7 Kehrseiten von Ethik und Moral Löbsack-1974
Christliche Tugenden, früher und heute — Nächstenliebe? — Wunderglaube — Mitleid — Katholische Kirche und Sexualverhalten — Die Rolle der Papst-Berater — Wann beginnt das menschliche Leben? — »Naturtreue« als Verhaltensprinzip? — Erbkrankheiten — Ethik als Luxus — »Mobbing«, die Anstoß-Aggressivität als Relikt — Warum das Negerkind verprügelt wird — Ein Seelsorger sagt es geradeheraus — Sterbehilfe? — »Töten Sie mich, sonst sind Sie mein Mörder!« — Die »metaphysische Schuld« der Ärzte — Wann ist der Mensch tot? — Überleben mit Hilfe der Todgeweihten.
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Kaum ein anderer Bereich des Lebens zeigt deutlicher den Zwiespalt zwischen unserem Anspruch auf steigenden Lebensstandard einerseits und den Voraussetzungen für ein langes stammesgeschichtliches Überleben auf der Erde, als unsere Ethik und Moral. - Was ist Ethik, was ist Moral?
Beide Begriffe beziehen sich auf das Sittliche im Verhalten des Menschen. Dabei geht es entweder um die Gesinnung als Grundlage eines bestimmten Handelns oder um dessen Auswirkungen (Gesinnungs- bzw. Erfolgsethik). Mit den Maßstäben der Ethik können auch staatliche Institutionen, Einrichtungen des Gemeinschaftslebens wie die Familie oder die Rechtsprechung gemessen werden.
Wenn es auch an verbindlichen Kriterien dafür fehlt, was man sittliches Handeln nennt und auch das »Ethos« von Volk zu Volk, von Religion zu Religion, von Zeitalter zu Zeitalter Wandlungen unterworfen ist, so gibt es doch allgemeine sittliche Normen für die »Moral« als Gesamtheit des sittlichen Denkens und Tuns.
Zahlreiche Regeln und Gebote für das menschliche Zusammenleben gehören dazu wie die Forderung, nicht zu töten, nicht zu stehlen, hilfsbereit und ehrlich zu sein, kranken Menschen zu helfen und dergleichen.
Ethik und Moral sind Errungenschaften des Großhirns, deren Wurzeln bei den tierischen Ahnen des Menschen zu suchen sind. Es mag hier nicht so sehr darauf ankommen, ob uns sittliche Wertmaßstäbe und Willensimpulse angeboren sind oder ob sie erst im Lauf des individuellen Lebens aus dem Zusammenwirken von Anlage, Erziehung und Tradition erwachsen.
Wahrscheinlich ist es wie mit der Intelligenz: sowohl Erbanlagen als auch Umwelteinflüsse sind beteiligt, und es bleibt ein Streit um des Kaisers Bart, welcher von beiden Faktoren nun vorherrscht oder zu welchen Anteilen er am Ergebnis mitwirkt.
Schon die alten Griechen haben versucht, einheitliche Grundwerte zu finden, auf die sich Ethik und Moral unter den Menschen zurückführen lassen. Man stieß auf die Lust, die Glückseligkeit, den Eigennutz und den Gemeinnutz, und man entwickelte scharfsinnige Lehren dazu: den Hedonismus, den Eudämonismus und den Utilitarismus.
Während Sokrates, Platon und die Sophisten nur tastende Versuche unternommen hatten, dem Geheimnis des sittlichen Verhaltens näherzukommen, begründete Aristoteles die Ethik als eigenständige Wissenschaft. Als <Nikomachische Ethik> (nach dem Sohn des Aristoteles, Nikomachos, genannt) war sie bis ins 18. Jahrhundert die Grundlage der abendländischen Ethik.
Aristoteles fragte nach dem »höchsten Gut« als letztem Menschenziel. Auch er bezog sich auf die Glückseligkeit, die mit Hilfe der Tugenden zu gewinnen sei. Später, im 18. Jahrhundert, betonte Immanuel Kant den selbständigen Eigenwert des sittlich Guten, das in der Gesinnung zum Ausdruck komme. Sittliches Handeln, lehrte Kant, sei im »kategorischen Imperativ« begründet: »Handele so, daß die Maxime deines Willens zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung dienen könnte.«
* (d-2015:) wikipedia Hedonismus wikipedia Eudämonismus
wikipedia Utilitarismus Der Utilitarismus (lat. utilitas, Nutzen, Vorteil) ist eine normative Form der teleologischen Ethik, die in verschiedenen Varianten auftritt.
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Die Hauptpfeiler christlicher Sittlichkeit wiederum sind die <Zehn Gebote>, die nach der biblischen Überlieferung (2. Mose 20, 2-17) Mose von »Gott« offenbart wurden. Das Christentum als Offenbarungs- und Erlösungsreligion bezieht seine Glaubenslehren auf Jesus Christus.
Aufgabe und Zielsetzung der christlichen Lehren sind im wesentlichen die Befreiung des Menschen von der sogenannten Sünde und seine Anleitung zu gottgefälligem Leben, zu dem die Gottesverehrung mit vielfältigem Zeremoniell und eine allgemeine Sinngebung des Daseins im christlichen Sinn gehören. Namentlich das Gebot der Nächstenliebe führte unter den Christen zu einem ganzen System von Liebestätigkeit, von caritativen und mitmenschlichen Hilfeleistungen in weiten Teilen der Welt bis hin zur individuellen Sorge um den »kranken Nachbarn« im täglichen Leben, wo diese noch zu finden ist.
Im Mittelalter hatte Thomas von Aquin aus den Erkenntnissen der griechischen Denker einerseits und der christlichen Glaubenslehre andererseits eine eigenständige christliche Ethik entwickelt. Aquin war es, der den Kunstgriff fertigbrachte, die vom Menschen ersehnte Glückseligkeit substantiell mit dem gleichzusetzen, was die römisch-katholische Kirche als gottgewollte Naturordnung bezeichnet hat.
An dieser Ordnung und ihren Glaubenssätzen hat die Kirche bis in unsere Zeit mehr oder weniger starr festgehalten. Sie muß ihre Lehren heute jedoch an der Frage messen lassen, welchen Wert christliche Überzeugungen noch für die Zukunft der Menschheit haben: ob diese Wertvorstellungen noch dazu beitragen können, die rasch sich vergrößernden Probleme des Bevölkerungswachstums, der Umweltgefahren, der wirtschaftlichen Expansion, der Rohstoffkrise in dem erwünschten dämpfenden Sinne zu beeinflussen.
Das Christentum ist in einer Zeit entstanden, die sehr verschieden von der heutigen war.
Die Erde war noch dünn besiedelt. Wissenschaft und Technik steckten in den Anfängen, eine Industrie im heutigen Sinne gab es nicht, die Naturgewalten beherrschten das Leben der Menschen. In der damaligen Zeit war der biblische Auftrag, sich zu vermehren, sich die »Erde Untertan« zu machen und großmütig zu sein, für das Zusammenleben der Menschen vorteilhaft.
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Heute dagegen begünstigt der Vollzug dieses Auftrages gerade jenes »Wachstum«, jene Bevölkerungsvermehrung und jene Umweltbelastung, von denen wir wissen, daß sie die Erde und die auf ihr lebenden Menschen in absehbarer Zeit in eine Katastrophe führen müssen. Die Tugenden des Christentums, soweit sie sich an den ursprünglichen Lehren orientieren, sind fragwürdig geworden.
Denn wie ist die »Nächstenliebe« unter den Bedingungen einer stürmisch wachsenden Erdbevölkerung zu bewerten?
Wie lange können die christlichen Tugenden des Verzeihens, des Mitleids noch jenen Effekt haben, den sie haben sollten?
Wann wird altruistisches Handeln auf lange Sicht zur Gefahr für dieselben Menschen, denen es zugute kommen sollte?
Jay W. Forrester schreibt dazu in einem Essay über <Die Kirchen zwischen Wachstum und globalem Gleichgewicht>:
»Humanität veranlaßt dazu, dem weniger vom Glück begünstigten Nebenmenschen beizustehen. Aber dieser Beistand basiert gegenwärtig auf einer viel zu einfachen Betrachtungsweise und bezieht sich meist auf unmittelbar erreichbare Ziele. Lang- und kurzfristige Ziele pflegen sich jedoch oft zu widersprechen. Wann führt Hilfe in der Gegenwart zu vermehrten Übeln in der Zukunft?
Betrachten wir ein stark übervölkertes Land. Der Lebensstandard ist niedrig, die Menschen sind unterernährt, befinden sich in schlechtem Allgemeinzustand, kurz, es herrscht Elend. In dieser Situation ist eine Bevölkerung allen Naturereignissen besonders stark ausgesetzt. Nahrungsmittel kann man nicht einfach kaufen, und alle medizinischen Einrichtungen sind ständig hoffnungslos überlastet. Eine Flut macht nun Tausende obdachlos; aber ist eigentlich die Flut daran schuld oder die Tatsache, daß die Bevölkerungsballung Tausende dazu zwingt, in flutgefährdeten Gebieten zu wohnen? Dürren führen zu Hungerkatastrophen, aber sind daran ursächlich die Wetterereignisse schuld oder die Bevölkerungszahl, die das Anlegen von Lebensmittelvorräten verunmöglicht? Das Land ist in einem prekären Zustand, in dem alle Widrigkeiten in ein Ansteigen der Sterberate umschlagen.
Dieser Vorgang ist im Grund nichts weiter als ein Teil des natürlichen Regelmechanismus, der weiteren Bevölkerungszuwachs limitiert. Nun aber kommt es nach jedem Naturereignis aus humanitären Impulsen zu beträchtlichen Hilfeleistungen von außen mit dem Ergebnis, daß die geretteten Menschen erneut zum Bevölkerungswachstum beitragen. Je höher aber Bevölkerungszahl und Ballungsgrad sind, um so verwundbarer wird das Land. Epidemien drohen, es kommt noch öfter zu Katastrophen, die weitere Hilfeleistungen von außen erheischen. Und diese wiederum haben noch größere Menschenmassen in erbärmlicher Lage zur Folge und erhöhen die Notwendigkeit für weitere Hilfeleistungen, bis schließlich ein Zustand eintreten kann, in dem jede Hilfsaktion versagt.«
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Dies ist nur einer von zahlreichen Aspekten, unter denen ethische und humanitäre Wertvorstellungen heute gesehen werden müßten. Forresters Beispiel zeigt, was auf uns zukommt. Es zeigt, wie problematisch es ist, an Wertsystemen festzuhalten, die früher einmal unter anderen Verhältnissen entworfen worden sind und auf diesen Wertsystemen dann auch noch ein dogmatisches Lehrgebäude zu errichten. Zusätzlich kompliziert wird die Situation, wenn die Kirche weiterhin unbeirrt auf derartigen Dogmen bestehen zu müssen glaubt, weil sie fürchtet, daß Abstriche oder Veränderungen den Bestand ihrer eigenen Institution in Frage stellen würden.
Setzt man Forresters Ansatz fort und versucht, konkrete Auswege aus den von ihm dargestellten Problemen zu finden, so gerät man rasch in ein nahezu auswegloses Dilemma. Auf eine brutale Formel gebracht, würde eine solche Lösung bedeuten, den Tod da zuzulassen, wo er wenige trifft, um zu verhindern, daß später viele oder alle sterben.
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Die christliche Auffassung zu dieser Frage ist jedoch eindeutig. Sie besagt, wiederum vereinfacht ausgedrückt, daß das aktuelle Helfen in jedem Falle Vorrang habe, ganz gleich, welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Nach der Begründung für Hilfsaktionen befragt, die in einer voraussehbaren Zeit das Elend in einem bestimmten Hungergebiet unausweichlich vergrößern müssen, haben die Theologen immer die gleiche schicksalsergebene Antwort parat. Sie lautet sinngemäß, daß der Christ so handeln müsse, weil die Entwicklung der Dinge nicht voraussehbar sei, weil das Schicksal der Welt von »Gott« gelenkt werde.
Mit anderen Worten:
Maßnahmen zur langfristigen Verelendung werden mit einer Haltung gerechtfertigt, die nicht nur Trendberechnungen leugnet, wie sie etwa jedes Wirtschaftsunternehmen und jeder Staat anstellt, um zukunftsgerecht zu planen, sondern auch Erfahrungen aus der Vergangenheit ignoriert, die in die Gegenwart hineinreichen, darunter die immer steiler ansteigende Bevölkerungskurve.
Die Trendberechnungen müßten Fälschungen, die Bevölkerungskurve müßte eine Halluzination sein, wenn das Argument, wir seien dem Ratschluß eines »allgütigen Gottes« anheimgegeben und es werde schon alles gutgehen, auch nur einen Augenblick lang ernst genommen werden dürfte. Tatsächlich ist bedingungsloses Helfen, das nur kurzfristig Hilfe bringt und in der Zukunft das Elend vergrößert, nichts anderes als ein Ausdruck der Hoffnung auf ein Wunder — das freilich nicht geschehen kann.
Das Problem liegt offenbar in der Weigerung der in der christlichen Lehre befangenen Gläubigen, einer wenn auch noch so einsichtigen Faktensprache zu vertrauen, wenn diese den Glaubenssätzen zuwiderläuft. Man vertraut dann lieber — und hier stoßen wir auf ein eigenartiges Phänomen des Glaubens schlechthin — dem Unwahrscheinlichen und weist offensichtliche und nachprüfbare Zusammenhänge von sich.
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Läßt man die philosophischen und religiösen Gesichtspunkte des Themas Ethik beiseite und fragt nach dem stammesgeschichtlichen Hintergrund sittlichen Verhaltens — sei es nun angeboren oder erworben oder beides —, so stößt man, wie bereits erwähnt, auf das Verbundenheitsgefühl der frühmenschlichen Jäger- und Sammlerhorden. Schon früh hatte es sich ja als Selektionsvorteil herausgestellt, wenn die Mitglieder einer solchen Horde sich gegenseitig in der Not unterstützten, wenn sie Verletzte pflegten, andere durch Zurufe bei Gefahr warnten — kurz, wenn sie dem »Nächsten« zugetan waren, dessen Hilfe ihnen selbst wiederum zugute kam.
Mit zunehmender Entwicklung seines Großhirns entdeckte der Frühmensch die Vorteile des Altruismus, der Beachtung des Gemeinwohls, dem man dienen konnte, ohne sein Ich, seine eigene Person aufzugeben. Gleichwohl mag dies seine Grenzen dort gehabt haben, wo es zu Verstößen gegen das zunächst noch ungeschriebene Sittengesetz innerhalb der Stämme kam.
Da die Außenseiter mit ihrer wenig hilfsbereiten Haltung den Verband gefährdeten, mußten sie mit mehr oder weniger sanfter Gewalt dazu angehalten oder, wenn dies nichts half, ausgestoßen werden. So mag auch schon früh so etwas wie Belehrung oder Bestrafung ins Spiel gekommen sein: erste Praktiken eines »Auf-den-rechten-Weg-Bringens«, die mit fortschreitender kultureller Evolution dann differenziert und zum Erziehungssystem wurden.
In der Geschichte des Menschen etablierten sich immer subtilere Arten altruistischen, ethisch-moralischen Denkens und Handelns: Formen des Mitleids und der Selbstlosigkeit, die schließlich in der christlichen Lebensweisheit pervertierten: »Wem auf die linke Wange geschlagen wird, der halte auch die rechte hin.«
Einen besonders augenfälligen Ausdruck findet die christliche Nächstenliebe in der Medizin, wenngleich natürlich die Behandlung etwa ansteckender Krankheiten nicht nur dem Betroffenen als »Nächsten«, sondern auch dem zunächst Unbeteiligten zugutekommt, nicht zuletzt dem Arzte selbst. Zu welch zweischneidigem Instrument der an sich segensreiche Altruismus zumindest in Teilbereichen der Medizin geworden ist, zeigt das bereits im vorangegangenen Kapitel erörterte Bevölkerungsproblem.
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Hauptursache der heutigen Bevölkerungsexplosion ist der immer erfolgreichere Kampf der Medizin gegen früher tödliche, die Menschenzahl einst stabilisierende Seuchen und Infektionskrankheiten, gegen Mütter- und Säuglingssterblichkeit; hinzu kommen all jene Methoden, mit denen die Medizin das einzelne Menschenleben verlängern kann.
Die katholische Kirche trägt als <Bewahrerin der christlichen Sittengesetze> ihren Teil an der Zuspitzung des Bevölkerungsproblems bei. Als Papst Paul VI. 1968 seine Enzyklika <Humanae vitae> veröffentlichte, riefen die darin enthaltenen Aussagen zur Empfängnisverhütung bei allen mit bevölkerungspolitischen Fragen Vertrauten Bestürzung und Befremden hervor.
Man rätselte, ob das rigorose Verbot wirksamer empfängnisverhütender Methoden durch den Vatikan aus dogmatischen Gründen und wider besseres Wissen oder deshalb erlassen wurde, um die die »Pille« schluckenden Gläubigen vorsätzlich mit schlechtem Gewissen zu beladen. Manche Kritiker meinten auch, es solle lediglich dem zahlenmäßigen Zuwachs der Katholiken in der Welt dienen.
Fest steht jedenfalls, daß sich eine vom Papst selbst eingesetzte Untersuchungskommission in ihrer Mehrheit für eine freizügigere Anwendung empfängnisverhütender Mittel ausgesprochen hatte und den päpstlichen Beratern und dem Papste selbst die Zahlen der Bevölkerungsvermehrung in den Entwicklungsländern in allen Einzelheiten bekannt gewesen waren.
Die Enzyklika erlaubt den katholischen Gläubigen zwar die Beachtung der fruchtbaren und der unfruchtbaren Tage im Monatszyklus der Frau, doch dürfe, wie es heißt, diese Form der Empfängnisregelung nur dann angewendet werden, wenn »ernsthafte Beweggründe« vorlägen, zwischen der Geburt der einzelnen Kinder Abstände eintreten zu lassen. Eine rasche Geburtenfolge wäre demnach seitens der katholischen Kirche das eher Normale und Erwünschte.
*detopia-2013: wikipedia Enzyklika Rundschreiben wikipedia Humanae_Vitae Pillenenzyklika 1968 wikipedia Liste_der_päpstlichen_Enzykliken
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Dabei ist die Zeitwahl-Methode nach Ogino-Knaus, um die es hier im wesentlichen geht, nur dann einigermaßen zuverlässig, wenn es nach mindestens einjährigen täglichen Temperaturmessungen gelingt, die »sicheren« Tage genau festzulegen. Bei Frauen mit unregelmäßigen Zyklen kann diese Zeit unter Umständen auf wenige Tage im Monat zusammenschrumpfen.
Wie alle Enthaltsamkeit setzt die Zeitwahl Einsicht, Intelligenz und Beherrschung voraus. Der Spontaneität bleibt kaum noch Raum. Für die einfachen Menschen in den unterentwickelten Ländern, denen die Liebe im wahrsten Sinn das Brot der Armen ist, scheidet sie damit praktisch aus.
Außerdem muß man sich fragen, ob es nicht gegen die von der Enzyklika betonte Naturtreue verstößt, wenn die Eheleute gerade an jenen Tagen Enthaltsamkeit üben sollen, an denen sich die Frau im Regelfall am stärksten zu ihrem Mann hingezogen fühlt.
Andere, sichere Methoden der Empfängnisverhütung, wie die den Eisprung verhindernden Hormonpräparate, die Ovulationshemmer oder kurz »Pillen«, die Intrauterin-Pessare oder die »Pille danach« sind und bleiben den Gläubigen laut Enzyklika untersagt, da sie dem »Sittengesetz« widersprächen.
Gleichwohl setzt sich in vielen Ländern eine vergleichsweise liberalere Einstellung durch. So wird die Pille nicht nur zunehmend von Katholiken benutzt, sondern es wird auch überlegt, in welcher Form ein Abbruch unerwünschter Schwangerschaft gestattet werden solle. Dazu wird einerseits die Fristenlösung empfohlen, wonach die Frau in den ersten drei Monaten selbst darüber entscheiden kann, ob sie sich einem fachgerechten Eingriff unterziehen wird oder nicht. Andere Modelle befürworten die Indikationenlösung mit erheblich erweitertem Katalog der Beweggründe, die den Schwangerschaftsabbruch künftig rechtfertigen sollen.
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Die römisch-katholische Kirche bezeichnet dagegen jede Art von Schwangerschaftsunterbrechung uneingeschränkt als Mord, der sich nach dem fünften Gebot für jeden Christen verbiete. Nach katholischer Ansicht muß auch eine vergewaltigte Frau die ihr aufgezwungene Frucht unter allen Umständen austragen und für das Kind sorgen.
Selbst in dem Extremfall, daß ein unbescholtenes junges Mädchen von einem Geisteskranken mißbraucht worden ist und das grauenhafte Geschehnis Folgen hat, sieht das katholische Sittengesetz keine Ausnahme vor.
Diese Haltung gründet sich auf die Annahme, das menschliche Leben sei gottgewollt, also unantastbar, und beginne mit dem Augenblick der Eibefruchtung im Eileiter der Frau ungeachtet dessen, daß eine Frucht erst ab etwa siebentem Monat tatsächlich lebensfähig ist. Selbst wenn vieles für die Auffassung des Lebensbeginns mit der Eibefruchtung spricht, so muß man andererseits darauf verweisen, daß bis zum 12. Tag aus dem befruchteten Ei noch Zwillinge entstehen können.
Dem Rechnung tragend, hat die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie empfohlen, den 13. Tag nach der Empfängnis als den Beginn der Menschwerdung anzusehen. Begründung: Da schwerlich vorstellbar sei, daß sich ein menschliches Individuum zweiteilen kann, so beginne das individuelle Leben auch erst dann, wenn eine Zweiteilung nicht mehr möglich ist.
Unverständlich erscheint die Haltung der katholischen Kirche gegenüber empfängnisverhütenden Praktiken auch hinsichtlich der Naturtreue des ehelichen Verhaltens, auf dessen Wahrung die Moraltheologen so großen Wert legen. Mechanische und chemische Mittel zur Empfängnisverhütung, so liest man in einschlägigen Schriften, seien naturwidrig und daher abzulehnen. Vielmehr wäre periodische Enthaltsamkeit das einzige Mittel, das die Naturtreue nicht verletze.
Auch gegen die angebliche Naturtreue der Enthaltsamkeit läßt sich manches einwenden. So zeigen die monatlichen Regelblutungen nicht zuletzt das vergebliche Warten des weiblichen Körpers auf die befruchtenden Samenzellen an. Denn mit jeder »Regel« stößt ja die Gebärmutter das »Bett« ab, das sie zur Aufnahme des befruchteten Eies vorbereitet hatte.
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Strenggenommen könnte man die Menstruation insofern als etwas Unnatürliches ansehen, als sie die Nichterfüllung einer dem weiblichen Körper gestellten Aufgabe anzeigt. Berücksichtigt man, daß die Empfängnisfähigkeit in den Jahren nach der ersten Regelblutung noch gering ist und normalerweise nach jeder Schwangerschaft für einige Wochen Immunität gegen eine neue Befruchtung besteht, so offenbart sich ein interessanter Sachverhalt: Eine Frau, die ihrer natürlichen Fruchtbarkeit uneingeschränkt nachgeben würde und keine Vorsicht walten ließe, könnte im Verlauf ihrer fortpflanzungsfähigen Jahre zwölf bis zwanzig Kindern das Leben schenken. Wohin so zügelloses Verhalten für ihre Gesundheit führen würde, steht auf einem anderen Blatt.
Wir müssen aber feststellen, daß es der Absicht der Natur durchaus entspräche, wenn die junge Frau in unseren Breiten bereits um das siebzehnte Lebensjahr ihr erstes Kind empfinge, dann nach der Stillzeit das nächste und so fort, daß es also viel eher »wider die Natur« wäre, die regelmäßigen Vorbereitungen des Körpers auf eine Schwangerschaft zu ignorieren, als laufend Kinder zu zeugen.
Einen anderen Widerspruch der katholischen Auffassung birgt das offensichtlich gegen den natürlichen Ablauf gerichtete medizinische Bemühen, todkranke Menschen vor dem Tode zu bewahren.
Papst Paul VI. hat sich seinerzeit beeilt, den südafrikanischen Chirurgen Professor Barnard in Audienz zu empfangen, nachdem diesem die erste Herzverpflanzung gelungen war. Die Demonstration war kaum mißzuverstehen. Nie würde der Vatikan Organ-Verpflanzungen als »wider die Natur« anprangern, obschon doch durch sie wie durch viele andere Eingriffe auch der Naturvorgang des Sterbens hinausgezögert wird.
Die »Naturtreue« als sittliches Verhaltensprinzip hat also Mängel, und einer von ihnen liegt in der Auswirkung auf das Bevölkerungsproblem: Wenn die römisch-katholische Kirche nicht wünscht, daß in absehbarer Zeit inhumane Mechanismen die Springflut menschlichen Lebens auf der Erde zu bändigen beginnen, so müßte sie zustimmen, daß unserem erfolgreichen Kampf gegen den Tod ein entsprechend wirksamer Eingriff in die menschliche Fruchtbarkeit zur Seite gestellt wird.
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Wie vielfältig diese Problematik ist, wird an einem kleinen Beispiel deutlich, das Anfang des Jahres 1974 eine deutsche Arzneimittelfirma gegeben hat. Damals wurde aus Südafrika eine Sechslingsgeburt gemeldet — die fünfundzwanzigste überhaupt, von der die Menschengeschichte zu berichten weiß. Das Besondere war, daß die südafrikanischen Sechslinge im Gegensatz zu allen früheren überlebten. Dieser Umstand aber, meldet nun die Firma, sei ihrem Medikament »Partusisten« zu verdanken gewesen, das schon wiederholt und auch diesmal mit Erfolg zur Verhinderung von Frühgeburten eingesetzt worden sei. Hätten die südafrikanischen Ärzte das Mittel nicht benutzt, so hätte dies den sicheren Tod der Kinder bedeutet.
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An dieser Stelle mag ein grundsätzliches Wort gesagt sein.
Der Leser könnte gerade dieses Buchkapitel mißverstehen und annehmen, hier werde für Kinderlosigkeit geworben; es werde, wenn auch nur zwischen den Zeilen, dafür eingetreten, Krankheiten ihren Lauf zu lassen, alte Menschen schutzlos ihrem Schicksal auszuliefern und dergleichen mehr, um die explodierende Erdbevölkerungszahl den begrenzten irdischen Existenzgrundlagen anzupassen — ähnlich, wie dies in freier Wildbahn geschieht.
Nichts wäre irriger. Vielmehr geht es dem Verfasser allein darum, möglichst objektiv die Folgen und Wirkungen menschlichen Verhaltens auf der Erde zu analysieren, so, wie sie sich tatsächlich ergeben.
Denn es gibt ja für uns Menschen gar nicht die Alternative, entweder die langfristigen Konsequenzen unseres Tuns auf uns zu nehmen oder von unseren ethisch-moralischen Grundsätzen abzulassen.
Wir haben diese Wahl in Wahrheit nicht. Wir können uns nicht anders verhalten, als unser Großhirn es uns diktiert.
Wenn daher auch auf den nächsten Seiten von den negativen Folgen zunächst positiv erscheinenden Handelns und Denkens die Rede ist, so immer mit dem Vorbehalt, daß wir unserem ganzen menschlichen Zuschnitt nach dazu angehalten sind, so - und nur so - zu handeln; weil wir unsere Art zu leben nicht verleugnen können und auch nicht verleugnen werden, indem wir uns etwa den Lemmingen gleich ins Wasser stürzen und damit Platz für neue Generationen machen. Freilich liegt auch gerade darin die Tragik unseres Schicksals.
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Dieses Buch kann keinen Trost bieten.
Jedenfalls kann es keinen anderen Trost bieten als den — wenn dies ein Trost ist —, daß noch nicht wir Heutigen betroffen sind, sondern erst spätere Generationen die ganze Tragweite dessen werden erfahren müssen, was in den Jahrhunderten der Aufklärung, des Industrie- und Massenzeitalters vorbereitet worden ist.
Und es hilft auch nichts, daß wir gegenwärtig Lebenden die Gefahr sehen, die uns droht, denn wir werden dem Ende nicht — auch nicht <im letzten Augenblick> noch, wie manche vielleicht hoffen — entgehen können. Vielmehr spricht alles dafür, daß wir uns den Dezimierungspraktiken der Natur eines Tages hilflos ausgeliefert sehen werden.
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An dieser Entwicklung der Dinge sind auch jene Folgen ethisch-sittlichen Verhaltens beteiligt, die die verbesserten Diagnose- und Therapiemethoden gegenüber Erbkrankheiten haben.
Wir haben uns damit schon ausführlich beschäftigt und wollen hier nur noch einige Gedanken zur ethischen Seite des Problems hinzufügen. Zunächst dies: Auch hier sind wir es unserem Menschsein schuldig, »human« zu handeln, das heißt, Erbkranken wie allen anderen Kranken nach bestem Vermögen zu helfen und ihnen das Leben erträglich zu machen. Wir können ihnen zwar empfehlen, je nach Lage des Falles keine Kinder zu zeugen oder sich sterilisieren zu lassen, aber zwingen können wir sie nicht.
Hier erhebt sich dann weiter die interessante Frage, ob das helfende Mitleid, die christliche Nächstenliebe, sich nur auf die Lebenden zu beschränken habe oder ob sie konsequenterweise auch den nach uns Kommenden — gewissermaßen prophylaktisch — gelten müßte. Denn wenn aller Erkenntnis und Erfahrung nach durch Maßnahmen der Gegenwart menschliches Leid bei später Lebenden ausgelöst, ja vorprogrammiert wird, dann verstricken schon wir Heutigen uns in Schuld, wenn wir den Dingen ihren Lauf lassen.
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Welche Möglichkeiten gäbe es denn aber, dem Dilemma zu entrinnen? Wäre es eine Lösung, die Hilfe für die heute Lebenden einzuschränken? Ganz sicher nicht. Aber diese Hilfe gewähren heißt ja gerade, eine Zunahme der Erbkranken nach zwei, drei, fünf Generationen zu provozieren.
Ist es ein Trost, darauf zu hoffen, daß uns auch in Zukunft noch genügend und bessere Medikamente zur Verfügung stehen werden, um auch diese Menschen - wiederum symptomatisch - zu behandeln, ihnen ihre Krankheiten erträglich zu machen und sie am Leben zu erhalten, ohne ihre Erbanlagen heilen zu können?
Was würde geschehen, wenn uns die — in immer größerer Zahl und besserer Qualität notwendigen — Mittel dazu fehlen werden? Trotzdem: Nach Abwägung der Güter werden wir den Lebenden in jedem Falle helfen müssen und den Erbverfall als Tribut an unsere Ethik und Moral auf uns zu nehmen haben.
Auch hier zeigt sich das Ausweglose unserer Situation:
Wir betreiben eine schleichende Selbstverstümmelung und schätzen sogar die Folgen richtig ein, aber wir sind außerstande, dem Vorgang Einhalt zu gebieten. Wir haben keinen humanen Ausgleich für den Luxus unserer Ethik und Moral finden können, keine annehmbare Alternative für das vergleichsweise brutale, unmenschliche, doch arterhaltende Ausleseprinzip, das wir in unbekümmertem Höhenflug außer Kraft gesetzt haben.
Dabei steckt tief verborgen im stammesgeschichtlichen Bewußtsein noch immer jenes Verhalten aus der Zeit unserer äffischen Ahnen in uns, als das Großhirn noch im Status nascendi war und das Auslesegesetz unumschränkt galt. Es sind Überbleibsel eines Gebarens, wie es die Natur einst zur Bewahrung des Bewährten oder, wenn man so will, zur Abwehr artgefährdender Neuerungen des Verhaltens oder der Anatomie für richtig befunden hatte.
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Es gibt dafür den Begriff des »Mobbing« oder der »Anstoß-Aggressivität«.
Der deutsche Anthropologe Rudolf Bilz hat dieses Verhalten in einer Reihe von Schriften, vor allem in seinem Hauptwerk <Paläoanthropologie>, eindrucksvoll beschrieben: Relikte aus grauen Zeiten, da unsere Vorfahren noch nicht die rechte Wange hinhielten, wenn man ihnen auf die linke geschlagen hatte.
Aus der Sicht der Tiere wäre der heutige Mensch mit seinen Sittengesetzen und seinem Mitleid »ein Tier, das in höchst gefährlicher Weise den gesunden Tierverstand verloren hat«. Das Gleichnis stammt von Friedrich Nietzsche, und mancher mag darüber den Kopf schütteln. Sichtet man die Bilzschen Befunde, so wird man zumindest der kaum weniger schmeichelhaften Metapher des Verfassers zustimmen, daß der Mensch eine Extravaganz der Natur sei, ein Risikofaktor der stammesgeschichtlichen Entwicklung.
Das »Verrückte« in uns findet Bilz in zahlreichen Überbleibseln aus der Zeit unserer biologischen Wiege: Verhaltensweisen des Menschen, die ihren Sinn zu einer Zeit hatten, da die Natur noch Maßstab aller Dinge war und die uns heute als »anstößig«, als unpassend, bewußt werden. Es sind Reaktionen ähnlich der einst nützlich gewesenen Aggression, die unter den Bedingungen des modernen Lebens so gefährlich geworden ist.
Wie beispielsweise kommt es, daß wir manchmal unbewußt, manchmal offen Abneigung hegen gegenüber Menschen mit abstehenden Ohren, mit einer stotternden Stimme oder Mißbildungen? Warum mögen wir den Außenseiter nicht? Was ist der Grund für die scheinbar unüberwindliche Ablehnung der dunkelhäutigen Kinder durch die weißen auf dem Schulhof?
Bilz fand fünf Intensitätsstufen solchen Anstoßnehmens gegenüber Menschen, die vom Normalen auffällig abweichen. Die mildeste Form sei der verstohlene Seitenblick auf das »Opfer«, die zweite das maliziöse Lächeln, die dritte der hämische Witz.
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Bezeichnenderweise gebe es ganze Kategorien von Witzen wie die Irrenhauswitze oder die Ostfriesenwitze, die bestimmte Menschengruppen zur Zielscheibe ihres Spottes machen. Stufe vier wäre die offene Gewaltanwendung: das dunkelhäutige Kind wird auf dem Schulhof verprügelt. Die letzte Stufe, so Bilz, sei die Lynchjustiz.
Entsprechend verhalten sich manche Tiere. Möwen, die man mit einem auffälligen Merkmal versehen hat, etwa einem Farbklecks auf einem Flügel, werden von ihren Artgenossen verfolgt und angegriffen. Bilz hat einmal in einer Voliere eine Saat- und zwei Rabenkrähen gefangengehalten. Als die Saatkrähe wegen eines Ernährungsfehlers die Flügel hängen ließ und ihr Gang unsicher wurde, hackten die beiden Rabenkrähen auf sie ein. Nachdem Bilz die Krähe isoliert, gesundgepflegt und sie dann den beiden anderen wieder zugesellt hatte, war von der aufgebrochenen Aggression nichts mehr zu spüren.
Aber auch weit subtilere Formen tierischen und menschlichen Verhaltens lassen sich dem »Mobbing« zurechnen. Bilz entdeckt sie sogar in unserer Neugier gegenüber den Nachbarn: »Darin schon bezeugt sich unsere Pöbelhaftigkeit, daß wir möglichst auch über die Intimitäten unserer Mitbürger Bescheid wissen möchten.« Es handele sich um einen Überwachungszwang, der dazu führen könne, daß ein Mensch, der ein sorgsam bewahrtes Geheimnis in einer schwachen Stunde preisgebe, alsbald erbarmungslos dieser seiner Schwäche wegen bewitzelt, verspottet, durch Klatsch und Tratsch schließlich ganz unmöglich gemacht wird.
Daß mehr oder weniger in uns allen etwas vom Kain der Bibel steckt, der seinen Bruder Abel erschlug, weil er es nicht ertragen konnte, anders zu sein als er, das hat der deutsche Betriebsseelsorger Manfred Müller drastisch erfahren müssen:
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»Als ich noch in die Volksschule ging, da hat man uns beigebracht: Die Franzosen sind dreckig, die Italiener faul, die Engländer sind Wirtschaftsgeier. Nun — so etwas sagt heute niemand mehr. Aber steckt dieselbe Haltung nicht auch heute noch in uns? Diejenigen, die lange Haare und vergammelte Hosen tragen, sind vielen nicht nur unsympathisch, sondern die müssen auch geistig und moralisch nicht ganz normal sein, obwohl man sie vielleicht gar nicht näher kennt.
Die ganze Gruppe der Zigeuner, die nicht in normalen Häusern wohnen und ständig unterwegs sind, Leute, die mit der geltenden sexuellen Ordnung in Konflikt geraten, wie Homosexuelle, werden betrachtet, als seien sie vom Aussatz befallen. Die Gastarbeiter sprechen für viele nicht nur eine andere Sprache, sondern gelten von vornherein als Menschen zweiter Klasse.
Kürzlich stand ich an einem Fahrkartenschalter hinter einem Ausländer. Er verlangte eine Fahrkarte nach einer Stadt, konnte aber deren Namen nicht richtig und klar aussprechen, so daß der Schalterbeamte zwei-, dreimal fragen mußte, wohin er eigentlich wolle. Unfreundlich und von oben herab bekam der Ausländer seine Fahrkarte beinahe zugeworfen. Und gleichsam als Entschuldigung sagte dann der Schalterbeamte zu mir: <Die sollte man erst einmal kultivieren und ihnen deutsch beibringen, bevor man sie auf uns losläßt.>
Aber diese Kategorisierung von Menschen reicht oft hinein in die eigene Familie und Umgebung. Wenn jemand ein anderes Partei- oder Gewerkschaftsbuch in der Tasche trägt als ich, dann kann da schon etwas nicht mehr stimmen. Ist er vielleicht ein Kommunist oder ein Erzreaktionär? Früher kam dazu noch das Gebetbuch, aber das spielt heute keine Rolle mehr. Arbeitskollegen sind zerstritten untereinander wegen der jeweiligen Parteizugehörigkeit, anstatt sich für mehr Rechte für die Arbeitnehmer einzusetzen.
So könnte man den Katalog von Vorurteilen und Verurteilungen fortsetzen. Es fällt uns einfach schwer, Menschen und Menschengruppen gegenüber, die anders denken, handeln und aussehen als der Durchschnittsbürger, tolerant zu sein. Es fällt uns noch schwerer, wohlwollend und herzlich zu ihnen zu sein. Aber nur letzteres ist christlich.«
Soweit Manfred Müller.
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Die naheliegende Erklärung für das »Mobbing«-Verhalten in allen seinen Spielarten liefert das Auslesegesetz. In freier Wildbahn hat alles aus dem Rahmen Fallende, alles Außergewöhnliche unter Artgenossen normalerweise negativen Auslesewert. Ein auffallend aussehendes Tier lockt durch sein Äußeres oder durch sein Verhalten Feinde an, die dann der Gemeinschaft gefährlich werden. Manche Vögel nutzen diesen Umstand geradezu für den Trick aus, ihre Feinde vom Nest ihrer Jungen fortzulocken, indem sie sich flügellahm stellen, davonhumpeln und so tun, als würden sie eine leichte Beute des Verfolgers werden.
»Gezeichnete« ziehen also die Aggression der Artgenossen auf sich, weil sie das Schicksal der Gruppe bedrohen. Das Überleben der Gruppe hat aber höheren Stellenwert als das des einzelnen. So kann angesichts des kränkelnden Individuums auch die Tötungshemmung abgebaut werden, die sonst der Erhaltung der Art dient. Es liegt nahe zu vermuten, daß die Tötungshemmung nur so lange voll gewährleistet ist und Hilfeleistungen von Artgenossen untereinander nur so lange zu erwarten sind, wie nicht grobe Veränderungen im Aussehen oder Verhalten den Eindruck des Abnormen, des nicht mehr zur Art oder zur sozialen Gruppe Gehörigen hervorrufen.
Die feindselige Haltung der Artgenossen führt schließlich dazu, daß die »Auffälligen« verdrängt werden, daß ihre Fortpflanzungs- und Überlebenschancen sinken, oder daß sie umgebracht werden. Beispiel: Die aus einem fremden Stock stammende Biene wird wegen ihres ungewohnten Geruchs getötet. (Eine solche Biene würde dem Stock zum Beispiel Informationen über Flugwege zu Futterplätzen liefern, die nur für den eigenen Stock zuträfen, also Verwirrung stiften würden.) Ob es sich um ein verirrtes, verwundetes oder erbkrankes Tier handelt, spielt dabei offenbar keine so wesentliche Rolle, so lange das abweichende Merkmal nur intensiv genug ist. Dieser Unterschied ist auch nicht notwendig, da das Risiko für die Gemeinschaft in aller Regel in jedem dieser Fälle besteht.
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Unter uns Menschen dagegen ist Abneigung gegenüber dem durch Kriegsverletzung oder Unfall Schwerbeschädigten unsinnig geworden, weil das Gesetz der freien Wildbahn nicht mehr gilt und die Beschädigung als »erworbene Eigenschaft« nicht erblich ist. Wo solche Art individueller Animosität auftritt, liegen ihr allenfalls kosmetische Motive zugrunde.
Da die Tötungshemmung unter normalen Umständen auch beim Menschen besteht — vom Krieg als Ausnahmesituation sei hier abgesehen —, gibt es nur wenige Beispiele für die Auslöschung von Leben wegen erblicher Mißbildung oder aus Gründen zu großer Bevölkerungsdichte. Immerhin sind einzelne Fälle bekannt. Bei einer Reihe primitiver Völker ist die Tötung von Mißgeburten üblich. Kindestötung gibt es bei Buschmännern, deren Säuglinge jahrelang von der Muttermilch leben, denn die Frauen könnten rasch aufeinanderfolgenden Kindern nicht genug Nahrung spenden.
Die Eskimos töten manchmal neugeborene Mädchen, weil diese weder auf die Jagd gehen, noch bei der Verheiratung selbst für ihre Mitgift sorgen könnten. Beides würde die Familie bisweilen zu stark belasten.
Auch das freiwillige Aus-dem-Leben-Scheiden der Alten gehört hierher.
Wie berichtet wird, ist es noch kein Jahrhundert her, daß alt gewordene russische Bauern, wenn sie ihre Stunde für gekommen hielten, zu sagen pflegten: »Es ist Zeit zu gehen, ich lebe den anderen das Leben weg.«
Wolfgang Wickler zitiert dazu in seinem Buch <Die Biologie der Zehn Gebote> Peter Kropotkin, der darüber mitteilt:
»Der alte Mann verlangt selbst zu sterben; er besteht selbst auf dieser letzten Pflicht gegen die Gemeinschaft und verlangt die Zustimmung des Stammes; er gräbt selbst sein Grab; er lädt seine Verwandten zum letzten Abschiedsmahl. Sein Vater hat dasselbe getan; nun ist er an der Reihe; und er verabschiedet sich von seinen Angehörigen mit allen Zeichen der Liebe.«
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Ähnliche Schilderungen sind von anderen Völkerkundlern und Forschungsreisenden überliefert worden. P. Freuchen berichtet in seinem <Book of the Eskimos> von Selbsttötungen alter Stammensangehöriger, die den anderen wegen ihres Alters oder einer Krankheit nicht mehr zur Last fallen wollen: »Mancherorts wünscht der alte Mann, daß sein ältester Sohn oder seine Lieblingstochter ihm den Strick um den Hals legt und ihn henkt. Das geschieht regelmäßig auf dem Höhepunkt einer Feier, wenn es ein gutes Mahl gibt und alle — auch der, der zu sterben wünscht — froh und glücklich sind.« (Nach Wickler.)
Was hier noch wie ein naturhaftes, instinktiv-gemeinnütziges Verhalten erscheint, ist in der modernen, von Wissenschaft und Technik beherrschten Hochzivilisation gänzlich abgebaut worden. Es hat praktisch dem Gegenteil Platz gemacht, weil unsere Ethik und Moralvorstellungen im Verein mit dem Fortschritt der Medizin ein möglichst langes Überleben oft geradezu erzwingen — nicht selten gegen den Willen des Todgeweihten.
Die Praxis, Menschenleben unter allen Umständen zu erhalten, stößt sogar schon wieder auf Kritik. So hört man das Argument, der hohe Aufwand etwa für wiederholte Herzverpflanzungen (nachdem das erste verpflanzte Herz wieder abgestoßen wurde) käme besser der Krebsforschung zugute, und das für solche Operationen notwendige, zahlreiche Ärzte- und Pflegepersonal sollte anderen hilfsbedürftigen Patienten mit größeren Überlebenschancen zur Verfügung stehen. Der Hippokratische Eid setzt hier offenbar weder Grenzen noch sagt er etwas darüber aus, welchem ärztlichen Tun gegebenenfalls Vorrang gebühre.
Umgekehrt werden hin und wieder Fälle bekannt, in denen sich Ärzte weigerten, den Todeskampf eines Sterbenden mit allen Mitteln zu verlängern, also das verlöschende Leben immer noch einmal aufflackern zu lassen.
Um was es hier geht, ist die Euthanasie. Der Begriff steht für »Sterbehilfe« oder »Gnadentod«, wobei zwischen aktiver und passiver Euthanasie unterschieden wird. Wenn es der behandelnde Arzt unterläßt, dem Sterbenden noch Medikamente zu geben, die seinen Todeskampf nur verlängern würden, spricht man von passiver Euthanasie.
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Aktive Euthanasie dagegen begeht jemand, der einen hoffnungslos erkrankten und schwer leidenden Menschen etwa durch eine Schlafmittel-Überdosis von seinen Leiden erlöst.
Nichts zu tun hat die Euthanasie mit der Vernichtung angeblich »lebensunwerten Lebens«, wie es sie unter Hitler gegeben hat; dies waren schlicht Verbrechen, die mit dem Euthanasiebegriff nur kaschiert werden sollten, um das Gewissen der Beteiligten zu beruhigen und die Öffentlichkeit zu täuschen.
Juristisch gesehen ist jede Maßnahme, die das Leben eines unheilbar und schwer leidenden Kranken verkürzt, als Tötungsdelikt strafbar. Ebenfalls unzulässig ist es, Sterbehilfe auf das ausdrückliche Verlangen des Kranken hin zu gewähren. In Westdeutschland tritt in diesem Fall nach Paragraph 216 StGB lediglich Strafmilderung ein. Das bedeutet, daß der Arzt bis zum natürlichen Tod seines Patienten zwar alle Mittel zur Schmerzlinderung einsetzen muß, daß er die Mittel aber nicht mit dem Ziel einer Lebensverkürzung geben darf. Diese ärztliche Verpflichtung erlischt erst, wenn der noch voll bewußte Kranke nicht mehr behandelt zu werden wünscht.
Das Für und Wider der Sterbehilfe wird freilich im selben Maße problematischer, wie die Medizin wirksamere Möglichkeiten entwickelt, den Zeitpunkt des Todes quasi selbst zu bestimmen, mit anderen Worten: wie sie auch rettungslos verlorene Menschen wiederholt aus der Agonie holen und weiterleben lassen kann, auch wenn dieses Leben dann oft nur noch ein Vegetieren ohne Bewußtsein ist, oder ein von Schmerzen geprägtes, gepeinigtes, in jeder Hinsicht reduziertes Dasein.
Ein solcher Fall wäre eine schon stark geschwächte, vom Tode gezeichnete alte Frau, deren zusätzlich zu ihrem Grundleiden aufgetretene Lungenentzündung mit Hilfe massiver Antibiotika-Therapie überwunden werden kann. Ein anderes Beispiel wäre der Krebskranke, dessen beginnende Anämie immer wieder durch Bluttransfusionen abgefangen wird, oder der Fall eines schon bewußtlosen Greises, der eine Herzattacke erleidet und wieder aufkommt, weil stark wirkende Herzmittel zur Verfügung standen.
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Als der ehemalige amerikanische Präsident Truman im Dezember 1972 im Sterben lag, bezeugten 80 medizinische Bulletins ein nahezu übermenschliches Bemühen seiner Ärzte, das schon verlöschende Leben zu verlängern. Dies ging so weit, daß man auf dem Luftwege ein sorgsam zusammengestelltes Gemisch von Aminosäuren zur künstlichen Ernährung des Patienten aus Kalifornien nach Kansas City kommen ließ, um das Nierenversagen des 88jährigen zu kompensieren. Die Ärzte, die hier eine Kraftprobe medizinischer Möglichkeiten demonstrierten, mußten sich freilich fragen: Wie hätte die Öffentlichkeit reagiert, wenn nicht alles getan worden wäre, um das Leben Trumans zu retten?
Aber war es auch im Sinne des Kranken, der sich mit seiner letzten Äußerung darüber beklagte, wie lästig ihm die Sauerstoffmaske sei? Ähnliche Fälle sind leicht unter der Prominenz zu finden, so daß man den Slogan prägen könnte: »Wenn du berühmt bist, mußt du länger leben.« Fraglos würden viele Menschen erklären:
»Wenn es mit mir zu Ende geht, dann bitte ich um einen sanften und angenehmen Tod, dann behandelt mich nicht wie eine altersschwache Maschine, deren Einzelteile immer noch einmal repariert werden, sondern wie einen Menschen, dessen Zeit gekommen ist. Erspart mir vor allem Schmerzen und macht mir das Sterben leicht.«
Tatsächlich schreibt ja der Hippokratische Eid den Ärzten nicht nur vor, alles zu unterlassen, was das Leben des Menschen verkürzen könnte, sondern er fordert auch, dem Kranken Leiden und Schmerzen zu ersparen. Danach wäre Sterbehilfe geradezu ein Gebot ärztlichen Handelns, und der Arzt müßte sich den »Terror des Inhumanen« vorwerfen lassen, setzte er nicht alles daran, die Qualen eines Patienten so gut es geht abzukürzen, wenn der Tod schon im Zimmer steht.
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Welche Probleme die menschliche, und das heißt ja auch, die vom Großhirn konzipierte Ethik hier aufwirft, lassen zahlreiche gewissensquälerische Äußerungen nicht nur von verantwortungsbewußten Ärzten, sondern auch von Seelsorgern und Kirchenvertretern erkennen.
»Kann man es verantworten«, fragt der Nürnberger Anästhesist Opderbecke,
»einen über 80jährigen, hochgradig cerebral-sklerotischen Menschen durch Implantation eines Herzschrittmachers Monate, vielleicht Jahre künstlich am Leben zu erhalten? Ist es gerechtfertigt, nach einem Schlaganfall mit zentraler Atemlähmung und damit infauster Prognose eine apparative Dauerbeatmung durchzuführen?«
Opderbecke kommt zu dem Schluß:
»Bei der gewissenhaften Prüfung dieser Frage kann der Arzt sich des sachverständigen Rates anderer Kollegen bedienen. Im übrigen aber muß er die Entscheidung alleine treffen. Auch die nächsten Angehörigen können zu dieser Entscheidung nur insoweit beitragen, als sie etwas über den mutmaßlichen Willen des betreffenden Schwerkranken, der sich selber nicht mehr klar äußern kann, auszusagen vermögen. Wollte man dem behandelnden Arzt diesen Ermessensspielraum nicht zubilligen, dürfte man heute in der Klinik keinen Patienten, sei er auch noch so alt oder hoffnungslos erkrankt, ohne Anwendung aller Mittel moderner Wiederbelebung, apparative Beatmung und Herzmassage eingeschlossen, sterben lassen.«
Intensivmaßnahmen, die ein periodisches Überleben ermöglichen, wären nach Opderbecke nur dann sinnvoll, wenn es sich um Kranke mit noch heilbarem Grundleiden handelt, die über eine kritische, lebensbedrohende Phase hinweggerettet werden müssen. Solche Fälle gibt es häufig genug nach Unfällen mit starkem Blutverlust, bei akutem Herzversagen, Atemstillstand und ähnlichen Anlässen.
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Zu der Frage, ob das verlöschende Leben mit allen Mitteln und so lange als möglich am Glimmen gehalten werden muß, hat sich Papst Pius XII. im November 1957 auf einem Anästhesisten-Kongreß geäußert:
»Wenn sich herausstellt, daß der Versuch der Wiederbelebung ... für die Familie eine Belastung darstellt, die man ihr nicht im Gewissen auferlegen darf, so kann sie erlaubterweise darauf bestehen, daß der Arzt seine Versuche unterbreche, und dieser darf ihr Folge leisten.«
Der Arzt dürfe etwa das Atemgerät entfernen, »bevor der Kreislauf endgültig zum Stillstand kommt«. Auch der Hamburger Theologe Professor Thielicke sieht Grenzen sinnvollen Handelns, wenn er schreibt:
»Wenn von der Pflicht des Arztes die Rede ist, Leben zu erhalten, dann kann damit nicht das biologische Leben schlechthin, sondern nur <menschliches Leben> gemeint sein. Um dieses menschliche Leben zu charakterisieren, bedarf es anderer Kriterien, als es diejenigen sind, die sich in Elektrokardiogrammen und Elektroenzephalogrammen manifestieren.«
Hieraus folgt, daß letztlich dem Arzt die Entscheidungsfreiheit über sein Tun zustehen muß, weil er die medizinische Seite des Falles am besten übersieht. Es muß ihm überlassen bleiben, was er schließlich tut oder läßt, nachdem er sich mit den Angehörigen beraten hat — auch wenn ein letztes Unbehagen bleibt.
Mit diesem Unbehagen aber müssen wir leben, und es wird mit jeder neuen Erkenntnis größer werden, die uns hilft, den Tod zu überlisten. Was immer dann geschieht, wird den Handelnden mit dem beladen, was Thielicke die »methaphysische Schuld« genannt hat, »weil es hier im Unterschied zu sittlichen Entscheidungen gerade keine Alternative gibt, durch deren Wahrnehmung diese Art Schuld vermieden werden könnte«. Denn: »Ich lasse mich hier ja nicht auf ein Böses ein, an dessen Stelle ich ein Gutes wählen könnte.«
Der Tod, könnte man resümieren, ist schlimm genug, aber das Sterben kann grausam sein, so grausam, daß noch mancher, den es trifft, seinem Arzt gegenüber das Kafka-Wort aussprechen wird: »Töten Sie mich, sonst sind Sie mein Mörder!«
* wikipedia Pius-12 1876-1939-1958
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Ethik, Nächstenliebe, Sorge für den Mitmenschen und Aufopferung für ihn sind hohe Ideale, unstreitbar auch Kriterien dessen, was menschliches Leben auf der Erde erst menschenwürdig macht. Wir müssen diese Errungenschaften unserer kulturellen und geistigen Entwicklung hüten und hochhalten, wenn wir nicht auf den Status der Tiere zurücksinken wollen. Aber der Teufel, sieht man genauer hin, steckt auch hier im Detail.
Lotet man tiefer, so ergeben sich Konflikte, zu deren Lösung es allgemeine sittliche Gebote für den Menschen wohl niemals geben wird.
Ein Beispiel dafür sind Herzverpflanzungen, wenn es darum geht, einen Todesbedrohten durch das Herz eines Todgeweihten zu retten. Da es den Ärzten bei Herzverpflanzungen darauf ankommen muß, ein möglichst frisches Organ zu bekommen, werden sie daran interessiert sein, daß der Todeszeitpunkt des Herzspenders möglichst frühzeitig festgestellt werde. Die am Sterbelager des Spenders versammelten Ärzte würden also sozusagen mit schon gezücktem Skalpell dastehen und darauf warten, daß der Sterbende seinen letzten Atemzug tut, um ihren Kollegen im Nebenraum so schnell wie möglich das noch warme Herz für den schon parat liegenden Empfänger liefern zu können. Was sie für die Herzentnahme brauchen, ist freilich das Plazet von Kollegen, die ihrerseits den Spender für tot erklären müssen.
Wann aber ist ein Mensch tot?
Bisher war es verhältnismäßig einfach, den Zeitpunkt des Todes anhand der herkömmlichen Todeszeichen festzulegen: Herz- und Atmungsstillstand, das Erlöschen der Reflexe, sekundäre Todeszeichen wie Muskelstarre, Abkühlung und die Existenz von Totenflecken gehörten dazu. Mit den außerordentlichen Fortschritten der Wiederbelebungstechnik, die es ermöglicht, Herztätigkeit und Atmung noch lange nach ihrem Stillstand wieder in Gang zu setzen, können diese Zeichen allein aber nicht mehr als ausreichende Hinweise für den Tod angesehen werden. Als verläßliches Kriterium muß neben ihnen vielmehr der »Gehirntod« gelten, das heißt, das klinische Gesamtbild von Herz, Kreislauf und Atmung muß ergänzt werden durch den Nachweis der erloschenen Gehirntätigkeit. Im konkreten Fall sollte daher die Hirnstromkurve eine Stunde lang eine sogenannte Null-Linie zeigen, einen flachen Verlauf.
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Bekanntlich ist nun aber der Tod eines Menschen kein schlagartiges oder auch nur kurzfristiges Ereignis, sondern ein allmählich fortschreitender Prozeß, in dessen Verlauf mehr und mehr Zellen durch Sauerstoffmangel zugrunde gehen. Da weiterhin die Körperzellen gegenüber Sauerstoffmangel unterschiedlich empfindlich sind, sterben verschiedene Organe und Gewebe auch unterschiedlich rasch ab. Das Gehirn trägt in der Regel nicht wiedergutzumachende Schäden davon, wenn es auch nur etwa acht Minuten von der Versorgung mit arteriellem Blut abgeschnitten war. Da Herz und Lungen auch noch nach längerem Stillstand wieder in Gang gesetzt werden können, wäre es möglich, große Teile des Körpers auch dann noch funktionsfähig zu halten, wenn der Gehirntod längst eingetreten ist.
Das Interesse der Mediziner richtet sich freilich nicht vorrangig auf einzelne Organe oder Gewebe, sondern es kommt ihnen darauf an, den ganzen Menschen überleben zu lassen. Darum ist es vor allem wichtig, ob das Gehirn noch eine Chance hat oder nicht. Auch diese Entscheidung verantwortlich zu treffen, ist oft nicht leicht, wenn man das Elektroenzephalogramm (EEG) als einziges Kriterium gelten lassen will.
Dazu die folgende Überlegung:
Wenn die Forderung erhoben wird, daß das EEG eine Stunde lang die Null-Linie zeigen, und daß grundsätzlich nach 12 oder 24 Stunden die EEG-Ableitung mit dem gleichen Ergebnis wiederholt werden müsse, bevor der Tod festgestellt und das Organ für die Verpflanzung freigegeben werden darf, so wäre eine Transplantation in jedem Fall erst nach Ablauf von 24 Stunden möglich — mit entsprechend fragwürdigem Erfolg.
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Auf den Standpunkt, daß ein 24stündiges Abwarten entbehrlich sei, könnte man sich dagegen dann stellen, wenn der todgeweihte Patient das Opfer schwerer, inoperabler Schädelverletzungen geworden ist. Bei einer Barbituratvergiftung und dergleichen müßte die Wartezeit jedoch obligatorisch eingehalten werden, denn das Gehirn kann hier nach anfänglicher »elektrischer Stille« seine volle Aktivität wiedererlangen. Die endgültige Entscheidung über den Todeszeitpunkt sollte wegen all dieser Fragen von mindestens zwei Ärzten getroffen werden, und wenn eine Transplantation geplant ist, sollten zwei voneinander unabhängige Ärztegruppen tätig sein: die eine, die den späteren Organempfänger betreut und alles für eine etwaige Übertragung vorbereitet, und die andere, die den potentiellen Organspender so versorgt, als wäre er ein Patient wie jeder andere, dessen Leben zu erhalten mit allen Mitteln versucht werden muß.
Nicht weniger problematisch ist die Entscheidung, ob bestimmte, schwer mißgestaltete Geburten am Leben erhalten werden müssen, die sogenannten Monster: Wesen, die kein menschliches Leben im eigentlichen Sinne sind, sondern die wegen fehlender, abnorm großer oder funktionsunfähiger Organe, fragmentarischem Gehirn oder ähnlichem nur mit Hilfe künstlicher Ernährung und ständiger ärztlicher Betreuung am »Leben« erhalten werden können. Soll diesen Geschöpfen auch dann das ganze Repertoire ärztlicher Möglichkeiten zuteil werden, wenn sie etwa mit einer akuten, lebensbedrohenden Krankheit geboren werden? Es hat hierüber heftige Auseinandersetzungen gegeben und die Meinungen sind durchaus geteilt.
Einmal mehr zeigt sich hier unsere stammesgeschichtliche Bürde:
Die Unbekümmertheit, mit der primitive, hart um ihre Existenz kämpfende Völker Probleme solcher Art lösen, diese Unbekümmertheit hat der hochzivilisierte Homosapiens im 20. Jahrhundert nicht mehr. Er weiß nicht mehr so recht, wie er sich verhalten soll.
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Und das betrifft nicht nur die Monster. Wohin wir blicken, machen es uns Ethik und Moral nicht leicht, mit den Problemen jener Welt fertig zu werden, die unser Großhirn uns geschaffen hat.
Der weitaus größte Teil aller Ehen scheitert, ohne daß wir eine praktikable Alternative zu dieser Institution zur Familiengründung gefunden hätten, die zugleich unsere Geschlechtlichkeit kanalisieren und die Aufzucht unserer Kinder ermöglichen würde.
Ehebruch, Kriminalität, Drogensucht und Alkoholismus sind zum täglichen Brot der Psychiater und der Gerichte geworden.
Während die Erdbevölkerung alljährlich um mehr als die Bewohnerzahl von Ländern wie Frankreich, England, Italien oder der Bundesrepublik Deutschland zunimmt, führen wir heftige Debatten um die Frage, unter welchen Umständen es einer Frau erlaubt sein sollte, eine unerwünschte Schwangerschaft abzubrechen.
Katholische Moraltheologen haben ausführliche Studien darüber verfaßt, wann und mit Hilfe welcher Manipulationen die künstliche Besamung einer Frau mit dem Sperma des Ehemannes im Falle von Kohabitationsschwierigkeiten vor sich gehen dürfe, ohne das Naturgesetz zu verletzen. Man lese dazu die <Allocutio> (Gelegenheitsansprache) Papst Pius' XII. vom 29. September 1949.
Während sich die Christenheit um eine Bestimmung des Gottesbegriffes bemüht, während sie gleichermaßen abstrakte wie vermenschlichende Bilder gebraucht wie das vom allwissenden, allgütigen und allgegenwärtigen Vater oder das vom »Hintergrund der endlichen Dinge«, nehmen die Neurosen in den dichtbesiedelten Gebieten der Erde zu und werden zunehmend Kinder von ihren eigenen Eltern schwer mißhandelt oder totgeprügelt.
Zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert sind auf Betreiben der katholischen Kirche ungezählte Frauen auf Denunziation und abenteuerliche Beschuldigungen hin für Hexen erklärt, bestialisch gefoltert und bei lebendigem Leibe verbrannt worden — allein im Kurfürstentum Trier rund sechseinhalbtausend. Die Anklage lautete, sie seien »mit dem Teufel im Bunde« gewesen, hätten »Lastern« gefrönt und seien damit vom katholischen Glauben abgeirrt.
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In der berüchtigten Schrift »Der Hexenhammer« (deutsch von J.W.R. Schmidt, 3 Teile, 1922/23) ließen sich die beiden Inquisitoren Jakob Sprenger und Heinrich Institoris des Papstes Innozenz VIII. über das sogenannte Hexenwesen aus, beschrieben detailreich Foltermethoden und gaben in allen Einzelheiten an, wie die Frauen schließlich zu verbrennen seien.
Ungezählte, erschütternde Berichte schildern die Formen menschlicher Demütigung und der Indoktrination, wie sie in politischen Prozessen angewandt worden sind.
In Indien führt die Verehrung der heiligen Kühe dazu, daß die Gläubigen eher verhungern, als im Rind einen natürlichen Fleischlieferanten zu sehen.
Was im Namen Gottes, des Glaubens, des Volkes oder anderer abstrakter Begriffe unter Menschen geschieht, sind Exzesse, die einmal mehr die gefährliche, unberechenbare und zunehmend gegen den Menschen selbst gerichtete Aktivität des menschlichen Großhirns zeigen, eines Organs, das seine Träger auf Hundefriedhöfen Tränen vergießen läßt, aber nicht zögert, Napalmbomben gegen Kinder und Frauen einzusetzen und Straflager zu unterhalten, um friedliche Bürger zum Kommunismus zu bekehren.
Gewiß:
Gäbe es kein Gewissen unter den Menschen und hätten wir kein Mitleid, so wären die reichen Nationen nicht darauf gekommen, den ärmeren Wirtschaftshilfe zu gewähren. Es hätte uns der Ansporn dafür gefehlt, das »Gute« zu tun und das »Böse« zu lassen. Ethik und Moral haben dazu beigetragen, die Menschen voreinander zu schützen, um Kain-und-Abel-Geschichten zu verhüten, wie unvollkommen dies auch gelungen sein mag.
Wo aber Lebewesen alles tun, um sich gegenseitig zu erhalten und auch diejenigen sich fortpflanzen, die zum Leben der ständigen Hilfe anderer bedürfen, da wird die Zahl der Menschen bald das Maß dessen überschreiten, was die Erde noch ernähren, behausen und — vor allem — dem sie ein menschenwürdiges Leben bieten kann; ein Leben, das mehr ist als die Befriedigung elementar-biologischer Bedürfnisse.
Um ein konsequentes und ausnahmsloses Verhalten im Sinne der christlichen Ethik zu rechtfertigen, müßten wir in einer anderen Welt leben, als es die unsere ist.
Diese Welt müßte sich im selben Maß vergrößern, wie die Zahl der Menschen in ihr zunimmt, ihre Rohstoffvorräte müßten wachsen statt zu schrumpfen, und ein allwissender, irdischer Hausmeister hätte eine überdimensionale Klimaanlage und einen ebensolchen Müllschlucker zu bedienen, die für die Beseitigung der schlechten Luft und der Abfälle sorgten — nur dann könnten wir uns den Luxus ungezügelter Massenvermehrung leisten, die gewaltsam zu bremsen unsere Ethik und Moral uns heute verbieten.
Nur dann hätten wir immer wieder genügend Raum zur Verfügung, um voreinander ausweichen zu können und jenes herdenhafte Zusammenleben zu vermeiden, für das humane Regeln zu finden und durchzusetzen unserem Gehirn nicht gelungen ist.
Aber wir sind die Gefangenen dieses Organs. Wir werden ihm so wenig entrinnen wie unserem begrenzten Lebensraum, der Erde.
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Theo Löbsack 1974