6 Die zweischneidige Medizin Löbsack-1974
Hilfsbereitschaft — Die beherrschten Krankheiten — Überleben im Eissarg? - Organverpflanzungen — Zwanzig Jahre länger leben — Künstliche Befruchtung und Zeugungshilfen - Perlenketten für gebärfreudige Inderinnen — Analphabetentum als Ergebnis der Bevölkerungsexplosion - Geburtenkontrolle bei Mäusen und Elefanten — Die Phasentheorie des Bevölkerungswachstums — Erbkranke — Immunsystem — Medikamente — Der medizinisch »verwöhnte« Mensch und die Probleme der Zukunft — Röntgenstrahlen — Erbschäden auch durch Medikamente? — Im Vorfeld von Geisteskrankheiten.
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Anfang Dezember 1973 rang in der Medizinischen Universitätsklinik zu Bonn eine junge Frau mit dem Tode. Sie litt an der gefährlichsten Form einer Leberschädigung und lag, hoffnungslos krank, in tiefer Bewußtlosigkeit. »Leberkoma«, lautete die Diagnose. Ihr Zustand, der einer schweren Blutvergiftung glich, verschlimmerte sich zusehends. Da entschloß sich Klinikdirektor Professor Hans Dengler zu einem ungewöhnlichen Schritt. Er gab die Zustimmung zu einer in der medizinischen Welt erstmaligen Operation, die der Bonner Chirurg Professor Alfred Gütgemann alsbald auch durchführte.
Das Blut der Frau, das von der erkrankten Leber nicht mehr von seinen Giftstoffen befreit werden konnte, wurde für einige Zeit durch die Leber eines aus dem Kölner Zoo beschafften Pavians geleitet. So erhielt das lebenswichtige Organ der Patientin Zeit, sich zu regenerieren. Man hatte darauf vertraut, daß die Leberzellen zu einer solchen »Erholung« in der Lage sein würden, solange auch nur ein kleiner Teil des Lebergewebes noch funktionstüchtig war.
Man wußte: Wird das geschädigte Organ für einige Tage von seiner Aufgabe entlastet, das Blut zu entgiften, so stellt es sich gewissermaßen selbst wieder her, und der Erkrankte kann mit dem Leben davonkommen. Die aufregende Operation gelang, und die Medizin war um eine neue Großtat reicher.
Nur wenige Jahre zuvor hatte der südafrikanische Chirurg Professor Christian Barnard Aufsehen erregt, als er erstmals ein menschliches Herz verpflanzte und auch damit bewies, welch großartiger Leistungen die Heilkunst fähig ist. Hochqualifizierte und moderne Arzneien in der Hand von Spezialisten nehmen dem Tod heute immer häufiger die Entscheidung darüber ab, wann er ein Menschenleben auslöschen darf. Immer mehr Erdenbürger, die einst ein früher Tod ereilt hätte, leben auf diese Weise länger.
Der Wunsch, Verwundeten oder Kranken zu helfen, geht auf die Zeit der Menschwerdung zurück.
Er hat seine Wurzeln in dem uralten Bedürfnis, in Bedrängnis geratenen Stammesgenossen Hilfe zu bringen, um sie der Gemeinschaft zu erhalten. Als Eigenschaft mit positivem Auslesewert bewährte sich diese »Kameradschaft« überall dort, wo das Überleben von Gruppen vorteilhafter war als mutiges Einzelgängertum. Wenn der Gruppenangehörige den Schutz der Gemeinschaft genoß, wenn andere ihn aus Feindeshand befreiten, seine Wunden pflegten und ihn vor Hunger und Durst bewahrten, dann stärkte er den Verband, sobald er wieder aktionsfähig war.
So kam es, daß Stammesgenossen, die sich besonders auf die Heilung Kranker verstanden, geachtet und verehrt wurden, zumal sie scheinbar geheimnisvolle Kräfte besaßen — ein Odium, mit dem sie sich auch selbst nur allzu gern umgaben. Wie die Priester, die sich auf die Durchführung von Versöhnungsriten und Opfergaben spezialisiert hatten, so machten bald auch die »Medizinmänner« mit einschlägigen Talenten von sich reden. Mehr als andere hatten sie über die Heilkräfte von Wurzeln und Kräutern in Erfahrung gebracht, konnten sie zauberkräftige Tränke brauen und Salben zubereiten, wußten sie magische Formeln und Beschwörungen zu sprechen.
Ihre Erfolge waren und sind auch heute noch erstaunlich; unser Verstand reicht nicht aus, sie zu erklären. So ist noch immer das Rätsel des Vagustodes ungelöst, ein Sterben durch die Macht des bloßen Wortes und der damit verbundenen Vorstellungen.
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Es gibt verbürgte Fälle, in denen Eingeborene aus Angst vor dem gefürchteten Medizinmann ein tödliches Herzversagen erlitten, nachdem dieser als Richter aufgetreten war und das Todesurteil gefällt hatte. Ein solcher Tod braucht nicht einmal an Ort und Stelle einzutreten, er kann den Verurteilten noch Tage oder Wochen später ereilen, gegebenenfalls auch weit von dem mächtigen Zauberer entfernt — ganz so, wie es sein Spruch befahl. Umgekehrt gibt es Berichte über erstaunliche Heilungen durch die Manipulationen von Schamanen — auch für diese Fälle weiß unsere Schulmedizin häufig noch keine Erklärungen.
Es hieße Eulen nach Athen tragen, wollten wir hier auch nur die bedeutendsten Stationen der Medizingeschichte schildern. Es sind ja nicht ihre großen Leistungen, um die es hier geht; sie seien unangetastet und bewundert.
Aber es ist eine unleugbare Tatsache, daß die Heilkunst, gewiß gegen ihren Willen, aber gerade auch dank ihrer Erfolge, zu einem guten Teil das Bevölkerungsproblem mit heraufbeschworen hat und — auch dies ist leider der Fall — zur Verschlechterung der menschlichen Erbanlagen beiträgt.
Besonders bedeutsam ist in diesem Zusammenhang die Senkung der Mütter- und Säuglingssterblichkeit, ist der Sieg über die Infektionskrankheiten und sind die Fortschritte der allgemeinen Hygiene. Noch im Mittelalter konnten Seuchen, wie die Pest oder die Syphilis, ganze Völkerschaften dezimieren. Heute haben diese Krankheiten kaum noch eine Chance. Solange unsere Antibiotika die Erreger wirksam bekämpfen, werden wir auch in Zukunft von ihnen verschont bleiben.
Aber damit nicht genug.
In diesen Jahren schicken sich die Mediziner an, nach den Sternen zu greifen und den Menschen »unsterblich« zu machen.Als das Herz des an Leberkrebs erkrankten amerikanischen Psychologie-Professors James Bedford am 12. Januar 1967 zu schlagen aufgehört hatte, injizierte ihm der im Sterbezimmer anwesende Arzt Dr. Renault Able ein Medikament, das die Blutgerinnung verhinderte.
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Die Leiche Bedfords wurde dann in einen länglichen Behälter gelegt, das Herz massiert und die Lunge künstlich beatmet. Schließlich bedeckte man den Körper mit Eisstückchen, um ihn abzukühlen. Als Bedfords sterbliche Hülle eine Weile so gelegen hatte, zapfte man das Blut ab und ersetzte es durch eine glycerinhaltige Flüssigkeit. So vorbereitet, wurde der gefrorene Körper im Flugzeug nach Phoenix im Staate Arizona gebracht, wo er in einem röhrenförmigen Metallbehälter — einem »Eissarg« — bei minus 196 Grad Celsius noch heute ruht.
»Die Idee ist bestechend«, hatte Bedford ausgerufen, als ihm sein Arzt einige Zeit vor dem erwarteten Tode den Plan erklärte. Bedford wußte, was die Diagnose »Leberkrebs« bedeutete. Er wußte aber auch, daß die Medizin nicht ruhen und eines Tages vielleicht ein Mittel gegen den tödlichen Verlauf dieses Leidens finden würde. So hatte er in das Experiment eingewilligt. Er hatte seinen Körper im Vertrauen auf den medizinischen Fortschritt einfrieren lassen. Wenn die Ärzte den Leberkrebs erst besiegt haben würden, dann, so hoffte er, würde er ein zweites Leben beginnen können.
James Bedford ist nicht der einzige Hoffende geblieben. Weitere Todeskandidaten sind ihm in die Eissärge der »Cryonics-Society of California« gefolgt. Die amerikanische »way of death« war um eine Variante reicher geworden.
Aber wird sich die Hoffnung auf Unsterblichkeit der vorerst Toten erfüllen?
Die Aussichten dafür stehen derzeit schlecht. Was die Sache so fragwürdig macht, hat biologische Gründe. Sowohl beim Abkühlen als auch beim Wiederauftauen eines Organismus finden Veränderungen in den Zellen statt, die eine spätere Wiederbelebung ziemlich unwahrscheinlich machen. Eiskristalle bilden sich und beschädigen die Zellwände. Wasserverlust durch Gefrieren von Zellbestandteilen erzeugt unzuträglich hohe Salzkonzentrationen, ein »thermischer Schock« kann ungleichmäßige Schrumpfung der Zellwände und damit Spannungen und Zerstörung bewirken. Darum muß man befürchten, daß die Eingefrorenen von Phoenix aus ihrem Kälteschlaf nie wieder erwachen werden. Der Tod läßt sich zwar hinausschieben; gänzlich überlisten läßt er sich so leicht offenbar nicht.
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Doch kann man vielleicht das Leben überlisten? Um wieviel läßt sich der menschliche Lebensfaden noch dehnen, ohne daß er reißt? Muß dieses Leben unabänderlich »70 Jahre währen«, oder, wenn es hoch kommt, 80?
Die Medizin hat nicht geruht, auch hier ihre Hebel anzusetzen. In einem Gesundheitsbericht der deutschen Bundesregierung wird für die nächsten 30 Jahre eine Entwicklung der ärztlichen Kunst vorausgesagt, die kühne Hoffnungen nährt.
Mehr und mehr wird uns demzufolge neben der rein behandelnden auch die vorbeugende Heilkunst die Chance geben, länger zu leben. Statt abzuwarten, bis der Mensch ein Leiden bekommt, um dann für teures Geld wieder gesund gepflegt zu werden, soll er möglichst gar nicht erst erkranken. Vorsorge-Untersuchungen und Krankheitsdiagnosen schon im Frühstadium gefährlicher Leiden werden dabei helfen. Da die Herz- und Kreislaufkrankheiten noch immer zunehmen, wird es auf deren Verhütung besonders ankommen. Dazu soll künftig eine vorbeugende Dauerbehandlung der Herz- und Kreislaufgefährdeten beitragen.
Auch die Transplantationstechnik wird weiter vervollkommnet werden. Das heißt, bei der Überpflanzung lebender Organe wird jene gefürchtete Abstoßreaktion allmählich besser beherrscht werden, mit der sich der Körper gegen das ihm fremde Organ wehrt. Künstliche Organe werden wahrscheinlich noch größere Bedeutung erhalten, vor allem künstliche Herzen, aber auch bioelektrisch gesteuerte Arm- und Beinprothesen. Schon heute gibt es ein paar Dutzend teils komplizierter Kunstorgane, von der Herzklappe bis hin zum künstlichen Haar- und Zahnersatz. Schon heute wird auch daran gedacht, Tiere als künftige Organspender zu züchten — Paviane werden den Anfang machen.
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Kein Zweifel, wir sind auf dem Wege zu einer Prothesengesellschaft mit immer höherem Durchschnittsalter. Es wird dann reizvolle Fragen geben, wie die: Mit wie vielen Ersatzteilen im Leib vermag sich einer noch als menschliches Wesen zu bezeichnen? Und wenn das Synthetische vorherrscht: Was wird aus der Individualität des Menschen? Oder: Wie leicht, wie schwer wird es sein, sich in eine Ansammlung von Prothesen zu verlieben?
Nicht weniger aufregende Fortschritte stehen in der Behandlung der Krebskrankheit bevor. Mindestens 70 Prozent aller Krebsfälle, schätzt der Bericht, werden heilbar sein. Zur Bekämpfung des Krebses wird es beitragen, daß immer mehr krebserregende Umweltfaktoren dingfest gemacht und ausgeschaltet werden. Nicht ausgeschlossen ist, daß es einmal immunbiologische Verfahren gegen bestimmte Krebsformen geben wird, zumal sich die Hinweise auf Viren als mitverantwortliche Krebserreger mehren.
Von den Molekularbiologen erhofft sich die Medizin das »know how« für die gezielte Behandlung bestimmter Stoffwechselkrankheiten. Ernstzunehmende Vorstellungen darüber sind schon entwickelt worden. So wäre es denkbar, Erbkrankheiten wie die Phenylketonurie, die normalerweise zu Schwachsinn führt, mit Hilfe harmloser Viren zu behandeln. Die Viren könnten spezielle Erbsubstanzen transportieren, mit deren Hilfe in den Zellen der erkrankten Organe das fehlende Enzym erzeugt wird. Nach dem gleichen Prinzip könnten andere Krankheiten behandelt werden, die das Leben vieler Menschen heute noch verkürzen, so auch die Zuckerkrankheit.
Weit mehr Bedeutung als bisher wird künftig einer gesunden und zweckmäßigeren Ernährung geschenkt, soweit sie verfügbar ist. Für den alternden Menschen bedeutet dies, daß er statt vorwiegend Brot, Kartoffeln und Fett mehr eiweißhaltige Nahrungsmittel wie Fisch, mageres Fleisch und Molkereiprodukte zu sich nehmen wird. Angesichts der angespannten Ernährungssituation in den Entwicklungsländern werden — zumindest dort — auch Produkte aus künstlichen Algenzuchten und Meerestierfarmen, aber auch aus neuen, veredelten Getreide- und Gemüsesorten auf den Speisezettel kommen.
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Wie der deutsche Gesundheitsbericht, so prophezeit auch die bekannte amerikanische Zukunftsstudie von Gordon und Helmer denjenigen ein zunehmend längeres Leben, die sich der Mittel dazu bedienen können. Im Zeitplan der lebensverlängernden Errungenschaften sind die Amerikaner allerdings zurückhaltender. So wird die chemische Kontrolle des Alterns nach ihrer Meinung erst für die Zeit zwischen den Jahren 2000 und 2020 möglich sein, während die Hälfte der deutschen Fachleute dafür schon die Jahre 1980 bis 1990 ansetzt. Auch die Entwicklung von Medikamenten zur Intelligenzsteigerung wird in den USA statt bis 1990 erst vom Jahre 2000 an für möglich gehalten.
Alles in allem soll sich die Lebenserwartung des Menschen bis zur Jahrtausendwende um etwa 20 Jahre erhöhen. Wir werden also künftig immer mehr alte Menschen unter uns haben. Das Spannungsverhältnis zwischen den Generationen wird zunehmen, weil die Vielfalt der Erfahrungen, der Wünsche und Temperamente dauernd größer wird und die Möglichkeiten, die unterschiedlichen Ansprüche und Erwartungen zu harmonisieren, immer geringer werden. Die psychischen Probleme der Menschen untereinander werden also wachsen, zumal hier auch das Beschleunigungsphänomen des technischen und gesellschaftlichen Fortschritts hineinwirkt.
»Die biologisch langfristig so fruchtbare Neuerwerbung des Lernverhaltens mit Erfahrungstradition«, schreibt der Braunschweiger Anthropologe Professor Gottfried Kurth,
»ist heute umgeschlagen zu einem raschen Auseinanderleben der Generationen und zunehmenden Generationsgegensätzen aufgrund einer abweichenden Ausgangssituation für die Erfahrungssammlung ...
Wir haben viele Millionen Jahre lang in geringer Anzahl in überschaubaren kleinen Zweigenerationengruppen gelebt, in denen die Kinder völlig unbewußt soziales, also gruppendienliches Verhalten erfahren und erlernen konnten.
Die moderne Großgesellschaft hat die überschaubaren Kleingruppen verdrängt beziehungsweise aufgelöst. Wir kennen alle das Schlagwort von der Vereinzelung in der Masse. In unserer nicht mehr überschaubaren Großgesellschaft können wir nicht wie bisher die erforderlichen Grundlagen zu sozialem, gruppendienlichem Verhalten direkt erfahren ...«
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Namentlich Neurosen und Depressionen werden als Preis für das längere Leben häufiger auftreten. Dabei steht durchaus nicht fest, ob nur die Älteren unter den psychischen Belastungen leiden werden. Zunehmende Freizeit, die nicht jeder sinnvoll ausfüllen kann, ein ständig risikoärmeres, dabei mehr und mehr technisiertes, rationaleres und an Umweltverschmutzung, Terrorakten, Kriegen und Hungersnöten »reicheres« Leben wird in seiner Gesamtheit auch den Jüngeren zu schaffen machen.
Es wird zu neuen Formen von Streß und einem wachsenden Verbrauch von Psychopharmaka kommen. Diese Mittel sind schon in den letzten Jahren stark vermehrt hergestellt und verbraucht worden, künftig wird man sie für immer speziellere Zwecke entwickeln.
Eine große Zukunft wird die Altersheilkunde haben, die Geriatrie. Vorerst freilich steckt die Erforschung der Vorgänge, die uns altern und sterben lassen, noch in den Kinderschuhen. Warum lebt der eine Mensch nur 50 oder 60 Jahre, der andere mehr als neunzig? Möglicherweise sind da die Erbanlagen im Spiel, doch sicher ist das nicht. Offenbar hängt das Älterwerden vor allem mit nervlichen Vorgängen zusammen. Von den rund 14 Milliarden Nervenzellen des Gehirns gehen schon vom mittleren Lebensalter an täglich Tausende zugrunde, ohne regeneriert zu werden. Wie es heißt, verlieren wir auf diese Weise im Lauf des Lebens bis zu 20 Prozent unserer »Kommunikationshilfen« mit der Außenwelt. Ihr Verlust geht natürlich auf Kosten der Denkfähigkeit und des Erinnerungsvermögens. Je älter der Mensch wird, um so mehr muß er mit seiner Erfahrung kompensieren, was ihm an geistiger Leistungskraft und schöpferischer Intuition abhanden kommt.
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Der Alterungsprozeß beschränkt sich aber nicht nur auf die Nervenzellen. Auch andere Körpergewebe verschleißen mit den Jahren. Ihr Wassergehalt nimmt ab. Die Haut wird trockener und faltig. Die Stoffwechselvorgänge verlangsamen sich, Schlacken verschiedener Art, Cholesterin vor allem und bestimmte Salze setzen sich in den Zellen fest. Auch der Kalkstoffwechsel unterliegt der Alterung. Nach dem amerikanischen Streßforscher Hans Selye versagen seine Regelmechanismen zunehmend, so daß sich mehr und mehr Kalk in den Gefäßen ablagert, sie brüchig macht, enger werden und verhärten läßt. Um dem vorzubeugen, empfehlen die Ärzte, Übergewicht zu vermeiden, Blutdruck und Lipoid- beziehungsweise Blutfettspiegel zu senken, wenn diese zu hoch sind.
Dem Leben noch ein, zwei Jahrzehnte mehr abzutrotzen, als es unter normalen Umständen zu geben bereit ist, ist nach alledem nicht mehr so utopisch, wie es noch vor wenigen Jahrzehnten schien. Neben der Auswirkung auf die Bevölkerungsexplosion freilich wird die Frage problematischer werden, wann es dem Tod erlaubt sein soll, einen Menschen schließlich zu sich zu nehmen. Denn immer mehr Menschen werden nicht sterben können, weil ihre Mitmenschen sie nicht sterben lassen und weil die dem Hippokratischen Eide verpflichteten Ärzte den Tod immer wieder verhindern.
Mit ihrer erfolgreichen Praxis, Menschenleben zu erhalten und zu verlängern, hat sich eine weitere Errungenschaft des Großhirns als zweischneidig erwiesen. Das zutiefst humane Anliegen der Medizin hat gleich mehrere antihumane Nebenwirkungen gezeitigt: menschliche »Hüllen«, die nur noch physisch weiterexistieren, eine künftige Prothesengesellschaft, die Verschlechterung der menschlichen Erbsubstanz und zahlreiche Probleme, die sich aus der wachsenden Überalterung der Gesellschaft ergeben.
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Entscheidend ist aber ein Punkt: Gerade weil die moderne Medizin vielen Menschen, die früher vorzeitig gestorben wären, das Leben verlängert und die allgemeine Lebenserwartung anhebt, müßte die Konsequenz eine entschiedene Geburtenkontrolle sein, um die aus dem Gleichgewicht geratene Entwicklung wieder zu normalisieren. Denn es ist auf die Dauer unmöglich, daß der Mensch dort, wo es um die Überlistung des Todes geht, seine ganze Phantasie, Intelligenz und materiellen Möglichkeiten einsetzt, während er sich dort, wo es um die Zeugung neuen Lebens geht, kaum anders verhält als die Kaninchen.
Während zwei oder drei Milliarden Menschen — vielleicht viel weniger — das Optimum menschlicher Besiedlung der Erde wären, haben wir mittlerweile fast vier Milliarden erreicht und vermehren uns weiter um nahezu neuntausend jede Stunde, um 75 Millionen jedes Jahr. Diese furchtbaren Zahlen ergeben sich, wenn man die Sterbefälle von den Geburten abzieht — es ist also der Nettozuwachs menschlicher Individuen auf der Erde. Und dieser Zuwachs wird — falls keine Katastrophe hereinbricht — nach dem letzten demographischen Jahrbuch der Vereinten Nationen im Jahre 2006 zu einer Menschenzahl von siebeneinhalb Milliarden geführt haben: Menschen, die ernährt, gekleidet, ausgebildet, untergebracht, zu friedlichen Mitbürgern erzogen, vor Krankheiten geschützt und eines ständig steigenden Wohlstandes teilhaftig werden wollen.
Ein Kommentar dazu erübrigt sich. Aber es ist vielleicht interessant, die explosive Zunahme der Menschen einmal im Rahmen der irdischen Entwicklungsgeschichte zu sehen.
Der deutsche Astronom Heinrich Siedentopf hat dazu die Geschichte der Erde in einem Gedankenexperiment auf die Spanne eines Jahres schrumpfen lassen.
Danach entsteht im Januar die Sonne, im Februar bildet sich neben den anderen Planeten auch die Erde. Im April hat sich der Erdball soweit abgekühlt, daß die Vorstufen des Lebens entstehen können. Im Sommer treten die ersten Lebewesen auf.
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Kurz vor Weihnachten bevölkern die Saurier unseren Planeten, aber erst spät am letzten Tag des Jahres, gegen 23 Uhr, erscheinen die Urmenschen. Zehn Minuten vor Mitternacht lebt der Neandertaler. Die letzte halbe Minute vor Mitternacht steht für die historische Zeit zur Verfügung — 30 Sekunden also für die Jahrtausende, die seit den Anfängen der überlieferten Geschichte vergangen sind. Und eine einzige Sekunde nur — die letzte des alten Jahres — brauchte der Mensch, um seine Kopfzahl auf der Erde von einer Milliarde auf drei zu erhöhen.
Soweit Siedentopfs Vergleich. Natürlich kann man seine Gedankenspielerei noch fortsetzen. Für die nächste Verdreifachung der Menschheit wäre vergleichsweise nur noch ein Sekundenbruchteil notwendig, und in diesem Bruchteil wird ein großer Teil der Tierarten vom Menschen verdrängt, vergiftet, ausgerottet sein. Unter den Säugern wird der Mensch mit seiner Fruchtbarkeit dann die Ratten übertroffen haben.
Das »Neue Jahr« würde also vielversprechend beginnen. Es würde dies nicht zuletzt deshalb tun, weil der Mensch — einem unwiderstehlichen Drange folgend — auch weiterhin alles daransetzen wird, seine Fruchtbarkeit zu erhalten und sogar noch zu steigern. Beispiele dafür liefert die Vergangenheit sogut wie die Gegenwart. So erscheint es vielen Zeitgenossen offenbar gänzlich unzumutbar, sich in das Schicksal anlagebedingter oder sonstwie verursachter Kinderlosigkeit zu fügen. Für sie spielt die Medizin gern »corriger la fortune«, und ihre einschlägigen Dienste werden zunehmend begehrter. Weltweit hat heute ein gynäkologischer Eingriff an Bedeutung gewonnen, den man »heterologe künstliche Insemination« nennt — kurz »h.I.« — zu deutsch: Die künstliche Besamung einer Frau im Sprechzimmer des Doktors mit einem Sperma, dessen Spender ein dem Ehepaar unbekannt bleibender Dritter ist.
Auf die Praxis dieses Eingriffs halten sich nicht wenige Mediziner etwas zugute. »Ich verfüge über acht Spender, die jederzeit zur Verfügung stehen«, erklärte ein prominenter deutscher Spezialist und fuhr fort:
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»Den Samen gewinnt man durch Masturbation. Die Masturbation ist natürlich eine psychische Belastung, deswegen wird der Spender auch honoriert, genau wie bei einer Blutspende.«
Nach Angaben desselben Arztes wird die Spermaflüssigkeit mit einer abgerundeten Kanüle in den Gebärmutterhals injiziert und anschließend — gemeinsam mit dem dabei herausgespülten Sekret — in einer Zelluloidkappe vor dem Gebärmuttermund festgehalten. Anschließend sollen sich für die Frau »Lageveränderungen wie bei der Rollkur« bewährt haben. Diese Prozeduren seien gewöhnlich dreimal je Monatszyklus während der empfängnisbereiten Tage der Frau zu wiederholen, gelegentlich auch öfter, um zum Erfolg zu kommen.
Um den ersehnten Nachwuchs hervorzubringen und damit, wenngleich ungewollt, ihren Beitrag zum Bevölkerungsproblem zu leisten, hält die Medizin freilich noch phantasievollere Mittel bereit.
Wie bei der umstrittenen heterologen Insemination springt sie vor allem da ein, wo die Impotenz des Mannes die Wurzel des Übels ist. Spezialisten wissen Rat, wenn die Spermiendichte im Ejakulat zu gering ist, um eine natürliche Befruchtung zu ermöglichen (Oligospermie), oder wenn anatomische Mängel der Geschlechtsorgane die eheliche Vereinigung erschweren. Einerseits praktiziert man da die sogenannte homologe Insemination im Splitting-Verfahren. Dazu friert der Arzt das wiederholt masturbierend gewonnene Sperma des jeweils ersten Ejakulationsstoßes ein. Ist ein hinreichendes Quantum vorhanden, so wird das Sperma durch Sedimentieren und Zentrifugieren für die Insemination der Ehefrau konzentriert.
Bleibt der Nachwuchs aus anderen Gründen aus, so stehen weitere Kunstgriffe zur Verfügung. In Zeiten sexuellen Leistungsdrucks klagen überforderte Ehemänner gelegentlich über ihre mangelhafte Fähigkeit, den Geschlechtsakt überhaupt einzuleiten. Auch die so Betroffenen brauchen nun nicht mehr zu verzagen. Ihnen kann eine Prothese als Erektionshilfe zuteil werden, wie sie der rumänische Arzt Dr. Th. Tudoriu von der Sectia de Chirurgie in Bukarest entwickelt hat. Es handelt sich um ein keulenförmiges Stäbchen, das operativ in den Schwellkörper verpflanzt wird und die Voraussetzung für den Verkehr schafft.
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Hilfe wird auch weiblichen Patienten gewährt, wenn das Zeugungsbemühen vergeblich bleibt. Gegenwärtig zieht eine phantasievolle Inseminationskappe zur Überwindung von Fertilitätsstörungen die diesbezügliche Aufmerksamkeit auf sich. Das Verfahren beruht auf einer Idee des Kieler Gynäkologen Professor K. Semm. Es ist für jene Fälle gedacht, in denen physischer oder psychischer Streß des Mannes die Kohabitation erschwert. Während eine homologe Insemination häufig Terminprobleme aufwirft — nicht immer sind beide Partner zum optimalen Zeitpunkt zur Vereinigung in der Lage—, hat Semms Gerät den Vorteil, daß nur ein Partner — die Frau — einige Male in die Sprechstunde zu kommen braucht. Nach den üblichen Voruntersuchungen fixiert dann der Arzt zum geeigneten Zeitpunkt am Gebärmuttermund eine Kappe, in der durch Absaugen ein Unterdruck erzeugt wird. Aus der Kappe führt ein Schlauch heraus, dessen zunächst verschlossenes Ende die Frau von außen leicht erreichen kann.
So präpariert, kann sie nach Hause gehen. Dort führt sie das im häuslichen Milieu gewonnene Sperma des Mannes mit einer Einwegspritze an das Schlauchende heran, öffnet sie dann den Verschluß des Schlauches, so wird das Sperma durch den Unterdruck in den Gebärmuttermund gesaugt. Wie der Arzt versichert, sei es im heutigen termingebundenen Leben auf diese Weise viel öfter möglich, die Tage optimaler Empfängnisfähigkeit wahrzunehmen.
Der medizinische Einfallsreichtum, der Natur um jeden Preis abzutrotzen, was sie — vielleicht nicht ohne Grund — zu versagen beschlossen hat, wird inzwischen ergänzt durch Aufklärungsfilme und populäre Literatur, die dem lustgierigen, nackthäutigen Affenwesen ungezählte Möglichkeiten des koitalen Vollzugs und eine Bettakrobatik empfehlen, die der eigenen Phantasie kaum noch Raum lassen.
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Wer immer es wünscht, erfährt nun die letzten Geheimnisse der Intimsphäre, so den Tatbestand, daß die pulsierenden Bewegungen der orgastischen Manschette den Lustgipfel der Frau signalisieren, oder die eigene Erregungsphase gegebenenfalls durch heftiges Atmen auch im Fall männlicher Schwäche noch zum Orgasmus zu verwandeln sei.
Die Ultima ratio medizinischer Zeugungshilfe demonstrierte freilich der griechische Arzt Dr. Nicolaos A. Papanicolaou von der Aristoteles Universität in Saloniki. Ihm gelang es, die Vagina einer Frau auf deren unfruchtbare Tochter zu verpflanzen. Der Anlaß der Operation war, daß die Tochter eine unterentwickelte Scheide besaß, die den Geschlechtsverkehr unmöglich machte. Als ihrem Ehemann der Sachverhalt klargeworden war, hatte er damit gedroht, die Ehe für ungültig erklären zu lassen. »Die Patientin«, meldet der hilfreiche Arzt nach erfolgter Verpflanzung in einem Fachblatt, »ist jetzt zum normalen Sexualverkehr fähig, der sogar vom Orgasmus begleitet ist.«
Mögen all diese Kunstgriffe, was das Bevölkerungsproblem betrifft, auch nur geringfügig zu Buche schlagen, so sind sie doch symptomatisch für den Stellenwert, den Fortpflanzung und Kinderkriegen im Bewußtsein des Menschen einnehmen. Der Sexualtrieb erweist sich als existentieller Impuls, dem der Mensch als instinktverhaftetes Wesen sich so wenig entziehen kann wie Hunger und Durst. Für den Vollzug des Geschlechtsaktes, auf dessen Höhepunkt der Homo sapiens für eine kurze Weile Gefühle der Grenzenlosigkeit erlebt, nehmen Mann und Frau beispiellose Risiken auf sich.
Aber auch der eigentliche Zweck der Vereinigung, das Kind, steht hoch im Kurs. In manchen Ländern, wie Brasilien und Indien, wird in hohen Kinderzahlen noch immer die beste Altersversicherung gesehen. Mancherorts steht und fällt das Ansehen des Mannes geradezu mit der Anzahl der Söhne, die er zu zeugen imstande war. Vorurteile oder Naivität machen sich dagegen bemerkbar, wenn es um die Anwendung wirksamer Methoden der Empfängnisverhütung geht.
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In Indien hatte der amerikanische Arzt Dr. A. Stone vor Jahren »Perlenketten« als Anzeiger für die fruchtbaren und unfruchtbaren Tage im Monatszyklus der Frau verteilen lassen. Die Frauen sollten die Ketten an die Wand hängen oder um den Hals tragen und täglich eine Kugel von der rechten auf die linke Seite schieben. Das schien narrensicher und versprach, der Zuwachsrate der indischen Bevölkerung endlich Herr werden zu können. Die Ketten begannen mit vier roten Kugeln für die Tage der Regelblutung. Es folgten fünf grüne Kugeln für die »ungefährlichen« Tage, neun schwarze und außerdem eckige Perlen (um sie auch im Dunkeln ertasten zu können) für die »verbotenen« Tage vor und nach dem Eisprung und schließlich zehn grüne Kugeln für die sichere Zeit vor der nächsten Regel.
Stone hatte alles gut bedacht. Nachdem er sich auch der Hilfe von ortsansässigen Hebammen versichert hatte, war er vom Gelingen seines Planes überzeugt. Er hatte indes die Rechnung ohne die Inderinnen gemacht. Vielfach gerieten die Ketten als willkommene Spielzeuge in die Hände der Kinder, weil die Frauen ihren Sinn beim besten Willen nicht begriffen und sie achtlos herumliegen ließen. Andere legten die Ketten in die Schränke und kümmerten sich nicht weiter um sie. Wieder andere erwarteten eine Art Zauberwirkung allein davon, daß sie die Ketten trugen. Eine Dorfbewohnerin beklagte sich: »Ich bin schon wieder schwanger, mein letztes Baby habe ich vor einem Jahr geboren, und ich habe doch die nichtswürdigen Perlen die ganze Zeit um den Hals gehabt!« Eine dritte Gruppe von Frauen löste das Problem in umwerfender Einfalt. Diese Inderinnen pflegten die »Wartezeiten« abzukürzen, indem sie die eckigen Perlen je nach Bedarf zur Seite schoben, gegebenenfalls auch alle auf einmal. Nichtsdestoweniger wunderten sie sich, wenn der Ehelust alsbald der Kindersegen folgte.
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Welche Schwierigkeiten einer wirksamen Empfängnisverhütung und damit einer weltweiten Reduzierung des Bevölkerungswachstums entgegenstehen, erwies drastisch auch das niederschmetternde Ergebnis eines ärztlichen Rates zum Coitus interruptus, den ein amerikanischer Arzt nach einem Bericht Alfred Sauvys einmal einem ortsansässigen Farmer gegeben haben soll. »Kurz vor dem Höhepunkt«, so hatte der Arzt dem Manne geraten, »denken Sie am besten ganz intensiv an die Zahl der Kinder, die Sie ernähren können. Das wird Ihnen die nötige Beherrschung verleihen, um das Beisammensein mit Ihrer Frau rechtzeitig abzubrechen!« Als der Farmer einige Zeit später wieder erschien und über die inzwischen eingetretene, neue Schwangerschaft seiner Frau klagte, fragte der Arzt, ob er sich denn nicht an seinen Rat gehalten habe. »Doch, doch«, antwortete der Mann, »aber im letzten Augenblick hatte ich das Gefühl, als würde ich fünfzig Kinder ernähren können.«
Anscheinend ist die Menschheit dazu verdammt, sich zu Tode zu wachsen. Die besten Voraussetzungen dazu bringen wir mit. Eine von ihnen ist, daß wir im Gegensatz zu vielen Tieren nicht nur periodisch, sondern nahezu ständig zu sexuellen Handlungen fähig, also fortpflanzungsbereit sind. Es kann gar keine Frage sein, daß allein dieser Umstand eine wie auch immer geartete künstliche Geburtenregelung rechtfertigt. Was früher seinen Sinn gehabt haben mag, als die Erde noch groß und leer war: Möglichst produktiv zu sein an Nachkommenschaft wie an Gütern, das hat auf unserem inzwischen klein gewordenen und von Menschen wimmelnden Planeten seinen Sinn hoffnungslos verloren.
Was das Bevölkerungsproblem so gefährlich macht, ist nicht zuletzt der Umstand, daß es für den normalen Sterblichen noch relativ unauffällig bleibt, daß es gewissermaßen schleichend größer wird. In den Industrienationen ist zudem die Menschenzunahme kaum zu spüren, da drängt sich anderes vor: die zunehmende Verbauung der Natur, die Technisierung, das Wachstum der Städte, die wie Geschwüre die Landschaft überziehen. Von dem, was weltweit geschieht, erfahren wir nur in Gestalt von Fotos hungernder Negerkinder, von Statistiken und Kurven.
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Wir hören die Zahlen und halten einen Augenblick inne, aber unser Arbeitstag ändert sich davon nicht, der Brotaufstrich beim Abendessen und der Ausblick aus unserem Wohnzimmerfenster bleiben die gleichen.
Es gibt eine Rechnung, nach der das Gewicht der menschlichen Leiber im Jahre 3500 theoretisch dasjenige der Erde erreicht haben wird — ein fiktives Zahlenspiel gewiß, das aber doch zeigt, wie unerbittlich das Wachstum der Erdbevölkerung dem Kollaps entgegentreibt und wie schwer vorstellbar es ist, daß die tägliche Vermehrungsrate von gegenwärtig fast 200.000 auch nur wenige Jahrzehnte noch wachsen kann, ohne daß unser Gesellschaftssystem schweren Schaden erlitte.
Wenn wir aber keine humanen Mittel für eine wirksame Geburtenkontrolle finden — und alles deutet darauf hin — so werden irgendwann inhumane Mechanismen sich des Problems annehmen und es zu lösen wissen. Dieses Schicksal wird uns um so eher ereilen, es wird uns um so härter treffen, je länger wir eine rigorose Einschränkung der Geburtenzahlen hinausschieben oder sie gar für unmoralisch halten.
Geburtenkontrolle ist die Voraussetzung für eine menschenwürdige Weiterexistenz unserer Art auf dem Erdball. Es stellt sich freilich die Frage, auf welche Art und Weise wir diese Geburtenkontrolle schließlich werden einführen müssen oder unter welchen Bedingungen sie erzwungen wird. Ein bisher zu wenig beachteter Faktor ist hier das mit dem Bevölkerungswachstum rasch ansteigende Analphabetentum in der Welt.
Die UNESCO hat darüber unlängst in 92 Ländern Untersuchungen angestellt und statistisches Material gesammelt. Danach muß unter den rund 2,34 Milliarden erwachsenen Erdenbürgern derzeit mit etwa 810 Millionen gerechnet werden, die weder lesen noch schreiben können. Und diese Zahl nimmt rasch zu. Analphabet zu sein, muß zwar nicht heißen, auf niedriger Kulturstufe zu stehen, aber lesen und schreiben zu können hilft einem doch, wenn es darum geht, etwa bessere landwirtschaftliche Methoden kennenzulernen. Vor allem aber ermöglicht es den Menschen, den Sinn der Geburtenkontrolle zu verstehen und zu lernen, wie man Empfängnisverhütung betreiben kann.
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Im anwachsenden Analphabetentum mag auch einer der Gründe liegen, weshalb in weiten Gebieten der Erde mit der Verteilung empfängnisverhütender Mittel wie der »Pille« so enttäuschende Erfahrungen gemacht worden sind. Vielen Frauen fehlt einfach die Einsicht, daß die »Pille« nicht von Fall zu Fall hilft, »nachdem es passiert ist«, sondern daß sie regelmäßig genommen werden muß, um im Körper jenen schwangerschaftsähnlichen Zustand aufrechtzuerhalten, der eine Befruchtung verhindert. Darum fällt es ihnen so schwer, einer im Grunde so einfachen Aufgabe wie der täglichen Einnahme regelmäßig nachzukommen.
Auch die Vorschriften einer Reihe von Glaubensgemeinschaften werden auf Kosten der Menschenwürdigkeit unseres Weiterlebens auf der Erde befolgt. Einige der großen Religionen befinden sich insofern in einer Konkurrenzsituation, als jede von ihnen behauptet, dem wahren Glauben anzuhängen. Wenn ihre Mitgliederzahlen als Folge wirksamer Verhütungspraktiken schrumpfen würden, so müßten sie nicht nur um den Bestand ihrer Gläubigen fürchten, sondern auch um ihren weltweiten Einfluß und ihre kulturelle Bedeutung.
Als Papst Paul VI. 1968 seine Enzyklika <Humanae vitae> veröffentlichte, konnte der bevölkerungspolitisch verantwortlich denkende Teil der Menschheit nur mit fassungslosem Befremden zur Kenntnis nehmen, daß die katholische Kirche einer erdrückenden Tatsachenlast zum Trotz weiterhin jede zuverlässige Form einer Empfängnisverhütung ablehnt, darunter die <Pille> und die intrauterinen Pessare als wirksamste Verfahren.
Auch hier muß der Verdacht aufkommen, die lange umstrittene Entscheidung der katholischen Kirche habe letzten Endes nicht Vernunfts-, sondern kirchenpolitische Gründe gehabt.
* detopia-2013: wikipedia / Humanae_Vitae
Humanae Vitae, umgangssprachlich auch als "Pillenenzyklika" bezeichnet, wurde am 25. Juli 1968 veröffentlicht und ist die siebte und letzte Enzyklika des Papstes Paul VI. Sie trägt den inoffiziellen Untertitel <Über die rechte Ordnung der Weitergabe des menschlichen Lebens>.
siehe auch: Seite 207
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Zu einer »Erlaubnis« wirksamer empfängnisverhütender Mittel hätte es ja nicht zuletzt eines gravierenden vatikanischen Eingeständnisses bedurft. Man hätte zugeben müssen, daß der sogenannte Heilige Geist statt beim Heiligen Vater früher auf Seiten derjenigen gewesen war, die die Notwendigkeit einer künstlichen Geburtenregelung seit langem erkannt hatten.
Wenn Geburtenkontrolle schon aus religiösen Gründen oder solchen der individuellen Geistesverfassung erschwert wird, so müssen bestimmte radikale Formen andererseits beim Menschen aus ethischen Gründen entfallen. Das wird am deutlichsten, wenn man einmal untersucht, wie verschiedene Tierarten ihre Bevölkerungszahl den Umweltgegebenheiten anpassen.
Bis vor kurzem noch schien festzustehen, daß bei den Tieren Hunger und Krankheit, Räuber und Witterungseinflüsse die entscheidenden Regulative für die jeweilige Populationsdichte, sprich Individuenzahl je Flächeneinheit, seien. Es gibt aber auch andere Dezimierungspraktiken. Bei den Bienen trennt sich ein Teil des alten Stockes und schwärmt unter Führung der Königin aus, wenn der »Bevölkerungsdruck« zu groß geworden ist. In der »Drohnenschlacht« werden die unnütz gewordenen Männchen von den Arbeiterinnen getötet. Die Tupajas, niedere Affen, bringen ihre Jungen um, wenn die Nahrung nicht reicht oder die Wochenstube der Weibchen durch zu viele Junge gestört wird. Die Tötungshemmung unter Artgenossen ist zwar die Regel, aber kein Gesetz.
Neuere Untersuchungen wie die des schottischen Zoologen Vero Copner Wynne-Edwards haben gezeigt, daß auch Geruchs- und Geschmacksstoffe Wirkungen haben können, die auf eine Anpassung der Individuenzahl an die gegebenen Umweltverhältnisse hinauslaufen. Wynne-Edwards fand, daß weibliche Mäuse einen »Anti-Baby-Duft« ausströmen. Wenn dieser Geruch stark genug in der Luft liegt, hemmt er die Entwicklung der Keimdrüsen. Ähnlich bei Froschlarven:
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Wenn man in einem Aquarium zu einer Anzahl kleinerer Kaulquappen eine größere Larve setzt, so hören die kleineren sofort zu fressen auf. Der Nachweis, daß auch hier ein Geruchsstoff verantwortlich ist, gelingt leicht. Es genügt schon, einen Tropfen Wasser aus einem Behälter mit größeren Kaulquappen in das Becken mit den kleineren fallen zu lassen, um den »Hungerstreik« auszulösen. Bei Lachsen hat man beobachtet, daß sie um so kleiner bleiben, je mehr Jungtiere aus den Eiern in einem bestimmten Laichgebiet schlüpfen. Nicht ein schon eingetretener Notstand also — wie etwa Hunger durch zu starke Beanspruchung der Nahrungsquellen —, sondern ein zu erwartender Notstand durch zu zahlreich heranwachsende Individuen regelt — hier auf dem Wege über chemische Agenzien — die Nachkommenzahl und damit die spätere Belastung der Nahrungsquellen.
Auch primitiv-brutale Formen der Geburtenregelung sind bekannt. Zu den einzeln lebenden Tieren gehören die Strandkrabben. Sie verhalten sich solange friedlich, wie ihnen eine gewisse »Ellenbogenfreiheit« bleibt, das heißt, solange jedes Tier über einen bestimmten Freiheitsraum um sich herum verfügt. Wird dieser Raum zu klein, gibt es Mord und Totschlag. Setzt man eine beschränkte Zahl von Strandkrabben in ein Aquarium, gibt ihnen reichlich Futter und durchströmt das Wasser ausreichend mit Sauerstoff, so geschieht zunächst gar nichts. Die Tiere verhalten sich ruhig. Setzt man jedoch weitere Krabben hinzu, dann beginnt über kurz oder lang ein grausames Spiel.
Um es zu verstehen, muß man wissen, daß die Strandkrabben sich wie alle Krebse von Zeit zu Zeit häuten müssen, um dem wachsenden Körper eine neue und größere, nicht mitwachsende Kalkschale zu geben. Der schützende Panzer wird dann abgeworfen. Wenn in der freien Natur eine Krabbe diesen Vorgang nahen fühlt, so zieht sie sich dazu an einen sicheren Ort zurück. Hier bleibt sie verborgen, bis der neue Panzer dick genug ist, um ihr wieder Schutz zu bieten. In dem überfüllten Aquarium können die Krabben jedoch nicht genügend sichere Verstecke finden, um sich für ihre verwundbare Zeit unauffindbar zu machen. Sie bleiben während des Häutens in Reichweite ihrer Artgenossen. Und weil es auch bei den Strandkrabben keine instinktive Tötungshemmung gibt, wird das sich häutende Tier von den anderen überfallen und aufgefressen.
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Was dieses Beispiel lehrt: Strandkrabben sind nur solange vor ihresgleichen sicher, wie sie ihren Panzer tragen. Immer dann, wenn sie sich häuten müssen, brauchen sie ein Versteck. Mit anderen Worten: Sie brauchen genügend Raum um sich herum, um zu überleben. Steht dieser Raum, stehen hinreichend Versteckmöglichkeiten nicht zur Verfügung, so müssen sie sterben. Mit dem Tod der Opfer entsteht Raum für die anderen und wird die Art erhalten: Der Tod des einzelnen Individuums als Voraussetzung für das Überleben der Art. Das Regulativ bei den Strandkrabben, auch so kann man es sehen, ist die Bevölkerungsdichte: Werden weniger als die Hälfte in einem bestimmten Areal lebende Tiere beim Häuten von den Artgenossen gefressen, so kann sich die Population vermehren. Werden mehr als die Hälfte gefressen, so verringert sie sich. Die Feinregelung ist nach menschlichen Maßstäben zwar brutal, doch sie funktioniert perfekt.
Einem ganz anderen Regulativ unterliegen die Feldmäuse.
Bei ihnen gibt letzten Endes psychischer Streß den Ausschlag. Am Anfang ist alles einfach. Die Weibchen halten »Reviere« besetzt, in denen sie ihre Nester bauen und die Jungen großziehen. Die Reviere sind zuerst ziemlich groß und werden dann — mit wachsender Individuenzahl — kleiner. Denn immer mehr Weibchen müssen den vorhandenen Raum unter sich teilen. Wenn die Reviere zu klein geworden sind, gründen mehrere Weibchen Nestgemeinschaften, Der Not gehorchend, bewohnen sie jetzt die Nester gemeinsam und ziehen ihre Jungen auch gemeinschaftlich groß. Damit allerdings scheint ihr Repertoire an Selbsthilfemaßnahmen erschöpft zu sein, denn im nächsten Stadium treten Schlaf- und Verhaltensstörungen auf, in deren Folge die Fruchtbarkeit der Mäuse nachläßt. Die Zahl der geworfenen Jungen geht von mehr als iz (15?) auf weniger als fünf zurück.
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Die Feldmäuse in dem betreffenden Wohngebiet vermehren sich jetzt langsamer, doch sie vermehren sich noch. Das katastrophale Ende kündigt sich mit Haarsträuben, Buckelmachen, Lähmungen der Gliedmaßen und Auskühlung des Körpers an. Schließlich greift Kannibalismus um sich: Die Tiere fressen einander auf. Aber auch die übrigbleibenden Mäuse entgehen ihrem Schicksal nicht. Auch sie müssen sterben, und ihr Tod trägt alle Zeichen des hypoglykämischen Schocks. Untersuchungen dieser Tiere haben Schädigungen an der Leber und Entzündungen der Nebennieren ergeben.
Nur wenigen Feldmäusen gelingt es, sich dem tödlichen Lauf der Dinge zu entziehen, indem sie aus dem zu eng gewordenen Wohngebiet ins Ungewisse flüchten.
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Die auf- und absteigende Kurve der Bevölkerungsentwicklung bei Mäusen hat der amerikanische Verhaltensforscher John Calhoun im Versuch demonstriert. Er hatte die Frage gestellt, was auf die Menschheit zukomme, wenn um das Jahr 2010 ein kritischer Punkt gegenseitiger Bedrängnis und Belästigung überschritten werde.
Anhaltspunkte dafür hoffte er mit Hilfe eines Experiments an weißen Mäusen zu gewinnen. In einem Drahtkäfig ahmte er die apokalyptische Situation nach — besser: Er ließ den Pferchungsnotstand allmählich entstehen. Sein Versuchskäfig bot etwa 4000 Tieren Platz. 256 Nistgelegenheiten an den Wänden ringsum konnten beliebig benutzt werden. Futter und Wasser standen unbeschränkt zur Verfügung. Die paradiesische Wohnlandschaft — sieht man vom begrenzten Raum ab — war frei von Feinden, hatte optimale Temperatur und bot Schutz vor Störungen jeder Art. Auch Krankheiten gab es unter Calhouns Mäusen nicht.
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Was geschah? Aus vier anfangs eingesetzten erwachsenen Mäusepaaren erwuchs eine florierende Kolonie. Alle fühlten sich wohl. Aber bald wendete sich das Blatt. Erste Beobachtung: Mit zunehmender Individuenzahl bildete sich eine »Hackordnung« heraus, eine Rangfolge, die von den starken, beherrschenden Tieren geführt und von den schwächsten beschlossen wurde. Die kräftigsten Mäuse besetzten die den Wasser- und Nahrungsbehältern nächstgelegenen Nistplätze. Weniger starke gaben sich mit ungünstigeren Nestern zufrieden, den schwächsten blieb nur der offene Käfigraum. Zweite Beobachtung: Die Mäuse begannen, psychische Verfallserscheinungen zu zeigen, die Calhoun als »Withdrawal-Syndrom« zusammenfaßte: »Abbau der Persönlichkeit«, könnte man vermenschlichen.
Typisch dafür war, daß die rangniedersten Tiere sich sogar dann kaum noch wehrten, wenn sie von den anderen gebissen wurden. Die stärksten benahmen sich zwar friedlich und behielten ihr glattes Fell, aber sie wirkten bedrückt und lethargisch. Alle tranken, fraßen und schliefen, aber die Männchen kopulierten nicht mehr mit den Weibchen. Weder bauten sie weiter an ihren Nestern noch kämpften sie, noch stöberten sie nach Mäuseart umher. »Sie hörten auf, richtige Mäuse zu sein«, kommentierte Calhoun.
Als die Kolonie nach etwa 2 ½ Jahren eine Kopfzahl von 2000 Tieren erreicht hatte, begannen die Auflösungserscheinungen. Zahlreiche Mäuse verließen nun die Nester nicht mehr. Sie benahmen sich wie psychisch Kranke im Zustand tiefer Depression. Ein paar Wochen später waren alle tot.
Wie bei den Mäusen, so stellt auch bei den Elefanten der Lebensraum mit seinen Existenzmöglichkeiten einen unerbittlichen Richter über die Größe der Herden dar. Als die Zahl der ostafrikanischen Dickhäuter Mitte der sechziger Jahre als Folge von Hegemaßnahmen erheblich zunahm, fürchteten viele um den Bestand der Vegetation in den blühenden Wildreservaten. Die Elefanten drohten alles niederzutrampeln und das Buschland in eine trostlose Grassteppe zu verwandeln. Damals beschlossen die Behörden der betroffenen Länder, durch Wildhüter Tausende von Elefanten abschießen zu lassen. Warnende Stimmen, die zum Abwarten geraten und vorausgesagt hatten, die Herden würden von selbst wieder kleiner werden, nahm man nicht ernst. Auch konnte man wohl nicht verstehen, warum in diesem Fall der Natur überlassen bleiben sollte, was der Mensch viel rascher, nachhaltiger und dazu noch profitbringend selber tun konnte.
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Inzwischen liegt das Ergebnis einer Studie zweier Wissenschaftler vor, wonach die Elefanten durchaus die Fähigkeit haben, ihre Kopfzahl den herrschenden Existenzbedingungen selbst anzupassen. Dr. John Hanks von der Universität Rhodesiens und Dr. J. McIntosh vom britischen Landwirtschaftsrat in Cambridge konnten nachweisen, daß die Fruchtbarkeit ostafrikanischer Elefanten abnimmt, wenn ihre Populationsdichte wächst. Das wird durch eine Reihe ineinandergreifender, im Effekt sich ergänzender Vorgänge erreicht. Einmal geht das fruchtbare Alter der Elefantenkühe von maximal 55 Jahren auf etwa 45 Jahre zurück — die Kühe kommen also, wenn man so will, früher in die Wechseljahre.
Zweitens werfen sie ihre Kälber nicht mehr in Abständen von etwa drei, sondern nur noch alle neun Jahre. Die weiblichen Kälber ihrerseits werden nicht schon mit 12 Jahren, wie es üblich ist, sondern erst mit 22 geschlechtsreif. Den Ausschlag aber gibt die erhöhte Sterblichkeit unter den Kälbern. Hanks und McIntosh beobachteten im sambischen Luangwa-Nationalpark eine Erhöhung der Sterberate von bisher fünf auf zwanzig Prozent. Ging bisher nur jedes zwanzigste Elefantenkalb zugrunde, so starb jetzt jedes fünfte. Im Verein mit den übrigen Regelgrößen ergab sich daraus ein zwar allmählicher, aber wirksamer Schrumpfungsprozeß der Herden in einer Größenordnung von etwa fünf Prozent im Jahr.
Wir wissen nicht, welches körperliche, welches psychische Geschehen für die Steuerung der Fruchtbarkeit bei den Elefanten verantwortlich ist, fest steht nur: es funktioniert. Es funktioniert besser als bei uns Menschen, die wir offenbar auf eine katastrophale Entwicklung der Dinge hin Kurs genommen haben und diese Entwicklung mit allen technischen und moralischen Mitteln fördern. Der Elefantenabschuß hätte unterbleiben können, wenn nicht kommerzielle Interessen im Spiel gewesen wären.
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Unwillkürlich wird man hier an ein Wort des schottischen Psychiaters Professor George Carstairs erinnert. Er warnte davor, die irrationalen Kräfte zu unterschätzen, die in einem Menschenkollektiv ausbrechen können, wenn die überlieferten Sozialstrukturen bei ungehemmter Massenvermehrung zusammenbrächen. Ist dies ein Hinweis auf ein kommendes, spezifisch menschliches Bevölkerungsregulativ? Werden wir Menschen als Folge der Pferchung und der wachsenden psychischen Streßerscheinungen körperliche und seelische Veränderungen erleben, die unsere Fruchtbarkeit dämpfen?
Und würde dies auf eine vergleichsweise noch humane Entwicklung der Dinge hindeuten?
Die Aussichten dafür stehen schlecht. Wenn man die Bevölkerungsstatistiken der Entwicklungsländer liest, so bietet sich ein hoffnungsloses Bild, das eher für Seuchentod und Hungersnöte spricht. Zuwachsraten von zwei und drei Prozent sind keine Seltenheit; trotz Pille und Aufklärung über empfängnisverhütende Mittel ist keine Wende des bedrohlichen Trends zu erblicken.
Noch immer trügt auch die Hoffnung, es könnte dort, wo die Bevölkerung besonders stürmisch wächst, das eintreten, was man die Abschnitte drei und vier des Bevölkerungszyklus genannt hat. Die Theorie, die dem zugrunde liegt, ist am Beispiel Englands und Wales entworfen worden. Deren Bevölkerungsentwicklung im Zeitraum von 1750 bis 1840 wurde als typisch für ähnlich gelagerte Fälle angesehen. Im ersten Abschnitt hatten diese Länder hohe Geburten- und Sterberaten, der Bevölkerungszuwachs blieb gering. Im zweiten ging die Sterblichkeit dank besserer Hygiene und wachsender medizinischer Kenntnisse zurück, während die Geburtenrate stabil blieb; die Bevölkerung wuchs. Im dritten Abschnitt ging die Sterblichkeitsrate weiter zurück, aber auch die Geburtenrate sank rasch, das Wachstum verringerte sich wieder. Im vierten Abschnitt schließlich verharrten beide, Sterblichkeit und Geburtenrate, auf einem unteren Niveau, der Bevölkerungszuwachs blieb minimal.
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Gelegentlich hört man deshalb, die Entwicklung in England und Wales lasse sich auch als Modellfall für die Entwicklung der dritten Welt ansehen. Man brauche nur abzuwarten, so wird argumentiert, bis den Menschen dort genügend Wohlstandsgüter zuteil geworden seien, dann werde der Kindersegen automatisch zurückgehen.
Hiergegen ist einzuwenden, daß eine wesentliche Steigerung des Lebensstandards in den Entwicklungsländern schon wegen des weltweit begrenzten Wirtschaftswachstums schwerlich erwartet werden kann. Aber ein zweites kommt hinzu. Wir leben heute nicht mehr in der Zeit zwischen 1750 und 1940. Während die Bevölkerung in England-Wales in den ersten hundert Jahren dieser Spanne nur um etwa 11,5 Millionen zunahm, leben in den Entwicklungsländern heute weitaus mehr Menschen. Diese Völker sind daher auch mit erheblich höherer Vermehrungspotenz gesegnet. Sie wachsen exponentiell und damit zu rasch, als daß ein geburtendrosselnder Wohlstand noch zum Zuge kommen könnte. Die Ausgangssituation ist also viel ungünstiger.
Wie eine schon groß gewordene Schneekugel, wenn sie hangabwärts rollt, viel rascher an Umfang zunimmt und schwerer aufzuhalten ist als ein noch kleiner Schneeball, so vermehren sich bereits große Bevölkerungen unter gleichen Voraussetzungen ungleich vehementer als kleine. Mit jedem Jahr, mit jedem neu veröffentlichten demographischen Jahrbuch der UNO wächst die beklemmende Einsicht: Die Springflut menschlichen Lebens in den Entwicklungsländern ist schon zu hoch, als daß die »Phasentheorie« vom Bevölkerungszyklus noch rechtzeitig eine humane Wende bringen könnte. Die Bremsen greifen nicht mehr, zumal den Menschen dort auch die Segnungen der Medizin mit ihrem zuwachsfördernden Effekt noch weitgehend bevorstehen. Hinzu kommt das erwähnte Analphabetentum in diesen Ländern, das Appelle an die Vernunft oder Aufklärungsfeldzüge zunehmend erschwert.
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Die zahlenmäßige Entwicklung von Bevölkerungen ist ein Vorgang, der von vielen Faktoren gesteuert wird und keineswegs einfach zu durchschauen ist. Geburtenrate und Sterblichkeit, Durchschlagskraft empfängnisverhütender Maßnahmen, Stand der medizinischen Versorgung und allgemeine Hygiene, Wirtschaft, Lebensstandard, religiöse Überzeugungen und Bevölkerungsstruktur spielen mit.
Ein Beispiel für diese Kompliziertheit liefert Kolumbien mit seinen derzeit 18 Millionen Einwohnern. Aufgrund seiner Bevölkerungsstruktur — es gibt verhältnismäßig viele Frauen im gebärfähigen Alter — würden sich die Kolumbianer selbst dann noch auf 30 Millionen vermehren, wenn sie sich von heute auf morgen entschlössen, pro Familie nur noch höchstens zwei Kinder zu haben.
Sieht man die Weltbevölkerung als Ganzes, so bleibt trotz regionaler Lichtblicke, trotz örtlich erfolgreicher Maßnahmen zur Empfängnisverhütung der erschütternde Saldo eines unaufhörlichen, beschleunigten Wachstums von jährlich rund zwei Prozent: fast 9000 Menschen mehr auf der Erde jede Stunde, rund 75 Millionen jedes Jahr. Die Bevölkerungen der unterentwickelten Länder müßten dem Beispiel der disziplinierten Japaner nacheifern können, wenn diese Zahlen nennenswert gesenkt werden sollten. Aber sie begreifen in ihrer Mehrheit nicht einmal das Problem, um das es geht.
Wir müssen jetzt über eine ebenso ungewollte wie unumgängliche Auswirkung der modernen Medizin sprechen, die die Zweischneidigkeit des humanitären Helfens und Heilens besonders deutlich macht. Es handelt sich darum, daß Erbkrankheiten immer wirkungsvoller behandelt werden können, daß immer mehr Erbkranke auf diese Weise das heiratsfähige Alter erreichen und die Zahl der Erbleiden in der Bevölkerung dadurch unablässig zunimmt.
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Zu diesen Krankheiten gehören sowohl die äußerlich sichtbaren, körperlichen und geistigen Leiden aller Grade, als auch unsichtbare Mängel, wie etwa die erblich bedingte Schwächung der Abwehrkräfte des Körpers. Das ernste Problem, das hier als Folge der von der Medizin entschärften natürlichen Auslese erwachsen ist, haben große Teile der Öffentlichkeit in seiner Tragweite noch gar nicht zur Kenntnis genommen.
Ein Beispiel:
In den letzten 25 Jahren hat sich die Zahl der Zuckerkranken mehr als verzehnfacht. Natürlich wird man ein derart alarmierendes Ansteigen einer vererbbaren Krankheit nicht allein darauf zurückführen wollen, daß seit der Entdeckung des künstlichen Insulins im Jahre 1921 zahlreiche zuvor todgeweihte Diabetiker Kinder — diabetische Kinder — haben konnten. Man wird auch bedenken müssen, daß die medizinische Diagnostik verbessert wurde und die Lebensgewohnheiten in den westlichen Ländern die Krankheit möglicherweise dort begünstigen, wo die vorhandene Anlage für ihren Ausbruch allein nicht ausgereicht hätte. Dennoch bleibt erschreckend, daß wir beispielsweise in der Bundesrepublik Deutschland mit mindestens zwei Prozent Diabetikern rechnen müssen, der »Zucker« sich also in kurzer Zeit zu einer ausgesprochenen Volkskrankheit entwickelt hat.
Beim Diabetes mellitus geht es im wesentlichen um eine Krankheit, die in der Unfähigkeit der »Langerhansschen Inseln« der Bauchspeicheldrüse besteht, genügend Insulinhormon zu produzieren. Als Folge davon kommt der Zucker- und Fettstoffwechsel in Unordnung, der Zuckerspiegel im Blut steigt, und wenn dem Kranken das Hormon nicht künstlich zugeführt wird, wenn er nicht streng diätetisch leben kann, erkrankt er lebensgefährlich. Im Zusammenhang mit dem Diabetes darf man zudem einen besonders bedrückenden Tatbestand nicht verschweigen. Er betrifft die an Zucker leidenden Frauen und die Gefahr, die den Kindern dieser Frauen droht.
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Wenigen nur ist bekannt, daß eine Diabetikerin, die heute dank dem Insulin und gegebenenfalls auch hormoneller Behandlung Mutterfreuden entgegensieht, ihr noch ungeborenes Kind schwer gefährdet. Nicht nur gehen ein Drittel bis die Hälfte der Embryonen vor der Geburt zugrunde, sondern es werden auch etwa dreißig Prozent der übrigen so groß, daß eine Kaiserschnitt-Operation erforderlich wird. Hinzu kommt, daß alle Kinder von zuckerkranken Frauen wie Frühgeburten versorgt werden müssen, das heißt, sie brauchen künstliche Sauerstoff-Beatmung, Wärmebettchen und einen besonders umfangreichen Infektionsschutz. Trotzdem sterben 40 bis 70 Prozent der Kinder zuckerkranker Frauen vor oder nach der Geburt. Das Niederdrückendste aber ist, daß jedes zehnte der überlebenden Kinder, namentlich der nicht sorgfältig »eingestellten« und mit Insulin behandelten Diabetikerinnen, geistige Defekte oder Mißbildungen davonträgt, vor allem solche am Herzen.
Ungefähr ein Viertel bis ein Drittel aller Menschen scheinen heute die Anlage für den Diabetes zu besitzen. Da Diabetes jedoch dem einfach rezessiven Erbgang folgt — ein Mensch also nur dann erkrankt, wenn er die Anlage von beiden Elternteilen geerbt hat —, so können normalerweise nur diese sogenannten »homozygoten« Träger zuckerkrank werden. Allerdings sieht es so aus, als ob auch die Heterozygoten nicht ganz unberührt bleiben, denn unter besonderen Bedingungen — genannt seien Streß und Luxuskonsum — können auch sie zuckerkrank werden. Immer handelt es sich in diesen Fällen jedoch um leichtere und medikamentös gut beherrschbare Formen des Diabetes.
Diese »potentiellen« Diabetiker könnten vor Jahrtausenden nach einer These des amerikanischen Genetikers James Neel sogar einen Vorteil aus ihrer Veranlagung gezogen haben. Neel nimmt an, daß diesen Menschen ihre Anlage, die mit der Fähigkeit zur Speicherung von Fettreserven im Körper verbunden ist, in den Notzeiten ihres Sammler- und Jägerlebens bessere Überlebenschancen sicherte, weil die Fettreserven quasi als eiserne Ration dienten, während andere Artgenossen in Hungerzeiten eher an Entkräftung starben. So wäre, meint Neel, der relativ hohe Prozentsatz potentieller Diabetiker unter uns heutigen Menschen vielleicht erklärbar.
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Bei den Völkern der Industrienationen wird man der Eigenschaft, Fett zu speichern, heute kaum noch positiven Auslesewert zuschreiben können. Bei ihnen hat die Anlage zumindest vorerst ihren Sinn verloren, sie ist zu einem lästigen Relikt geworden wie der Blinddarm. Damit aber, daß wir jetzt auch die noch nicht erkrankten Anlageträger an ihrem Blutzuckerspiegel erkennen und vorbeugend behandeln können, gelangen immer mehr Zuckerkranke ins fortpflanzungsfähige Alter und werden auch immer mehr Kinder mit der Anlage zum Diabetes geboren.
Ein anderes Beispiel für den »schleichenden Erbverfall« ist eine Geisteskrankheit, bei der die Umwandlung der Aminosäure Phenylalanin zu Tyrosin im Körper gestört ist: die Phenylketonurie, kurz »PKU« genannt. Wenn dieses Leiden unbehandelt bleibt, führt es zu schwerem Schwachsinn. 63 Prozent der Kranken werden zu Idioten mit einem Intelligenzquotienten unter 20, nur bei 2,5 Prozent liegt der Quotient über 60 (normal wäre 100).
Seit einigen Jahren ist es nun dank spezifischer Tests wie dem Guthrie-Test möglich, Kinder, die an PKU leiden, schon unmittelbar nach der Geburt anhand einer Blutanalyse zu erkennen. Diesen Kindern wird daraufhin eine phenylalaninarme Diät verschrieben, ein künstliches Eiweiß-Hydrolysat, das den Schwachsinn verhindert, aber natürlich nicht die Erbanlage korrigieren kann.
Die »PKU« tritt heute etwa einmal unter 10.000 Geburten auf, aber auf jeden Kranken kommen 198 äußerlich Gesunde, die das PKU-Gen verdeckt besitzen — die heterozygoten Träger. Wie intensiv die Krankheit bekämpft wird, beweisen die jetzt überall entstandenen Untersuchungsstellen für Blut- und Harnproben von Säuglingen. So kann jeder Fall rasch erkannt, dem Kinde kann das Schicksal der Verblödung erspart werden und seine Heiratschancen werden von dem Leiden kaum noch geschmälert.
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Die Beispiele für Erbkrankheiten, deren ärztliche Behandlung auf die Symptome beschränkt bleiben muß, lassen sich noch beträchtlich vermehren. So können heute erbliche Gebrechen wie Hüftgelenksverrenkung (1 Fall auf etwa 1500 Geburten), Klumpfuß (1:1000) und Lippen-Kiefer-Gaumenspalte (1:500) von geschickten Chirurgen äußerlich fast unsichtbar gemacht werden, so daß die Heiratschancen der Betroffenen wieder steigen.
Dem Retinoblastom (1:20.000), einem Augenkrebs, fielen die Erkrankten früher fast ausnahmslos zum Opfer. Auch der Augenkrebs kann erblich sein. Die Geschwulst beginnt zunächst meist unbemerkt im frühen Kindesalter auf der Netzhaut. Später erst zeigt ein heller Schimmer hinter der Pupille den Eltern an, daß da etwas nicht normal ist. Die augenärztliche Untersuchung bringt meist Gewißheit: Große Teile des Augenhintergrundes werden von einer grauweißen Geschwulst bedeckt. Früher war die Erkrankung meist hoffnungslos. Der Krebs breitete sich im ganzen Körper aus, bevor die Betroffenen das Heiratsalter erreichten. Heute läßt sich das Retinoblastom je nach dem Stadium der Erkrankung besiegen. Den individuellen Umständen entsprechend werden die betroffenen Augen entweder entfernt oder die Geschwulst wird mit Hilfe von Lichtkoagulation oder energiereichen Strahlen zerstört, so daß die Sehkraft zumindest teilweise erhalten bleibt. Nach einer Schätzung überleben auf diese Weise durchschnittlich achtzig Prozent der am Retinoblastom Erkrankten.
Auch die Bluterkrankheit (1:8000) hat ihre Schrecken verloren, seit es hochwirksame, gerinnungsfördernde Medikamente und Bluter-Internate zur Schul- und Berufsausbildung der Patienten gibt. Bluterkranke, die ein früher Tod einst daran hinderte, können ihre unglückliche Erbeigenschaft heute weiter vererben und damit auch weiter verbreiten.
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Zu den Erbleiden, deren Träger dank der modernen Medizin heute viel häufiger das Fortpflanzungsalter erreichen als früher, gehört auch die Polyposis intestinalis, ein erblich bedingtes Auftreten von Polypen im Darm. Diese Polypen entarten häufig zu Krebs. Das gleiche gilt für manche Herzfehler, für einzelne Formen von erhöhtem Fettgehalt im Blut (Hyperlipidämien) und für die Wasserharnruhr (Diabetes insipidus). Schließlich muß ein früher meist tödliches Erbleiden genannt werden, bei dem der Magenpförtner — der Übergang vom Magen zum Zwölffingerdarm — krankhaft verengt ist (Pylorusstenose). Auch diese Krankheit läßt sich heute chirurgisch leicht korrigieren, so daß die Säuglinge überleben, das Heiratsalter erreichen und ihre kranke Anlage weitervererben können.
In allen diesen Fällen tritt die Medizin vergleichsweise als Wegbereiterin derselben Leiden auf, die sie sich zu heilen bemüht und man versteht, wie schwerwiegend die menschlichen Probleme sind, die den Erkrankten gleichwohl wie der Gesellschaft, aber auch den Ärzten und dem Gesetzgeber daraus erwachsen. Denn niemand wird natürlich einem Erbkranken die bestmögliche Hilfe mit dem Argument verweigern wollen, daß im Falle seiner Fortpflanzung mit einer abschätzbaren Wahrscheinlichkeit neue Erbkranke geboren werden würden. Andererseits wird der Rat, in diesen Fällen möglichst keine Nachkommen zu zeugen, nur teilweise befolgt, am wenigsten dort, wo den Betroffenen wegen ungenügender Schulbildung oder leichten Graden von Geisteskrankheit die notwendige Einsichtsfähigkeit und damit die Voraussetzung für verantwortliches Handeln fehlt.
Eine Reihe von Krankheiten, von denen hier die Rede war, lassen sich heute auch schon durch vorgeburtliche Diagnosen wie etwa die Ultraschall- oder die Fruchtwasseranalyse (Amniocentese) erkennen. Für die Untersuchung des Fruchtwassers — möglichst in der 14.Schwangerschaftswoche — wird die Embryonalhülle des sich entwickelnden Kindes punktiert. In der entnommenen Flüssigkeit befinden sich Zellen aus dem kindlichen Organismus, die auf Nährmedien vermehrt und auf verschiedene Weise untersucht werden können.
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So lassen sich nicht nur das Geschlecht des Kindes, sondern auch etwaige Erbkrankheiten feststellen, die aufgrund der Chromosomenzahl und -form erkennbar sind, wie etwa der Mongolismus. Besteht die statistische Wahrscheinlichkeit zur Geburt eines solchen Kindes für die Mutter, so kann die Amniocentese die Befürchtung gegenstandslos machen, wenn sie negativ verläuft. Sie kann sie aber auch bestätigen, so daß gegebenenfalls zum Abbruch der Schwangerschaft geraten werden kann.
Diese »Gegensteuerung« zum erblichen Verfall bleibt indessen wegen der Aufwendigkeit des Verfahrens nur einem kleinen Bevölkerungsteil vorbehalten. Den weltweiten Trend wird die neue Technik schwerlich beeinflussen.
In noch höherem Maß gilt dies für die künstliche Veränderung menschlicher Erbanlagen auf dem Wege einer künftigen »genetischen Manipulation« der Keimzellen. Wohl ist es denkbar und in absehbarer Zeit auch zu erwarten, daß Erbkranken, denen ein bestimmtes Enzym fehlt, eines Tages die dafür erforderlichen Gene als mikrobiologische Produktionsrezepte in die Körperzellen geschleust werden — etwa mit Hilfe gutartiger Viren. Damit wäre dann zwar dem einzelnen Erbkranken geholfen. Aber selbst wenn es gelingen sollte, in die für die Vererbung allein zuständigen Keimzellen solcher Menschen einzugreifen und in ihnen eine auch für die Nachkommen wirksame genetische Therapie durchzuführen — was zur Zeit äußerst unwahrscheinlich ist —, so würden diese Fälle doch viel zu selten bleiben, um eine allgemeine Tendenzwende des weltweiten Erbverfalls herbeiführen zu können.
Ziehen wir hier eine Zwischenbilanz, so zeigt sich der durch Medizin und Sozialhygiene erreichte »Fortschritt« darin, daß heute 95 Prozent aller Neugeborenen das fortpflanzungsfähige Alter erreichen, während dies vor 200 Jahren nur bei der Hälfte aller Kinder der Fall war.
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Die erbbiologischen Folgen dieser Entschärfung eines Naturgesetzes durch die Errungenschaften des Menschengeistes schlagen sich aber nicht nur in einem Ansteigen der Erbkrankenzahlen nieder. Sie machen sich auch in einer Schwächung körperlicher Abwehrsysteme gegen Krankheiten bemerkbar, und dies kann unter Umständen noch schwerwiegender sein. Dazu bemerkt der deutsche Genetiker Professor Friedrich Vogel treffend:
»Viel bedenklicher erscheint mir die Gefahr, daß sich adaptive Systeme wieder auflösen werden, die unter dem Druck starker Selektion aufgebaut worden sind. Hier denke ich vor allem an unser Immunsystem. Die über 50 Prozent aller Kinder, die vor 200 Jahren vor dem 20. Lebensjahr starben, litten ja nicht an Erbkrankheiten. Sie gingen größtenteils an Infektionskrankheiten zugrunde. Gerade diese Selektion hat unter dem Einfluß der modernen Therapie fast aufgehört.«
Was Vogel hier meint, ist die zunehmende Verwendung antibiotischer Arzneien. Mit dem einerseits notwendigen, teilweise aber auch allzu sorglosen und routinemäßigen Einsatz dieser Mittel wird dem Menschen jene natürliche Abwehrarbeit abgenommen, die einst das einzige und bewährte, wenn auch oft zeitraubende Mittel der Bekämpfung von Infektionskrankheiten war. Menschen ohne genügende Abwehrkräfte — sprich ohne ausreichend funktionierendes Immunsystem — erlagen diesen Krankheiten in der vor-antibiotischen Ära viel häufiger. Auch hier fand also eine unerbittliche Auslese der Abwehrtüchtigen statt.
Mit anderen Worten:
Die immunbiologische Widerstandsfähigkeit wurde früher immer wieder selektiv gefördert, geradezu gezüchtet. Heute dagegen überleben unter dem Schutz der Medikamente auch die erblich Abwehrschwachen, deren Anteil in der Bevölkerung sich damit vergrößern muß. Das mag solange unbedenklich erscheinen, wie ständig genügend Medikamente verfügbar sind, um den Bedrohten in der aktuellen Notlage zu helfen. Rechtfertigt aber die vorläufig noch gegebene Verfügbarkeit von Antibiotika den Gleichmut, mit dem dieser Vorgang hingenommen wird?
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Was wird geschehen, wenn der Nachschub dieser Medikamente aus irgendwelchen Gründen, wie eine zunehmende Energiekrise oder Rohstoffverknappung, nicht mehr funktioniert? Ein neuerliches Aufflackern, ja ein seuchenhaftes Auftreten von Infektionskrankheiten wird dann unvermeidlich sein.
Hinzu kommt, daß die Medizin mit ihrem großzügigen Gebrauch energiereicher Strahlen und radioaktiver Elemente in Diagnose und Therapie dazu beiträgt, das natürliche Maß der Erbanlagen künstlich zu erhöhen. Auch dies muß sich nachteilig für den Gesamt-Gen-Bestand der Bevölkerung auswirken. Die Gefahr droht einerseits durch den allzu sorglosen Einsatz von Röntgengeräten, aber auch durch die sogenannten Radionuklide — künstlich radioaktiv gemachte Elemente, die zur Diagnose oder Therapie in den Körper gebracht werden und dort ihre Strahlung teils erwünscht, teils unerwünscht abgeben. Soweit diese Strahlen die Keimzellen erreichen, kann es zu vererbbaren »Druckfehlern« in jener chemisch verschlüsselten Schrift kommen, die unsere Erbinformationen enthält: dem genetischen Code. Genauso aber, wie ein Druckfehler in einem Aufsatz auch nur ganz selten zur Verbesserung seines Inhalts beiträgt, so wenig tun dies durch Strahlung ausgelöste Veränderungen in den Erbanlagen. Die entstandenen Schäden können sich in Erbkrankheiten äußern und damit die Erbkranken in der Bevölkerung vermehren helfen.
Natürlich kann man sich fragen, ob die Bedenken gegenüber den Röntgenstrahlen nicht übertrieben sind. Warum sollte ausgerechnet diese segensreiche Erfindung dem lebenden Gewebe gefährlich werden? Sind wir nicht von einem Gewimmel verschiedenster Strahlen und Wellen umgeben, ohne daran Schaden zu erleiden? Schall, Licht und Radiowellen dringen auf uns ein und sind offensichtlich harmlos — ausgerechnet die Röntgenstrahlen aber sollten eine Ausnahme machen?
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Man muß jedoch zwischen energiearmen Strahlen — das sind Licht, Wärme, Schall und Funkwellen — und energiereichen unterscheiden, zu denen neben den Röntgenstrahlen auch die Alpha-, Beta- und Gammastrahlen und die schnellen Neutronen zählen. Die Strahlen der letzten Gruppe »ionisieren«, das heißt, sie beschädigen Atome und Moleküle, sie verändern deren elektrischen Zustand. Sie sind wie ein Strom winziger Geschosse, die in das lebende Gewebe eindringen. Man kann den Unterschied zwischen den verschiedenen Strahlen am besten durch einen Vergleich veranschaulichen:
Denkt man sich einen Zellverband ins Riesenhafte vergrößert, so daß die Moleküle sichtbar werden, aus denen er besteht, so lassen sich die Moleküle mit einem Wald hölzerner Kegelfiguren vergleichen, durch den die Strahlenteilchen wie ein Schwarm kleiner Kugeln schießen. Handelt es sich um energiearme Strahlen wie beim sichtbaren Licht, so sind die Kugeln federleicht wie Zelluloidbälle. Sie können die schweren Holzkegel nicht umwerfen, sondern höchstens leicht erzittern lassen. Das lebende Gewebe wird von ihnen nicht beschädigt. Allenfalls geraten die Moleküle darin heftig in Bewegung, doch hat dies kaum nachteilige Wirkungen, eher anregende und heilsame, wie wir dies von den Rotlicht-Bestrahlungen bei Entzündungen her kennen.
Anders die energiereichen Strahlen. Sie gleichen schweren Kugeln, die die Holzkegel umwerfen. Solche Strahlen reißen auch im lebenden Gewebe die Moleküle auseinander und beschädigen sie. Hat ein Strahlenteilchen die elektrischen Ladungsverhältnisse eines Atoms oder Moleküls verändert, so rast es meist noch weiter und trifft neue Atome, bis es ganz abgebremst ist. Schließlich ist die Bahn des Strahls durch ein mehr oder weniger breites Band ionisierter Atome oder Moleküle gekennzeichnet, vergleichbar dem »Asgardweg« eines Tornados, nur daß statt der zerstörten Gebäude und entwurzelten Bäume beschädigte oder zerbrochene Zellbestandteile zurückbleiben.
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Fazit:
Das Großhirn des Menschen hat die energiereichen Strahlen entdeckt und läßt ihre Anwendung zu, obwohl ihm die Zweischneidigkeit ihrer Wirkungen bekannt ist. Der Großhirnträger Mensch tut dies in der Überzeugung, daß bei der Schaden-Nutzen-Abwägung der Röntgendiagnose und -therapie das Positive überwiegt. Er tut es aber auch, weil ihm ein Sinnesorgan für die Wirkung namentlich kleiner, häufig empfangener Dosen von Röntgenstrahlen mit Summierungseffekt fehlt. Hätten wir ein solches Organ, das uns vor einem Schaden warnen und alarmieren könnte, der nicht im Augenblick der Bestrahlung oder bald darauf, sondern erst in späteren Generationen zutage tritt, so wären wir zumindest zurückhaltender. Wir haben dieses Organ nicht, weil während der zurückliegenden Stammesgeschichte des Menschen kein Anlaß bestand, es zu entwickeln. Denn die natürliche Strahlenbelastung aus der Umwelt-Radioaktivität ist nicht bedrohlich. Erst die künstlich erhöhte Belastung seit der Entdeckung und Anwendung der energiereichen Strahlen und der künstlichen Isotope, der Radionuklide, birgt das Risiko.
Wir wollen diesen Aspekt der »zweischneidigen Medizin« nicht beschließen, ohne ein paar konkrete Zahlen zum Strahlenrisiko aus der Bundesrepublik Deutschland zu nennen.
Nach einem Bericht des Bundesgesundheitsamtes hat die Belastung des einzelnen Bundesbürgers durch die Röntgendiagnostik und die Verwendung radioaktiver Isotope in der Medizin in den letzten Jahren »stark zugenommen«. Im einzelnen sieht das so aus: Im Jahre 1972 lag die gesamte Strahlenbelastung für den bundesdeutschen Durchschnittsbürger im Mittel bei einer Jahresdosis von 170 Milliröntgen (mR). Davon stammten 110 mR aus der natürlichen Umgebungsstrahlung, wie zum Beispiel aus dem Erdboden, aus Baumaterialien und dem Weltraum. Diese Dosis bleibt weitgehend konstant. Erheblich zugenommen hat dagegen die »medizinische Dosis«. Sie betrug im Jahre 1958 noch rund 20 mR, hatte aber bereits 1972 einen Wert von 50 mR erreicht. Demgegenüber sind andere Strahlenquellen bis jetzt noch relativ bescheiden, wie etwa Kernwaffenexperimente (8 mR), Kernkraftwerke (bisher 1 mR), radioaktive Leuchtfarben und Fernsehgeräte (2 mR).
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Was für die Röntgenstrahlen gilt, trifft ähnlich auch für bestimmte Chemikalien zu. Diese Stoffe können in äußerlich harmlosen Substanzen verborgen sein, in Lebensmitteln, Kosmetika, in Pflanzenschutzmitteln, ja sogar in Arzneien. Die Wissenschaft ist erst verhältnismäßig spät auf diese gefährliche Gruppe von Chemikalien aufmerksam geworden, erkannte dann aber, daß zu dem Risiko der Röntgenstrahlen das der erbändernden, der »mutagenen« Chemikalien kommt. Manche Wissenschaftler befürchten sogar, mit diesen Stoffen sei eine noch weit größere Gefahr verbunden.
Wenn man etwa hört, daß solche Chemikalien ihre erbschädigende Wirkung schon in ganz geringen Mengen entfalten, nämlich in Konzentrationen, die weit unter der Giftigkeitsgrenze liegen, dann wird deutlich, welchem Risiko der arglose Normalverbraucher ausgesetzt sein kann. Für diese Stoffe gilt der eingängige Spruch des weisen Paracelsus nicht mehr, den optimistische Zeitgenossen so gern zitieren. Paracelsus sagte: »Sola dosis facit venenum« — Erst die Dosis macht, ob ein Stoff Gift ist. Doch die Dosis, bei der mutagene Substanzen Erbänderungen auslösen, ist ziemlich uninteressant, weil sie so klein sein kann, daß die paracelsische Weisheit hier ihren Sinn verliert. Das Triäthylenphosphoramid beispielsweise löst Erbschäden bereits bei einer Menge von nur 0,04 Milligramm je Kilogramm Versuchstier aus.
Was die Gefahr der mutagenen Chemikalien so schwer greifbar macht, ist der Umstand, daß die entstehenden Schäden ähnlich wie die der Röntgenstrahlen nicht einfach und rasch sichtbar werden, wie die Symptome einer akuten Erkrankung, sondern sich erst in einer der nächsten Generationen bemerkbar machen. Solche Gefahren werden von uns gern auf die leichte Schulter genommen. Es tut uns ja im Körper nichts weh, wenn da so ein kleines Molekül im Zellkern ein bißchen verändert wird. Es fehlt uns der Sinn dafür, das Risiko zu begreifen. Wir können nicht recht einsehen, daß wir uns hier schlechterdings nach dem Motto verhalten: »Nach uns die Sintflut.«
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Und doch muß man wissen, wo die Gefahren liegen: daß zum Beispiel einige der mutagenen Chemikalien direkt mit der DNS reagieren, dem genetischen Informationsträger in den Zellkernen. Unter ihnen sind die Alkylsulfonate, das Nitrit und das Hydroxylamin, deren erbändernde Wirkung im Bakterienversuch ermittelt wurde. Auch das Bromuracil und andere, dem Pyramidin und dem Purin verwandte Substanzen gehören hierher. Alle diese Verbindungen erzeugen zunächst sogenannte Primärmutationen. Das heißt, sie verändern einen Strang des DNS-»Strickleitermoleküls«, ohne damit für den Organismus sofort erbändernd zu wirken.
Erst wenn die auf diese Weise »angeschlagene« DNS sich bei der Zellteilung verdoppelt, werden die Änderungen bei denjenigen DNS-Molekülen zu kompletten Mutationen, die aus dem primär mutierten Strang des Doppelwendels hervorgehen. Diese neu entstandenen DNS-Moleküle enthalten dann stellenweise falsche, zu viele oder auch gar keine Basen an der beschädigten Stelle, so daß die chemisch verschlüsselte Schrift hier verzerrt, verstümmelt oder verfälscht ist. Die Folge sind fehlerhafte Informationen für die Zelle, deren Eiweißproduktion dann entsprechend gestört ist.
Auch hier gilt: Wenn in einem bestimmten Zeitraum zu viele Erbänderungen ausgelöst werden, wenn die Mutationsrate zu stark ansteigt, dann treten auch mehr Erbkrankheiten in der Bevölkerung auf und der genetische Verfall setzt ein. Diese Gefahr wiegt beim Menschen um so schwerer, als seine Fortpflanzungsrate — gemessen an der von Tieren und Pflanzen mit hohen Nachkommenzahlen — relativ gering ist. Aber nicht nur aus diesem Grunde besteht nur eine geringe Möglichkeit zur Selektion kranker Anlagen, sondern auch deshalb, weil die Selektion durch unsere Eingriffe in das Naturgeschehen systematisch unwirksam gemacht wird.
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Das ist letztlich auch der Grund, weshalb so dringend vor der übermäßigen Anwendung von Röntgenstrahlen und vor den mutagenen Chemikalien gewarnt werden muß. Doch fruchten die Warnungen offenbar wenig. Schon heute kommt jedes 16. Kind mit einem Erbfehler zur Welt, und jedes 50. Kind ist schwer betroffen. Mehr als 1600 verschiedene Erbkrankheiten sind bekannt und beschrieben worden— doch ist dies mit Sicherheit nur ein Teil aller wirklich vorkommenden Leiden. Was die Verhältnisse in der Bundesrepublik angeht, so leben bei uns gegenwärtig mehr als eine Million Schwachsinniger, und bei 200.000 dieser Menschen ist die Ursache ein erkannter Erbfehler. Deshalb sagt der deutsche Genetiker Professor Carsten Bresch mit Recht:
»Wir sehen den Dreck in den Flüssen, wir riechen die Abgase in unserer Luft, aber wir erkennen nicht die Defekte im Erbgut unserer Mitmenschen. Unsere Gesellschaft versteckt die betroffenen Kinder in Heimen oder in Wohnungen. Eine steigende Zahl von Erbdefekten wäre aber eine unbemerkte Zeitbombe, die sich erst in mehreren Generationen voll auswirkt und viele, viele Generationen zur Beseitigung benötigt. Wir müssen also alle Anstrengungen unternehmen, um Substanzen zu erkennen, die Mutationen erzeugen, und wir müssen solche <Mutagene> aus dem Verkehr ziehen.«
Fassen wir zusammen:
In unserer Zivilisation sind zahlreiche Gefahren für das Erbgut des Menschen enthalten, durch die die Erbanlagen geschädigt und Erbkrankheiten verbreitet werden. In welchem Maß dies geschieht, weiß niemand genau. Daß es geschieht, ist jedoch sicher. Da Technik und Medizin den Auslesefaktor unter den Evolutionsbedingungen weiter entschärft und den Selektionsdruck verringert haben, leisten sie auf lange Sicht einer Verschlechterung des menschlichen Erbanlagenbestandes Vorschub.
Daß der von dieser Seite her zu erwartende Anstieg der Erbkrankenzahlen gegenwärtig noch nicht »auf breiter Front« erfolgt, hat zwei Gründe: Erstens besteht die Gefährdung erst seit relativ kurzer Zeit. Zweitens muß man eine biologische Gesetzmäßigkeit bedenken.
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Die meisten schädlichen Erbanlagen werden rezessiv vererbt, das heißt, die Träger der kranken Gene erscheinen äußerlich nur dann krank, wenn sie die krankmachenden Anlagen von beiden Elternteilen geerbt haben. Dies ist jedoch um so seltener der Fall, je stärker sich eine Bevölkerung genetisch mischt, je unterschiedlicher also die Erbanlagen-Bestände der Ehepartner sind (umgekehrt bestehen die Gefahren der Inzucht). Dank der wachsenden Reiselust und der modernen Verkehrsmittel heiraten heute zunehmend mehr weit auseinander wohnende Menschen. So kommt es zu einer Vermischung recht unterschiedlicher Anlagenbestände.
Auto, Schiff, Flugzeug und Eisenbahn bewirken eine Maskierung des Erbverfalls, denn die rezessiv vererbten Gene werden zwar weitergegeben und sie vermehren sich auch, aber die betreffenden Krankheiten brechen erst durch, wenn zwei gleichartig veränderte Partnergene oder Allele zusammentreffen. So breiten sich die kranken Anlagen unter der Oberfläche einer scheinbar gesunden Bevölkerung aus, bis der Durchmischungsprozeß seinen Höhepunkt überschritten hat.
Gegen die Warnungen vor dem Anstieg der Erbkrankenzahlen wird zuweilen eingewandt, daß der genetisch vollkommene Mensch noch nie existiert habe und auch gar nicht existieren dürfe. Ein Blick in die Natur zeige uns, daß »abartige« Individuen einer Tier- oder Pflanzenart im Grunde nichts anderes seien als eine stille Reserve für den Fall unvorhergesehener Umweltveränderungen — wir sprachen schon davon und nannten das Beispiel der Wasserflöhe. Auch bei uns Menschen würden Erbkranke bessere Fortpflanzungschancen bekommen, wenn sich unsere Umwelt einmal so verändern würde, daß die zufällig aufgetretenen Störungen dieser Menschen einen Sinn bekämen. So gesehen befänden sich auch Geisteskranke lediglich in einer Art Wartestand: Sie harren der Auslesevorteile, die ihnen die Umwelt bisher versagt hat.
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In der von uns kontrollierten Umwelt ist allerdings gerade diese »Hoffnung« äußerst gering, abgesehen davon, daß für schwere körperliche oder geistige Gebrechen schon grundsätzlich kaum adäquate Umweltverhältnisse denkbar sind, wenn man von den Spekulationen des englischen Biologen J. Haldane absieht, der einer künftigen raumfahrenden Menschheit Stummelbeine und Greifarme nach Art der Gibbonaffen anempfohlen hat.
Nach Berechnungen des ehemaligen Indiana-Professors und Nobelpreisträgers Hermann Joseph Muller trägt jeder Mensch heute etwa acht relativ nachteilige Erbanlagen mit sich herum, die zum größten Teil harmlos sind. Eine künftige Gesellschaft aber, die eine zu große Bürde nachteiliger Gene trägt und deren Mitglieder zum überwiegenden Teil auf mechanische oder medikamentöse Prothesen angewiesen sind, wird immer empfindlicher und krankheitsanfälliger werden.
So ist der erbbiologische Gesichtspunkt der langfristig gefährlichste, unter dem die moderne Medizin gesehen werden muß.
Mit dem genetischen Verfall kommt sogar noch mehr auf uns zu.Mit zunehmender Mutationsrate erhöht sich auch die Wahrscheinlichkeit, daß mehr Menschen geboren werden, die im Vorfeld eigentlicher Geisteskrankheiten leben und äußerlich unauffällig wirken: hochintelligente, aber fanatisierbare, unberechenbare Zeitgenossen, die ihre abartige Wesensart, ihre »doppelte Buchführung« zu kaschieren verstehen, so daß sie als harmlose Mitbürger erscheinen; Menschen, die unter dem Schutz einer scheinbar harmlosen Gemütsverfassung leben, aber irgendwann aus dem Rahmen fallen.
Hier sei gar nicht an Extremfälle gedacht, etwa daß solche Menschen in Schlüsselpositionen der Forschung, der Politik oder der Wirtschaft gelangen und im Affekt Handlungen begehen könnten, die zu einer weltumspannenden Krise führen. Andere Möglichkeiten liegen näher.
So mehren sich heute schon Menschenraub, Sabotage, Luftpiraterie, Geiselnahmen mit Erpressung und ähnliches, und stets sind Menschen an diesen Taten beteiligt, denen man eine zumindest veränderte Normalität nachsagen muß.
Der Gedanke ist nicht so abwegig, daß derlei Verbrechen sich künftig nicht nur häufen, sondern auch an Grausamkeit und Ausmaß noch beträchtlich zunehmen werden, wenn die entsprechend veranlagten Akteure zahlreicher geworden sind.
Was heute noch auf jeweils kleine Gruppen von Leidtragenden beschränkt bleibt, das könnte morgen bei dem leichter werdenden Zugang zu Massenvernichtungswaffen, bakteriellen Giften und chemischen Kampfstoffen in stadtbedrohende Aktionen ausarten, in Sabotagetaten gegen die Trinkwasserversorgung und ähnliches. Unser Leben würde dann auch hier skurrilerweise als Folge derselben Maßnahmen wieder risikoreicher und gefährdeter werden, die uns Krankheiten vom Halse halten sollen.
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detopia-2011:
Bevölkerungszunahme - Übersicht:
+Jahre=Nr.Menschenmilliarde=Kalenderjahr
=1=1804 +123=2=1927 +33=3=1960 +14=4=1974 +13=5=1987 +12=6=1999 +12=7=2011 Fortrechnung mit +13=: +13=8=2024 +13=9=2037 +13=10=2050
Löbsack (1974) Versuch und Irrtum