Teil 3 Weltwirtschaftskrise
Die Rückkehr aufs Land
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<Das Land —: die Rettung der Jungen Generation>, hieß der programmatische Titel einer 1932 erschienenen bündischen Schrift.1 Darin wird die Siedlung in engsten Zusammenhang mit der durch die Weltwirtschaftskrise ausgelösten Arbeitslosigkeit gebracht. Der Gedanke der Siedlung selbst, so sagt der Verfasser, sei nicht neu — »neu ist nur die bittere Notwendigkeit, die die Intatsetzung verlangt«.
Habe man sich bisher in Deutschland darauf beschränkt, beim Siedeln an die Bauernsiedlung zu denken, d.h. dem ländlichen Siedler eine gesicherte bäuerliche Existenz zu gewähren, so gelte es jetzt, den aus der Industrie kommenden Erwerbslosen eine Lebensmöglichkeit zu verschaffen. Mit der Gründung von Stadtrandsiedlungen2) sei damit schon ein Anfang gemacht. Sei der Staat nicht mehr in der Lage, weiter die Arbeitslosigkeit zu finanzieren, solle er wenigstens Land und Material geben, damit die Arbeitslosen sich das Lebensnotwendige selbst schaffen können.
Eine kurzfristige wirtschaftliche Belebung und damit eine Wiedereingliederung der Erwerbslosen in die Fabriken sei dagegen weder durch Notverordnungen noch durch andere halbe Maßnahmen zu erreichen — ein Teil des Arbeitslosenheeres bleibe bestehen:
»Die Erkenntnis dieser Tatsache ist von ausschlaggebender Bedeutung; denn aus ihr erhellt, daß die führenden Ziele der Siedlung — Vermehrung der landwirtschaftlichen Produktion, die Stärkung des Bauernstandes, nationale Schutzmaßnahmen in den Grenzgebieten — von untergeordneter Bedeutung geworden sind. Heute siedelt man, um Menschen unterzubringen. Es handelt sich also um die Existenz des ganzen Volkes, und nur das Land bietet die Möglichkeit der Lebenserhaltung und eines neuen Aufstiegs.«
1) Hans von Thünen, Das Land, die Rettung der Jungen Generation. Erschienen in der Schriftenreihe >Neue Deutsche Generation, unter Mitwirkung der Schwarz-Silber-Gemeinschaft<, Stuttgart 1932. Der führende Kopf dieser Gruppe war Thomas Lerner in Münster (Sohn der katholischen Schriftstellerin Ilse von Stach). Lerner hatte in Münster etwa 30 Jugendliche und junge Männer um sich versammelt. Politisch ist er in der Richtung des »Tat«-Kreises anzusiedeln.
2) Auch der schon erwähnte soziale Siedlungsbau von Nikolaus Ehlen in Velbert während der Weltwirtschaftskrise verstand sich als Stadtrandsiedlung, wobei Ehlen die »Vollsiedlung« mit 2000 qm Land (Ernährung ganz aus eigenem Grund und Boden) bevorzugte, allerdings nach eigenen Erfahrungen nur 10 Prozent der Stadtmenschen für ein solches Siedeln für geeignet hielt.
Die Siedlung verlor in den dreißiger Jahren ihren agrar-romantischen Schimmer; sie schien zur bitteren sozial-politischen Notwendigkeit zu werden. So erinnert sich der sozialkritische Graphiker Carl Meffert (= Clement Moreau) im Rückblick auf Fritz Jordis »sozialistische« Künstlersiedlung Fontana Martina (1928-1933) am Lago Maggiore: »Unser Leben in Fontana Martina war sehr schön, aber wir lebten wie auf einer Insel.«
Und Jödi selbst konnte sich 1931 in seinem Gedicht <Die arbeitslosen Millionen> dieser neuen sozialen Wirklichkeit nicht entziehen:
In unsere Stille,
kaum gestört vom hochjagenden Seewind,
dringen die Schreie,
die ungeschrieenen Schreie
der auf die Straße gestellten
in Nichts starrenden
überflüssigen Heere der Industrie.Staatliches Handeln war deshalb jetzt verlangt, nicht lebensreformerische oder jugendbewegte Kleingruppen-Aktion, wenn diese auch als spontane Selbsthilfe im Stile von Willy Ackermanns Siedlung >Weißer Berg< weiterhin eine gewisse Berechtigung besaß.
Nicht daß der Staat früher als Adressat von Siedlungs-Appellen ausgespart worden wäre. Schon in den achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts waren Bodenreform-Organisationen entstanden, 1888 bereits ein »Deutscher Bund für Bodenbesitzreform« (Leitung Michael Flürscheim) und zehn Jahre später der »Bund deutscher Bodenreformer« (Vorsitzender der Lehrer Adolf Damaschke).
Die sozialreformerischen Bestrebungen dieser Bünde — die sich durchaus im Rahmen eines »Dritten Weges« zwischen Kapitalismus und Sozialismus hielten, erstrebte doch etwa Damaschke bei seinem Kampf gegen die Bodenspekulation die »innere Einigung« des deutschen Volkes — wurden propagandistisch bald in den Schatten gestellt durch die Siedlungs-Utopie des Wiener Journalisten Theodor Hertzka.
Sein Buch >Freiland< (1890) beschwor das »sociale Zukunftsbild« einer auf »Eigennutz« beruhenden, volltechnisierten und höchst produktiven »freien Association«, eine ideale marktwirtschaftliche Ordnung, die im Herzen von Afrika realisiert werden sollte. (Das individual-anarchistisch gefärbte Schlagwort vom »Freiland« wurde später von Silvio Gesells Freiland-Freigeld-Bewegung aufgenommen.)
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Als jedoch Hertzkas Unternehmen, das mit soviel schwärmerischen Hoffnungen ins Werk gesetzt worden war,3) 1894 ebenso kläglich fehlschlug wie ein wider bessere Einsicht von den deutschen Bodenreformern ins Werk gesetztes Konkurrenzunternehmen in Mexiko, traten die sozialreformerischen Gesichtspunkte wieder in den Vordergrund.4)
Wissenschaftlich untermauert wurde die Inlandssiedlung durch den Arzt Franz Oppenheimer (<Freiland in Deutschland>, 1894), der 1896 die »Siedlungsgenossenschaft« als den »Versuch einer positiven Überwindung des Kommunismus durch Lösung des Genossenschaftsproblems und der Agrarfrage« und damit als entscheidenden Beitrag zur Lösung der »sozialen Frage« (Verbesserung der Lage des »Arbeiterstandes als Ganzes«) anpries. Angeregt durch das Edener Vorbild begann er 1905 mit einer ersten Siedlungsgenossenschaft, die jedoch wie ein zweiter 1911 in Palästina unternommener Versuch bald scheiterte.
3) »Ich habe manchmal den Berliner Freilandverein besucht. Mit welcher Begeisterung wurde dort gehofft und geharrt! In fast religiöser Schwärmerei leuchteten die Augen, wenn man davon sprach, wieviel Geld man schon gesammelt und welche Vorbereitungen man für den Zug nach Afrika getroffen habe [.. .] Mit einem gewissen Mitleid sah man auf uns arme Menschen, die wir in der alten, verrotteten Welt weiterarbeiten wollten.« Adolf Damaschke, Aus meinem Leben. Bd. 1, Leipzig, Zürich 1924, S. 289.
4) Die »Auslandsiedlung« gewann aber seit der Weltwirtschaftskrise wieder an Bedeutung. Der Agronom und Siedlungsfachmann Johannes Schauff, Leiter der »Reichsstelle für Siedlerberatung« und seit 1932 MdR für das Zentrum, sah bald, daß neben der zögernden Umsiedlung von west- und süddeutschen Bauernsöhnen nach Osten die Auswanderung zu Siedlungszwecken eine Notwendigkeit war. Er arbeitete aus diesem Grunde eng mit der »Studiengesellschaft für die Siedlung im Auslande« (Vorsitzender war der ehemalige Reichskanzler Hans Luther) zusammen, die ihren Sitz ebenso wie die »Reichsstelle« und die »Siedlungsbank« am Leipziger Platz 17 in Berlin hatte.
Auf diese Weise konnten z.B. 13.000 wolhynische Mennoniten aus Rußland ausgesiedelt werden (»Aktion Brüder in Not«). Die Flüchtlings-Ansiedlung im Ausland wurde dann für die Siedlungsberater selbst aktuell, als Hitler an die Macht kam. Schauff machte 1933 zusammen mit Erich Koch-Weser, Hans-Schlange-Schöningen (der ehemalige von Brüning eingesetzte Leiter der »Osthilfe«) und Friedrich Wilhelm Lübke (Bruder des späteren Bundeskanzlers Heinrich Lübke) in Brasilien im Norden des Staates Paranä einen neuen Siedlungsanfang (Siedlung »Rolandia«, so von dem Bremer Bürgersohn Koch-Weser nach dem Bremer Rolands-Denkmal getauft). Schauff organisierte in enger Zusammenarbeit mit der brasilianischen Kolonisationsgesellschaft in den ersten Jahren des Nationalsozialismus eine fast legale Auswanderung politisch und rassisch Verfolgter von Deutschland nach Brasilien und ließ sich dann selbst nach seiner Flucht aus Hitlers Machtbereich 1939 in seiner brasilianischen Besitzung Santa Cruz (»Heiligkreuz«) nieder. Vgl. zu diesem wenig bekannten Aspekt der Weimarer Siedlungspolitik die drei Erlebnisbücher von Karin Schauff (u. a. brasilianische Gärten<) und den Filmbericht von Rudolf und Inge Woller, Freistaat Santa Cruz. Geschichte einer Auswanderung. Gesendet im ZDF am 2.1.1983.
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Trotzdem ist eine gewisse positive Bilanz dieser sozialreformerischen Siedlungsgedanken der wilhelminischen Zeit nicht zu übersehen, insofern sie Einfluß nahmen auf die staatliche Gesetzgebung. Während des Ersten Weltkrieges gründete Damaschke mit 28 Organisationen den »Hauptausschuß für Kriegerheimstätten«. Das Heimstättenrecht, das die Bodenreformer forderten, zielte auf »ein neues soziales Bodenrecht« (rechtlich war es eine vereinfachte Form des vom Ulmer Oberbürgermeister Heinrich von Wagner realisierten gemeindlichen Wiederkaufrechts); doch Damaschke scheiterte mit seinem Heimstättengesetzentwurf am Widerstand des »Schutzverbandes für Grundbesitz und Realcredit«. Erst mit dem Zusammenbruch des Kaiserreichs konnte die Bodenreformbewegung für ihre Bestrebungen einen wesentlichen Erfolg buchen, indem ihre Grundsätze in der Weimarer Reichsverfassung (Art. 155) niedergelegt wurden.
Auch Oppenheimer verwies später darauf, daß der Anstoß zum Reichssiedlungsgesetz vom 11. August 1919 unter anderem von ihm gekommen war. Dieses noch in der Kaiserzeit entworfene Gesetz verpflichtete die Bundesstaaten, gemeinnützige Siedlungsunternehmungen zu begründen, um zur Schaffung neuer Ansiedlungen und zur Hebung bestehender Kleinbetriebe (aber höchstens in der Größe einer selbständigen Ackernahrung) beizutragen.
Diesen Siedlungsunternehmen wurde ein Vorkaufsrecht auf die in ihrem Bezirk gelegenen landwirtschaftlichen Grundstücke eingeräumt. Der Staat selbst sollte darüber hinaus Staatsdomänen oder zu kultivierendes Moor und Ödland bereitstellen (letzteres konnte zu diesem Zwecke auch gegen Entschädigung enteignet werden). Max Sering, neben Friedrich von Schwerin einer der geistigen Väter des Gesetzes, zog in seiner Begründung für das Gesetz die Folgen aus der Niederlage von 1918 und die damit veränderten Existenzbedingungen für die deutsche Industrie: »Das deutsche Volk muß wieder mehr zu einem Agrarland werden, zu einem höheren Grade des Selbstgenügens kommen, und seine Wohn- und Arbeitsstätten dezentralisieren.«
Zweifellos dachte er nicht primär daran, Vorstadtkolonien mit Eigenheimen und Schrebergärten zu schaffen, sondern wollte die ostdeutschen Gutslandschaften mit einem Netz von bäuerlichen Familienbetrieben überziehen.
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Nur so könne eine abermalige Landflucht wie im 19. Jahrhundert, eine Abwanderung der bäuerlich-ländlichen Frontgeneration und eine weitere Entvölkerung der bereits zu dünn besiedelten Räume im Osten vermieden werden. Die Bildung eines ländlichen Proletariats wollte er bei dieser Siedlungspolitik vermieden wissen; vielmehr schwebten ihm »viele kleine selbständige [Bauern-] Stellen« vor, um so schließlich die Grundbesitzverteilung — gerade im deutschen Osten — gleichmäßiger zu gestalten (Demokratisierungseffekt).
Oppenheimer war aber mit dem damit Erreichten nicht zufrieden. In einer programmatischen Rede auf dem 2. Reichssiedlertag in Leipzig verlangte er 1920 — wie schon Max Weber in seiner Dissertation von 1892 und Damaschke im Jahre 1902 — eine »innere Kolonisation [.....] großen Stils«. Diese sei »eine Lebensnotwendigkeit für Staat und Volk«, um die »Massenwanderung des Landvolkes« zum Stillstand zu bringen, wobei gefährlicher als die Auswanderung nach Übersee die »binnenländische Abwanderung in die Industriebezirke« sei.
Schon beim Reichssiedlungsgesetz handelte es sich für ihn darum, »das in Streusand verwandelte Landvolk in der heimischen Scholle zu verwurzeln, jene Wanderdüne zu befestigen, die in von Tag zu Tage bedrohlicheren Maßen unsere Industriebezirke überschwemmt.« Doch die bisherige Kolonisation in der Einzelsiedlung habe zur Lösung dieser eigentlichen volkswirtschaftlichen Aufgabe nichts beigetragen. Denn sie nütze nur Bauern und Bauernsöhnen mit teilweise erheblichem eigenen Vermögen, nicht aber der Landarbeiterschaft und ihrer Erhebung zur Selbständigkeit.
Ihnen helfe nicht das Reichssiedlungsgesetz, sondern nur die von Oppenheimer propagierte Produktivgenossenschaft. Gegen diese Ansiedlungsform der »Anteils- und Genossenschaftswirtschaft« habe sich jedoch in der Reichssied-lungs-Kommission ein so heftiger Widerstand von Seiten der Großagrarier geregt (»Verschwindet der Landarbeiter, so ist der Großbetrieb verloren«), daß das Reichssiedlungsgesetz die genossenschaftliche Ansiedlungsform nicht einmal erwähne.
Oppenheimer bekannte demgegenüber:
»Mein letztes Ziel ist, die Siedlungsgenossenschaft aufzubauen, d. h. eine aus Landwirten und städtischen Elementen gemischte Ansiedlung, deren ganzer Grund und Boden dauernd im unveräußerlichen Obereigentum ihrer Bürger steht, in der also niemand die Möglichkeit hat, die aus der Zusammensiedlung zahlreicher Menschen auf begrenztem Räume entstehenden volkswirtschaftlich-gesellschaftlichen Vorteile für sich, als Grundrente und Profit, privatwirtschaftlich auszunützen. Daß hier ein menschlich hohes Ideal besteht, ist völlig unbestritten; und daß es erreichbar ist, beweisen u.a. die englische Gartenstadt Letchworth5) und die deutsche Obstbausiedlung Eden bei Oranienburg.«
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Im Gegensatz zur kommunistischen Produktionsweise, »der sogenannten Kommune«, wollte Oppenheimer den erwirtschafteten Gewinn nicht gleich nach Köpfen oder nach dem Bedürfnis, sondern aufgrund der Leistung verteilen. 1920 begann er erneut auf eigene Faust mit einem praktischen Versuch auf einem Großgut (dem Remontage-Depotgut Bärenklau).
Während das Reichssiedlungsgesetz im bäuerlichen Familienbetrieb den Eckpfeiler der ländlichen Siedlung sah, wollte Oppenheimer die Lebensfähigkeit der genossenschaftlichen Ansiedlung erweisen, indem er an den von Sering in seiner Begründung zum Reichssiedlungsgesetz erwähnten Hinweis anknüpfte, die »minderbemittelten Volksgenossen« auf dem Lande anzusiedeln. Nach seiner Meinung sollten die Gutsarbeiter des Siedlungsobjekts zu einer Genossenschaft zusammengeschlossen werden, sie als Arbeiter weiterbeschäftigt, ihnen aber ein Anteil am Reingewinn in Aussicht gestellt werden, damit sie auf diesem Wege allmählich soviel Kapital sammelten, daß sie schließlich eine eigene Landstelle erwerben konnten.
Denn Oppenheimers vorrangiges Ziel bei der »inneren Kolonisation« war es, dem Landarbeiter Bodeneigentum zu geben und ihm die Möglichkeit zu eröffnen, durch zusätzlichen Landerwerb allmählich in den ländlichen Mittelstand aufzusteigen. Damit, so meinte er, werde auch ein wachsender und immer kaufkräftigerer Markt für die Industrie entstehen. Gleichzeitig könne die städtische Arbeiterschaft, von der erdrückenden Konkurrenz der massenhaft in die Städte abwandernden Landarbeiter erlöst, Lohnerhöhungen erzielen und damit ihre soziale Lage verbessern. — Das Mißlingen auch dieses praktischen Oppenheimerschen Versuchs galt vielen wiederum als Beweis, daß es auf diesem genossenschaftlichen Wege nicht möglich war, die Ansiedlung von Landarbeitern auf breiter Grundlage und auf Bauernstellen zu verwirklichen; die Zukunft gehöre damit nicht der genossenschaftlichen Ansiedlung, sondern dem bäuerlichen Familienbetrieb.
5) Vgl. Walter L. Creese, The search for environment. The Garden-City: befo-re and after. New Haven, London 1966.
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Die zentrale wirtschaftliche Frage nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg war es, ob der Schwerpunkt der ökonomischen Rekonstruktion auf der Industriewirtschaft oder auf einer Agrarreform und einer sie begleitenden ländlichen Siedlungspolitik zu liegen hätte. Es ist bekannt, wie die Nachkriegsjahre durch eine Umstellung der deutschen Industrie von der Schwer- zur Fertigwarenindustrie, durch Rationalisierung und Unternehmenskonzentration (»Sozialisierung durch den Industriellen selbst«) bestimmt wurden.
An eine Reagrarisierung Deutschlands war nicht zu denken, nachdem es sich zeigte, daß sich die deutsche Wirtschaft überraschend schnell von dem verlorenen Krieg und der Währungskatastrophe erholte und — über eine vernünftige Regelung der Reparationsleistungen seit dem Inkrafttreten des Dawes-Abkommens — kein Mangel an ausländischem Kapital mehr herrschte. Deutschland gelang es so, ab 1925 sprunghaft das industrielle Produktionsvolumen zu erweitern und in vielen Produktionszweigen die durch den Krieg verlorene Vorrangstellung in der Welt wiederzugewinnen.
Der konjunkturelle Aufschwung ließ dabei häufig die Tatsache übersehen, daß Deutschland nicht mehr wie vor dem Krieg ein Gläubiger-, sondern ein Schuldnerland war. Während die Industrie bis zur Weltwirtschaftskrise am Aufschwung teilnahm, erreichte die Landwirtschaft nie mehr ihren Wohlstand der Vorkriegszeit. Nach einer künstlichen Konjunktur während des Weltkrieges und in den ersten Nachkriegsjahren (die ausländische Konkurrenz verschwand vom Binnenmarkt; Schuldentilgung und Steuerbefreiung während der Inflation) stellte sich mit der Währungsstabilisierung eine langdauernde Krise ein.
Die ernstesten Verfallserscheinungen zeigten sich dabei in den landwirtschaftlichen Großbetrieben Nord- und Ostdeutschlands, die als technisierte Monokulturbetriebe von den durch eine Weltagrarkrise verursachten Preisschwankungen am empfindlichsten getroffen wurden. Die Weltwirtschaftskrise verschärfte dann nochmals diese heimische Agrarkrise. Jetzt wäre der Zeitpunkt gewesen, insbesondere bei der ostdeutschen Landwirtschaft mit dem Reichssiedlungsgesetz ernstzumachen. Denn »Siedlung« wurde jetzt wieder, wie vorher nach dem verlorenen Krieg, die Forderung der Stunde und galt als ein Weg zur Beseitigung der Jugendarbeitslosigkeit.
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Am stärksten von der Weltwirtschaftskrise war die Industrie-Jugend betroffen. Der Anteil der Jugendlichen an der Gesamtarbeitslosigkeit nahm ständig zu. Die Ursachen dafür lagen insbesondere darin, daß ein großer Teil der jugendlichen Arbeitnehmer nach Abschluß der Lehre entlassen wurde, da es für den Lehrherrn billiger war, einen neuen Lehrling einzustellen als einen Ausgelernten zu entlohnen. Dazu kam, daß bei Entlassungen die soziale Lage der Betroffenen berücksichtigt wurde; dies führte dazu, daß unverheiratete jüngere Arbeitnehmer eher entlassen wurden als ältere und Familienväter. Durch Minderung der Berufskenntnisse und die Gefahr des Abgleitens in die Asozialität verminderte sich außerdem die Möglichkeit einer beruflichen Wiedereingliederung bei Jugendlichen, je länger deren Arbeitslosigkeit dauerte.
Doch galten diese schlechten Aussichten auf dem Arbeitsmarkt nicht nur für Jugendliche aus der Mittel- und Unterschicht. Auch die beruflichen Chancen der Jungakademiker waren trostlos. An den Hochschulen herrschte eine Überfüllung, so daß eine wachsende Zahl von Absolventen keine ihrer Ausbildung adäquate Stellung finden konnte. War der akademische Stellenmarkt schon vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise übersättigt, so klaffte das Mißverhältnis zwischen Stellengesuchen und -angeboten im Verlauf der Weltwirtschaftskrise noch mehr auseinander.
5a) Neben den überbündischen Artamanen war es offenbar vor allem der ihnen gesinnungsmäßig nahestehende Bund »Adler und Falken«, der die jugendbewegte Siedlungsidee hochhielt. So heißt es von einer Tagung der »Adler und Falken« 1929 in Hildburghausen, Georg Stammler und Wilhelm Schloz hätten dort mit bewegenden Worten die bündische Jugend zur Siedlung aufgerufen. Beide, insbesondere aber der Kornwestheimer Gewerbeoberschulrat Schloz, standen in enger Verbindung mit den völkisch-religiösen Landsiedlungen in Württemberg. So erschien 1925 als 1. Heft in der von Friedrich Schölls Siegfried-Verlag, Stuttgart, auf dem Vogelhof herausgegebenen »Schriftenreihe für deutsche Wiedergeburt« die Broschüre von Schloz >Deutsche Lebens- und Führerschulen<.
Schloz war es dann auch, der parallel zu den Artamanen und den Bestrebungen des schwäbischen freiwilligen Volksdienstes eine Art Arbeitsdienst aufbauen wollte mit dem Ziel, Jungbauern und Handwerker für die Ostsiedlung auszubilden und vorzubereiten. Zu diesem Zwecke errichtete er zu Beginn der dreißiger Jahre das Siedlungslager »Schwäbische Landgenossen« in »Birken und Teich« bei Aalen; auf der Alb, über dem Dorf Heubach, fand er eine ehemalige Schäferei mit etwa 70 ha Heideland, die von den Siedlungswilligen der »Landgenossen« bewirtschaftet und kultiviert werden sollten. Das Siedlungslager wurde dann aber 1933 durch den Arbeitsdienst geschlossen und das Grundstück an die Gemeinde Esslingen zurückgegeben.
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Freilich war für weltanschauliche Gruppierungen5a) die Krise nicht eigentlicher Ausgangspunkt für die Siedlungsidee, sondern nur die glänzende Rechtfertigung für die gefühlsbetonte antiurbane und antiindustrielle Agrarromantik, wie sie seit dem 19. Jahrhundert auf der Rechten und Linken (Gustav Landauer!) geherrscht hatte. Hier wäre aber zu behandeln, wie die in der Weltwirtschaftskrise besonders von der Rechten vertretene Siedlungskonzeption in die politische Praxis umgesetzt wurde. Denn nachdem auch der Staat während der Regierung Brüning die Meinung teilte, vom industriellen Sektor der Wirtschaft sei keine wesentliche Überwindung der Arbeitslosigkeit zu erwarten, konnte allein in einer großzügigen Siedlungspolitik das Heil liegen. Dabei mußte auch klarer als bisher werden, ob deren Ziel lediglich wie bisher darin liegen sollte, eine weitere Abwanderung vom Land zu verhindern, oder ob darüber hinaus eine Rücksiedlung aus den Städten und Industriegebieten und damit eine Umkehr der im vorigen Jahrhundert einsetzenden Landflucht (besonders in Form der Ost-West-Wanderung) versucht werden sollte.
Die Regierung Brüning verband den Siedlungsgedanken mit dem Arbeitsdienst. Auch hiermit griff sie eine Forderung der Rechten auf. Schon im Ersten Weltkrieg hatte das Hilfsdienstgesetz gezeigt, daß in einer Ausnahmesituation der Staat im Sinne der totalen Mobilisierung der Kräfte nicht nur zum Militärdienst, sondern auch zur Arbeitsleistung heranziehen konnte. Die Versuchung war groß, auch in kommenden rein ökonomischen Krisensituationen auf die Arbeitsdienstpflicht zurückzugreifen, da sich damit der Glaube verband, hier sei das geeignete Mittel zur nationalen Synthese, zur Überwindung der Klassengegensätze, zur Kooperation von Kopf- und Handarbeitern, zur Vorwegnahme der Volksgemeinschaft und zum nationalen Aufstieg gefunden.
Die Regierung Brüning nahm beide propagandistischen Ideen der Rechten — Siedlung und Arbeitsdienst — auf, verwandelte sie aber auch. Brüning war der Meinung, daß die bestehende Unterbeschäftigung und die daraus sich ergebende Arbeitslosigkeit als ein durch eine Strukturkrise bedingter Dauerzustand anzusehen sei, der nur durch eine über Siedlung und Arbeitsdienst als deren Voraussetzung betriebene Autarkisierung der deutschen Wirtschaft überwunden werden könne (ergänzende Maßnahmen, wie ein freiwilliges akademisches Werkhalbjahr, waren vorgesehen).
Die Arbeitsdienstpflicht verwandelte sich in der Brüningschen Konzeption (Zweite Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen vom 5. Juni 1931) zu einem freiwilligen Arbeitsdienst.
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Dabei war besonders an die arbeitslosen Jugendlichen gedacht6). Die Dauer der Teilnahme war auf zwanzig Wochen begrenzt, der Inhalt des Dienstes waren Bodenverbesserungsarbeiten, die Herrichtung von Siedlungs- und Kleingartenland, öffentliche Verkehrsverbesserungen und Arbeiten zur Hebung der Volksgesundheit. Zunehmend veränderte sich unter Brüning die Zielsetzung des Arbeitsdienstes: Hatte man zunächst nur daran gedacht, für Arbeitslose eine Betätigungsmöglichkeit außerhalb einer tarifgebundenen Arbeit zu schaffen, um die schädlichen Folgen der Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, so wurde diese sozialpädagogische Bestrebung bald von einer wirtschaftspolitischen überlagert. Denn der Arbeitsdienst sollte nun im Rahmen eines Arbeitsbeschaffungsprogramms die Voraussetzung der Siedlung sein, ja deren Ingangsetzung erst ermöglichen, da er das Ansiedlungs-Unternehmen so weit verbilligte, daß dessen Durchführung finanziell überhaupt möglich war.
Die Siedlung wiederum erschien den dabei maßgebenden Männern der Regierung Brüning als das beste Mittel, einen Teil der Arbeitslosen zu versorgen und dadurch die Krise (die man, wie gesagt, für langandauernd hielt) besser zu überstehen. Im Rahmen der Stadtrandsiedlung wurden Kleinsiedlerstellen und Kleingärten errichtet; durch sie sollten die Arbeitslosen und Kurzarbeiter (deren Entlohnung häufig nicht viel über der Arbeitslosenunterstützung lag) durch Bereitstellung eines Stückchens Land einen großen Teil ihrer Nahrungsmittel selbst erzeugen.
Doch das Brüningsche Programm ging weit über diese Kleinsiedlung hinaus und gewann dadurch erst seine politische Brisanz. Die Agrarromantiker — zu denen nicht zuletzt die Artamanen zählten — hatten in schein-radikaler Weise zwar von Arbeitsdienstpflicht und Siedlung geredet, sich aber an dem eigentlich politischen Problem vorbeigemogelt (wie ja auch das Reichssiedlungsgesetz deshalb auf die Abgabe von «Staatsdomänen abhob!): Es ging doch um die Neuverteilung des landwirtschaftlichen Grundbesitzes, in erster Linie also um die Bereitstellung nicht mehr rentabler ostdeutscher Großgüter für Siedlungszwecke.
6) »Der freiwillige Arbeitsdienst [...] soll es Arbeitslosen, insbesondere solchen jugendlichen Alters ermöglichen, ihre brachliegende Arbeitskraft - ohne Eingehung eines Arbeitsverhältnisses - in selbstgewählter ernsthafter Gemeinschaftsarbeit unter sachkundiger Leitung in nützlichen Arbeiten, die sonst nicht in Angriff genommen würden, zu betätigen und aus der Arbeit selbst sowie durch nebenhergehende Bildungsmaßnahmen körperliche und geistige Schulung zu empfangen.« (Aus dem Kommentar des Reichsarbeitsministeriums.)
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Während die Agrarromantiker die Arbeitsdienstpflicht als freudig der Volksgemeinschaft dargebrachtes Opfer idealisierten, stellte sich Brüning dem gesellschaftlichen Problem, nämlich dem Konflikt mit dem Junkertum, indem er vorschlug, nicht entschuldungsfähige Güter für die Zwangsversteigerung freizugeben, damit den Weg für eine umfassende Binnenkolonisation zu öffnen und so die nicht mehr haltbare traditionelle Agrarfassung im ostelbischen Raum aufzuheben.
Es ist bekannt, daß Brüning im Zusammenhang mit seiner Siedlungspolitik durch Hindenburg gestürzt wurde, durch denselben Hindenburg, der als kaiserlicher Feldmarschall am Kriegsende noch den Heimkehrern ein »gemeinnütziges Siedlungswerk« versprochen hatte, durch das »auf billig erworbenem Land mit billigem, öffentlichen Gelde« Hunderttausende von Stellen für Landwirte, Gärtner und ländliche Handwerker bereit gestellt werden sollten. Damals wurde dieses Versprechen nur für wenige, u.a. für die im Baltikum kämpfenden Freikorps, eingelöst; jetzt galt die »Osthilfe« auf einmal als Agrarbolschewismus.
Nach Brünings Sturz veränderten Arbeitsdienst und Siedlung ihren Charakter. Reichskanzler von Papen löste den Arbeitsdienst von der engen Verknüpfung mit der Siedlung und kehrte zur ursprünglichen Konzeption des freiwilligen Arbeitsdienstes als einer besonderen sozialen Krisenmaßnahme zurück und baute den Dienst aus.
War bei Brüning die im Verlauf der Wirtschaftskrise wachsende Zahl der Empfänger kommunaler Wohlfahrtspflege (im Gegensatz zu denen einer versicherungsmäßigen Arbeitslosenunterstützung) — also die Gruppe der besonders bedürftigen Arbeitslosen — noch vom Arbeitsdienst ausgeschlossen, so konnten sich nun (Verordnung über den Freiwilligen Arbeitsdienst vom 16. Juli 1932) alle Deutschen zwischen 18 und 25 unabhängig von der empfangenen Unterstützung, darüber hinaus auch nicht zur Gruppe der Arbeitslosen gehörende Personen (wie Studenten) am Arbeitsdienst beteiligen. Die Dienstzeit konnte außerdem von 20 auf 40 Wochen verlängert werden. Gleichzeitig wurden mit dem Wegfall der bisherigen Beschränkungen des Teilnehmerkreises auch erhebliche Mittel zum Ausbau des Dienstes zur Verfügung gestellt. So stieg die Zahl der meist männlichen Teilnehmer von knapp 100.000 Ende Juli 1932 auf fast 300.000 Ende November 1932.
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Nicht die Präsidialkabinette, sondern erst die Nationalsozialisten griffen später wieder auf die Konzeption der Rechten einer Arbeitsdienstpflicht zurück und verwandelten diese — während die Arbeitslosigkeit zurückging — in eine Dauereinrichtung militärischen Gepräges mit der Absicht der totalitären Erziehung und körperlichen Ertüchtigung als Voraussetzung der Wehrfähigkeit.
Unter dem Kanzler Papen wurde die Stadtrand- und Nebenerwerbssiedlung ausgebaut; die innere Kolonisation, der große Siedlungsplan Brünings (und es ging bei der ländlichen Siedlung in Deutschland immer in erster Linie um Ostsiedlung) wurde jedoch nur noch verbal weiterverfolgt. In Wirklichkeit bot Papens Osthilfepolitik für die landwirtschaftlichen Großbetriebe die Eröffnung neuer Entschuldungsmöglichkeiten; der Gedanke der Landabgabe hatte dabei das Nachsehen.
Papens Nachfolger General von Schleicher versprach eine verstärkte Siedlungstätigkeit, und er schuf sich das gesetzliche Instrument dazu (Verordnung des Reichspräsidenten über Maßnahmen zur Förderung der Arbeitsbeschaffung und der ländlichen Siedlung vom 15. Dezember 1932). Jedoch die beabsichtigte Wiederaufnahme der Brüningschen Siedlungspolitik wurde erneut zu einer Ursache des Kanzlersturzes.
Hitler aber setzte dann das preußisch-deutsche Kolonisationswerk mit seiner sozial-, bevölkerungs- und wirtschaftspolitischen Zielsetzung nicht fort, sondern griff — wie manche sagen, im Geiste der Wiener Hofburg und einer ausschließlich volkstumsichernden Siedlungspolitik — auf das Rezept des »Wehrbauern« zurück. Die Siedlungspolitik der Artamanen mündete konsequent in diese raumsichernde Volkstumspolitik ein.
Seit Bestehen des Reichssiedlungsgesetzes von 1919 wurden bis Ende 1932 insgesamt rund 930.000 ha zu Siedlungszwecken erworben, davon 1929 bis 1932 über 100.000 ha pro Jahr. Der gesamte Landanfall aus dem Reichssiedlungsgesetz hätte sich aber nach Serings Willen auf rund 6 Millionen ha landwirtschaftlicher Fläche belaufen sollen — davon waren 1932 nicht einmal ganze 16 Prozent erfüllt. Aber selbst bei einer verstärkten Ansiedlungspolitik wäre wohl schwerlich das in der eingangs zitierten Schrift von Thünen anvisierte Ziel einer Rücksiedlung von aus der Industrie kommenden Erwerbslosen zu erreichen gewesen.
Die »Reichsstelle für Siedlerberatung«7) überprüfte in den beginnenden dreißiger Jahren die Ansiedlung von Industriearbeitern eingehend, da sich infolge der Arbeitslosigkeit in den Städten des Westens Industriearbeiter in großer Zahl zur Ansiedlung meldeten und dabei vielfach darauf verwiesen, daß sie von Bauernhöfen im Osten gebürtig seien (West-Ost-Siedler).
7) Vgl. J. Schauff, Wer kann siedeln? Berlin 1932; Industriearbeiter und landwirtschaftliche Siedlung (Flugschrift der Reichsstelle für Siedlerberatung, Heft 3). Berlin 1931.
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Am ehesten für die Umsiedlung kamen nach diesen Untersuchungen halbländliche Industriearbeiter in Frage, d.h. solche, die nur saisonal in der Industrie tätig waren oder neben ihrer industriellen Tätigkeit noch einen Kleinlandbesitz nach Feierabend und an den Wochenenden zusammen mit ihrer Familie bewirtschafteten. Doch in der Praxis zeigte es sich, daß es nicht einmal unproblematisch war, einen Bewerber, der bisher nur eine kleine Landwirtschaft betrieben und im übrigen im Handwerk, in der Industrie oder als Heimarbeiter beschäftigt gewesen war, auf eine vollbäuerliche Stelle zu setzen.
Er wußte nämlich plötzlich mit »so viel Land« nichts anzufangen und suchte eher als dörfliche Handwerker weiterzuarbeiten und sein Land zu verpachten, als es selbst zu bebauen oder an andere Siedler abzugeben.
War es schon für die Rücksiedler schwierig, sich und ihre Frauen nach einem mehrjährigen Stadtleben wieder an das Land zu gewöhnen, so konnten ihre Kinder kaum mehr für ein Verbleiben auf dem Lande und einen landwirtschaftlichen Beruf gewonnen werden, sondern strebten wieder zur Stadt zurück.
Noch skeptischer war die Reichsstelle, was die Wahrscheinlichkeit betraf, stadtgeborene Industriearbeiter auf dem Lande anzusiedeln, da sie bereits ganz dem landwirtschaftlichen Berufe und dem Landleben entfremdet waren.
Auch bei arbeitslosen Jungakademikern, vor allem Diplomlandwirten, wurde die prinzipielle Schwierigkeit, landentfremdete Menschen wieder dem Bauerntum zuzuführen, offenkundig. Die theoretische Beherrschung der Landwirtschaft erwies sich als unzureichende Vorbildung, wenn sie nicht durch praktische Vorkenntnisse und Fertigkeiten ergänzt wurde, wie sie nur durch das Aufwachsen in einem landwirtschaftlichen Betrieb oder eine jahrelange Tätigkeit als einfacher Knecht auf einem Hof gewonnen werden konnten. Da diese Akademiker oft auch das bloß als Notlösung angesehene Siedeln nicht innerlich bejahten, fehlte ihnen dann die Durchhaltekraft.
So erwies es sich, daß das eigentliche Reservoir für die innere Kolonisation beschränkt blieb auf das alte Bauerntum und die Landarbeiterschaft. Ein Rückgängigmachen der Verstädterung erschien dagegen als undurchführbar. Je weiter die Abwanderung in einen nicht-landwirtschaftlichen Beruf fortgeschritten war, desto unfähiger zeigten sich die Betreffenden zu einer Rückkehr aufs Land.
Einzelne — wie Willy Ackermann — mußten so die Ausnahme bleiben, welche eine Regel bestätigen, die allein von den jüdischen Pionieren und den Bruderhöfern (also stark weltanschaulich motivierten Siedlern) durchbrochen wurde.
Da eine Rückverpflanzung landentwurzelter Menschen in die bäuerliche Welt sich im großen Stil als Illusion erwies, tat der Staat damals gut daran, die bäuerliche Siedlungsweise vom Problem der »Erwerbslosensiedlung« zu trennen und ab 1931 für städtische Erwerbslose, soweit sie »landwillig« waren, eine besondere Siedlungsform zu entwickeln: die vorstädtische Klein- oder Nebenerwerbssiedlung im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus, und die Bereitstellung von Kleingärten für Erwerbslose zum Zwecke der Selbstversorgung und damit zur fühlbaren Entlastung der Lebenskosten.8
Durch die Erträge von Garten und Kleinviehhaltung sollten solche zum Stadtrand gewanderten Siedler von Konjunkturschwankungen unabhängiger gemacht und ihnen in Zeiten der Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit ihr Auskommen gesichert werden. Es wurde also davon abgesehen, die Erwerbslosen aus den Städten auszusiedeln und zu Bauern »umzuschulen«.
Sie sollten lediglich auch als Arbeitslose auf Eigentum wohnen und durch ein bißchen »Besitzerstolz« vor der sozialen Deklassierung bewahrt werden. Der Weg »zurück aufs Land« wurde für diese Städter nicht beschritten.
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8) Max Stolt, Grundsätzliches zur vorstädtischen Kleinsiedlung. In: Archiv für innere Kolonisation, Bd. 23 (1931), S. 461 ff.; Wilhelm Witter, Beispiele vorstädtischer Kleinsiedlung. Ebd., S. 488ff.; Sartorius, Die ländliche Siedlung und das Arbeitslosenproblem. Ebd., S. 545ff.