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   4   Das Auslesegesetz — und was der Mensch aus ihm machte   Löbsack-1974  

Naturgesetze und Unbehagen — Wie das Leben entstand — Die Triebkräfte der Evolution — Moleküle im Konkurrenzkampf —  Die Umwelt als prüfende Instanz — Der Mensch, ein Produkt des Zufalls? — Wie konnten komplizierte Sinnesorgane entstehen? — Beim »Kampf ums Dasein« fließt kein Blut — Das Rätsel der Höherentwicklung — Plan im Planlosen — Organe als Kompromisse — Resistenz als Anpassungstrick — Wo die Evolution schnell verläuft — Quastenflosser  — Wie die Arten entstanden — Leben im ewigen Eis — Verhaltens­weisen als Mutationsersatz — Wie der Mensch die Evolution überspielte — Viele Nachkommen und längeres Leben — Wasserlilie — Strahlen und Chemikalien erhöhen die Mutationsrate — Wasserflöhe — Kampf des Menschen gegen die Natur — Abkehr von der Geborgenheit.

 

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Es ist, als habe der Homosapiens den ihm auferlegten Zwang zur Selbstgestaltung seiner Umwelt allzu wörtlich genommen. Nicht nur, daß er seine Lebens­räume auf der Erde über seine Bedürfnisse hinaus verändert, Tiere und Pflanzen sich nutzbar gemacht oder sie bekämpft hat, wo sie ihm lästig wurden; nicht nur, daß er seiner rasenden Vermehrung zuliebe unnatürliche Reinkulturen von Nahrungspflanzen anlegen mußte und durch ein Übermaß an künstlichem Dünger die Gewässer eutrophierte. Er ging noch ein gutes Stück weiter.

Es ist ihm offenbar unbehaglich bei dem Gedanken geworden, trotz all seiner »Siege über die Natur« noch immer jenen Grundgesetzen der Stammes­entwicklung unterworfen zu sein, die das Leben auf der Erde einst haben entstehen lassen und es seitdem erhalten. Deshalb hat er begonnen, an den Grundlagen der Evolution zu rütteln.

Wir wollen in diesem Kapitel zeigen, wie diese Gesetze beschaffen sind und wie zuverlässig sie in der Vergangenheit den Fortbestand des Lebens garantiert haben. Wir werden dann darauf eingehen, was der Mensch — dem Zwang seines Großhirns folgend — gegen die Wirksamkeit dieser Kräfte unternommen hat; wie er die Jahrmilliarden hindurch bewährten Verfahren der Natur gestört, ja teilweise völlig außer Kraft gesetzt hat und sich damit als das erwies, was er von Anfang an war: als gefährliches Naturprodukt, als ein Drahtseilkünstler, der bei seinem halsbrecherischen Akt ohne Fangnetz arbeitet und der nun auch die Balancierstange noch abgeworfen hat, während ein böiger Wind über der makabren Szene aufkommt. 

Um die Bedeutung dessen zu begreifen, was hier auf dem Spiele steht, muß man wissen: So einfallsreich die Natur seit Beginn des Lebens auf der Erde auch gewesen ist, so viele Tiere und Pflanzen sie hervorgebracht, Körperformen, Beine, Arme, Flügel, Augen, Ohren und Eigenschaften sie erfunden, abgewandelt und wieder verworfen hat, — an einem hat sie unbeirrt festgehalten, ohne ersatzweise Verfahren auch nur auszuprobieren: an der Methode von Erbwandel und Auslese. Geradezu monoman, als eine conditio sine qua non,* durchzieht dieses Prinzip die Geschichte des Lebendigen, seit der irdische Feuerball sich vor vier Milliarden Jahren abzukühlen begann und das Leben entstand.

Das Prinzip von Erbwandel und Auslese ist das Überlebensrezept, dem alle Organismen ihr Dasein und ihr »Sosein« verdanken. Es wird der Notwendigkeit gerecht, daß es für ein Lebewesen darauf ankommt, sich seiner Umwelt anzupassen, oder aber diese Umwelt harmonisch so zu beeinflussen, daß ihm das Überleben in ihr als Art möglich wird.

Dieses Prinzip war und ist für die Stammesentwicklung der Lebewesen verantwortlich, für die »Evolution«. Deren Triebkräfte haben die Artenvielfalt im Tier- und Pflanzenreich hervorgebracht. Ja, man kann behaupten: Auch wenn es irgendwo außerhalb der Erde im Weltall Leben geben sollte, so hätte auch dies sich nach den gleichen Prinzipien entwickeln müssen — auch wenn es dabei zu anderen Ergebnissen gekommen sein sollte.

Bleiben wir auf der Erde. Genauso wie Tiere und Pflanzen war auch das Gehirnwesen Mensch den Evolutionskräften unterworfen. Das heißt, um schon vorzugreifen: Diejenigen Vertreter seiner Art waren die erfolgreichsten, die es verstanden, ihre Überlebenschancen im Einklang mit ihrer Umwelt zu erhöhen und die meisten fortpflanzungsfähigen Nachkommen zu haben. So sorgten sie dafür, ihre Erbeigenschaften nach dem Schneeballsystem einer wachsenden Zahl von Kindern und Kindeskindern weiterzugeben.

* (d-2010:)  Unerläßliche Bedingung

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Den Höhepunkt dieser Entwicklung haben wir heute erreicht. Nahezu vier Milliarden weiterhin fortpflanzungsfreudige Menschen bevölkern den Erdball. Der Entwicklungsstand unserer technischen Zivilisation ist erstaunlich. Schon bauen wir Computer, von denen nicht ganz sicher ist, ob sie nicht bereits ein bißchen menschliche Intelligenz besitzen. Schon fliegen bemannte Raumstationen zum Mond — technische Wunderwerke, in denen viele tausend teils hochkomplizierte Einzelteile planmäßig zusammenwirken. Und schon haben die Wissenschaftler biochemische Verfahren parat, mit deren Hilfe es gelingt, Erbanlagen in Gestalt verwickelt gebauter Riesenmoleküle im Reagenzglas herzustellen.

Alle diese Erfolge sind in Wahrheit Pyrrhus-Siege. Der Glanz unserer Technik, die Zahl unserer Leiber auf der Erde täuschen, denn sie stehen nicht mehr in einem ausgewogenen Verhältnis zu den Lebensgrundlagen, die unsere Umwelt, unsere leider endliche Erde zu bieten hat. Bei einem ungestörten Wirken der Evolutionsgesetze wäre es nicht so weit gekommen. 

 

Warum gelten diese Gesetze nicht mehr für den Menschen? 
Was sagen sie überhaupt aus? 
Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir nach der Herkunft des Lebens ebenso fragen wie nach den Grundregeln, nach denen es sich entfaltet hat.

 

Wenn wir Lebendiges als eine Form organisierter Materie verstehen wollen, die Nahrung aufnehmen, verarbeiten und Stoffwechsel-Endprodukte ausscheiden kann; wenn wir weiter davon ausgehen, daß Leben seinesgleichen hervorbringt und Erbanlagen besitzt, die sich ändern können — so wird klar, daß lebende Organismen ziemlich komplizierte Systeme sein müssen. Wie können solche Gebilde entstanden sein auf einem Planeten, der vor viereinhalb Milliarden Jahren noch so heiß war, daß ihn ein imaginärer Weltraumriese nur mit einer überdimensionalen Feuerzange hätte anfassen können?

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Die Biologen meinen zu wissen: Es muß vor dem ersten Auftreten von Lebewesen eine »präbiotische Evolution« stattgefunden haben. In ihrem Verlauf sind — vielleicht in der feuchtigkeitsschwangeren Luft, vielleicht im Wasser — aus unbelebten anorganischen Stoffen zuerst einfache, dann immer größere Moleküle entstanden. Diese Moleküle, bestehend aus Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, Phosphor und einigen Elementen mehr, werden chemischen und physikalischen Gesetzen gehorcht haben, die sie zwangen, zu komplizierteren Verbindungen zusammenzutreten. So könnten sich allmählich jene Substanzen gebildet haben, die wir heute als Bestandteile der lebenden Zellen kennen, und schließlich lebende Zellen selbst.

Unter welchen Bedingungen das erste Lebewesen auf der Erde auftrat, das wissen wir freilich ebensowenig genau wie die Antwort auf die Frage, wie überhaupt Materie im Weltall entstehen konnte. Welche Rolle spielte der Zufall? Spielte er überhaupt eine? Soviel steht fest: Wir können bei diesen Fragen nur aus Indizien schließen. Es geht uns wie dem zu spät gekommenen Kinobesucher oder dem Leser eines spannenden Romans, dessen erstes Kapitel verlorenging. Er muß versuchen zu rekonstruieren, wie die Geschichte anfing. 

Nehmen wir als gegeben hin, daß der Mensch, daß alle heute lebenden Tier- und Pflanzenarten die vorläufigen Endstadien langer Entwicklungsprozesse sind, in deren Verlauf nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum immer wieder neue Formen und Organe entworfen, verworfen oder erhalten wurden, und setzen wir weiter voraus, daß höher entwickelte Lebewesen aus einfacheren hervorgegangen sind, so muß das Leben einmal ganz primitiv angefangen haben.

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Sieht man vom religiösen Schöpfungsglauben ab, so sind für den Ursprung des Lebens zwei Annahmen möglich. Die eine besagt, daß das Leben auf anderen Himmelskörpern entstanden und anschließend auf die Erde gelangt sei. Es könnte in Gestalt von Bakteriensporen mit dem kosmischen Staub oder durch »Strahlungsdruck« zu uns gekommen sein. Tatsächlich stellt die Strahlung so etwas dar wie einen sanften kosmischen Wind, der nahezu gewichtslose Lebenskeime transportieren kann. Mit seiner Hilfe hätten Lebensspuren vom Mars in 20, von Jupiter in 80 Tagen und vom benachbarten Sonnensystem Alpha Centauri in 9000 Jahren die Erde erreichen können.

Zwei Einwände lassen sich dagegen vorbringen: 

Einerseits dürfte die starke ultraviolette Strahlung im Weltraum selbst widerstandsfähige Keime auf einer solchen Reise wahrscheinlich abgetötet haben. Zum zweiten hätte ihnen auch die extreme Trockenheit im All zweifellos arg zugesetzt. Schließlich aber würden wir, was das Problem der Lebensentstehung anbelangt, mit dieser These nicht viel weiter kommen als mit der Frage nach dem lieben Gott. 

Denn wir stünden vor der Aufgabe, herauszufinden, wie die Bakteriensporen auf ihrem Heimatplaneten entstanden sind. Die Frage nach dem Woher wäre nicht gelöst, sie wäre nur an einen anderen Ort verlagert. Das aber bedeutet, daß wir die Untersuchung ebensogut für die Erde anstellen können.

Damit sind wir bei der zweiten Annahme. Sie lautet: Das Leben ist auf natürliche Weise aus unbelebten Stoffen zu einer Zeit entstanden, als die Bedingungen dafür nicht nur günstig waren, sondern Leben mit statistischer Wahrscheinlichkeit geradezu entstehen mußte. Wie ist das zu denken?

Sagen wir noch einmal, was wir »Leben« nennen: Es ist eine besonders verwickelt organisierte Form organischer Materie, die sich selbst nachbilden, Stoffe aus ihrer Umgebung aufnehmen und verarbeiten, und deren Erbsubstanz sich verändern kann. Das ist eine zwar bescheidene und unvollständige Beschreibung, doch mag sie hier genügen.

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Um die Frage nach der Lebensentstehung zu beantworten, muß man zweierlei berücksichtigen. 

Das erste: Unerläßliche Voraussetzung für die Entstehung von Lebendigem war es, daß bestimmte chemische Elemente existierten und sich zu Verbindungen vereinten, die wir als typische Bestandteile der Lebewesen kennen. Das sind einerseits Aminosäuren, die zu dreidimensionalen Verbindungen höherer Ordnung zusammentreten, den Proteinen oder Eiweißen. Das sind andererseits Nucleotide: Verbindungen aus einer organischen Base (Lauge, Gegenteil von Säure), einem Zucker und Phosphorsäure. Die Nucleotide treten ihrerseits zu faden- oder kettenartigen Strukturen zusammen und werden dann Nucleinsäuren genannt, weil sie hauptsächlich in den Zellkernen vorkommen (nucleus = der Kern).

Das zweite: Zu jener Zeit vor dreieinhalb bis vier Milliarden Jahren, als die ersten Vorstufen des Lebens aufgetaucht sein mögen, herrschten andere Umwelt­bedingungen auf der Erde als heute. Der wichtigste Unterschied war der, daß die Erdatmosphäre damals noch keinen freien Sauerstoff enthielt, daß sie sich — chemisch gesehen — »reduzierend« verhielt im Gegensatz zur sauerstoffhaltigen, »oxidierenden« Atmosphäre von heute. Organische Moleküle, die zu jener Zeit entstanden, wurden nicht gleich wieder zersetzt, wie dies gegenwärtig geschehen würde. Sie blieben dem großen irdischen Chemielabor erhalten und standen für allerlei Reaktionen mit- und gegeneinander zur Verfügung.

Die häufigsten Elemente im Kosmos sind Wasserstoff, Helium, Sauerstoff, Stickstoff und Kohlenstoff. Wie jeder Chemiker weiß, entstehen aus ihnen einfache Wasserstoff-Verbindungen, darunter Wasserdampf, Ammoniak und Methan, sobald sich Materie verdichtet. Dies war der Fall, als die Sonne mit ihren Planeten entstand. Man kann also davon ausgehen, daß es auf und über der noch heißen Erde schon gewisse »Rohmaterialien« für die spätere Entwicklung gab: gasförmige Stoffe, die die »Uratmosphäre« der Erde bildeten.

Den Nachweis dafür, daß aus diesen Stoffen auch ohne »göttlichen Akt« die Urbausteine des Eiweißes entstehen konnten, hat im Jahre 1953 der amerikanische Chemiker Stanley Miller geliefert. 

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In einer Glasapparatur mischte er die Gase der irdischen Urluft. Anschließend führte er ihnen jene Energie zu, die auch damals schon — neben dem ultravioletten Licht und der kosmischen Höhenstrahlung — gewirkt hat, nämlich Blitzentladungen. Indem er elektrische Funken in seine Retorten hineinzucken ließ, ahmte er die Blitze urzeitlicher Gewitter nach. Als er das stickige, blitzdurchzuckte Gasgemisch einige Tage später untersuchte, waren einfache Aminosäuren entstanden, darunter Alanin und Glycin, außerdem Harnstoff.

Später sind ähnliche Experimente auch von anderen Forschern durchgeführt worden. Dabei stellte sich überraschenderweise heraus, daß die Aminosäuren sozusagen in einem zweiten Anlauf auch zu höheren Verbindungen wie Peptiden und Polypeptiden zusammentreten können. Zum allgemeinen Erstaunen entstanden sogar Nucleinsäuren, von denen einige bereits Ansätze zur Selbstverdoppelung und damit eine typische Eigenschaft des Lebens zeigten.

Wenn man jetzt noch weiß, daß Nucleinsäuren bestimmte Eiweißmoleküle nicht nur an sich binden, sondern auch deren Entstehung »überwachen« können wie der Lochstreifen das Computerprogramm; wenn man weiß, daß die Nucleinsäuren mit dieser Fähigkeit sozusagen zu Informationsspeichern für den atomaren Aufbau von Eiweiß-Molekülen werden, und wenn man schließlich erfährt, daß aus solchen Prozessen hervorgegangene Eiweiße ihrerseits als Enzyme den Ablauf neuer chemischer Umsetzungen anregen, dann ergibt sich eine wichtige Erkenntnis. Sie besagt, daß die chemische Evolution sehr wahrscheinlich die Voraussetzungen für eine Fülle von Reaktionen geschaffen hat, in deren Verlauf in den warmen Meeren der Urzeit während einer Jahrmilliarde durchaus primitive, sich immer wieder ergänzende und neu organisierende Moleküle zustande gekommen sein können. 

In der »Ursuppe« der damaligen Ozeane war ja der Tisch mit einfachen organischen Verbindungen reich gedeckt. So konnten — während Blitze und energiereiche Strahlen, später auch der chemische Energielieferant ATP, das Adenosintriphosphat, für die nötige Energiezufuhr sorgten — zahlreiche chemische Verbindungen zustande kommen.

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In der nächsten Phase könnte die organische Materie dann Formen angenommen haben, die schon fast einer Zelle ähnelten. Der Amerikaner Fox ist es gewesen, dem es nachzuweisen gelang, daß eiweißähnliche Stoffe — Proteinoide genannt — zu kugelförmigen Gebilden verklumpen können, und der Russe Oparin hatte beim Ausfällen von Proteinen und Nucleinsäuren Gebilde gefunden, die ebenfalls schon entfernt an Zellen erinnerten — sogenannte »Koazervattröpfchen«. 

Der entscheidende Schritt auf dem Wege zur Entstehung vermehrungsfähiger, »belebter« Gebilde aber scheint der Zusammenschluß von Nucleinsäuren mit Eiweißen zu funktionellen Einheiten, zu Arbeitsgemeinschaften, gewesen zu sein. Das hatte der deutsche Biologe Ernst Haeckel im vorigen Jahrhundert noch nicht wissen können, als er spaßeshalber zu einem Forscherkollegen sagte: »Wenn ihr Chemiker erst einmal Eiweiß hergestellt habt, dann krabbelt's auch!« — Eiweiß allein, das wissen wir heute, krabbelt nicht. Es müssen Nucleinsäuren hinzukommen, dann könnte es sich unter Umständen nicht nur bewegen, sondern sogar vermehren.

Um den nächsten Schritt zu tun, müssen wir uns vorstellen, daß dort, wo Systeme aus Nucleinsäuren und Proteinen auftauchten, sie auch wachsen konnten, das heißt, daß sie andere Moleküle anlagerten, aber auch wieder zerfielen. Später mag sich dann jene Arbeitsteilung zwischen den Nucleinsäuren und den Proteinen ergeben haben, die in den heutigen Zellkernen zur Perfektion entwickelt ist: die Nucleinsäuren als steuernde Elemente der Lebensvorgänge, die Proteine als Aufbausubstanzen. Die chemischen Bausteine für all das bot die »Ursuppe« an, außerdem standen eine Reihe chemisch-physikalischer Kräfte zur Verfügung wie Osmose, Diffusion, Kohäsion und Adhäsion.

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Wenn unter den neu entstandenen Verbindungen nun solche waren, die rascher zerfielen und wieder wuchsen oder gar solche, die sich unter der Regie der Nucleinsäuren verdoppeln und damit vermehren konnten, so war erstmals eine Konkurrenz-Situation gegeben: Die schneller reagierenden versorgten sich intensiver mit Aufbaustoffen aus ihrer Umgebung und schmälerten damit das Angebot für die weniger »begabten«. So mag schon auf dieser Stufe der Lebensentstehung die Selektion eingesetzt haben: die »Belohnung« der besser Geeigneten durch Fortpflanzungserfolg, jenes Prinzip, das die gesamte Stammesgeschichte später beherrscht hat.

Das alles spielte sich zu einer Zeit vor schätzungsweise drei bis dreieinhalb Milliarden Jahren ab. Aus dieser Epoche jedenfalls stammen schon Reste primitiver Mikroben, die man in geologischen Schichten entsprechenden Alters fand. Man glaubt auch zu wissen, wie die ersten selbständigen Lebewesen ausgesehen haben könnten: Es dürften Einzeller ähnlich unseren heutigen Blaualgen gewesen sein.

So interessant nun der Vorgang der Lebensentstehung als solcher auch gewesen sein mag — bemerkenswerter für unser Thema ist etwas anderes. Es ist der Umstand, daß die Natur damals schon jene »flankierenden Maßnahmen« ergriffen hatte, die das Selektionsprinzip möglich machten: den Erbwandel und die Überproduktion von Nachkommen. Beide liefern der Auslese immer wieder neues Spielmaterial für die Suche nach dem jeweils Bestangepaßten.

Welche Pflanze, welches Tier auf der Erde es auch gewesen sein mag, sie alle unterlagen seither diesen Spielregeln. Und nur weil sie sich — freilich unbewußt — an sie hielten, konnten sie so erstaunliche Erfolge haben. Nur eine einzige Art, der Homo sapiens, hat, wie wir sehen werden, das in Jahrmilliarden bewährte Prinzip durchbrochen.

Die ganze Tragweite des menschlichen Eingriffs in die Naturordnung wird offenbar, wenn man die »Genialität« jenes fein abgestimmten Kräftespiels durchschaut hat, dem alle vergangenen und gegenwärtigen Lebewesen ihr Dasein verdanken. 

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Grundsätzlich gilt: Wenn im Lauf der Entwicklungsgeschichte aus einfachen Lebensformen kompliziertere hervorgegangen sind und wenn dafür die größeren Fortpflanzungschancen der besser Angepaßten verantwortlich waren, so setzt dies etwas Unabdingbares voraus. Es muß in der Natur Unterschiedliches zur Verfügung stehen, und dieses Unterschiedliche muß Gelegenheit zur Konkurrenz haben. Die erste Frage, die wir beantworten müssen, lautet daher: Wie konnten solche Unterschiede zustande kommen? Gilt denn nicht der Satz, daß Leben auf der identischen Selbstverdoppelung von Nucleinsäuren und Proteinen beruht, also immer nur Gleiches aus Gleichem entstehen kann? Und: Hätten sich die Nachkommen einer Art nicht als lebensunfähig erweisen müssen, wenn sie immer wieder stark von den Eltern abweichende Merkmale hatten? Sie lebten ja mit ihren Eltern unter gleichen Umweltbedingungen, so daß ihnen größere Erdabweichungen schwerlich gut bekommen wären.

Dazu ist zunächst zu sagen, daß die Lebewesen tatsächlich nur ihresgleichen hervorbringen können. Dank der Vererbung also, der Weitergabe arteigener Merkmale an die Nachkommen, bleibt die »Konstanz der Arten« gewahrt. Wir haben jedoch eine kleine Einschränkung zu machen. Die »Vererbung« funktioniert nicht störungsfrei. Manchmal kommt es in ihrem Verlauf zu kleinen »Betriebsunfällen«, zu meist unauffälligen erblichen Merkmalsänderungen. Sie sind es, die schließlich der Auslese das »Unterschiedliche« zur Verfügung stellen. Um das zu verstehen, wollen wir einen Ausflug in die Mikroweit der Gene machen, der Erbanlagen. Sie nämlich bestimmen, wie ein Nachkomme ausfällt: Ob er seinen Eltern mehr oder weniger gleicht oder nicht.

Mit dem Ausdruck »Gen« bezeichnet man einen kleinen Abschnitt auf jenem Informationsträger im Zellkern, den die Biologen als Desoxyribonucleinsäure oder DNS (englisch DNA) erkannt haben. Diese Substanzen müssen wir uns als langgestreckte Moleküle vorstellen, die ungefähr so aussehen wie in der Längsrichtung verdrillte Strickleitern.

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Aufgebaut sind die beiden Stränge der DNS aus ungezählten einzelnen Bauelementen, die wie Perlen auf einer Schnur sitzen. Man hat herausgefunden, daß es vier verschiedene Typen solcher Bauelemente — sogenannte Nucleotide — gibt. Sie unterscheiden sich an ihren basischen Bestandteilen: Gewissermaßen handelt es sich um eine chemisch verschlüsselte Vier-Buchstaben-Schrift aus den Buchstaben A (für die Base Adenin), T (für Thymin), G (für Guanin) und C (für Cytosin). Die Reihenfolge, in der die vier Nucleotid-Typen entlang dem »Strickleiter-Molekül« auftreten, ist der Schlüssel für den genetischen Code, ist das Geheimnis der Erbinformation. 

Hier liegt das Rezept verborgen, das die Zelle braucht, um ihre Aufgaben zu erfüllen. Jeweils drei aufeinanderfolgende Nucleotide auf einem der beiden Stränge bilden das Codewort für eine von zwanzig Aminosäuren, die frei im Innern der Zelle schwimmen und die als Baumaterial für jene Eiweißstoffe dienen, die das Lebewesen für seine Auf- und Abbauprozesse im Stoffwechselgeschehen produzieren muß. Je nachdem, wie die verschiedenen Aminosäuren unter der Regie des genetischen Codes aneinandergehängt werden, entstehen bestimmte Eiweiße mit bestimmten Eigenschaften.

Die Zelle steht also vor der Aufgabe, die »Codewörter« auf der DNS als Produktionsanweisungen für ihre Eiweiß-Fabrikation auszuwerten. Wie macht sie das? Sie benutzt dazu eine zweite Stoffgruppe, die »Boten-Ribonucleinsäure« oder mRNS (m von messenger). Die mRNS-Moleküle entstehen als lange Ketten im engen Kontakt mit der DNS, deren Informationsgehalt sie abtasten, ein Vorgang, den man »Transcription« nennt. Ist das geschehen, so wandern sie an die Eiweiß-Produktionsstätten der Zelle im Zellplasma, die »Ribosomen«. Dort kommt den mRNS-Molekülen eine dritte Gruppe von Nucleinsäuren zu Hilfe, die »Transfer-Ribonucleinsäuren« oder tRNS. Ihr obliegt es, die Aminosäuren für den Zusammenbau der Eiweißmoleküle herbeizuschaffen wie die Maurerlehrlinge die Ziegelsteine für den Hausbau. Unter der Aufsicht der mRNS werden die Aminosäuren dann zu den vom Körper gebrauchten Eiweißen zusammengesetzt (Translation).

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Hat man diesen zugegebenermaßen nicht gerade einfachen Sachverhalt erst einmal verstanden, so fällt es nicht schwer, auch hinter das Geheimnis zu kommen, wie die Natur immer wieder kleine Erbabweichungen fabriziert, mit anderen Worten: wie die erblich abgewandelten Individuen Zustandekommen, von denen wir sprachen, und deren Fortpflanzungschancen in einer gegebenen Umwelt größer oder kleiner sind.

Um was es geht, ist einfach die Tatsache, daß bei der gleichartigen Nachbildung der DNS während der Zellteilungen, der >Reduplikation<, immer wieder einmal kleine »Druckfehler« unterlaufen. Äußere Einflüsse wie energiereiche Strahlen, Chemikalien oder Hitze spielen hier Schicksal. Sie sind es, die ab und zu an der chemischen Struktur der DNS etwas ändern. Da kann es geschehen, daß Nucleotidpaare — zwei sich gegenüberstehende Nucleotide auf der DNS-Strickleiter — herausfallen oder ein zusätzliches Paar eingeschoben wird, oder daß ganze Abschnitte der DNS, das heißt, Teile von Erbanlagen, verlorengehen oder an falschen Stellen wieder eingesetzt werden.

Wichtig sind vor allem die kleineren Zwischenfälle dieser Art. Man nennt sie »Punktmutationen«. Während schwerere »Druckfehler« meist mit dem Tode des Keimes enden und damit für die Evolution belanglos bleiben, haben besonders die Punktmutationen stammesgeschichtliche Auswirkungen. Wo und wann immer sie sich ergeben, da hat dies auch Folgen für die Eiweiß-Produktion in der Zelle. Die Geschichte ist einfach: Eine veränderte Stelle auf der DNS bedeutet eine veränderte Information. Der »Druckfehler« wird mit abgelesen und bis hin zu den Ribosomen weitergeschleppt — dorthin, wo die Eiweißstoffe entstehen. 

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Irgendeine Aminosäure kann dann nicht mehr in ausreichender Menge beim Zusammenbau der vom Code geforderten Proteine von den tRNS-Molekülen »beschafft« werden, oder es werden falsche Aminosäuren eingebaut, oder es fehlen Aminosäuren überhaupt. Handelt es sich dabei um besonders wichtige, vielleicht um solche, die an »aktiven« Stellen der dreidimensionalen Proteinmoleküle sitzen müßten, so kann dies schwerwiegende Folgen haben. Die Zelle kann dann unter Umständen einen für den Organismus lebenswichtigen Stoff nicht mehr richtig produzieren.

Beispiele für solche biochemischen Betriebsstörungen sind beim Menschen bestimmte Erbkrankheiten des Stoffwechsels. Sie treten auf, wenn der Körper die für den Auf- oder Abbau lebensnotwendiger Stoffe benötigten Enzyme nicht oder nicht ausreichend herstellen kann, weil dafür die korrekte Produktions­anweisung in der DNS »unleserlich« geworden ist (auch Enzyme sind Eiweiße). So entstehen die gefürchteten Enzym-Mangelkrankheiten wie die Phenylketonurie, die Ahorn-Sirupkrankheit und viele andere.

Zum Glück sind so schwerwiegende Vorkommnisse aber verhältnismäßig selten. Im Regelfall bleiben die Träger der Erbinformation im Lauf der Vererbung stabil oder werden nur unwesentlich verändert, das heißt, normalerweise stellen die DNS-Doppelwendel ihre Ebenbilder vor jeder Zellteilung originalgetreu wieder her. Manchen Fehler in ihrem genetischen Apparat kann die Zelle auch mit »bordeigenen Mitteln« rasch reparieren. Sie besitzt dafür eine Art chemisches Werkzeug in Gestalt von Reparatur-Enzymen, mit denen sie die eine oder andere kleinere Panne behebt. Alles in allem hält sich die Anzahl der Druckfehler innerhalb einer bestimmten Zeitspanne, die »Mutationsrate«, in maßvollen Grenzen. Sie ist niedrig genug, um die Lebensfähigkeit einer Art nicht in Frage zu stellen, aber hoch genug, um genügend Träger neuer Erbeigenschaften hervorzubringen.

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Solche »Abweichler« sind allerdings der eigentliche Motor der Stammesentwicklung. Sie kommen zum Zuge, wenn sich die Umweltverhältnisse einmal ändern, so daß die neue Eigenschaft einen Sinn erhält. Oder sie bewähren sich, wenn sie ihrem Träger bei gleichbleibender Umwelt eine größere Fortpflanzungschance verschaffen. So weit, so gut. Daß wir Menschen die Mutationsrate durch allzu sorglosen Gebrauch von Röntgenstrahlen und unseren Umgang mit gewissen Chemikalien künstlich erhöht haben, muß heute Sorge bereiten. Wir wollen an dieser Stelle nur andeuten, daß der Homo sapiens auf diese Weise in das Gefüge der Evolutionskräfte, in das bis dato sichere Funktionieren fundamentaler Lebensgesetzlichkeiten eingegriffen hat. Wir werden noch ausführlich darüber sprechen.

 

Halten wir fürs erste fest: 

Der naturgegebene Vorgang, durch den in der DNS erbändernde Ereignisse — Mutationen genannt — mit einer bestimmten Häufigkeit auftreten, spielt der Umwelt als prüfender Instanz immer wieder neue Eigenschaftskombinationen zu, so daß die Auslese langsam, aber sicher für immer besser angepaßte Lebewesen sorgen kann und die weniger Geeigneten gleichzeitig verdrängt. Das geschah nicht nur mit jenen ersten, vermehrungsfähigen Gebilden aus Nucleinsäuren und Eiweißen, damals, als das Leben seinen Uranfang nahm, sondern es geschieht überall, wo Leben ist — von der einzelligen Alge angefangen bis hin zu den Menschenaffen. Und es betraf ursprünglich auch uneingeschränkt den Menschen.

Verallgemeinernd läßt sich sagen, daß die heutige Artenfülle auf der Erde im Grunde nichts anderes ist als das Ergebnis des Zusammenwirkens zweier voneinander getrennter Vorgänge: dem der richtungslosen und zufälligen Erbänderungen im Bereich der DNS-Moleküle, und dem der anschließenden Auslese unter den entstandenen, erblich unterschiedlichen Lebewesen je nach deren Eignungsgrad in ihrer Umwelt.

So einleuchtend dies ist, so schwer akzeptabel scheint es für viele zu sein. Manche im religiösen Glauben festgelegte Menschen empfinden es als Zumutung, daß Tiere und Pflanzen, ja sie selbst und ihre Mitbürger nichts anderes sein sollten, als »Produkte blinden Zufalls«.

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Sie bringen es offenbar nicht fertig sich vorzustellen, daß es »nur« physikalische und chemische Kräfte gewesen sind, die sowohl das Leben einst hervor­brachten, als auch für dessen stete Höherentwicklung zu immer zweckvolleren und besser angepaßten Formen, zu immer differenzierteren Verhaltens­weisen gesorgt haben. Sie verweisen bei Streitgesprächen gern auf Beispiele für besonders unwahrscheinliche Ergebnisse solchen »Zufalls«, wie etwa die Vielgestaltigkeit des Vogelgefieders, auf die Zweckmäßigkeit der Sinnesorgane, auf die Blütengestalten der Orchideen oder — natürlich — auf das menschliche Gehirn, dem wir abstraktes Denken, Liebesglück und das Wissen vom Zeitablauf verdanken. In seiner Einmaligkeit, so meinen sie, spreche das Menschenhirn allen materialistischen Zufallsthesen von seiner Entstehung Hohn.

In der Tat haben wir hier ein nicht gerade einfach durchschaubares Problem vor uns. Die Frage stellt sich, wie etwa das menschliche Auge mit seinen verschiedenen, für sein richtiges Funktionieren unerläßlichen Bestandteilen allein dank der natürlichen Auslese entstanden sein kann. Die Kritiker argumentieren ungefähr so: Wie sollte es möglich sein, daß zufällig und zeitlich nacheinander ausgerechnet jene Erbeigenschaften in der richtigen Reihenfolge aufgetreten sind, die das »sonnenhafte« Organ letzten Endes ausmachen? Normalerweise ist ja jede Mutation ein »Fehler« im Erbgefüge. Wie also sollte aus lauter Fehlern etwas entstehen, dessen erstaunliches Funktionieren wir jeden Tag aufs neue bewundern?

Ein weiterer Gesichtspunkt ist, daß jede Erbabweichung für das betreffende Lebewesen vorteilhaft sein muß, wenn sie erhalten bleiben soll. Wo aber hätte der Vorteil eines Linsenkörpers oder einer Iris gelegen, wenn nicht alle anderen, zum Auge gehörenden Bestandteile schon vorhanden gewesen oder gleichzeitig entstanden wären? Muß man also nicht folgern, daß ein so kompliziertes Gebilde wie das Auge oder das Ohr entweder auf einen Schlag dagewesen ist — was der Evolutionslehre widerspräche — oder überhaupt nicht zustandegekommen sein kann? 

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»Wir könnten«, so formulierte es einmal ein Kritiker Darwins, »geradesogut annehmen, daß wir die Räder, Schrauben und andere Bestandteile eines Uhrwerks, die wir in einen Kasten getan haben, durch einfaches Schütteln dazu bringen, sich so zu ordnen, daß sie eine funktionsfähige Uhr werden.«

Die Biologie hat diesen Einwand durchaus ernst genommen, aber sie hat ihn auch widerlegen können. Sieht man nämlich genauer hin, so setzt die These der Kritiker stillschweigend voraus, daß stammesgeschichtliche Vorstufen komplizierter Organe noch nicht funktionsfähig waren, unter ihnen auch das Auge. Das ist aber nicht der Fall. Auch die Vorfahren des Menschen bis hinab zu den Amphibien und Fischen haben Augen. Selbst das »Urwirbeltier«, das Lanzettfischchen, besitzt lichtempfindliche Pigmentzellen. Alle diese Augen-Vorläufer waren und sind ihren Trägern nützlich, obwohl sie einfacher gebaut erscheinen. Man kann also den Einwand, komplexe Anpassungen seien mit der Mutations-Auslese-Theorie nicht zu erklären, mit dem Hinweis auf den langen Prozeß der Vervollkommnung eines Organs entkräften, dessen Vorstufen durchaus ihren — wenn auch abgestuften — Nützlichkeitswert hatten. Der Mutations-Ausleseprozeß, der zu komplizierten Organen führte, vollzog sich in kleinen Schritten, unter denen auch nutzlose und schädliche waren — die von der Auslese verworfen wurden —, deren vorteilhafte aber jeweils kleine Verbesserungen des bestehenden Zustandes bedeutet haben.

Nicht wenigen Kritikern der Evolutionslehre fällt es aber ganz allgemein schwer, den Ablauf jenes Geschehens nachzuvollziehen, das für die Entwicklung neuer und erfolgreicher Eigenschaften bei den Lebewesen ebenso wie für die Artenentstehung verantwortlich ist. Sie übersehen allzu leicht, daß der Zufall bei all den Anpassungen und Zweckmäßigkeiten, also auch bei der Entstehung des menschlichen Gehirns, nur im jeweils ersten Akt eines zweiteiligen Vorganges wirksam ist. Tatsächlich wäre es unvorstellbar, ja völlig ausgeschlossen, daß allein durch Zufall selbst im Zeitraum von Jahrmillionen ein Gebilde wie das einer Algenzelle in noch so kleinen Entwicklungsschritten hätte entstehen können, denn wie sollte der Zufall allein zu immer besseren Anpassungen an die Umwelt führen?

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Der Zufall als einziger Regisseur auf der Bühne des Lebens hätte bei der Entstehung von derzeit mehr als 1,5 Millionen meist hervorragend angepaßter Tier- und nahezu 400.000 Pflanzenarten tatsächlich auf hoffnungslos verlorenem Posten gestanden. Nur weil nachträglich die Auslese in Gestalt der Umwelt-Gegebenheiten eingreift, nur weil die Umweltfaktoren wie Kälte, Hitze, Feinde, Nahrungsangebot und viele andere das vorgegebene »Spielmaterial« der erblich unterschiedlichen Individuen auf seine Eignung hin prüfen und den Bestangepaßten schließlich bessere Vermehrungschancen verschaffen — nur deshalb konnten die zahlreichen Arten entstehen und immer höhere Komplikationsgrade erreichen. Nur deshalb haben wir eine so bunte belebte Welt. Und nur deshalb gibt es auch uns, die Menschen, mit unseren Gehirnen.

Mit diesen Fragen hatte sich auch der große englische Biologe Charles Darwin schon beschäftigt. Die Ergebnisse seines Nachdenkens und Beobachtens veröffentlichte er 1859 in seinem berühmten Werk über die »Entstehung der Arten«. Darwins Theorie von der natürlichen Auslese, inzwischen langst gesichertes Wissensgut unserer Zeit, war damals auf die erbitterte Kritik der Kirche gestoßen. Wer Darwin folge, so erklärten die Gottesdiener, der leugne die Geschichte von Adam und Eva aus der Bibel und stelle sich auf den Standpunkt, daß zottige Affen mit schlechten Manieren die Urahnen des Menschengeschlechtes gewesen seien. 

Das war schlechterdings eine Todsünde. Aber es war nicht alles, was der alte Darwin zu hören bekam. Bis in unsere Zeit hinein verkannten und verkennen viele den Ausdruck »Kampf ums Dasein« (struggle for life). Sie verstanden Darwin so, als wollte er darauf hinaus, daß in der Natur die Stärksten sich durchsetzen, indem sie die Schwächeren töten.

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Das Mord-und-Totschlag-Bild seiner Theorie hielt sich hartnäckig als eines der großen historischen Mißverständnisse, es wurde sogar zum Anlaß verhängnis­voller Ideen vom »Recht des Stärkeren«, das Darwin angeblich nachgewiesen haben sollte.

Richtig ist, daß Darwin den Ausdruck »Kampf ums Dasein« im Sinne eines Konkurrenzkampfes verstanden hatte. Tatsächlich ist ja der »Wettbewerb der Erbmerkmale« um den jeweils größten Auslesevorteil ein vorwiegend friedliches Geschehen, dessen Ergebnis unterschiedliche Fortpflanzungschancen sind. Diese wieder wirken sich so aus, daß weniger geeignete Individuen einer Art von den besser Angepaßten zahlenmäßig allmählich verdrängt werden und unter Umständen auch aussterben.

Für all das gibt es in der Natur zahlreiche Beispiele. Die Rivalenkämpfe der Hirsche, die sich mit ihrem Geweih nicht töten, sondern in »Schiebekämpfen« nur ihre Kräfte um die Gunst der weiblichen Tiere messen, die Kommentkämpfe unter Schlangen ohne Einsatz der Giftzähne, die zähnefletschenden Wölfe, deren Aggression sofort erlischt, wenn der Artgenosse am Boden die Unterwerfungsgeste macht — man braucht die Aufzählung nicht fortzusetzen.

Natürlich läßt sich einwenden, das Getötetwerden spiele bei der Auslese der Tauglichsten doch noch eine gewisse Rolle. Beim Angriff eines Bussards auf zwei spielende Junghasen geht es ja durchaus um Leben oder Tod. Versetzen wir uns zu den umhertollenden Langohren aufs Feld: Der Greifvogel hat die beiden aus der Luft erspäht und setzt zum Angriff an. Einer der beiden Hasen mag den herabstürzenden Vogel um Sekundenbruchteile eher bemerken. Im letzten Augenblick gelingt es ihm, hakenschlagend in den Bau zu entwischen. Der andere dagegen fällt den Fängen des Vogels zum Opfer, weil er eine Spur unachtsamer war. Findet hier nicht doch ein brutaler Daseinskampf auf Gedeih und Verderb statt?

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Es scheint nur so! Denn man muß unterscheiden zwischen dem auslesenden Vorgang in Gestalt des tötenden Bussards und dem Wettbewerb der Erbmerkmale, der sich allein zwischen den beiden Jungtieren abspielt. Der achtsamere Hase überlebt. Er hat damit die Chance, seine vorteilhaftere Anlage weiter zu vererben, während der unachtsame Artgenosse an der Weitergabe seiner Anlagen gehindert wird. Nicht die Hasen kämpfen, sondern die Umwelt — hier der Bussard — führt die Auslese durch. Dieses Beispiel mag ein weiteres Mißverständnis ausräumen, dem die Entwicklungslehre in der Biologie häufig begegnet. 

Es zeigt nämlich, daß die Auslese, die Selektion, im Grunde richtungslos oder, wenn man so will, »planlos« wirkt. Denn der einzige Ansatzpunkt, den sie hat, sind ja die ihrerseits richtungslos auftretenden Erbabweichungen (hier die unterschiedlich aufmerksamen Hasen), während der Maßstab, nach dem sie selektiert, wiederum nur die gerade herrschenden Umweltverhältnisse sind (hier der jagende Bussard). Ebensogut könnte das Klima oder das Nahrungs­angebot der auslesende Umweltfaktor sein. 

So ist zu schließen: Die Lebewesen unseres Planeten sind zwar keine Zufallsprodukte, aber sie sind auch keine Ergebnisse eines erlauchten Planes, der von Anfang an mit dem Ziel bestanden haben könnte, den Menschen als Krone der Schöpfung hervorzubringen, so hilfreich für den Seelenfrieden mancher diese Vorstellung auch sein mag. Alles deutet vielmehr darauf hin: Wir Menschen und mit uns die Welt des Lebendigen sind das Resultat ungezählter Augenblicks­entscheidungen, die ohne jede »Voraussicht« erfolgt sind; wir alle sind von Kräften geschaffen worden, die gar nicht anders konnten als für die jeweilige Gegenwart zu wirken. 

Daß es unter diesen Umständen zur Evolution und zur Höherentwicklung der Arten kam, mag zwar überraschen, ist aber zwangsläufig, wenn man das Prinzip von Mutation und Auslese konsequent berücksichtigt. Erstaunlicher mutet an, daß so viele unter uns sich die Zweckmäßigkeit von Verhaltensweisen oder Organleistungen nicht anders als von einem göttlichen, das heißt menschenähnlichen Geist erschaffen denken können, und daß sie dem Unbelebten so wenig zutrauen.

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Um solche Denkschwierigkeiten zu überwinden, sollte man wissen, daß das Ergebnis »planlos« wirkender Kräfte durchaus den Eindruck eines Planes hervor­rufen kann, solange nur ein Bezugssystem — die Umwelt — existiert, in das hinein entwicklungsfähige Größen — die Lebewesen — sich immer wieder integrieren müssen oder von der Auslese integriert werden, um nicht auszusterben. Genau dieses Prinzip aber sehen wir auf der Erde verwirklicht. Es kommt aus drei Gründen zum Zuge.

Erstens bringen alle Tiere und Pflanzen mehr Nachkommen hervor als nötig wären, um das früher oder später verendende Elternpaar zu ersetzen. Je nach dem Grad der Nachwuchsgefährdung durch Umweltfaktoren ist die Nachkommenzahl größer oder kleiner. Ein Seeadler, der nur von wenigen Feinden bedroht ist (die Bedrohung durch den Menschen datiert erst seit kurzer Zeit), bringt im Jahr nur ein, zwei Junge zur Welt. Ein Apfelwickler-Pärchen dagegen kann innerhalb eines Vierteljahres theoretisch mehr als 400 Milliarden Nachkommen hervorbringen. Wollte ein Menschenpaar auch nur auf ein Hundertstel der dreimonatigen Fruchtbarkeit dieses Obstschädlings kommen, so brauchte es dafür eine Million Jahre.

Da nun eine bestimmte Tier- oder Pflanzenart sich nie stärker vermehren kann, als die gegebene Umwelt es zuläßt, und da andererseits die Bestände der einzelnen Arten erfahrungsgemäß etwa gleichbleiben, wenn sie einen gewissen Umfang erreicht haben, müssen die weitaus meisten Nachkommen zugrunde gehen, bevor sie sich fortpflanzen können. Das ist der eine Grund.

Der zweite ist: die Nachkommen einer Tier- oder Pflanzenart sind untereinander nicht alle gleich. Sie unterscheiden sich voneinander in meist geringfügigen erblichen Abweichungen. Auch wir Menschen sind von Natur nicht gleich, denn wir kommen mit unterschiedlichen Erbanlagen zur Welt. Darum ist es unsinnig, die Gleichheit der Menschen zu behaupten. 

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Selbst »Chancengleichheit« ist ohne nähere Erläuterung eine leicht irreführende Bezeichnung, denn wenn junge Menschen mit unterschiedlichen Erbanlagen gleiche Startbedingungen für ihre Lebenswege erhalten, dann haben sie mit ihrem unterschiedlichen Intelligenzgrad, ihrer größeren oder geringeren Lern- und Engagierfreude auch unterschiedliche Chancen, Ziele zu erreichen. 

Sie sind den Hundertmeter-Läufern am Start vergleichbar: Die Laufbahnen sind gleich lang und gleich gut, die Startlöcher liegen auf gleicher Höhe. Und doch erreicht der eine Läufer das Ziel früher als der andere. Wem daran gelegen ist, daß alle zugleich durchs Ziel gehen, der kann dies nur bewirken, indem er die Leistungschancen manipuliert. Er muß die Lauf er unterwegs mehr oder weniger behindern, also ungleich behandeln, um dann freilich ein niedrigeres allgemeines Leistungsniveau zu erreichen. Er darf, mit anderen Worten, den Menschen den selbstverständlichen Anspruch auf gleiche Startbedingungen nicht erfüllen. Aber das gehört schon auf ein anderes Blatt.

Drittens stellt das Angebot unterschiedlicher Eigenschaftskombinationen innerhalb der Arten das Rohmaterial für die Auslese dar. Es kommt im wesentlichen zustande durch Punktmutationen und — im Fall der geschlechtlichen Fortpflanzung — auch durch die ständige Neukombination der individuellen Erbanlagen-Bestände.

Eines der augenfälligsten Ergebnisse dieser ineinandergreifenden Kräfte ist die Zweckmäßigkeit in der Natur, sind die »sinnvollen« funktionellen Anpassungen von Tieren und Pflanzen an ihre Umweltverhältnisse. Nahezu alle Formen und Funktionen, die uns im Tier- und Pflanzenreich begegnen, lassen sich auf irgendeine Weise als Produkte dieses Kräftespiels erkennen: die Stromlinienform bei gewandten Schwimmern wie Haien und Delphinen, die Flügel der Mauersegler, der Albatrosse und zahlreicher Insekten, das Echolot-Organ der Fledermäuse, mit dem sie ihre Beute im Flug orten, die weichen, zum lautlosen Schleichen gepolsterten Katzenpfoten, das Liebeswerben, das Aggressionsverhalten, die Ernährungsgewohnheiten — die Liste läßt sich beliebig erweitern. Bei den höheren Pflanzen sind es die ungezählten Anpassungen der Blütenform an die nektarsaugenden Mundwerkzeuge der Insekten, die wasserspeichernden Kakteenblätter, die Stacheln der Rosen ...

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Selbst Organe, deren Zweck offenbar besser erfüllt würde, wenn sie anders geformt wären, werden verständlich, wenn sich erweist, daß sie mehrere Funktionen haben und ihre Gestalt einfach den bestmöglichen Kompromiß zwischen den verschiedenen Anforderungen bildet. Beispiele sind die Haut der Amphibien, die sowohl zur Atmung als auch zum Schutz dient, also nicht zu dick, aber auch nicht zu dünn sein darf. Der Spechtschnabel dient als Pinzette beim Aufpicken von Larven, als Schaufel beim Suchen im Laub, als Meißel beim Bau der Spechthöhle, als Resonanzboden bei der Lauterzeugung und als Instrument zur Gefiederpflege: Würde er nur jeweils einer dieser Aufgaben zu dienen haben, so hätte er sicher eine andere, dem betreffenden Zweck angemessene Form.

 

Wie rasch die Auslese das Erscheinungsbild einer Tierart unter Umständen ändern kann, dafür hat eine Gruppe von Nachtfaltern in England im letzten Jahrhundert ein schönes Beispiel gegeben. Als Folge der zunehmenden Luftverschmutzung hatten sich in der Gegend um Manchester die Sträucher und Baumrinden mit einer unansehnlichen Schmutz- und Rußschicht überzogen. Ihre zuvor helle Rinde war dunkel geworden, und mit dem Dunklerwerden hatte sich auch die Situation für die Falter verändert. Ihre erblich helleren Formen waren ursprünglich wegen der Tarnfärbung bisher von der Auslese bevorzugt worden. Zunehmend fielen nun jedoch die hell gefärbten Tiere auf der dunklen Rinde ihren Feinden auf und wurden deren leichte Beute, noch ehe sie sich fortpflanzen konnten. Andere, die dank einer Mutation zufällig dunkler waren, hatten dagegen einen Auslesevorteil. So dauerte es nicht lange, bis die dunklen die Szene beherrschten. In Zahlen ausgedrückt sah das so aus: Von rund 800 Nachtfalter-Arten hatten die meisten noch vor hundert Jahren eine helle Färbung, dank derer sie auf den hellen Stämmen für das Auge ihrer Verfolger fast verschwanden.

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In den fünfziger Jahren unseres Jahrhunderts lebten dagegen schon rund 70 dunkel gewordene Arten. Eine erste, dunkle Variante des Birkenspanners Biston betularia wurde schon im Jahre 1848 in der Umgebung von Manchester entdeckt. Sie machte damals weniger als ein Prozent des gesamten Birkenspanner-Bestandes aus. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, mit zunehmender Verschmutzung, waren schon mehr als 99 Prozent aller Birkenspanner in der Nähe von Manchester schwarz. Die Vögel hatten die Auslese besorgt.

Anpassung folgt also wechselnden Umweltbedingungen. Umgekehrt braucht sich nichts anzupassen, wo die Umwelt über lange Zeiträume gleich bleibt. Das trifft für manche Bewohner der lichtlosen Ozeantiefen zu. Zahlreiche Muscheln, Würmer und Einzeller, die dort leben, haben ihren Körperbau über Jahrmillionen nicht oder nur geringfügig zu verändern brauchen.

 

Mit welchen Tricks die Natur arbeitet, um die Anpassung an die Umwelt auch unter extremen Bedingungen zu erzwingen, damit die Art erhalten bleibt, zeigt das Beispiel des Resistentwerdens von Krankheitskeimen. Das Resistenzbeispiel läßt aber auch das Risiko des Nichtgelingens erkennen, und hier sollte der Mensch von den Bakterien lernen: Dort, wo die Anpassung an neue Umweltverhältnisse danebengerät, sind zumeist große Teile oder der gesamte Bestand einer Art von der Vernichtung bedroht.

Doch sehen wir uns einmal die erfolgreichen Arten an. Unter den Mikroben, das wissen wir alle, befinden sich gefährliche Krankheitserreger. Der Mensch aber, will er nicht krank werden oder vorzeitig sterben, muß sich gegen sie wehren. Viele Mikroben sind also die Feinde des Menschen. Andererseits sollten wir uns eingestehen, daß auch die Mikroben Lebewesen sind und nur ihr »Recht auf Leben« verteidigen. Wir dürfen uns auch nicht wundern, wenn dieser Kampf immer erfolgreicher wird, so daß wir es zunehmend schwerer haben, sie mit dem Penicillin oder anderen antibiotischen Arzneien zu besiegen.

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In letzter Zeit erweisen sich zahlreiche Krankheitskeime immer öfter als widerstandsfähig gegen die stärksten gegen sie eingesetzten Chemikalien — sie werden »resistent«. Wie machen sie das?

Sie haben dazu verschiedene Möglichkeiten. In keinem Fall jedoch darf man sich die Resistenzentwicklung als aktiven Vorgang denken, als gezielte Reaktion des Erregers auf die gegen ihn verwendete antibiotische Arznei — etwa so wie die Taktik eines Boxkämpfers, der zunächst die Schwächen des Gegners zu erkennen sucht, der ihn erst einmal abtastet, um sich dann erfolgreich auf ihn einzustellen. Die Resistenz entwickelt sich vielmehr nach dem gleichen Prinzip von Mutation und Auslese, das auch der Evolution zugrunde liegt. Die Fähigkeit, einem Antibiotikum zu trotzen, ist also in vielen Fällen schon vor der Berührung mit ihm als zufällig entstandene Erbeigenschaft einzelner Krankheitskeime vorhanden. Diese Keime überleben die antibiotische Attacke und bilden später, nachdem sie sich selektiv vermehrt haben, den gefürchteten »resistenten Stamm«.

Daß dem wirklich so ist, daß also die Resistenz schon bestehen kann, noch bevor das Antibiotikum überhaupt auf den Plan tritt, läßt sich auf ebenso einfache wie elegante Weise mit der sogenannten Replika-Technik nachweisen. Man läßt dazu Bakterien zunächst auf einem künstlichen Nährboden wachsen und sich vermehren. Wenn der Mikrobenrasen dicht genug ist, drückt man einen Samtstempel leicht darauf, so daß die Stempelfläche die ganze Kolonie bedeckt. Überträgt man die am Stempel haftenden Keime anschließend auf einen zweiten, antibiotikahaltigen Nährboden, so werden die weitaus meisten Keime vom Antibiotikum vernichtet, bevor sie sich fortpflanzen können. Einige wenige Keime aber wachsen an und vermehren sich — es sind die resistenten. 

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Da der Samtstempel auf dem Antibiotika-Nährboden ein topographisch getreues Abbild der ursprünglichen, antibiotikafreien Kultur geliefert hat, gelingt es leicht, diejenigen Stellen auf ihr wiederzufinden, von denen die resistenten Bakterien stammten. Impft man sie ab und läßt sie auf einem neutralen Nährboden sich vermehren, so erhält man resistente Stämme, die nicht durch das Antibiotikum erzeugt sein können, da sie ja nie mit ihm in Kontakt waren.

Komplizierter ist die Sache, wenn eine resistenzerzeugende Erbeigenschaft auf andere Weise entsteht als durch eine zufällig schon vorher eingetretene Mutation. Gehen wir einmal davon aus, einige bakterielle Erreger aus einer größeren Anzahl verfügten über die Eigenschaft »resistent gegen Antibiotikum X«. Dann kann diese Eigenschaft auch durch eine Art Ansteckung auf andere, bis dahin noch gegen das Antibiotikum empfindliche Keime übertragen werden. Diese »übertragbare« Resistenz wurde zum erstenmal im Jahre 1959 in Japan beobachtet. Sie beruht darauf, daß genetisches Material von einer Bakterienzelle auf eine andere übermittelt wird. Das kann entweder durch sogenannte »Transformation« geschehen oder durch »Transduktion« unter Mithilfe von bakterienbefallenden Viren (Phagen), schließlich auch durch eine Art sexuellen Vorgang, den man »Konjugation« nennt.

Bei der Transformation gehen Bruchstücke von genetischem Material, also DNS-Moleküle, von einer Zelle auf die andere über — man sagt: von einer »Donor«— auf eine »Akzeptorzelle«. Bei der Transduktion spielen Phagen die Rolle der »Briefträger« für das Resistenzgeheimnis. Sie beladen sich, nachdem sie eine Weile als harmlose Gäste in einem Bakterium zugebracht haben, mit Teilen seiner DNS und wandern dann zu einem zweiten Bakterium ab, an dessen Zell wand sie sich fest anschmiegen. Ein chemischer Prozeß sorgt anschließend dafür, daß an der Haftstelle ein winziges Loch wie von einem Drillbohrer entsteht. Durch die Öffnung in der Bakterienwand wird daraufhin der Phageninhalt mit seiner um die Resistenz »wissenden« DNS injiziert. Bei der Konjugation nähern sich zwei Bakterien einander, eine Plasmabrücke entsteht, und durch das Plasma hindurch wird nun die DNS als Informationsträger für das »Geheimrezept« der Resistenzbildung in das noch »unwissende« Bakterium eingeschleust.

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Ihre Resistenz gegenüber einem gegen sie eingesetzten Antibiotikum zeigen die Keime auf recht verschiedene Weise. Zum Beispiel kann ein Krankheitserreger ein Enzym bilden, einen Stoff, der das Antibiotikum zersetzt, und sich damit erfolgreich gegen die auf ihn angesetzte Vernichtungswaffe verteidigen. So wird von manchen Bakterien das Enzym Penicillinase produziert, das das Penicillin wirkungslos macht. Eine andere Taktik besteht in einem biochemischen Trick, mit dem bestimmte Erreger ihre Zellwände zeitweise abwerfen wie Insekten ihre Haut. 

Ein solcher Keim macht damit seine Achillesferse immun, denn viele heute gebräuchliche Antibiotika setzen ihre Angriffe an der Zellwand des Erregers an. Wie eine nackte Amöbe verbringt der Keim daraufhin einige Zeit, bis die Gefahr vorüber ist. Vergleichsweise verhält er sich wie ein von einem Gasangriff bedrohter Mensch, der in der Lage wäre, seine Atemorgane vorübergehend schadlos in Sicherheit zu bringen. Oder es können in der Zellwand des Keims chemische Veränderungen stattfinden, die den Keim schützen. Schließlich ist es denkbar, daß die biochemische Empfindlichkeit der Enzyme, die der Erreger herstellt und die das Medikament zu zerstören suchen, herabgesetzt wird, so daß die Behandlung erfolglos bleibt.

»Das Großhirn unserer Chemiker«, hat Professor Gerhard Domagk einmal gesagt, »wird noch so manchen Pilzverstand überholen.« Der Nobelpreisträger von 1939 wollte damit ausdrücken, daß es uns Menschen immer wieder gelingen werde, die Abwehrmanöver jener Kleinstlebewesen zu durchkreuzen, die uns das Leben als Krankheitserreger so schwer machen. Inzwischen haben wir freilich allen Grund, den »Mikrobenverstand« nicht zu unterschätzen.

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Die Resistenz so ausführlich zu besprechen hätte zu weit geführt, wenn sie nicht zum Thema des Buches einen wichtigen Gesichtspunkt beitragen würde. Man kann nämlich die Antibiotika-Behandlung einer von Mikroben verursachten Krankheit auch anders sehen als einen Gegenschlag des Arztes. Man kann die Therapie als massive, vom Menschen inszenierte Änderung der Umwelt-Verhältnisse für eben diese Krankheitskeime auffassen, mit dem Ziel, sie zu töten. Die Keime ihrerseits wehren sich dagegen, indem sie vor allem die Waffe ihrer raschen Generationsfolge, ihrer extrem schnellen Vermehrung benutzen. Schnelle Vermehrung bedeutet größere Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von erblichen Schutzeigenschaften gegen die lebensbedrohende Umwelt-Änderung (hier das Antibiotikum). 

Wir Menschen mit unserer langsamen Generationenfolge hätten diese Waffe nicht, falls uns einmal eine durchgreifende Umweltveränderung ins Haus stehen sollte. Auch wir vermehren uns zwar rasch — gemessen an unserem Lebensraum viel zu rasch — aber doch kaum der Rede wert im Vergleich zu den Mikroben. Das ist auch der Grund, weshalb uns Menschen keine Zeit mehr zu einer wie auch immer gearteten Anpassung an unsere zusehends rascher denaturierte Umwelt bleiben wird. Wir werden ihre Opfer werden, vergleichbar Bakterien, denen die Fähigkeit zur Resistenzentwicklung abhanden gekommen ist.

Um zu überleben, haben sich Tiere und Pflanzen bis hinab zu den Mikroben noch mancherlei einfallen lassen. Der sogenannte Kampf ums Dasein schenkte ihnen nichts. Ihr Arsenal an nützlichen Eigenschaften reicht denn auch von der Tarnfarbe bis zum Parasitismus, von roher, physischer Kraft bis hin zur Brutpflege. Aus der Fülle erstaunlicher Leistungen im Tier- und Pflanzenreich zu berichten, hieße ganze Bücher füllen — die »Wunder des Lebens« sind Legion. Pars pro toto: Welcher Ingenieur sähe nicht immer wieder mit Neid, wie schlichte Grashalme oder 50, 60 Meter hohe Baumriesen selbst starken Stürmen trotzen, ohne zu brechen? Keine noch so geniale Stahlkonstruktion täte es ihnen an Elastizität gleich.

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Oder die extreme Empfindlichkeit der Sehzellen in den Augen von Tieren und Menschen: Wahrscheinlich genügt schon ein einzelnes Lichtquant— das ist der geringstmögliche physikalische Impuls für die Entstehung von Licht —, um von diesen Zellen registriert zu werden. Ein anderes Beispiel: Die Riechzellen eines Seidenspinner-Männchens sind so sensibel, daß sie schon ein einzelnes Duftmolekül des weiblichen Sexual-Lockstoffes wahrnehmen. So kann der vom Geruch betörte Schmetterling — dem Wind entgegenfliegend — das Weibchen finden.

Auch die Zubereitung und der Einsatz tötender, lähmender oder abschreckender Gifte zählen zu den Methoden der Überlebensstrategie. Zahlreiche Tiere wehren sich mit gefährlichen Stoffen ihrer Haut, machen damit Beute oder entgehen Biß und Verfolgung ihrer Widersacher. Wir alle kennen das Ameisen- und das Bienengift, haben vom Gift der Kröten gehört, dem Bufotoxin, wir wissen vom Cantharidin der Spanischen Fliegen, vom Fugogift der japanischen Igelfische, vom Muschelgift Mytilotoxin, und wir fürchten die Schlangengifte. Alle diese Stoffe synthetisieren die Tiere in ihren Körpern, und sinnreiche Einrichtungen sorgen dafür, daß sie sich nicht selbst schaden.

Eines der imponierendsten Beispiele dafür liefert der Bombardierkäfer. Er stellt ein Sekret her, das ihn gewissermaßen zum Chefchemiker unter den Insekten stempelt. Er speichert Wasserstoffperoxid als Perhydrol und kann dies, wenn Gefahr im Anzug ist, mit einem besonders geeigneten Enzym- einer temperatur­stabilisierten Katalase — zur Explosion bringen. Er schießt seinen Feinden dann buchstäblich bei 100 Grad Celsius eine Ladung Chinon ins Gesicht. Manche Schwimmkäfer besitzen an Kopf- und Hinterteil »Wehrdrüsen« mit hochkonzentrierten Abwehrstoffen, die einerseits Fischen und Mäusen gefährlich werden können, aber auch die Winterruhe der Tiere überwachen, indem sie sie ähnlich wie die Antibiotika gegen den Angriff schädlicher Mikroben schützen.

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Wasser, das ist uns allen geläufig, kann jedem zum Verhängnis werden, der nicht schwimmen kann. Das gilt auch für einen kleinen, nur einen halben Zentimeter großen Käfer, dem das nasse Element zum Verhängnis würde, wenn er nicht eine Art Raketenantrieb entwickelt hätte, der ihn aufs Trockene zurückbefördert, falls er mal in einen der Tümpel fällt, an deren Ufer er lebt. Der »Spreitungsschwimmer«, um den es hier geht, taucht im Fall einer solchen Not einfach seine Hinterleibsspitze ins Wasser. Aus einer kleinen Drüse tritt dann eine Substanz aus, die sich sehr schnell über das Wasser ausbreitet. Der Ausbreitungseffekt ist so stark, daß die Flüssigkeit das kleine leichte Insekt mit einer Geschwindigkeit von 20 Kilometern in der Stunde förmlich vor sich herschiebt und rasch ans rettende Ufer bringt.

Ganz vertraut mit dem Wasser ist dagegen der Taumelkäfer. Seine Künste zeigt er jedem, der ihn im Sommer in Tümpeln und Teichen beim Tauchen beobachtet. Der Taumelkäfer kann — anscheinend mit Hilfe eines Radarprinzips — unter Wasser Hindernisse wahrnehmen, die noch drei Körperlängen von ihm entfernt sind. Außerdem produziert er einen wirksamen Abwehrstoff gegen seine Feinde, die Fische. Es handelt sich um ein Drüsensekret, das für Fischnasen furchtbar stinkt und an dem Fische sogar zugrunde gehen können, wenn sie zu viele Taumelkäfer fressen sollten. Außerdem schützt das Sekret vor Krankheitskeimen — der Taumelkäfer verteilt es deshalb über seinen ganzen Körper, wenn er sich »putzt«.

Welche Mannigfaltigkeit an Erfindungen das Mutations-Auslese-Prinzip möglich gemacht hat, das dokumentieren auch bestimmte sozial lebende Insekten. Ist schon die Tatsache der Arbeitsteilung bei ihnen erstaunlich genug, so verblüffen bestimmte »Sitten und Gebräuche« bei ihnen noch weit mehr. Ein geradezu höhere Intelligenz zur Schau stellendes Verfahren haben die Blattschneiderameisen entwickelt, indem sie auf Abfällen, zerkauten Blättern und Blüten einen Speisepilz züchten, der ihrer Ernährung dient. Dafür erzeugen sie sowohl eine Art Dünger, der die Pilze wachsen läßt, als auch ein Sekret, das sie vor unliebsamen anderen Pilzsporen bewahrt, so daß ihre eigenen Pilze nicht ungenießbar werden. Wie wirksam dieser Schutzstoff ist, zeigt die Tatsache, daß man ein Glas Pflaumenmus mit Spuren der chemischen Verbindung wochenlang gegen Schimmelpilzbefall schützen kann.

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Alle diese Anpassungsleistungen wirken auf den ersten Blick wie von einem höheren Wesen arrangiert. Und doch erweist sich auch in den erstaunlichsten »Erfindungen« nur die Wirksamkeit von Erbwandel und Auslese. Das gilt auch für ein trickreiches Repertoire von Einrichtungen unter Pflanzen und Tieren, die in extrem trockener Umwelt leben. Zahlreiche Beispiele dafür finden wir in der Wüste. Da gibt es Pflanzen, deren Wurzeln je nach dem vorgefundenen Wassergehalt im Boden schneller oder langsamer wachsen. Andere besitzen »versenkte« Spaltöffnungen an den Blattunterseiten, dem Gasaustausch dienende Vorrichtungen, die auf diese Weise der Verdunstung entgegenwirken.

Reptilien und Amphibien, die in der Wüste leben, können Wasserverlust bis zur Hälfte ihres Körpergewichts ertragen. Eine geradezu spektakuläre Leistung vollbringt das einhöckerige Kamel, das Dromedar. Ihm hat der Schweizer Publizist Georg Gerster in seinem Buch »Sahara« ein Denkmal gesetzt. »Das einhöckerige Kamel«, schreibt er, »war das erste wüstentaugliche Fahrzeug der Sahara. Seine Kennzeichen: Vierradantrieb, drei Gänge, großer Kraftstoffbehälter mit Zusatztank, Spezialbereifung, Kraftstoffmesser, besonders kräftiges Vordergestell.«

Der »Kraftstoffmesser« des Dromedars ist sein Höcker. Erfahrene Kamellenker erkennen an seinem Ausmaß sofort, wieviel Kraftreserven noch in ihrem »Wüstenschiff« stecken. Der Höcker ist kein Wasserspeicher, sondern ein Fettreservoir. Wasser speichert das Kamel in der Außenwand seines dreiteiligen Magens. Es kann etwa ein Drittel seines Eigengewichts durch Wasserverlust verlieren, das ist mindestens das Doppelte dessen, was bei den meisten anderen Lebewesen einschließlich des Menschen schon schwere Störungen, auch Hitzschlag, auslöst.

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Bemerkenswert ist, daß das Blut des Kamels trotz starken Wasserverlustes nicht dickflüssig wird. Der Kunstgriff besteht darin, daß die dem Wasser­transport dienenden roten Blutkörperchen sich bis zum 240fachen ihrer ursprünglichen Größe aufblähen können »wie Luftballons«. Dies geschieht jedoch nicht als Vorsorgemaßnahme für Notzeiten, sondern es ist die Normalsituation, die nach entbehrungsreicher Trockenzeit wiederhergestellt wird. Dazu trinkt das Kamel gelegentlich innerhalb von zehn Minuten bis zu 125 Liter Wasser. »Das Leben ist eine Wüste«, sagt ein arabisches Sprichwort, »und die Frau ist das Kamel, das uns hilft, sie zu durchqueren.«

Die Sicherung gegen den Tod in der Natur geht außerordentlich weit, wie man sieht. Sie geht so weit, daß es — überspitzt gesagt— eigentlich erstaunlich ist, wenn überhaupt noch gestorben wird. Welche nahezu unfaßlichen Praktiken für diesen Zweck verwirklicht worden sind, erfuhren unlängst vier Wissenschaftler der Cornell-Universität in Ithaca. Auf die Spur der Geschichte waren sie bei der Untersuchung einer großen, flugunfähigen Heuschreckenart (Romalea microptera) in Florida gekommen. Dieses Insekt hält sich seine Feinde durch einen besonderen Stoff vom Leibe, den es als stark riechenden, bräunlichen Schaum aus einem Paar Atemöffnungen auf beiden Seiten der Brust entläßt. Produziert wird die abschreckende Flüssigkeit in einem dafür spezialisierten Drüsengewebe. Damit sich die Riechstoffe leichter verbreiten, verwandelt die Heuschrecke das Sekret mit Luft zu Schaum. 

Das Unglaubliche aber ist: In dem Abschreckstoff fand sich das 2,5 Dichlorphenol, und alles deutet darauf hin, daß das erfinderische Tier das berüchtigte Entlaubungsmittel 2,4 Dichlorphenoxyessigsäure als Ausgangsmaterial für die körpereigene Synthese seiner chemischen Waffe benutzt. Eine vom Menschen zur Unkrautbekämpfung hergestellte Chemikalie als Rohstoff für eine Waffe im Daseinskampf eines Insekts! 

Einen Beweis für ihre Vermutung sehen die Cornell-Forscher unter anderem darin, daß der Stoff sofort aus dem Schaum verschwindet, wenn die Tiere in ein 2,4-D-freies Gebiet verbracht werden.

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Wir müssen jetzt auf unseren ursprünglichen Gedankengang zurückkommen, nach dem alles Lebendige, wenn es überleben will, im Einklang mit seiner Umwelt stehen muß und daß erfolgreiche Lebewesen diesen Einklang durch Anpassung herbeiführen.

Das erscheint so lange problemlos, wie die Umwelt sich nicht ändert. Aber nicht immer ist dies der Fall — im Gegenteil, in der Regel wandeln sich die Umwelt­verhältnisse: Klima, Nahrungsangebot, natürliche Feinde und andere Faktoren ändern sich im Lauf der Zeit. Außerdem wandern viele Tiere aus einem Gebiet aus und geraten in andere Gegenden; Pflanzensamen werden verweht oder von Wasserströmungen transportiert. So gelangen die verschiedensten Organismen über die Grenzen abgeschlossener Biotope hinaus — dorthin, wo andere Lebensbedingungen herrschen. Ein typisches Beispiel für ein Gebiet, in dem zwei Biotope aneinandergrenzen, sind die Brandungszonen der Meere. Hier finden sich sowohl solche Pflanzen und Tiere, die dem Meer noch ganz verhaftet sind, als auch solche, die schon mit dem Landleben liebäugeln — oder umgekehrt. Beispiele dafür sind Wassertiere mit Lungen, Schnecken oder Würmer mit Saugnäpfen als Haftorganen, die ihnen Halt an den Steinen der Uferzonen geben und andere.

Grenzbereiche wie die Brandungszonen sind Gebiete, in denen die Evolution besonders schnell verläuft, weil hier die Lebewesen aktiv oder passiv mit neuen Umwelten konfrontiert werden. Der Selektionsdruck in diesen Gebieten ist groß. Auch die Ränder der Urwälder, die Schnee- und Treibeisgrenzen und die Flußmündungen sind solche Zonen. Die warmen, seichten Küstengewässer sind es gewesen, in denen die Quastenflosserfische Lungen bildeten, um schließlich ans Land zu steigen.

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Bleiben wir einen Augenblick bei diesem Beispiel.  

Der neue, vom Quastenflosser vor 350 Millionen Jahren eroberte Lebensraum war jungfräuliches Land. Aber wie ging die Besiedlung vor sich, wie wurde sie möglich? Die urweltlichen Fische lebten in küstennahen, flachen, stark erwärmbaren Gewässern mit nur geringem Sauerstoffgehalt. Unter diesen Bedingungen hatten Tiere mit zusätzlichen Organen zur Sauerstoff-Versorgung des Körpers einen Auslesevorteil. Beim Quastenflosser entstanden neben den Kiemen die Lungen. So war es ihm möglich, kurze Zeit außerhalb des Wassers zuzubringen. Er benutzte seine muskulösen Flossen als Füße und kroch, halb robbend, halb unbeholfen stelzend, in die Lagunen der Uferzone. 

Wie aus anatomischen Befunden hervorgeht, sind die Quastenflosserfische auf diese Weise zu den Urvätern der Amphibien und damit der landbewohnenden Wirbeltiere geworden. Auch ihr Beispiel bereichert damit das Tatsachenmaterial, das seit Darwin in so erdrückender Fülle zur Stammesentwicklung des Lebendigen zusammengetragen worden ist. Nicht blinder Zufall ist es gewesen, der die heute lebenden Tier- und Pflanzenarten hervorgebracht hat, sondern ein kausalgesetzlich verstehbares Spiel von Faktoren, unter denen die Auslese der Bestangepaßten den wesentlichsten Anteil gehabt hat.

Als Ergebnis des Kräftespiels von Erbwandel und auslesenden Umwelteinflüssen sind auch die Arten der Lebewesen entstanden. Es ist gar nicht so erstaunlich, daß uns Tiere und Pflanzen auf der Erde nicht in einem wilden Durcheinander von Phantasiegestalten begegnen, sondern in meist gut unterscheid­baren Typen. Auch hier ist eine Gesetzlichkeit am Werk, die seit Anbeginn des Lebens gewirkt und das Gefüge dieses Lebens zusammengehalten hat: der Zwang zur Anpassung an eine der ungezählten Umwelten, der »Biotope«, die auf der Erde zur Verfügung stehen.

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Unter einer Art versteht man die Gesamtheit aller Individuen und deren Nachkommen, die in ihren wesentlichsten Merkmalen übereinstimmen. Dafür, daß die Arten sich allmählich herausgebildet und gegen andere abgegrenzt haben, gibt es zahlreiche Gründe. Wenn sich das Klima ändert, wenn irgendwo Wüsten entstehen, wenn Eiszeiten Gletscher-Barrieren errichten, so kann es geschehen, daß bisher zusammenhängende Fortpflanzungsgemeinschaften — Populationen genannt — ihren Zusammenhalt verlieren und auseinanderfallen. Dabei wird auch der Erbanlagenbestand der ursprünglichen Gemeinschaft aufgeteilt. Die Individuen kreuzen sich nicht mehr, nach und nach werden Unterschiede deutlich, die sich mit der Zeit verstärken. Später kommt es zur Rassen —, schließlich zur Artbildung.

Gefördert wird dieses »Auseinanderleben« durch die Unterschiede der Umwelten, in denen die getrennten Populationsteile heimisch werden. Denn die Auslese bevorzugt natürlich solche Merkmale, die unter den neuen Umweltverhältnissen die größten Fortpflanzungschancen haben. Sie vernachlässigt andere, deren Vorteile sich in der alten Umgebung entfaltet hatten.

Von Zweiflern an der Darwinschen Theorie wird gelegentlich vorgebracht, es habe im Lauf der Erdgeschichte viel zuwenig Zeit zur Verfügung gestanden, um all die Millionen Tier- und Pflanzenarten entstehen zu lassen, die die Erde seit den Anfängen des Lebens besiedelt haben und noch heute besiedeln. Der amerikanische Zoologe Ernst Mayr hat jedoch eine Rechnung aufgemacht, die das widerlegt. »Brächte eine Art«, gibt er zu bedenken, »alle drei Millionen Jahre nur vier neue hervor, von denen die Hälfte ... ausstirbt, dann wären nach 50 Millionen Jahren schon 65.000 Arten da, und diese Zahl würde sich alle drei Millionen Jahre verdoppeln ...« Legt man Mayrs Zahlenansatz zugrunde, so stellt sich heraus, daß in der verfügbaren Zeit von rund dreieinhalb Milliarden Jahren noch bei weitem mehr Arten hätten entstehen können, als tatsächlich entstanden sind. 

Offenbar hat es die Natur nicht sehr eilig gehabt.

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Erbwandel durch Mutation und Auslese, Trennung und Isolation von Fortpflanzungsgemeinschaften — das Repertoire der Evolutionskräfte ist im Lauf der Erdgeschichte immer umfangreicher, immer subtiler geworden. Diese Kräfte haben es letztlich auch möglich gemacht, daß Pflanzen und Tiere bisher ungenutzte Nahrungsquellen erschließen konnten und Klimabedingungen ertragen lernten, die bisher nicht genutzt oder noch nicht gemeistert worden sind. Man spricht dann von neuen ökologischen Nischen, die solche »Pioniere« unter den Erdbewohnern besetzten. Diesen Ausdruck darf man nicht als Ortsbezeichnung mißverstehen, sondern muß ihn im übertragenen Sinne gebrauchen. Wir sprechen ja auch vom »politischen Raum« oder vom »kirchlichen Raum«, ohne dabei an Parteizentralen oder Kirchen zu denken. So auch die ökologischen Nischen, in denen sich Tier- und Pflanzenarten bewähren oder versagen. Der Wohnbereich gehört ebenso dazu wie das Nahrungsangebot und die Feinde, die Temperatur, der Salzgehalt, das Strahlungsklima und manches mehr.

Sehen wir uns auf unserem Planeten um, so finden wir, daß mittlerweile nahezu alle ökologischen Nischen auf, unter und über ihm besetzt worden sind. Dabei ist es erstaunlich zu sehen, welchen barbarischen Bedingungen das Leben auf der Erde noch trotzen kann. Den glühenden Wüstensand hat es sich ebenso erobert wie den Faulschlamm der Tiefsee und die Hochatmosphäre. Kaum ein Platz blieb ausgespart. 

Als der kanadische Zoologe Tynen von der Alberta-Universität das Eis des Cliffe-Gletschers auf der Vancouver-Insel aufpickte, fand er zu seinem Erstaunen Würmer. Die Tiere waren ungefähr zwei Zentimeter lang und gehörten zur Art Mesenchytraeus solifugus. Ihr Blut war farblos, ihre Haut zur besseren Wärmespeicherung schwarz pigmentiert. Tagsüber hielten sie sich 15 bis 30 Zentimeter tief im Eis unter den Abflußgräben des Firnschnees auf, wo sie anscheinend entlang den Grenzen zwischen Eis und Wasser umherkriechen. Nachts kommen sie an die Oberfläche.

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Der Umstand, daß es kaum einen Ort auf der Erde mehr gibt, an dem wir nicht auf Lebewesen stoßen würden, deutet darauf hin, daß die Artbildung einen gewissen Sättigungsgrad erreicht hat, zumindest stark verlangsamt ist. Den heutigen Lungenfischen beispielsweise wäre es kaum noch möglich, ähnlich wie die einstigen Quastenflosser im Devon ans Festland zu steigen, denn die ökologischen Nischen der Übergangszone vom Wasser zum Land werden inzwischen von Amphibien besetzt gehalten und verteidigt, während es damals noch gar keine Landwirbeltiere gab.

Nichtsdestoweniger wirkt die Auslese noch immer, und sie setzt nicht nur am Erbgut an, indem sie über Vorteil oder Nachteil von richtungslosen Mutationen entscheidet. Daß ihrem »Urteil« immer wieder neue, erblich verschiedene Individuen zugeführt werden, um neue Anpassungsformen, um Rassen und Arten hervorzubringen, ist nur eine der Möglichkeiten. Es könnten, so jedenfalls meint der englische Zoologe Alister Hardy, auch gewisse Verhaltensweisen die Rolle der Mutationen übernehmen. Ein Beispiel: Wenn durch eine Änderung des Nahrungsangebots unter Vögeln bei den Betroffenen die Gewohnheit entsteht, statt bevorzugt auf der Baumrinde unter dieser nach Insekten zu suchen, so bekommen diejenigen Tiere einen Auslesevorteil, denen im nachhinein eine zufällige Mutation eine zum Aufpicken der Borke besser geeignete Schnabelform beschert. Der primäre Auslöser für den Evolutionsschritt zum spitzeren Schnabel wäre in diesem Fall nicht die zufällige Mutation, sondern eine Verhaltensweise gewesen; eine Gewohnheit hätte ihn eingeleitet.

Wendet man Hardys Hypothese auf den Menschen an, so ergibt sich ein interessanter Hinweis auf die rasche Entwicklung des Großhirns im Lauf der letzten zwei bis drei Millionen Jahre. Es läßt sich nämlich folgern, daß auch die Neugier ein starker stammesgeschichtlicher Impuls für die Großhirnentwicklung gewesen sein muß. Der auf seinen Denkapparat, ja vielleicht schon früh auf seine Phantasie angewiesene Urmensch wird zunehmend regen Gebrauch von diesen Gaben gemacht haben. 

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Er wird — halb spielerisch noch, halb der Not gehorchend — allerlei Gewohnheiten, Sitten und Unsitten, kurz, die verschiedensten Verhaltensweisen in der Steppe durchprobiert haben, um sie zu verwerfen, wenn sie ihm Nachteile brachten, oder beizubehalten, wenn sie sich bewährten. Kam es später zu einer passenden Erbänderung, so brauchte die Umwelt nicht mehr als selektierende Kraft einzugreifen. Das neue Erbmerkmal fixierte nur noch das schon bestehende Verhalten und konnte sich entsprechend rasch unter den Nachkommen ausbreiten.

So kam es, daß im Lauf der Jahrtausende auch von dieser Seite her immer wieder diejenigen mit besseren Fortpflanzungschancen belohnt wurden, die besonders neugierig, umsichtig, wißbegierig, phantasievoll, aufgeschlossen und probierfreudig waren. Und da es sich bewährt hatte, die Natur durch List und Geschick zu beherrschen, gedieh unter den Menschen zunehmend jene Eigenschaft, die wir als »erfinderischen Genius« zu preisen uns angewöhnt haben. Und im selben Maße, wie der technisch-tüftlerische Geist Erfolg hatte, entfernte sich das Großhirn von seiner ursprünglichen Zweckbestimmung, über die Sinnesorgane Umweltreize aufzunehmen, zu verarbeiten und zu beantworten.

Tatsächlich haben wir uns seither zum pfiffigsten, zum erfinderischsten Lebewesen auf der Erde entwickelt. Immer besser haben wir es verstanden, unsere Überlebenschancen mit Hilfe unserer Wissenschaft und Technik zu erhöhen und unsere Umwelt umzugestalten, um uns dann eiligst mit den neugeschaffenen Verhältnissen zu arrangieren. Das ging lange Zeit gut. Bis in die Gegenwart hinein konnten wir auf unsere Werke stolz sein, die uns halfen, die Natur zu unterwerfen. Jetzt freilich hat unser Treiben ein Ausmaß erreicht, das erschrecken läßt. Wir sind in die Lage von Goethes Zauberlehrling geraten, der die Geister! nicht mehr los wird, die er rief.

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Viel eher hätten wir begreifen sollen, daß alles, was auf der Erde lebt, sich mit seiner Umwelt auseinandersetzen und mit ihr auskommen muß, wenn es überleben will. Daran mag sich auch der Mensch gehalten haben, solange er sich als ein in die Natur integriertes Wesen verstand, und solange sein Drang, die Umwelt zu beeinflussen, noch vergleichsweise gezügelt blieb. Als die stürmische Entwicklung seines Großhirns außer der biologischen auch die kulturelle und die intellektuelle Evolution möglich machte, begann etwas, das im gesamten Bereich des Lebendigen seinesgleichen sucht: Der Homo sapiens fing an, die Erde zu verändern. 

Er schuf sich eine Umwelt, wie er sie wollte, wie er sie zu benötigen meinte. Er lernte, seine Behausungen mit Holz, Kohle und Öl zu heizen und trotzte der Kälte, die seine Vorfahren dahingerafft hatte. Es gelang ihm, Naturkräfte zu mobilisieren, die seine körpereigenen weit übertrafen, und er tat mit ihnen derselben Natur bedenkenlos Gewalt an, die ihm diese Kräfte geschenkt hatte. Er staute und verlegte Flußläufe, entwässerte Moore, bewegte riesige Erdmassen, rodete Wälder, rottete Tiere und Pflanzen aus und ist heute dabei, das Wetter künstlich zu steuern. Er baute Wolkenkratzer, in denen sich kein Fenster mehr öffnen läßt und die so hoch sind, daß es beim Portier manchmal regnet, während in den obersten Stockwerken die Sonne scheint.

Immer massiver haben wir Menschen in das Lebensgefüge und die Anatomie unseres Heimatplaneten eingegriffen. Aber damit nicht genug. Seit ungefähr 120 Jahren — einer lächerlich kurzen Zeit angesichts der Äonen, die die Stammesgeschichte des Lebendigen brauchte — wissen wir auch zunehmend besser Bescheid über die Lebensgesetze. Wir kennen die Stoffe, die die materielle Basis des Lebens bilden, die es erhalten und zerstören können. Wir wissen um die Vorgänge im Innern der Zelle, um den Stoffwechsel, das Wachstum, die Vermehrung. Und doch benehmen wir uns auf eine Weise, die all diesem Wissen Hohn spricht. Die Umweltzerstörung ist nur ein Beispiel dafür, wenn auch das furchtbarste von allen. Anderes muß zumindest nachdenklich machen. 

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So haben unsere Großhirne einen Moralkodex entwickelt, der zwar ein humanes Miteinander der Menschen möglich macht, dafür aber einen hohen Preis fordert. Dieser Preis sind die Auswirkungen unserer Entschärfungspraxis gegenüber den harten Naturgesetzen, die für Entstehung und Bestand des Lebens auf der Erde gesorgt und für die wir auch noch keinen humanen Ersatz gefunden haben. Je deutlicher uns bewußt wird, was wir mit einer dem Menschen gemäßen Moral auf der anderen Seite der Medaille anrichten, um so dringender wird sich die Frage nach einer Überprüfung der Moralprinzipien dort stellen, wo sie einem menschenwürdigen Leben und Überleben des Menschen auf die Dauer entgegenstehen.

Eines der dramatischsten Beispiele dafür ist der groteske Bevölkerungszuwachs, den wir uns leisten. Mit einer Vermehrungsrate von 200.000 Menschen täglich erfüllen wir zwar die erste Voraussetzung der Evolution — nämlich die Überproduktion von Nachkommen, aber wir sorgen nicht mehr für das unerläßliche Gegengewicht. Der Todeskontrolle, die wir immer perfekter praktizieren, entspricht keine wirksame Form der Geburtenkontrolle mehr — von der natürlichen Auslese zu schweigen. 

Als der Homo sapiens vor annähernd sieben Jahrtausenden von der mehr aneignenden zur produzierenden Lebensweise überging, dürfte die Zahl der Menschen etwa 15 bis 20 Millionen betragen haben. Fünf Jahrtausende später, zur Zeit Christi, soll sie nach einer Schätzung auf rund 250 Millionen angestiegen gewesen sein. In den folgenden Jahrtausenden kletterte die Zahl nur langsam weiter, weil der Tod durch Seuchen, Kriege, Naturkatastrophen und Hungersnöte immer wieder reiche Ernte hielt. Mehr und mehr aber wendete sich das Blatt. Im selben Maße, wie es dem Großhirn gelang, die dezimierenden Einflüsse, den »Vernichtungsdruck« der Umwelt zu erkennen und Wege zu finden, ihm zu entgehen, wuchs mit der Zahl der Überlebenden auch die Menschenzahl insgesamt.

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Stellt man den Bevölkerungszuwachs graphisch als Funktion der Zeit dar, so steigt die Kurve über viele Jahrtausende nur ganz allmählich an. Erst seit etwa hundert Jahren schnellt sie auf gespenstische Weise steil in die Höhe. Um das Jahr 1850 dürfte die Milliardengrenze erreicht gewesen sein, siebzig Jahre später lebten schon zwei Milliarden Menschen auf der Erde. Dann verkürzten sich die Zeitspannen für die Verdoppelung immer mehr. Gegenwärtig leben etwa vier Milliarden Menschen auf der Erde, und alles spricht dafür, daß diese Zahl sich nach rund dreißig Jahren nochmals verdoppelt haben wird.

Das heißt: Wenn der jetzige Zuwachs von täglich 200.000 Menschen (Geburten abzüglich Sterbefälle) weiter progressiv anhält (im Jahr 1963 rechnete man noch mit einem Tageszuwachs von 140.000), dann haben wir um die Jahrtausendwende mindestens siebeneinhalb Milliarden Menschen um uns.

 

Gelegentlich wird behauptet, Kriege wären ein erbarmungsloses, aber fühlbares Regulativ für die Bevölkerungszahlen. Tatsächlich bewirken Kriege jedoch nicht nur eine negative Auslese, indem sie gerade die Besten dahinraffen, sondern sie sind auch bevölkerungsstatistisch nur ein Tropfen auf den heißen Stein. So starben während des Zweiten Weltkrieges rund 32 Millionen Soldaten und etwa 20 Millionen Zivilpersonen — insgesamt etwa 52 Millionen Menschen. Im selben Zeitraum nahm die Menschheit jedoch um 150 Millionen zu — das Dreifache der Kriegstotenzahl.

Das Brisante am Bevölkerungsproblem ist die Progression des Zuwachses. Denn je größer die Bevölkerungszahl ist, desto geringer werden die Aussichten, die Vermehrungsrate noch mit humanen, das heißt, der menschlichen Ethik und Moral entsprechenden Mitteln unter Kontrolle zu bringen oder gar rückläufig zu machen. Auch ein rollender Schneeball, der zur Lawine wird, ist um so weniger aufzuhalten, je größer sein Umfang schon ist. Es gibt das unheimliche Beispiel von der Wasserlilie, die sich auf dem Wasser eines Sees mit jedem Tag um den gleichen Umfang weiter ausbreitet, den sie gerade einnimmt, und die noch am Abend vor der letzten Verdoppelung, vor der völligen Bedeckung des Wassers, eine beruhigende Hälfte des Sees freiläßt. 

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Das Lilienbeispiel zeigt einen bedrückenden, aus der menschlichen Natur freilich verständlichen Sachverhalt. Es ist der Umstand, daß die Katastrophe sich lange Zeit unerkannt vorbereiten kann, um dann mit schrecklicher Plötzlichkeit über uns hereinzubrechen. Offenbar sind wir außerstande, uns langfristig klug zu verhalten.

Es ist auch ein trügerischer Schluß anzunehmen, man brauche etwa in den Entwicklungsländern nur so lange zu warten, bis der Lebensstandard durch geeignete Wirtschaftshilfe genügend angehoben worden sei, um alsbald die Senkung der Geburtenziffern wie eine reife Frucht zu ernten, ohne daß es erst zu Massensterben durch Hunger und Seuchen kommen müßte. Im Gegenteil. Der Fischer-Weltalmanach 1974 weist am Beispiel von zehn Entwicklungsländern nach, daß dort mit dem Bruttosozialprodukt auch der jährliche Geburtenüberschuß steigt. In Sierra Leone (BSP je Einwohner 157 Dollar) beträgt der Überschuß beispielsweise 1,6 Prozent, im Iran (BSP 392 Dollar) liegt er bei 3,0 Prozent und in Kuweit (BSP 4850 Dollar) erreicht er bereits 9,8 Prozent. 

So gilt leider noch immer, was der schottische Geistliche Thomas Malthus am Anfang des vorigen Jahrhunderts mit brutaler Deutlichkeit gesagt hat: 

»Ein Mensch, der in einem bereits übervölkerten Land geboren wird, ist überflüssig in der Gesellschaft. Es gibt für ihn kein Gedeck am großen Gastmahl der Natur.« 

Mit der Einschränkung, ja teilweisen Aufhebung der natürlichen Auslese bei gleichzeitiger Überproduktion von Nachkommen greift der Mensch nach dem ersten Evolutionsfaktor, der das Leben auf der Erde im Gleichgewicht mit seiner Umwelt hält. Getreu seinen ethischen Grundsätzen und im einsamen Gegensatz zu allen Tier- und Pflanzenarten — von den Zucht- und Kulturformen in der Obhut des Menschen abgesehen — erreichen heute Millionen von Menschen das fortpflanzungsfähige Alter, die ihrer unterlegenen erblichen Ausstattung wegen unter Wildbahnbedingungen unweigerlich einem frühen Tode preisgegeben wären. Wir werden im Kapitel »zweischneidige Medizin« noch ausführlich darüber sprechen.

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Der zweite, nicht weniger wichtige Faktor, den der Mensch beeinflußt und damit seiner Wirksamkeit beraubt hat, ist die Häufigkeit, mit der Erbänderungen innerhalb eines bestimmten Zeitraumes in den Erbanlagen auftreten — mit einem Wort: die natürliche Mutationsrate. In der Natur gilt der einfache Sachverhalt: Jedes Lebewesen ist auf seine Weise an eine bestimmte Mutationsrate angepaßt. Mit der Höhe dieser Rate steht und fällt das Angebot an erblicher Verschiedenheit unter den Nachkommen, wenn man den Einfluß der Neukombination individueller Gen-Gefüge durch die geschlechtliche Fortpflanzung außer acht läßt (aber auch hier, wie wir sehen werden, hat der Mensch Gründe gehabt, sich antinatürlich zu verhalten).

Ist die Mutationsrate zu niedrig, so besteht die Gefahr des Aussterbens, weil bei Umweltänderungen unter Umständen keine oder zu wenige den neuen Verhältnissen angepaßte Individuen zur Verfügung stehen. Ist sie zu hoch, so wächst die Gefahr des genetischen Verfalls, weil dann — gemessen an den bestehenden Umweltbedingungen — zu viele Träger negativer Merkmale zur Welt kommen.

Wie häufig mehr oder weniger nützliche Erbänderungen im Erbgut auftreten, hängt von verschiedenen Umständen ab. So können zum Beispiel energiereiche Strahlen Mutationen auslösen. Diese Strahlen können aus dem radioaktiven Gestein des Bodens kommen oder als kosmische oder ultraviolette Strahlung aus dem Weltraum. Auch chemische Einflüsse und sogar Wärme können erbändernd wirken. Eine überschlagsweise Berechnung läßt beim Menschen zehn bis vierzig Prozent der Keimzellen je Generation mit abgewandelten Erbanlagen erwarten. Bei der Taufliege haben zwei bis drei Prozent aller Nachkommen mindestens eine neue Mutation.

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Seit Konrad Röntgen im Jahre 1895 die Röntgen- oder X-Strahlen entdeckte, besitzt die Medizin ein machtvolles neues Instrument für Diagnose und Therapie zahlreicher Leiden. Doch erwies sich Röntgens Entdeckung durchaus als zweischneidig. Unvorsichtig oder in zu hohen Dosen angewandt, können die Strahlen gefährlich werden. Treffen sie auf die Fortpflanzungsorgane, so kommt es nicht einmal auf die Stärke der Bestrahlung an. Schon die geringste Dosis kann hier, in der Erbsubstanz der Keimzellen, Mutationen auslösen und damit Erbschäden verursachen.

Röntgenstrahlen werden heute nicht nur in der Medizin, sondern auch in der Technik zu zahlreichen Zwecken benutzt, Sie werden in Röntgengeräten erzeugt, sie kommen von Leuchtarmaturen und Zifferblättern. Auch künstlich radioaktiv gemachte Elemente, sogenannte Radionuklide, senden sie aus. Diese Substanzen lassen sich leicht an den verschiedensten Stellen im Körper oder in Materialien plazieren, wo sie ihre Strahlung zu therapeutischen oder technischen Zwecken abgeben. Es ist heute noch nicht abzuschätzen, in welchem Ausmaß wir die natürliche Radioaktivität unserer Umgebung durch die künstliche vermehrt und damit auch die Mutationsrate des Menschen erhöht haben. Sicher ist, daß die Anzahl der Menschen mit sichtbaren oder unsichtbaren Erbschäden damit angestiegen ist und weiter ansteigt — daß also mehr Erbkranke geboren werden als früher — vor allem solche mit verdeckten oder »rezessiven« Erbschäden.

Der Schluß ist zwingend: 

Durch unseren sorglosen Umgang mit der künstlichen Radioaktivität greifen wir auch in den zweiten Evolutionsfaktor ein, in das bisher ausgewogene Maß der Erbänderungen je Zeiteinheit, und stören damit das Faktorengefüge der Evolution an einem zweiten, empfindlichen Punkt zu unserem Nachteil.

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Aber nicht nur Mutationen sorgen für die unterschiedliche Erbausstattung der Nachkommen innerhalb der artgemäßen Grenzen. Dies tut auch der »geschlecht­liche Mixbecher«: Gingen die Kinder nur aus den Erbanlagen eines Mannes oder einer Frau hervor, so wären sie recht einförmige Abklatsche des einen oder anderen Partners. Da sie aber aus einer Mischung von jeweils zwei Erbanlagenbeständen entstehen, können sie auch die Anlagen von jeweils zwei Menschen entfalten. Die Chance, ein »neues« Wesen zu sein, ist also verdoppelt. Mit der Einehe freilich ist diese Chance auch wieder auf diese Verdoppelung beschränkt. Würde unter uns Menschen die Polygamie praktiziert, so wäre das Angebot an neuen Eigenschaftskombinationen und damit die Chance zu besser angepaßten Vertretern des Homo sapiens ungleich größer, das Erbanlagenbild der Menschheit wäre sehr viel bunter gemischt. Dies ist kein Vorwurf gegen die Institution der Einehe, die ja durchaus ihre Vorzüge hat, sondern nur ein Hinweis darauf, daß wir auch hier ein Naturprinzip entschärft haben, indem wir mit einer sittlichen Norm die theoretisch mögliche Vielfalt an erblich unterschiedlich ausgestatteten Nachkommen künstlich begrenzen.

Auch dies ist indessen nicht alles. Erinnern wir uns: Welche Voraussetzungen waren es, die in der Natur für die Auslese der Bestangepaßten sorgten? Außer der Überproduktion von Nachkommen und den Erbänderungen zählen dazu Faktoren der Umwelt, zum Beispiel das Klima. Änderte sich das Klima, so überstanden die Herausforderung am besten diejenigen Individuen, die zufällig, ohne daß es ihnen vor der Veränderung zum Vorteil gereicht hätte, eine Erbanlage besaßen, die sie widerstandsfähig gegenüber den neuen Klimafaktoren machte. Ein Beispiel dafür sind stark kälteresistente Wasserflöhe, die in einem jahrelang warmen See kaum Auslesevorteile gegenüber Artgenossen ohne diese Eigenschaft gehabt haben. Wenn jedoch eine Klimaänderung das Seewasser unverhofft abkühlt, so sterben die meisten Wasserflöhe durch die ungewohnte Kälte aus. Die vorher schon kältefesten Tiere dagegen überleben und werden dank ihres zufällig bestehenden Erbmerkmals zu Stammeltern einer neuen, arterhaltenden und kälteharten Wasserfloh-Rasse.

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Klimaänderungen, extreme Hitze oder Kälteeinbrüche, auch kurzfristige Wettererscheinungen wie Überschwemmungen, Stürme oder besonders heiße oder feuchte Sommer sind weitere »Prüfsteine«. Sie haben seit jeher mitgewirkt, Tier- und Pflanzenarten via Auslese immer wieder optimal an ihre Umwelten anzupassen. Allen diesen Einflüssen waren natürlich auch die Menschen einmal voll ausgesetzt. Auch unter den Menschen, soweit sie schwächlich waren, forderten Hitze und Kälte, Wasser und andere Naturkräfte ihre Opfer, bis sie gelernt hatten, den Klima- und Wettererscheinungen zu trotzen: Felle, Kleidung, Hütten, Häuser, Heizungs- und Klimaanlagen, schließlich kurz- und langfristige Wettervorhersage sind die Stationen eines Weges, auf dem der Mensch zur Ausschaltung auch dieser einst dezimierenden Einflüsse gelangt ist und ihrem tödlichen Zugriff entging. Immer weniger kam es im Verlauf seines Hinzulernens darauf an, ob einer eine fettreiche Haut gegen die Kälte besaß oder über eine gute Wärmeregulation seines Körpers verfügte. Dies alles trat jetzt mehr und mehr zurück dank der Findigkeit seines Gehirns, dessen Windungen die Schutzmaßnahmen gegen die Unbilden des Wetters konzipierte: die Kleidung, die Häuser, das wärmende Feuer, die Klimaanlagen.

Ähnlich ging es mit anderen, einst dezimierenden Faktoren in der Umwelt des Menschen. Da war der Hunger. 

Die Frühmenschen lebten noch in den Tag hinein. Sie ernährten sich von dem, was sie gerade fanden und machten sich noch wenig Sorge um das, was morgen sein würde. Ihre sammelnde, bloß aneignende Lebensweise hatte etwas Unbekümmertes — man war nicht auf ein festes Wohngebiet beschränkt, man streifte umher, blieb mal hier, und blieb dort. Die mangelnde Vorsorge hatte freilich zur Folge, daß in Dürrezeiten der Hunger die Reihen lichtete. Doch gab es auch insoweit einen Wandel. Aus Erfahrung klug geworden, fingen die Menschen an, vorzusorgen. Sie formten Tongefäße, füllten sie in guten Tagen und zehrten von den Vorräten in schlechten. Sie lernten Fleisch durch Einsalzen haltbar zu machen und hoben das »Eingemachte« auf. Hier und da begannen sie, »seßhaft« zu werden, Ackerbau und Viehzucht zu treiben, Fische zu züchten. Sie lernten, Brot zu backen, Scheunen zu bauen und Vorratskammern anzulegen.

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Ganze Berufsgruppen spezialisierten sich auf die Herstellung von Nahrungsmitteln. Bei Kühen, Ziegen, Hühnern und Schweinen züchtete der Mensch Eigen­schaften, die seinen Ernährungsgewohnheiten entsprachen. Er nahm die Auslese damit unter die eigene Regie. Schließlich legte er seine berüchtigten Batteriezuchten an: Ställe wie Bienenwaben von winzigen Ausmaßen, in denen das Tier, zum bloßen Nahrungsobjekt degradiert, nichts weiter als die Funktion des Fleisch-, des Fettansatzes und des Eierlegens zu erfüllen hat, um den Hunger der wachsenden Menschheit zu stillen. Er bemüht sich, die Euter seiner Milchkühe flacher, mehr den Bäuchen der Tiere anliegend zu züchten, um ihnen eine bessere Paßform für seine Melkmaschinen zu verleihen, und er ärgert sich darüber, daß die Eier seiner Haushühner noch immer nicht eckig sind, weil er sie dann besser massenweise verpacken und versenden könnte.

Sieht man von den winterschlafenden Tieren ab, die Nahrungsvorräte anlegen und Fett ansetzen, so ist die Überlistung auch des Hungers durch den Menschen ohne Beispiel in der Natur. Zumindest in den Gebieten, in denen das rapide Bevölkerungswachstum nicht alle Vorsorge illusorisch macht, hat der Homo sapiens das Problem des Zwanges zum täglichen Nahrungserwerb, dem das Tier auf Gedeih und Verderb ausgesetzt ist, für sich gemeistert, zugleich aber hat er damit einen weiteren Auslesefaktor überspielt. Alle Individuen seiner Art, die beim persönlichen Nahrungserwerb ungeschickt waren und früher dafür mit dem Hungertode bezahlen mußten, bekamen ihr Handikap nun immer weniger unmittelbar zu spüren.

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Wie mit dem Hunger, so mit der Krankheit. Viele Jahrtausende hindurch lebte der Frühmensch wie ein Tier. Er schlief in Höhlen und wußte nichts von den Möglichkeiten, seine Gesundheit zu schützen. Seine Lebens­erwartung war gering. Sie mag noch unter zwanzig Jahren gelegen haben. Das blieb auch lange so.

Noch in der Bronzezeit vor zweieinhalb­tausend Jahren konnten die Mütter nur mit einer Lebenserwartung ihrer Kinder von höchstens zwei Jahrzehnten rechnen. Die Kinder wurden nicht viel älter, als sie selbst zu dem Zeitpunkt waren, da sie sie zur Welt brachten.   

detopia-2024:   wikipedia  Bronzezeit (ca. 2200- bis 1200-)  #  Das meint er vielleicht im Durchschnitt, also einschließlich vorfristiges Sterben durch Krankheit, Hunger, Unfälle.
Zumindestens wurden inzwischen 'alte Männer' (60 J.) gefunden und deren Alter bestimmt. (auf heutigem deutschen Gebiet; Bandkeramik-Kultur, also Steinzeit.).

Dann jedoch wurde man klüger und klüger. Man fand heraus, daß es Kräuter gegen das Fieber, warme Wickel gegen Magenweh, daß es Verbände gegen den Blutverlust und manches mehr gab, aus dem sich später die Medizin entwickelte. Schon die Pfahlbauern der Jungsteinzeit züchteten und sammelten über 200 verschiedene Pflanzen — unter ihnen zahlreiche mit heilkräftigen Stoffen. Die große Zeit der Schamanen und Medizinmänner begann, und wenn ihre Erfolge auch mehr auf Suggestion als auf verläßlichen Kenntnissen basierten, so legten sie doch den Grundstein für die Heilkunde unserer Zeit, die die durchschnittliche Lebenserwartung des Bewohners westlicher Länder auf über 70 Jahre hat hochschnellen lassen.

Inzwischen sind wir so weit, daß wir dem Tod immer häufiger die Entscheidung darüber abnehmen können, wann er ein Menschenleben auslöschen darf. Wir haben damit einen weiteren Evolutionsfaktor unter Kontrolle gebracht. Selbst schwere Krankheiten sind heute kein Todesurteil mehr — aber das Bevölkerungs­problem ist einer der Preise, die wir dafür zu zahlen haben.

So läßt sich noch manches aufzählen. Gegen Raubzeug beschränkte sich der Frühmensch nicht mehr nur auf seine Fäuste oder die Flucht, sondern nahm Knüppel, Steine, Speere und Bögen zu Hilfe. Sein Großhirn erfand ein ganzes Arsenal von Waffen. Es erfand Fallen und Schlingen, Schleuder und Gifte, Äxte und Dolche — lauter nützliche Hilfen, die es ihm ermöglichten, die eigenen Verluste zu reduzieren und Konkurrenten aus dem Felde zu schlagen. 

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Seinen vorläufigen Höhepunkt fand dieser Kampf gegen die Kreatur in unserer Zeit.

Seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts haben wir 475 Tierarten ausgerottet und rotten in rascher Folge weitere Tiere und Pflanzen aus. Rücksichtslos sind wir dabei, ein zugleich beispielloses und beschämendes Kesseltreiben auf immer mehr Tier- und Pflanzenarten zu veranstalten. Und wir verhalten uns so, als gehöre uns die Erde allein.

Einstmals, auf der Jagd, beim Streifzug durchs Gelände, sammelte der Mensch Erfahrungen mit den Naturkräften. Er lernte die Wetterzeichen deuten und richtete sich nach ihnen. Er fand heraus, wie man Wasser bändigen und Steppenbrände löschen kann, er entwickelte nach und nach jene zahllosen techno­logischen Hilfen, die ihn immer weiter »über« das Tier erhoben, aber auch immer mehr aus der Geborgenheit der Naturgesetze herauslösten.

Jedes Organ, jede zusätzliche, das Leben sicherer und bequemer machende Errungenschaft der Stammesgeschichte des Lebens bedeutete zwar eine »Höher­entwicklung« über die jeweils vorhergehende Stufe. Beim Menschen trat aber etwas qualitativ Neues auf. Seine Machenschaften lagen zum erstenmal gewissermaßen außerhalb der Lebensgesetze. Sie entzogen der Natur den auslesenden und damit immer wieder optimierenden Einfluß auf sein Geschlecht. Die Natur verlor beim Menschen mehr und mehr den Rang, der Maßstab aller Dinge zu sein. Ihren Platz übernahm das Großhirn des Menschen und mit ihm die von ihm geschaffene Umwelt, von der er zugleich immer stärker abhängig wurde.

Wer religiös ist, der könnte hier an die Geschichte vom Paradies denken, in der erzählt wird, Gott hätte Adam verboten, den Apfel vom Baume der Erkenntnis zu essen. Damit, so könnte man folgern, daß Adam - von Eva verführt - den Apfel dennoch aß, verging er sich nicht nur gegen das göttliche Verbot, sondern er tat auch etwas, das gefährlich außerhalb der naturgewollten Legalität lag. 

Heute sind wir darauf angewiesen, mit den Produkten unserer Erkenntnisse zu leben. Verzweifelt versuchen wir, mit unseren selbstgeschaffenen Werken zurechtzukommen. Wir müssen jedoch erkennen, daß der Versuch, uns dem strengen Griff der Lebensgesetze zu entziehen, eine folgenschwere Entscheidung ausgerechnet des am weitesten entwickelten und angeblich edelsten Körperteiles war — unseres Gehirns.

Die Natur entläßt ihre Kinder nicht. Wo sie ihr mutwillig davonlaufen, müssen sie die Folgen selber tragen.

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 # 

*detopia-2011:

Menschenmilliarde : im Kalenderjahr  (+ y Jahre =) 

1:1804 (+123=)   2:1927 (+33=)   3:1960  (+14=)   4:1974  (+13=)  5:1987 (+12=)  6:1999 (+12=)  7:2011 (+13=)  8:2024  (+13=)  9:2037  (+13=) 10:2050 

1 Milliarde Zuwachs in (ca.) 13 Jahren. 

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 Löbsack  1974