Eine geistige Exzessivbildung? — Wenn jeder nur noch an sich selber denkt — Moral bröckelt — Zwei Begriffe
Wenn Menschen zu Sachen werden — Dr. Stones Perlenketten — Was Entwicklungshilfe anrichten kann — Inhumane Folgen humaner Taten
Die »Epimetheische Ethik« — Hubert Markl: »Überlebensethik« — Sind wir zur Hilfe verdammt? — Das Erbkrankenproblem
Genetische Manipulation ist noch kein Weg — Ein Papst beruft sich auf den lieben Gott.
152-170
Gäbe es eine überirdische Gerichtsbarkeit, so wären die Menschen für ihr naturzerstörendes, Tiere und Pflanzen ausrottendes und umweltverschmutzendes Treiben wahrscheinlich schon längst in ein riesiges Straflager gesperrt worden. Da eine solche Gerichtsbarkeit offenbar nicht existiert, sieht es so aus, als werde sich der Mensch selber für das bestrafen, was er auf der Erde anrichtet.
Es sieht ganz so aus, als werde er jetzt die Zeche dafür bezahlen müssen, daß er auf der Erde nicht wie ein guterzogener Gast, sondern anmaßend und überheblich aufgetreten ist. Er wird dafür büßen, indem seine Überlebenschancen durch seine Massenvermehrung und sein Anspruchsverhalten weiter sinken und schließlich ganz hinschwinden.
In den ersten Kapiteln dieses Buches haben wir versucht, die stammesgeschichtlichen Ursachen für jene folgenschwere menschliche Betriebsamkeit aufzudecken. Wir haben gesehen, welche Rolle das Gehirn dabei spielte.
Wir müssen jetzt fragen: Ist auch die menschliche Ethik in diesem Zusammenhang zu nennen? Ist sie, als Denkergebnis des Großhirns, gewissermaßen eine geistige Exzessivbildung? Liefert sie die Grundlage für ein Verhalten, das den Menschen auf lange Sicht bedroht, vergleichbar dem zu groß gewordenen Geweih der ausgestorbenen kanadischen Riesenhirsche?
Wir hätten in diesem Fall über die wohl heikelste Frage zu sprechen, die sich aus unserem Thema ergibt. Die Frage wäre: Würde der Mensch von seinen ethisch-moralischen Grundsätzen abrücken müssen, um zu überleben, und könnte er dies überhaupt?
Lassen wir den Gedanken einmal unvoreingenommen auf uns wirken. Was würde geschehen?
Würde eine Abkehr von ethisch-moralischen Verhaltensnormen den Untergang tatsächlich abwenden können, und würden wir dafür den Preis unmenschlicher Umgangsformen zu zahlen haben?
Wäre eine solche Welt dann noch das Überleben wert?
Oder würde es gar nichts nützen, würde der Verzicht auf diese Normen nur noch die Endphase eines in jedem Fall besiegelten Schicksals begleiten?
Wie auch immer:
Wie sähe, hypothetisch gefragt, ein Zusammenleben aus, wenn — mit allen Konsequenzen — jeder nur noch sich selbst der Nächste wäre?
Wie sähe das aus, wenn wir Menschen auf vieles von dem verzichteten, was uns erst zu Menschen gemacht hat, etwa das Mitgefühl, das Mitleid, den Schutz der Kranken und Schwachen?
Oder würde sich erweisen, daß dem Menschen der Übergang zu robusteren, rücksichtsloseren, ja grausamen Lebensformen auf die Dauer gar nicht gelänge, weil er damit unverlierbare Merkmale seines Menschseins aufgeben müßte?
Würde sich herausstellen, daß er all dies nicht einfach ablegen kann wie eine Schlangenhaut: Güte und Liebe, Ritterlichkeit und Großzügigkeit?
So beklemmend es klingen mag, aber es gibt schon handfeste Hinweise auf das Abbröckeln alter und ein Hinwenden zu neuen, wenn man so will, »respektloseren« Maßstäben — eine Entwicklung, die nachdenklich stimmen muß.
Ein Beispiel liefert die religiöse Szene: Während die Katholische Kirche weiter in unveränderter Einsichtslosigkeit am Verbot künstlicher empfängnisverhütender Mittel für ihre Gläubigen festhält, lockert sich die Moral eben jener Katholiken, vor allem soweit sie weniger »fest im Glauben« stehen. Diese Gläubigen beladen sich dabei vielleicht noch mit Gewissensbissen, was der Kirche dann im Beichtstuhl wieder zugute kommt — es ist aber kaum noch zu übersehen.
153
Deutlichere Zeichen sind die weltweit zunehmende Kriminalität, die um sich greifende Drogensucht und der Alkoholismus, die Kindesmißhandlungen, die zunehmenden Ehescheidungen. Es ist die sinkende Arbeitsmoral und der Verlust menschlicher Beziehungen unter dem Streß beruflicher und wirtschaftlicher Belastungen.
Mögen heute auch hauptsächlich die westlichen Industrieländer Schauplätze solcher Veränderungen sein, so ist doch unverkennbar, daß die Bereitschaft dazu kaum Ländergrenzen kennt und nur die äußeren Bedingungen dafür gegeben zu sein brauchen, um sie auszulösen.
Um dem Problem näherzukommen, gilt es zunächst nachzuweisen, daß hochgezüchtete Moral und Ethik tatsächlich das Überleben des Menschen gefährden können, oder sagen wir vorsichtiger: daß es Umstände gibt, unter denen diese unsere Tugenden fragwürdig werden.
Auf welche Grundaussagen menschlichen Selbstverständnisses gehen Ethik und Moral zurück und wie könnte, wenn überhaupt, von ihnen abgewichen werden?
Die Begriffe Ethik und Moral haben mit dem Sittlichen im Verhalten des Menschen zu tun.
Die Philosophen unterscheiden dabei das Motiv eines Handeln, also die Gesinnung, die ihm zugrunde liegt, von den Auswirkungen einer bestimmten Handlungsweise (Gesinnungs- bzw. Erfolgsethik). Man kann Ethik auch als eine Art normativer Anthropologie verstehen, wie es der Bochumer Philosoph Gustav Ermecke formuliert: Was der Mensch ist, das soll er als Gabe und Aufgabe bewahren und entfalten. Daher das Grundprinzip: »Sei, der du bist, werde, der du sein kannst.« Es ist jedoch schwer, wirklich verbindliche Maßstäbe dafür aufzustellen, was im einzelnen ethisch-sittliches Handeln ausmacht. Zu unterschiedlich sind die ethischen Grundprinzipien unter den Völkern, zu sehr hat sich das »Ethos« in den Jahrhunderten auch von Land zu Land gewandelt.
Trotzdem gibt es sittliche Normen, zu denen sich »normaldenkenden« Menschen bekennen können. Dazu gehören die Regeln und Gebote für ein gedeihliches Zusammenleben in der Ehe, Familie und Gesellschaft: die Forderung etwa, den Nachbarn nicht zu töten, ihn nicht zu bestehlen oder zu ärgern, hilfsbereit und ehrlich zu sein, Kranken zu helfen, Tiere und Pflanzen zu schützen und ähnliches mehr.
154
Unter Christen bilden die »Zehn Gebote« die Richtschnur für die Art zu leben. Wir wollen hier aber keinen Ausflug in philosophische Schulen oder Glaubensbekenntnisse unternehmen, soweit sie Aussagen zu Moral und Ethik machen. Es genügt festzuhalten, daß es ein - wenn auch nicht genau zu definierendes - Maß an Übereinstimmung der meisten Menschen darüber gibt, was sittlich gut und was tadelnswert ist.
Vermutlich gehen diese Tugenden auf früheste Erfahrungen zurück. Schon der Altsteinzeitmensch wird die Spielarten des »Gegeneinander«, des schädigenden Verhaltens innerhalb der Gruppe mit seinen meist unerfreulichen Auswirkungen auf das eigene Leben als nachteilig und demgemäß verwerflich erkannt haben. Derjenige dagegen, der sich entsprechend der sittlichen Normen verhielt, gewann Achtung und Freunde und trug damit auch zum eigenen Überleben und dem der Gruppe bei.
Doch die ausgeprägtesten Formen ethisch-moralischen Verhaltens, welch hohen Wert sie an sich auch haben mögen, verlieren mit zunehmender Menschenzahl offenbar auch wieder an Bedeutung, wenn man einmal ihre langfristigen Folgen bedenkt. Ein Beispiel dafür ist der christliche Auftrag, »den Nächsten zu lieben wie sich selbst«, im Verein mit der biblischen Aufforderung, sich zu mehren und sich »die Erde Untertan« zu machen. Denn nachdem letzteres geschehen ist und weiter geschieht, stehen wir nicht nur vor einer schon katastrophalen Bevölkerungslawine, vor Umweltverschmutzung und schwindenden Rohstoffreserven, sondern auch vor der Tatsache, daß altruistische, also selbstlose Grundhaltungen wie die des bedingungslosen Helfens oder des Mitleids auf die Dauer gesehen umschlagen können und sich schlicht als inhuman erweisen. Dies wird zu begründen sein.
155
Die Welt um die Zeitwende ist noch in jeder Hinsicht anders gewesen als die Welt von heute. Auch damals trugen die Menschen an ihren Sorgen und Nöten, doch war das Leben insgesamt überschaubarer und eher vorausplanbar. Die Probleme ließen sich auf einfachere Nenner bringen, denn die Komplizierung des Lebens, wie sie die moderne Technik und Industrie und der ständig sich beschleunigende »Fortschritt« mit sich gebracht haben, fehlten noch. Die Welt von heute ist im Vergleich zu damals auch kleiner geworden. Unsere Nachrichtentechnik, die Verkehrsmittel haben sie schrumpfen lassen, während die Probleme der Menschen untereinander eher zugenommen haben.
In einer der menschlichen Arbeit gewidmeten Sozialenzyklika von Papst Johannes Paul II. aus dem Herbst 1981 liest man beispielsweise, der Mensch müsse »Vorrang vor den Dingen« genießen. Wäre nicht bereits ein beängstigender Trend in entgegengesetzter Richtung zu verzeichnen, so hätte sich dieses Wort wahrscheinlich erübrigt. Tatsächlich liegt dem päpstlichen Appell die leicht zu bestätigende Beobachtung zugrunde, daß der Mensch sich heute immer stärker von seinen Maschinen, seinen Apparaten, von zahllosen »Dingen« beherrschen läßt und sein eigentliches Wesen, sein fühlendes und empfindendes Ich zugleich mehr und mehr verkümmert.
Man sehe nur die vom Motor, von der Elektronik, von tausenderlei technischen Freizeitspielereien begeisterte Jugend von heute, die schon früh damit anfängt, Apparate der verschiedensten Art und zu den unterschiedlichsten Zwecken in ihr Leben zu integrieren und um sich anzuhäufen — »Dinge«, von deren Funktionieren oder Versagen nicht selten ihre Laune abhängt. Bedrückend dabei ist, daß die Geschicklichkeit im Umgang mit dem Apparat zunehmend auch die Voraussetzung für bestimmte Berufe bildet und damit zum Wertmaßstab eines Menschen wird — ablesbar an seiner Position und der Höhe seines Verdienstes.
Aus Tokio stammt eine Untersuchung des Soziologen Hidetoshi Kato, wonach der Großstadtmensch eine bemerkenswerte Routine darin besitze, seine Mitmenschen auf der Straße zu übersehen, sie gewissermaßen nur als Dinge, als Sachen wahrzunehmen, und dies aus dem einzigen Grund, um sich nicht fortgesetzt psychisch engagieren zu müssen.
156
Die Großstädter, so Kato, interessierten sich nicht oder doch viel weniger für ihre Mitmenschen als die Dörfler, die sich grüßten, wenn sie sich begegnen. Für den Städter könne es zum Streß werden, wenn er sich mit anderen Menschen als »Personen« einlasse. »Einerseits gibt es viele Menschen, andererseits gibt es niemanden«, beklagte Kato die Lage in den Städten, »es gibt nur eine Riesenanhäufung einander fremder Personen ohne gegenseitige Gemeinschaftswirkung.«
Solchen Tatbeständen, die mehr das Individuum betreffen und sicher mitverantwortlich sind für die »Einsamkeit in der Masse« in den Industriegesellschaften, gehen Probleme größerer Dimension einher, die viel schwieriger zu erfassen sind. Eines davon betrifft den Menschenzuwachs in den übervölkerten Hungergebieten der Erde und die Frage, wie den dort ungestüm sprudelnden Quellen menschlichen Lebens auf die Dauer von den begüterten Nationen begegnet werden sollte. Versucht man, das Problem zu analysieren, um eine Lösung zu finden, so zeigt sich sofort, daß es mit anderen Problemen eng vernetzt ist, was die Lösung erschwert oder gar unmöglich macht.
Die Bemühungen um eine wirksame Geburtenkontrolle sind in den Entwicklungsländern bisher nur wenig erfolgreich gewesen — aus mancherlei Gründen. Einerseits sind viele Menschen in diesen Ländern wegen ihrer religiösen Überzeugung abgeneigt, nachhaltige Methoden zur Empfängnisverhütung anzuwenden. Zum anderen ist für viele gerade der ärmsten Menschen dort ein zahlreicher Nachwuchs noch immer die vermeintlich beste Altersversorgung. Vor allem aber steht das wachsende Analphabetentum allen jenen Verhütungspraktiken entgegen, die ein Minimum an eigener Denkarbeit verlangen.
Erinnert sei an den Versuch des New Yorker Arztes Dr. A. Stone in den fünfziger Jahren, der das Bevölkerungswachstum in Indien mit einer - wie ihm schien - narrensicheren Methode zu bremsen hoffte.
157
Stone hatte ein einfaches Verfahren ersonnen, um die Inderinnen über die fruchtbaren und unfruchtbaren Tage im Monatszyklus der Frau aufzuklären. Er ließ in den Dörfern rosenkranzähnliche »Perlenketten« aus verschieden gefärbten Holzkugeln verteilen und gab bekannt, daß es sich um eine Art Kalender handele. Die Frauen sollten die Ketten an die Wand hängen oder um den Hals tragen und täglich eine Kugel von der linken auf die rechte Seite schieben. Die Ketten begannen mit vier roten Kugeln für die Tage der Regelblutung. Es folgten fünf grüne Kugeln für die »ungefährlichen« Tage, neun schwarze und außerdem eckige Perlen (um sie auch im Dunkel ertasten zu können) für die »verbotenen« Tage vor und nach dem Eisprung und schließlich zehn grüne Kugeln für die sichere Zeit vor der nächsten Regel.
Stone hatte alles gut bedacht. Nachdem er sich auch der Hilfe ortsansässiger Hebammen bedienen konnte, war er vom Gelingen seines Plans überzeugt. Doch hatte er die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Vielfach gerieten die Ketten als willkommenes Spielzeug in die Hände der Kinder, weil die Frauen ihren Sinn beim besten Willen nicht begriffen. Andere legten die Ketten in die Schränke und kümmerten sich nicht weiter darum. Wieder andere erwarteten eine Art Zauberwirkung allein davon, daß sie die Holzperlen als Schmuck trugen. Eine Dorfbewohnerin beklagte sich: »Ich bin schon wieder schwanger, mein letztes Baby habe ich vor einem Jahr geboren, und ich habe doch die nichtswürdigen Perlen die ganze Zeit um den Hals gehabt!« Schließlich gab es Frauen, die die »Wartezeiten« abkürzten, indem sie die eckigen Perlen je nach Bedarf zur Seite schoben, gegebenenfalls auch alle auf einmal. Nichtsdestoweniger wunderten sie sich dann, wenn der Sinneslust der Kindersegen folgte.
Während Medizin und Sozialhygiene in den Entwicklungsländern zunehmend wirksam werden, während die Sterberate weiter sinkt und immer mehr einst an Krankheiten früh verstorbene Kinder ins fortpflanzungsfähige Alter gelangen, wächst natürlich die moralische Verpflichtung der reicheren Nationen, zu helfen. Doch sind dieser Hilfe Grenzen gesetzt, und dies zumal unter dem Druck wachsender Preise für die Energieversorgung. Hinzu kommt, daß Hilfsgüter für die Dürre- und Hungergebiete ihre Ziele oft nicht erreichen. Sie werden falschen Adressen zugeleitet oder kommen wegen bestehender Transportprobleme gar nicht erst oder nur verdorben dorthin, wo sie am dringendsten benötigt würden.
158
Trotzdem strengen sich zumindest die westlichen Industrienationen an, das Elend in der Dritten Welt so gut es geht zu lindern. Viel erhofft man sich dabei aus der Lieferung von »Technologien«, um die Ernteerträge zu erhöhen. Großunternehmen investieren stattliche Summen, bauen Bewässerungsanlagen, liefern Traktoren und andere Landmaschinen, künstlichen Dünger und Pflanzenschutzmittel. All dies soll die drohende Entwicklung aufhalten und den Menschen ein Auskommen sichern. »Hilfe zur Selbsthilfe für die armen Länder« — so umschreibt man diese Form der Gewissensentlastung und ist überzeugt, ein gutes Werk getan zu haben.
Tatsächlich kommen solche Hilfen den geplagten Bewohnern der Entwicklungsländer vielerorts auch gelegen. Doch fördern sie andererseits auch unerwünschte Nebenwirkungen. Denn indem man die Landwirtschaft ankurbelt, entstehen Großbetriebe, und mit dem wachsenden Maschinenpark verlieren mehr und mehr landwirtschaftlich tätige Menschen ihre Arbeitsplätze. Der »Fortschritt« verdrängt sie aus den angestammten Verhältnissen, sie wandern in die Städte ab. Hier wartet dann aber nicht das Paradies auf sie, sondern ein meist kümmerliches Leben in den Slums, wo sie das Elendsproletariat vermehren.
Der herkömmlichen Entwicklungshilfe liegt noch ein weiterer Trugschluß zugrunde. Er besteht darin, daß man einen — nicht eintretenden — Rückgang der Geburtenrate erwartet oder glaubt, die Bevölkerungen in den Hungergebieten könnten mit Hilfe der landwirtschaftlichen Hilfsmaßnahmen erst einmal ungehindert weiterwachsen (was das Problem nur verschiebt, nicht löst).
159
Noch ärger wird das Dilemma, wenn man meint, statt der Technologien nur genügend Nahrungsmittel in die Hungergebiete liefern zu brauchen, um die Darbenden dort vor dem Tode zu bewahren. Vordergründig und kurzfristig stimmt zwar auch dies. Denn Nahrungsmittel, Medikamente, Decken, Zelte und Wasseraufbereitungsanlagen lindern die erste Not. Auf die Dauer jedoch geschieht Unerwünschtes, Man muß ja davon ausgehen, daß es sich bei den Dürrezonen und den schon übervölkerten Hungergebieten der Erde um Landstriche handelt, die normalerweise nur sehr viel weniger Menschen ernähren könnten, als es dank der Hilfe von außen der Fall ist.
Als Folge der »Rettungsmaßnahmen« vermehren sich die Überlebenden weiter, und nach einiger Zeit existieren noch viel mehr Menschen, die um Hilfe rufen. Es herrscht weitaus größere Not. Die Industrieländer sehen sich also vor der Aufgabe, entweder noch mehr Hilfe zu leisten — hier wären die »Grenzen des Wachstums« sicher bald erreicht — oder aber zuzusehen, wie nicht nur einige Tausend, sondern vielleicht Zehntausende von Menschen verhungern. Durch die Verflechtung der Probleme kann so die ursprünglich humane Tat zutiefst inhumane Folgen haben, weil sie letztlich zu mehr Leiden führt.
Wir müssen uns aber darüber klar sein, daß wir Menschen — in diesem Fall die Angehörigen der bessergestellten Industriegesellschaften — gar nicht anders handeln können, als den Betroffenen in ihrer aktuellen Notsituation zu helfen. Das verlangen die Gebote der Humanität. Und so werden sich die Leiden der Betroffenen — ausgelöst vor allem durch den wachsenden Bevölkerungsdruck — in jedem Fall vermehren. Das Elend wird so lange größer werden, wie nicht höhere Gewalt — etwa eigener Notstand in den Industrieländern — die Hilfeleistungen versiegen läßt und damit ein Ende mit Schrecken setzt.
Das Problem würde dann gelöst, indem die Natur in jenen Gebieten die Bewohnerzahl durch Massensterben gewaltsam an die vorhandenen Wohn- und Ernährungsmöglichkeiten anpaßt.
In einem Essay unter dem Titel »Die Kirchen zwischen Wachstum und globalem Gleichgewicht« schreibt zu diesem Problem der amerikanische Systemanalytiker Jay W. Forrester18:
160/161
»Humanität veranlaßt dazu, dem weniger vom Glück begünstigten Menschen beizustehen. Aber dieser Beistand basiert gegenwärtig auf einer viel zu einfachen Betrachtungsweise und bezieht sich meist auf unmittelbar erreichbare Ziele. Lang- und kurzfristige Ziele pflegen sich jedoch oft zu widersprechen. Wann führt Hilfe in der Gegenwart zu vermehrten Übeln in der Zukunft?
Betrachten wir ein stark übervölkertes Land. Der Lebensstandard ist niedrig, die Menschen sind unterernährt, befinden sich in schlechtem Allgemeinzustand, kurz, es herrscht Elend. In dieser Situation ist eine Bevölkerung allen Naturereignissen besonders stark ausgesetzt. Nahrungsmittel kann man nicht einfach kaufen, und alle medizinischen Einrichtungen sind ständig hoffnungslos überlastet. Eine Flut macht nun Tausende obdachlos; aber ist eigentlich die Flut daran schuld oder die Tatsache, daß die Bevölkerungsballung Tausende dazu zwingt, in flutgefährdeten Gebieten zu wohnen? Dürren führen zu Hungerkatastrophen, aber sind daran ursächlich die Wetterereignisse schuld oder die Bevölkerungszahl, die das Anlegen von Lebensmittelvorräten verunmöglicht? Das Land ist in einem prekären Zustand, in dem alle Widrigkeiten in ein Ansteigen der Sterberate umschlagen.
Dieser Vorgang ist im Grund nichts weiter als ein Teil des natürlichen Regelmechanismus, der weiteren Bevölkerungszuwachs limitiert. Nun aber kommt es nach jedem Naturereignis aus humanitären Impulsen zu beträchtlichen Hilfeleistungen von außen mit dem Ergebnis, daß die geretteten Menschen erneut zum Bevölkerungswachstum beitragen. Je höher aber Bevölkerungszahl und Ballungsgrad sind, um so verwundbarer wird das Land. Epidemien drohen, es kommt noch öfter zu Katastrophen, die weitere Hilfeleistungen von außen erheischen. Und diese wiederum haben noch größere Menschenmassen in erbärmlicher Lage zur Folge und erhöhen die Notwendigkeit für weitere Hilfeleistungen, bis schließlich ein Zustand eintreten kann, in dem jede Hilfsaktion versagt.«
Unser Moralkodex, die christliche Nächstenliebe, die Humanität oder was immer man an menschlichen Tugenden dafür nennen mag — verbieten es, Menschen einem elenden oder gar tödlichen Schicksal zu überlassen, solange eine auch nur irgendwie geartete Hilfe möglich ist, eine Hilfe, die das Desaster dann allerdings vorprogrammiert. So werden sie die Opfer unseres denkenden und empfindenden Gehirns.
161
Einer der Wissenschaftler, die zu diesen Fragen scharfsinnig argumentiert haben, ist der amerikanische Bevölkerungsexperte Garrett Hardin [26]. Er stellt fest, daß die Geschichte der Entwicklungshilfe voll von tragischen Irrtümern sei, und er fragt zu Recht: »Wie weiß man eigentlich im voraus, ob Hilfe wirksam ist?«
In Afrika, so Hardin, hätten wir wohlmeinend Dämme gebaut, die eine Zunahme von Krankheiten zur Folge hatten, für Südostasien hätten sich die eingeführten Insektizide schädlich für die Bauern ausgewirkt. Nach Indien sei »Wunderweizen« geschafft worden, der die Reichen noch reicher, die Arbeitslosigkeit noch größer gemacht und die Landflucht intensiviert habe.
»Das alles lehrt«, schreibt Hardin,
»wie zweifelhaft Hilfe ist, die man armen Ländern gleichsam aufzwingt. Vollends schlimm ist aber, wenn man <hilft>, indem man Nahrung zur Verfügung stellt. Denn diese Soforthilfe trägt einen bösen Zeitzünder in sich.
1965 schickten die Vereinigten Staaten zur Bekämpfung einer Hungersnot zehn Millionen Tonnen Getreide nach Indien. Dieses Korn drückte den Getreidepreis und hielt die indischen Bauern davon ab, selber Getreide anzubauen. Da es deshalb zur nächsten Erntezeit wiederum Hunger gab, schickten die Amerikaner erneut zehn Millionen Tonnen, aber diesmal kam das Getreide mit einer Nachricht: Mehr gibt es nicht!
Indische Politiker reagierten indigniert, aber natürlich war diese Nachricht aus Washington vernünftig. Als nämlich das Hilfsgetreide vom Markt war und keine Aussicht auf weitere Hilfslieferungen bestand, stieg der Getreidepreis. Also bauten indische Bauern mehr Getreide an. Also wurde mehr geerntet.
Die Vereinigten Staaten halfen 1965 mit ihrem Getreide nach einem Prinzip, das ich die <Epimetheische Ethik> nenne. Epimetheus war in der griechischen Mythologie derjenige, der zwar einsah, wenn er etwas falsch gemacht hatte, aber nie die Konsequenzen seines Handelns vorauszusehen vermochte. Im Unterschied zu dieser <Epimetheischen Ethik> brauchen wir in der Entwicklungshilfe, was ich die <Prometheische Ethik> nenne: eine Ethik, die langfristige Folgen bedenkt.
Diese Hilfe basiert auf der Einsicht, daß jedes Land eine Grenze der Belastbarkeit hat. Sehr simpel: Wer eine Weide besitzt, die mit 100 Kühen ausgelastet ist, wird diese Weide ruinieren, wenn er 110 Kühe auf ihr grasen läßt. Genau dieses Prinzip gilt auch für Menschen.
Ich weiß, daß man Mut haben muß, um ein <Prometheaner> zu sein. Aber ohne Mut ist das Problem, von dem hier die Rede ist, nicht lösbar. Viele Führer armer Länder sind genau deshalb Gegner der <Prometheischen Ethik>. Wenn sie nämlich auch künftig die reichen Länder überreden können, Nahrung in ihre übervölkerten Länder zu schicken, können sie sich weiter vor mutigen Entscheidungen drücken.Eine Nation, die über permanente Versorgungsengpässe klagt, ist eine überbevölkerte Nation. Es ist widersinnig und langfristig mörderisch, ihr zu weiterem Bevölkerungswachstum zu verhelfen. <Prometheische Ethik> verbietet solche Hilfe. Genau deshalb ist sie die einzige wirklich humane Hilfe.«
Solchen Überlegungen wird man kaum widersprechen wollen. Trotzdem muß gefragt werden: Würde eine prometheische Ethik im Hardinschen Sinn die Not lindern, das Bevölkerungsproblem entschärfen, die Lage der Menschen wirklich bessern können? Setzte sie bei den Betroffenen nicht vor allem Einsichtsfähigkeit dafür voraus, daß mit der Verweigerung von (im Lieferland überschüssiger) Nahrung nur ihr Bestes gewollt sei? Würde verweigerte Hilfe nicht Feindseligkeit heraufbeschwören?
Hier scheint doch der Wunsch der Vater des Gedanken zu sein und unterschätzt zu werden, welche politischen und sozialen Kräfte freigesetzt würden, wenn der »Neid der Besitzlosen« in den armen Ländern erst einmal überschäumt und sich Luft zu machen beginnt.
162-163
Allzuviel Einsicht scheint auch der prominente deutsche Biologe Hubert Markl vorauszusetzen, wenn er meint, mit einer »Überlebensethik« das Rezept zur Lösung der verfahrenen Situation zu besitzen [41]. Die Menschheit, stellt Markl fest, nähere sich unaufhaltsam einer singulären neuen Lage. Sie habe nur Aussicht zu überdauern, wenn sie sich im globalen Gesamtsystem der Biosphäre, das immer stärker durch das Gesamtwirtschaftssystem der Menschheit beeinfluß werde, als langfristig »fit« erweise. In dieser Situation müsse die »Vermehrungsfitneß« als Bewertungskriterium der biologischen Evolution abgelöst werden durch eine »Wertfunktion«. »An die Stelle des Darwinschen Fitneßimperativs«, schreibt Markl, »muß eine auf Einsicht gegründete und verantwortete Überlebensethik treten ... Der Mensch ist das erste Lebewesen, das die Fähigkeit dazu entwickelt hat und das unumgänglich auf ihre Anwendung angewiesen ist ...«
Das klingt gut, aber ist es nicht pure Theorie?
Erst einmal müßten wir erfahren, was da konkret unter einer »Überlebensethik« verstanden werden sollte — und wer unter den etablierten »Sachverständigen«, die Amt und Würden zu verlieren hätten, ließe da schon die Katze aus dem Sack? Zum anderen dürfte zweifelhaft sein, ob der Mensch, wie Markl meint, zu einer wie immer gearteten Ethik des Überlebens noch fähig wäre, also zu einem Verhalten, das unweigerlich an die Wurzeln menschlichen Selbstverständnisses rüttelte.
Vergegenwärtigen wir uns, daß Hunger und Übervölkerung namentlich in der Dritten Welt rasch zunehmen und mit dem wachsenden Elend auch rationale, vernunftbezogene Kräfte von den betroffenen Menschen immer weniger erwartet werden können.
164
Ratschläge zur Empfängnisverhütung, Verbote, den Wald zu roden oder dem Umweltschutz zuliebe auf solche Industrieprodukte zu verzichten, die angesichts der Ernährungsnot den ausgelaugten Ackern immer noch einmal chemische Korsettstangen einziehen, solche wohlfeilen Belehrungen würden von ihnen wahrscheinlich mit bitterem Hohn quittiert. Sie würden als von Leuten herrührend aufgefaßt werden, die vom sicheren Hort ihres Wohlstandes doch nur ihren eigenen Vorteil suchen.
Zwar können wir uns alle nur wünschen, daß es zu einer gemeinschaftlichen Anstrengung komme, um das »Überleben des Übersystems Menschheit« (Markl) zu ermöglichen, aber wir sollten auch die dafür bestehenden Möglichkeiten realistisch sehen.
In welche Verlegenheit uns Moral und Mitgefühl, Verantwortungsbewußtsein und Nächstenliebe bringen können, wird besonders im Hinblick auf die Erbkrankheiten deutlich. Über diese Dinge zu sprechen, ist zwar in Deutschland auch heute noch, viele Jahre nach der Naziherrschaft, nicht einfach. Die fälschliche, demagogische Auslegung von Erkenntnissen der Genetik hatte seinerzeit zu jenen Unmenschlichkeiten geführt, die manchem von uns noch in schrecklicher Erinnerung sind. Wer noch weiß, was damals im »Rassenwahn« nach dem Motto »Vernichtung lebensunwerten Lebens« geschehen ist, der versteht die Zurückhaltung diesem Thema gegenüber auch heute noch.
Trotzdem muß hier eine Frage aufgeworfen werden, die sich in jedem Fall den nächsten Generationen stellen wird. Es geht dabei nicht so sehr um einzelne Erbleiden, deren allmähliche Ausbreitung Sorge bereiten muß wie etwa die Zuckerkrankheit. Es geht vielmehr um allgemeine Verhaltensweisen und Einflüsse in der modernen Welt, die die Erbanlagen des Menschen schwächen und schädigen — allen voran der Umgang mit der Radioaktivität und mit bestimmten <mutagenen> Chemikalien.
Das Problem, das sich daraus ergibt, ist deswegen so heikel, weil alle Versuche, die Entwicklung aufzuhalten, entweder einen Eingriff in die persönliche Freiheit des einzelnen Bürgers bedeuten oder aber einen kaum zumutbaren Verzicht auf mühsam erkämpfte Annehmlichkeiten unseres Lebens bedingen würden.
165
Wir haben schon im 1. Kapitel auf die Ursachen hingewiesen, die zu diesem »schleichenden Erbverfall« führen. Einige Fragen stehen noch im Raum. Gehen wir davon aus, daß der Mensch das in der Natur wirkende Auslesegesetz für seine Person nicht nur entschärft, sondern praktisch ganz ausgeschaltet hat. Während in der freien Wildbahn Tiere und Pflanzen mit nachteiligen Merkmalen von den vorteilhafter angepaßten Artgenossen allmählich verdrängt werden, erhalten wir Menschen aufgrund unserer Ethik und Moral auch die erbbiologisch Kranken so gut es geht am Leben, und wir tun dies mit den Fortschritten der Medizin immer erfolgreicher.
Wir tun es ganz selbstverständlich, ohne viel dagegen zu unternehmen, daß in diesen Fällen natürlich auch die krankmachenden Merkmale weiter verbreitet werden können. Selbst die Fruchtbarkeit eines Menschen können wir gegebenenfalls medikamentös oder chirurgisch wiederherstellen, wenn sie wegen eines Erbleidens gelitten hat — und wir tun es auch. So entpuppt sich auch hier ein auf kurze Sicht und am einzelnen Betroffenen gemessen zutiefst humanes Handeln als gefährlich für den Fortbestand des Homo sapiens, wenn man seine Folgen auf längere Sicht bedenkt.
Allerdings darf man nicht verkennen, daß es in unserer Gesellschaft auch positive Einflüsse auf die Erbausstattung des Menschen gibt. Dazu gehört das allgemein frühere Heiratsalter. Je jünger zwei Menschen heiraten und je eher sie Kinder haben, um so weniger konnten äußere Einwirkungen wie Röntgenstrahlen oder mutagene Chemikalien ihre Keimdrüsen erreichen und die Erbanlagen schädigen. Zweitens werden die meisten schädlichen Erbanlagen rezessiv vererbt, das heißt, die Träger der kranken Gene erscheinen äußerlich nur dann krank, wenn sie die krankmachenden Anlagen von beiden Elternteilen geerbt haben. Das ist jedoch um so seltener der Fall, je stärker eine Bevölkerung genetisch durchmischt ist, je unterschiedlicher also die Erbanlagenbestände der Ehepartner sind.
166
Bei der großen Reiselust und dank der modernen Verkehrsmittel lernen sich heute zunehmend weit auseinander wohnende Menschen kennen und heiraten auch. So kommt es zu einer Vermischung recht unterschiedlicher Anlagenbestände: Auto, Eisenbahn und Flugzeug bewirken eine Maskierung des Erbverfalls, denn die rezessiv vererbten Gene werden zwar weitergegeben und können sich auch vermehren, aber die betreffenden Krankheiten können nur dann durchbrechen, wenn zwei gleichsinnig veränderte Partnergene zusammentreffen. So breiten sich die kranken Anlagen unter der Oberfläche einer scheinbar noch gesunden Bevölkerung aus, bis der Durchmischungsprozeß seinen Höhepunkt überschritten hat.
Während man darüber streiten mag, ob dies eine erfreuliche Nachricht ist, bedeutet die Möglichkeit, sich nach einer genetischen Beratung entsprechend verantwortungsbewußt zu verhalten, zumindest in den westlichen Industrieländern einen wichtigen Fortschritt. Die Frage bleibt aber, wie wirkungsvoll genetische Beratung und frühes Heiratsalter auf die Dauer sein können, wenn die erbschädigenden Einflüsse in unserer Zivilisation weiter zunehmen, zumal, wenn wir die Entwicklungsländer in die Rechnung mit einbeziehen. Wenn beispielsweise in Indien oder Brasilien die Bemühungen um die Geburtenkontrolle schon am Ausmaß des Problems scheitern, wie wollte man dann ein so kompliziertes Verfahren wie die genetische Beratung in nennenswertem Umfang erfolgreich praktizieren? Dort, wo die Bevölkerungen mit Vermehrungsraten von drei und vier Prozent wachsen, werden die Menschenlawine, das Elend, die Personal- und Kostenfrage jedem solchen Versuch erhebliche Barrieren entgegensetzen.
Auch muß gerade hier die Kehrseite der Frühehen bedacht werden. Je früher eine Frau heiratet, um so größer ist normalerweise die Zahl der Kinder, denen sie das Leben schenken kann. Um so kleiner ist auch der Abstand zwischen den Generationen. Man vergegenwärtige sich einmal, daß es bereits im Jahre 1990 in den Entwicklungsländern über eine Milliarde heiratsfähiger junger Leute zwischen 15 und 29 Jahren geben wird, die ganz entscheidend am Wachstum der Weltbevölkerung (wahrscheinlich dann mit einem fühlbaren Schub) beitragen werden.[54]
167
Doch zurück zu unserem Problem.
Langfristig werden wir wohl davon ausgehen müssen, daß Medizin und technischer Fortschritt die Zahl der lebenden Erbkranken erhöhen, und daß auch die äußerlich gesunden Menschen mehr und mehr nachteilige Gene in sich tragen, die spätere Generationen belasten werden.
In letzter Zeit hört man oft, die sogenannte genetische Manipulation könnte hier zum Retter in der Not werden. Darunter versteht man künstliche Eingriffe in die Erbsubstanz DNS, wie sie heute bei einfachen Lebewesen schon zur Routine geworden sind. Ein Beispiel: Nach der Entdeckung der sogenannten Schneide-Enzyme ist es möglich geworden, DNS-Erbträger-Moleküle bei Bakterien sozusagen auseinanderzuschneiden und sie mittels anderer, »Ligasen« genannter Enzyme wieder neu zu kombinieren. Auf diese Weise können Einzeller zu Produzenten begehrter Zellprodukte »umfunktioniert« werden, etwa zu kleinen Interferon-Fabriken (Interferon ist eine körpereigene Substanz, von der sich die Medizin unter anderem bei der Krebsbehandlung Hilfe erhofft).
So interessant es jedoch sein mag, eines Tages etwa mit Hilfe harmloser Viren oder Bakterien gesunde Anlagen in die Körper Erbkranker einzuschleusen, so ist die genetische Manipulation doch noch lange kein Instrument, um den befürchteten Erbverfall aufzuhalten — falls dies überhaupt je möglich sein sollte. Denn weder wissen wir schon Genaues darüber, wo auf den menschlichen Chromosomen bestimmte Anlagen zu suchen wären, noch ist jeweils bekannt, wie viele Gene an der Ausprägung bestimmter Merkmale mitwirken, noch bestehen die technischen Voraussetzungen für eine genetische Therapie im großen Maßstab. Wir können nicht wie mit einer feinen Pinzette ein schädliches Gen im Chromosom oder im DNS-Erbträger-Molekül ergreifen und herauslösen, um es dann gezielt durch ein gesundes zu ersetzen und für diese Behandlung etwa mit einem rollenden Ambulatorium durch die Lande fahren.
168/169
Welche Schlüsse sind nun nach Lage der Dinge zu ziehen?
Wahrscheinlich ist es so, daß - bei einer rasch wachsenden Erdbevölkerung von demnächst fünf Milliarden - der Appell an die Vernunft bei den weitaus meisten Erdenbürgern ungehört verhallen wird.
Schon der Hinweis, daß es für den einen oder anderen besser wäre, keine Kinder zu haben, würde als Eingriff in das Persönlichkeitsrecht empfunden oder als gegen die göttliche Weltordnung gerichtet aufgefaßt und abgelehnt werden. Das aber würde bedeuten: Mit dem Fortschritt von Medizin und Technik werden auch die Erbschäden unter den Menschen unaufhaltsam zunehmen. Sie werden sich vermehren als Folge eines legalen, humanitären, gewünschten und in einer zivilisierten Gesellschaft auch gar nicht vermeidbaren Verhaltens. Immer wieder werden wir die Frage erfolgreich verdrängen, ob unser helfendes Mitleid, ob christliche Nächstenliebe bloß den heute lebenden Menschen zugute kommen sollten oder ob sie nicht auch den nach uns Kommenden gelten müßten.
Andererseits spricht vieles dafür, daß die Menschen in ihrer großen Mehrheit nur solange zu hilfreicher »Nächstenliebe« bereit und willens sein werden, wie es ihnen vergleichsweise gut geht, und daß sie im selben Maße, wie der Existenzkampf härter wird, egoistischer zu denken beginnen und schließlich auch einfache Gebote der Humanität mißachten werden. Damit würde eine weltweite Entwicklung einsetzen, die heute noch kaum vorstellbar ist.
Die Kirchenvertreter - soweit es bis jetzt erkennbar ist - scheinen die Anzeichen dafür nur ungern zur Kenntnis zu nehmen. Statt dessen bringen sie tröstend vor, das Menschenleben sei gottgewollt, und jeder Eingriff etwa in den Sittenkodex käme einem Rückfall in die Barbarei gleich. Auf die Entgegnung, damit befänden sich die Betroffenen in der Situation eines Blinddarmkranken, dem die rettende Operation versagt bleibt, weil sie verboten sei, würde es nur ein Achselzucken geben.
Es würde heißen, der Mensch habe sich gegebenenfalls gläubig seinem Schicksal zu fügen. Man wird vielleicht auf eine Stelle in der Sozial-Enzyklika von Papst Johannes 23 vom Juli 1961 pochen, wo es heißt:
»Gott hat in seiner Güte und Weisheit in die Natur unerschöpfliche Hilfsquellen gelegt und hat den Menschen Verstand und schöpferische Kraft gegeben, sich die geeigneten Werkzeuge zu beschaffen, um sich ihrer zu bemächtigen und sie zur Befriedigung der Bedürfnisse und Erfordernisse des Lebens einsetzbar zu machen.
Deshalb ist die grundlegende Lösung des Problems nicht in Mitteln zu suchen, welche die von Gott eingerichtete Ordnung verletzen und sich gegen die Quellen des menschlichen Lebens selbst richten, sondern in einem erneuerten wissenschaftlich-technischen Bemühen des Menschen, seine Herrschaft über die Natur zu vertiefen und auszuweiten. Die von der Wissenschaft und Technik schon erreichten Fortschritte eröffnen auf diesem Weg unbegrenzte Horizonte...«
Inzwischen wird es immer ungewisser, welche Autorität die Kirche dereinst noch haben wird, wenn der Menschheit, um es salopp zu sagen, das Wasser bis zum Halse steht und täglich offenkundiger wird, daß Gebete weder Nahrung noch Wohnraum, noch alle anderen Bedingungen eines menschenwürdigen Überlebens auf der Erde herbeizaubern können.
In einer vielleicht nicht mehr sehr fernen Zukunft werden statt dessen viel Tränen und Leid auf den Homo sapiens warten, zumal ihm möglicherweise nicht viel Zeit bleiben wird, sich allmählich an die gewandelte Situation zu gewöhnen.
Von der Ethik, die ihn einst über das Tier erhob, wird vieles abbröckeln. Und manches spricht dafür, daß wir schon auf dem Wege dahin sind.
170
#
* (d-2013:) Auf Seite 233 Papst J-P-23 über Verhütung, 1982
Die letzten Jahre der Menschheit Vom Anfang und Ende des Homo sapiens 1983 Theo Löbsack