sein und mit Gottes Kraft wirken, die dem Demütigen geschenkt ist; arm sein und alles Irdische in sich und um sich überwinden, um dem Bruder und der Schwester viel schenken zu können. — Wir müssen Gott danken für die Kraft, daß wir trotz unsrer großen äußeren Armut, die uns in schwachen, gottfernen Stunden auf die Erde drückt und trotz unsrer Armut an Liebe - daß wir trotz dieser Armseligkeit so manchem Menschen eine Hilfe sein dürfen - eine Hilfe für die Seele und für den Leib.
Demütig sein, auf daß Gottes Kraft und Herrlichkeit ungebunden und frei in uns wehen und durch uns wirken kann.
116. »Wille zur Gemeinschaft« (1919-1922)
Die Habertshöfer waren in jenen ersten Jahren von einem starken Willen zur Gemeinschaft erfüllt. Der Gemeinschaftswille bildete neben dem auf Intensivbau und Schlichtheit der Lebensführung hindrängenden Siedlungsplan den zweiten Leitgedanken des Habertshofes. Entsprechend der in der Jugendbewegung damals weit verbreiteten Sitte wurde sogar jeder fremde Gast mit dem vertraulichen Du empfangen. Das Du unter den Mitarbeitern war ganz selbstverständlich und hat sich auch bis auf diesen Tag durchweg erhalten.
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Nach den Erzählungen der ersten Siedler wurden ursprünglich auch alle Arbeiten erst gemeinsam beraten. Der Landwirt erzählte, wie bei seinem Zuzug 14 Tag nach Erwerb des Habertshofes die Siedler bei der Morgensuppe lange berieten, welchen Acker man an diesem Tage unter den Pflug nehmen wollte. 1922 hatte sich schon der Grundsatz herausgebildet, daß jedem Haushalt und jedem Betrieb (Landwirtschaft, Gärtnerei, Kinderheim) je ein Mensch verantwortlich vorstand, der die einzelnen Maßnahmen von sich aus anordnete. Aber alle geschäftlichen Maßnahmen, die die ganze Siedlungsgemeinde betrafen, wurden auch noch 1922 in gemeinsamen Sitzungen jeden Samstag Abend besprochen. Die Aufnahme neuer Kredite, Ausgaben für neue Anschaffungen an Mobiliar oder landwirtschaftliche Maschinen, Gebäudeverbesserung, die Aufnahme neuer Mitarbeiter wurde im Gesamtkreis beschlossen [....]
[.....] Als sich in den ersten Jahren eine neue Ehe schloß und die Beiden ihren eigenen Hausstand forderten, erhoben die Anhänger eines absolut genommenen Kommunismus dagegen Einspruch und erklärten, die Gemeinschaft litte Schaden, wenn die Vermählten nicht an der gemeinsamen Mahlzeit teilnähmen. Der Jungverheiratete Landwirt hat dann seinen Willen doch durchgesetzt und solange es nötig war, sein Brennholz abends nach getaner Arbeit aus dem Wald geholt. Als Weihnachten 1922 die Siedler im unteren Häuschen nach der gemeinsamen Feier am Weihnachtsbaum auf dem Hof oben unter sich noch zusammensaßen und an einem eigenen kleinen Bäumchen Lichter ansteckten, wurde auch das von anderen als Versündigung am Geiste der Gemeinschaft erachtet.
Einen Gehalt erhielt keiner der Mitarbeiter. Der Gründer war bei Eröffnung der Genossenschaft zum Geschäftsführer gewählt worden und an ihn wandte man sich im Bedarfsfall, um ein Paar Schuhe oder was sonst nötig war zu erhalten. Er übersah die Kassenlage und bewilligte oder verweigerte je nachdem die geforderte Anschaffung.
Gemeinsam war die Kasse. Die Einnahmen waren gering und es gab verhältnismäßig wenig Meinungsverschiedenheit über deren Verwendung. In alten Protokollen läßt sich noch nachlesen, daß etwa heftige Debatten entstanden, als sich zeigte, daß irgend einer der Siedler Eier im Dorfe für sich gekauft hatte. Woher hatte er das Geld? Man erwartete doch, daß auch Spenden, die einer privat von seinen Angehörigen erhalten hatte, in die allgemeine Kasse gegeben wurden.
So war am Anfang ein weitestgehender Kommunismus versucht [....]
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117. »Gütergemeinschaft« (1922)
»Unsere Gütergemeinschaft«, schrieb einer [Max Zink] 1922, »stammt nicht aus Willkür [....] sie ist erwachsen aus der Not der Zeit heraus [....] erwachsen in dem Sinne, daß gegenüber einer Zivilisation, in der Arbeitgeber und Arbeitnehmer nur durch finanzielle Interessen mit einander verbunden sind, in der zwischen Hausfrau und Dienstboten das Geld maßgebend verknüpfendes Band ist, daß gegenüber einer Zivilisation, welche ungeheures Leid über die Welt gebracht hat, weil sie auf dem Profit des Einzelnen und seinem Erwerbskampf aufbaut, eine Sehnsucht nach gemeinsamem Leben in uns aufgebrochen ist. Eine Sehnsucht, die nicht Sehnsucht allein ist, sondern zur schaffenden Tat drängt, nicht nur Idee ist, sondern Realität will [.....] In dem Maße, als sich freie Formen von Gemeinwirtschaft innerhalb des kapitalistischen Systems bilden, werden volksverbindende Kräfte gegenüber den zersetzenden Gewalten des Profitsystems gestärkt und sind in irgendwelcher, uns heute noch nicht enthüllten Form Volksgemeinschaft fördernde Auswirkungen zu erhoffen.«
118. »Klein-Kommunismus« (1919-1922)
Die Käufer [des Habertshofes] und Anfänger waren Gärtner. Man kann durchaus nicht behaupten, daß sie zum Freideutschtum, wohl aber daß sie zur Jugendbewegung im Sinne der Lebensreform und der anzustrebenden Volksgemeinschaft gehörten. Die unnatürliche Zivilisation der Großstadt, das Geldleben und das Ichleben der vereinzelten Großstadtleute sollte verlassen sein, um in primitiver Einfachheit und Natürlichkeit eine Stätte der Gemeinschaft aufzubauen. Ein christlicher oder auch nur allgemein religiöser Beweggrund ist nicht erkennbar, wohl aber ein starker Trieb zu einem verbesserten Körper- und Seelen-Leben, zur vegetarischen, zur tabak- und alkoholfreien Lebensweise. Hierin wohl lag es begründet, daß die energisch angestrebte intensive Gestaltung der Landwirtschaft vorzugsweise gärtnerisch betrieben werden sollte.
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Aber man dachte für den Habertshof nicht an eine großzügigere Gemeinschaft, sondern nur an zwei bis drei Familien, die anstatt einer vorher einzigen Bauernfamilie dort ihren Unterhalt vom Acker und Garten her finden sollten. Der großzügige Gedanke eines Gemeindelebens für möglichst viele Menschen aller Berufungen tritt nicht hervor, wohl aber der Wille zur persönlichen Lebenserneuerung, zur individuell sozialen Gesinnung im Klein-Kommunismus und zur persönlichen Verwurzelung auf frischer Scholle mit intensiver Bodenkultur. So wurde denn für den gärtnerischen Aufbau vielerlei versucht, und man nahm bei diesen wechselnden Versuchen harte Entbehrungen für einen ernstgemeinten Neu-Anfang auf sich.
119. »Harter, steiniger Grund«
Mitten im Werktag haben wir zwei, Mutter und Vater, Dir in stiller Feierstunde einen Baum gepflanzt. An der großen Buche, die vielleicht schon bald fallen muß, steht der Kirschbaum auf hartem, steinigem Grund. Wir glauben, daß Dir das Harte auch nicht erspart sein wird. Vielleicht mußt Du auf ebenso steinigem Grund Dein Leben aufbauen, wie wir, obwohl Du zur ersten Generation gehörst, die frei ihr Leben bauen kann, uneingeengt von väterlicher Willkür und mütterlicher Affenliebe und nicht abgestumpft durch die Methodik einer veralteten Schule, aber hart im Kampfe mit philisterhafter Weltauffassung, altem Geist und Kapitalismus in jeder Form. Wir letzte Generation, deren Lebenswerk Stückwerk und deren Leben voller Zugeständnisse ist, hoffen auf Euch, daß Ihr unser Ziel mit Körper, Seele und Geist erfaßt und trotz aller Hindernisse ein gut Stück Weg dahin Euch hindurcharbeitet. Deshalb steht Dein Baum auf hartem steinigem Grund, und wir werden ihn wachsen lassen ohne Schnitt und ohne Dung auf reinem Boden. So sollst Du aufwachsen ohne all das Unreine, das Geist und Blut vergiftet. Nun "wachst und tragt reife Früchte.
120. Begegnung der »Schlüchterner Jugend« mit dem Habertshof (Pfingsten 1920)
Dieses Pfingsten 1920! Es war eine Hoch-Zeit der deutschen Jugend. Am Pfingstsonnabend strömten wir hinauf zum Habertshof. Es wurde ein großes Pfingstfeuer entzündet. Da war
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