Das Spekulative dieses Kapitels — Drei Milliarden Tote zu Lebzeiten unserer Kindeskinder? — Zur Unausweichlichkeit — Die Sahel-Zone als Modell — Schußwaffen — Krankenhaus-Krankensiedlung — Krankheitserreger — Geschwächte Immunsysteme und Erbverfall — Selbsterhaltungstrieb, Mitleidsverlust — Die »gute alte Zeit« ist jetzt — Das Phänomen der Ersten Welle — Müllkultur — Wer überlebt? — Das Auslaufen der Schwingung — Das undramatische Ende.
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Über das vermutete Ende der Menschenzeit auf der Erde zu sprechen, wird in mancher Hinsicht schwerfallen, weil Aussagen über ein mögliches Aussterben unserer Art auf Spekulationen beruhen müssen — Spekulationen zwar, denen einerseits etwa die Computer-Weltmodelle der Studie <Die Grenzen des Wachstums> und zum anderen die Überlegungen dieses Buches zugrunde liegen, denen aber doch das Merkmal aller Denkmodelle anhaftet: daß sie nur relativen Zuverlässigkeitswert haben.
Wir müssen also einen Vorbehalt machen: Das, was auf den folgenden Seiten steht, wird zwar mit einiger Wahrscheinlichkeit eintreffen. Ob es so und in allen Einzelheiten so eintrifft, vermag jedoch niemand zu sagen.
Das zweite Problem ist ein psychologisches. Wir sind letztlich Optimisten, sonst hätten wir genügend Gründe, uns alle selbst umzubringen. Wenn deshalb jemand behauptet, es gehe mit uns zu Ende, so hören wir das ungern. Unser Selbstwertgefühl weigert sich, unerfreuliche Prognosen allzu ernst zu nehmen oder gar praktische Konsequenzen daraus zu ziehen. Die meisten Politiker, Zukunftsforscher, Soziologen und Publizisten folgen daher einem ungeschriebenen Gesetz. Das Gesetz ist ihnen von der Erfahrung diktiert worden. Es lautet: »Male keine düsteren Bilder, male nicht den Teufel an die Wand, denn das kommt nicht an, das schadet dir; das wollen die Leute nicht hören.«
Auf Pessimismus zu machen wäre demnach dumm und schädlich. Es müßte sich auch für ein Buch wie dieses verbieten.
Und doch: Wie töricht eine solche bloß opportunistische Haltung sein kann, wird sofort klar, wenn wir an die letzten Monate des Zweiten Weltkrieges in Deutschland denken. Damals, unter Hitler, hämmerten die Propagandisten dem deutschen Volk bis in die letzten Kriegstage immer wieder ein, man stehe unmittelbar vor dem »Endsieg«. Obgleich der Feind von allen Seiten her schon tief ins Land eingedrungen war, versuchte man, die Gefahr zu vertuschen und erklärte, es könne sich nur noch um Tage oder Wochen handeln, dann werde sich das Kriegsglück wenden. Ein kurzes Durchhalten noch, dann würde eine »Wunderwaffe« dem Vaterland zum Sieg verhelfen.
Optimismus - wie man sieht - kann tödlich sein. Natürlich hinkt dieser Vergleich. Wer überleben will und weiß, daß ihm das Wasser schon am Hals steht, kann sich Trübsinn, Lethargie und Schicksalsergebenheit schon aus psychologischen Gründen nicht leisten. Nicht Resignation stärkt den Lebenswillen, sondern Zuversicht.
Das aber muß nicht heißen, vor den Tatsachen die Augen zu verschließen. Zu wissen, wie die Dinge stehen ist besser, als den Kopf im Sand zu vergraben. Auch Unabwendbares kann noch beeinflußt werden, wenn man die Fakten kennt, nach denen es sich vollzieht. In unserem Falle heißt das zuallererst: Wir müssen uns darüber klarwerden, was wir da in unseren Köpfen mit uns herumtragen. Wir müssen wissen, was das für ein Organ ist, was es geleistet, nicht geleistet, was es leisten kann und nicht leisten kann, was es angerichtet hat und weiter anrichten wird.
Sehen wir uns auf der Erde um, so stehen wir vor der beleidigenden Erkenntnis, daß unser Überleben auf längere Sicht vermutlich eher durch das Wirken sogenannter blinder Kräfte gewährleistet worden wäre als durch unsere Gehirntätigkeit. Unser Großhirn hat uns in den Treibsand eines unerbittlichen Automatismus gezogen und es ist, soweit das Auge reicht, kein Retter zu sehen, der uns ein Halteseil zuwerfen könnte.
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»Drei Milliarden Tote zu Lebzeiten unserer Kinder und Kindeskinder«, so befürchtet der Initiator des Clubs von Rom, der italienische Industrielle Aurelio Peccei, »werden möglicherweise das Lehrgeld sein, das die Menschheit bezahlen muß, weil sie nicht begreifen will, daß es so nicht weitergehen kann wie bisher.«
Man muß dieses Wort des angesehenen Mannes wohl noch anders formulieren: Nicht, weil die Mehrzahl der Menschen nicht begreifen will, daß es so nicht weitergehen darf, wird sie das furchtbare Lehrgeld zahlen müssen, sondern weil sie es nicht begreifen kann.
Und weil sie gar nicht in der Lage ist, ihr Verhalten zu ändern.
Kritische Würdigungen zur Studie <Die Grenzen des Wachstums> sind heute jedermann zugänglich. Soweit sie ernst zu nehmen sind, haben sie den Charakter von »letzten Warnungen«. Und das nicht von ungefähr. Die Studie kam bekanntlich zu dem Schluß, ein weltweiter Zusammenbruch der Wirtschaft und ein menschliches Massensterben werde unausweichlich sein, wenn es nicht gelänge, das industrielle und das Bevölkerungswachstum in den nächsten Jahrzehnten radikal zu stoppen.
Um zu ihrer Voraussage zu kommen, hatten Dennis Meadows und seine Mitarbeiter im Auftrage des »Clubs von Rom« alle wesentlichen Regelgrößen wie Kapitalinvestition, Bevölkerungszuwachs, Umweltverschmutzung, Rohstoff-Verbrauch und andere berücksichtigt, die auf die Entwicklung der Menschheit und ihren Lebensraum Einfluß haben. Sie hatten die gegenwärtige Situation und die Trends all dieser Größen computergerecht formuliert und die Prognose dann dem Rechner überlassen.
Wie der düstere Urteilsspruch bei den verantwortlichen Stellen »angekommen« ist, dafür legte Meadows einige Jahre nach der Veröffentlichung selbst ein Zeugnis ab: »Kein einziger Politiker«, erklärte er,
»keine einzige politische Organisation, keine Partei, kein wichtiges Industrieunternehmen hat sich bisher anders als vor der Veröffentlichung von <Die Grenzen des Wachstums> verhalten. Es ist, als ob nichts geschehen wäre, als ob wir diese Studie in unseren Schreibtischen versteckt hätten. Alles blieb beim alten.«
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Es wird auch weiter alles beim alten bleiben. Ein einziger Sachverhalt: So, wie die Zeichen stehen, wird der Druck der großen Industrienationen auf die ölfördernden und die rohstoffliefernden Länder größer werden. Das wird so bleiben, auch wenn die kaschierte Drohung während der Ölkrise, die ölverbrauchenden Staaten würden sich das Erdöl, wenn sie es nicht freiwillig bekämen, gegebenenfalls mit Gewalt holen, ein Gerücht bleiben sollte. Diese Entwicklung muß jedoch ähnlich wie der forcierte Bau von Kernkraftwerken in aller Welt als Indikator für eine beschleunigte Industrialisierung der Erde gelten.
Der Kern des Problems ist das unausrottbare Bedürfnis des Menschen, immer mehr zu produzieren und zu verbrauchen. Wohin das führt, und wohin es zumal in einem profitbedachten Wirtschaftssystem führt, hat Bertrand Russell in seinem Buch <In Praise of Idleness> an einem Beispiel deutlich gemacht:
»Nehmen wir an, daß gegenwärtig eine bestimmte Anzahl von Menschen mit der Herstellung von Nadeln beschäftigt ist. Sie machen so viele Nadeln, wie die Weltbevölkerung braucht, und arbeiten acht Stunden täglich. Nun macht jemand eine Erfindung, die es ermöglicht, daß dieselbe Zahl von Menschen doppelt so viele Nadeln herstellen kann. Aber die Menschheit braucht nicht doppelt so viele Nadeln. Sie sind bereits so billig, daß kaum eine zusätzlich verkauft würde, wenn sie noch billiger werden. In einer vernünftigen Welt würde jeder, der mit der Herstellung von Nadeln beschäftigt ist, jetzt eben vier statt acht Stunden täglich arbeiten, und alles ginge weiter wie zuvor. Aber in unserer realen Welt betrachtet man so etwas als demoralisierend. Die Nadelmacher arbeiten noch immer acht Stunden, es gibt zu viele Nadeln, einige Nadelfabrikanten machen bankrott, und die Hälfte der Leute, die Nadeln machen, verlieren ihre Arbeitsplätze. Es gibt jetzt, genau betrachtet, genausoviel Freizeit wie bei halber Arbeitszeit; denn jetzt hat die Hälfte der Leute überhaupt nichts mehr zu tun, und die andere überarbeitet sich. Auf diese Weise ist sichergestellt, daß die unvermeidliche Freizeit Elend hervorruft, statt daß sie eine Quelle des Wohlbefindens werden kann. Kann man sich noch etwas Irrsinnigeres vorstellen?«
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Beispiele für ähnliches Verhalten gibt es zur Genüge. Sie alle bestätigen:
Nur dann gäbe es Hoffnung auf eine günstigere Entwicklung, wenn wir Menschen uns radikal umstellen könnten, wenn wir ganz anders denken und handeln könnten, als es unsere Großhirne uns diktieren. Nur dann hätten wir noch eine Chance, wenn wir geradezu asketische Einschränkungen in fast allen Bereichen des Lebens auf uns zu nehmen bereit und fähig wären.
Dazu gehörte massiver Konsumverzicht, Beschränkung der Kinderzahl, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Kapitalinvestition, sogar der Nahrungsmittelerzeugung mit dem Ziel, weltweit den Übergang vom gefährlichen Wachstum in einen Gleichgewichtszustand zu erzwingen.
All dies erfolgreich durchzuführen, würde freilich übermenschliche, in jeder Hinsicht atypische Ausnahmenaturen voraussetzen und nicht Menschen, wie sie die Erde nun einmal bevölkern; jene kurzsichtigen und egoistisch handelnden, zu einem wachsenden Anteil auch noch analphabetischen Wesen, die kaum imstande sind, die Situation zu begreifen, in der sie sich befinden; geschweige denn die Katastrophe zu ermessen, in die sie hineinsteuern.
Selbst wenn aber die eine oder andere Maßnahme des Umdenkens regional durchgesetzt werden könnte — an weltweit gemeinsames Handeln ist ja gar nicht zu denken — welche politischen und sozialen Spannungen, welche wirtschaftlichen Depressionen und psychischen Belastungen würde dies mit sich bringen!
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Eine gesetzliche Beschränkung der Kinderzahl etwa — Elternschaft auf Lizenz — würde als Minderung der Lebensqualität empfunden werden. Eine irgendwie geartete Prozedur gerechter Rohstoffverteilung würde an politischen Rivalitäten scheitern, und ein Industrialisierungsstop an der Aussichtslosigkeit, ein gemeinschaftliches Wirtschaftssystem mit einer Weltregierung zu etablieren.
Tropfen auf heiße Steine werden auch die hier und da begonnenen Recycling-Verfahren zur Wiederverwertung bereits benutzter Rohstoffe bleiben — sie können nur aufschiebende, verzögernde Wirkung haben.
Der Kollaps wird in jedem Fall kommen. Und er wird zuerst die technisch und wirtschaftlich fortgeschrittensten Nationen treffen, weil sie es sind, die auf Systemveränderungen am empfindlichsten reagieren. Ihr Menschenreservoir unterliegt am stärksten dem Vitalitätsverlust als Folge des streßbelasteten Lebensstils und des fortschreitenden Erbverfalls. Aber auch die unterentwickelten Länder mit ihren noch jungen, formbaren Systemen und ihren robusteren Menschen werden nicht davonkommen. Denn sie hängen technisch-wirtschaftlich von den entwickelten ab. Deren Schaden wird also auch der ihre sein.
Die Hauptfigur in dem Drama, vor dem sich der Vorhang hier öffnet, ist natürlich der Mensch. Wie wird er sich in der Endphase seiner irdischen Existenz verhalten?
Einen Vorgeschmack darauf haben wir in den letzten Jahren in der afrikanischen Sahel-Zone bekommen. Dieses Gebiet liegt als Trockensavanne zwischen den Urwäldern Zentralafrikas und der staubtrockenen Saharawüste im Norden. Seinen Namen hat es von dem arabischen Wort Sahel, was soviel heißt wie Ufer. Wahrscheinlich haben die nomadisierenden Wüstenbewohner auf ihrem Weg nach Süden die hier beginnende Dornbuschvegetation einst als Ende des Sandmeeres, als »Ufer«, begrüßt. Heute teilen sich die Staaten Tschad, Niger, Obervolta, Mali, Mauretanien und Senegal die Sahel-Zone. Wohl und Wehe der Menschen in diesen Ländern hängt von den Niederschlägen ab, die dort mit normalerweise nur 100 bis 200 Millimeter jährlich äußerst spärlich fallen.
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Der katastrophale Notstand der letzten Jahre wurde ausgelöst, als auch diese bescheidene Wasserzufuhr noch ausblieb und die wandernden Bewohner mit ihren Herden immer weniger Wasserstellen fanden. Letztlich verantwortlich für das verheerende Ausmaß des Hungerelends war jedoch der Umstand, daß die Versorgung der Menschen mit den vom Ausland gelieferten Nahrungsmitteln nicht funktionierte. Verteilungsprobleme erstickten die Hilfsaktionen.
All das liefert uns gewissermaßen einen Miniaturfall für ein weltweites, zukünftiges Geschehen; es stellt eine kleine Ausgabe der Anatomie des Zusammenbruchs dar, dem sich die Erdbevölkerung insgesamt »entgegenvermehrt«.
Stellen wir einen Vergleich an:
Der voraussehbaren, weltweiten Nahrungsmittelkrise als Folge von Bevölkerungsexplosion, Rohstoff- und Verteilungsproblemen entsprach in der Sahel-Zone die durch Wassermangel entstandene Dürre. Die wandernden Nomaden hatten es immer schwerer, für ihre Rinder, Schafe, Ziegen, Pferde, Kamele und Esel noch Wasser und Weideflächen zu finden. Wo sie sie fanden, grasten die Tiere die Vegetationsdecke so rasch ab, daß auch der Neubewuchs gefährdet war.
Der weltweiten Bevölkerungsexplosion entsprach im Sahel-Gebiet eine extreme lokale Menschenzunahme. In den Jahren 1950 bis 1970 betrug der Zuwachs für Tschad und Niger 3,5 Prozent und für Mauretanien 5,7 Prozent, bei einem Welt-Durchschnitt von etwa 2 Prozent. Das explosive Wachstum führte schon vor der Dürrekatastrophe zu einem erhöhten Druck auf die bescheidenen Existenzgrundlagen des Landes. Der Holzbestand wurde zum Nachteil des Grundwasserspiegels dezimiert, ohne daß der Ackerbau nennenswerte Fortschritte machte.
Ein übriges tat dann der hohe Anteil der Bevölkerung an Analphabeten von fast 90 Prozent. Weitsichtiges Handeln war allein aus diesem Grunde weder in der Familienplanung noch in der Landwirtschaft zu erwarten. Die Menschen benahmen sich wie Gastarbeiter, denen die Bedienung einer komplizierten Fabrikanlage überlassen wird, ohne sie vorher mit den Maschinen vertraut gemacht zu haben.
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Über die wirtschaftlichen Auswirkungen der Sahel-Katastrophe haben wir im vorigen Kapitel gesprochen. Was hier interessiert, ist das Verhalten der Menschen. Auch dies kann modellhaft stehen für das, was die Erdbevölkerung im großen Maßstab erwartet.
Mit zunehmender Notlage kam es im Sahel zu heftigen Fehden zwischen den nomadisierenden Stämmen untereinander und zwischen den Nomaden und den Seßhaften andererseits. Die Sorge um die nackte Existenz ließ alte Feindschaften aufbrechen und neue entbrennen. Zahlreiche Nomaden wanderten schließlich in die Vororte der Städte ab, nachdem sie laut Bericht des Roten Kreuzes ihre Herden teilweise bis zu 95 Prozent verloren hatten.
Welches Ausmaß an Not diese Menschen dazu trieb, ihr freies Leben gegen ein Dahinvegetieren in schmutzigen Slums aufzugeben, können wir nur ahnen. In den Slums entstanden dann jene erschütternden Bilder, die wir in den Zeitungen und im Fernsehen zu sehen bekamen und weiter sehen werden. Die Verhungernden sitzen apathisch da. Ihre ausgemergelten Körper sind wie von Todeskämpfen gezeichnet. Was diese Aufnahmen zeigen, ist aber neben dem Elend in seiner elementarsten Form auch das Nachstoßen der natürlichen Feinde des Menschen: der Krankheitskeime und Parasiten, die die Schwäche ihrer Opfer augenblicklich nutzen. Es ist erschütternd zu sehen, wie die geplagten Kinder und Erwachsenen nicht einmal mehr die Fliegen auf ihren Lippen und Augenlidern abwehren, sondern das Ungeziefer gewähren lassen.
Die Feinde des Menschen in solcher Not sind hauptsächlich die Kleinlebewesen. Mikroben sind es, die hier die Rolle der Wüstengeier übernehmen, nur daß der Tod, den sie bringen, ein bißchen länger dauert als der unter der glühenden Sonne. Und daß er still ist, dieser Tod, nur aufgeschoben vielleicht für Tage oder Wochen, wenn das Impfserum noch rechtzeitig kam oder die Antibiotikaspritze dem Sterbenden noch einmal aufhalf.
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In den Slums der Städte, bei den Stammesfehden der Sahel-Nomaden erwies sich die Wahrheit dessen, wovor der schottische Psychiater George Carstairs gewarnt hatte. Nach Carstairs' Überzeugung - und nicht nur nach seiner - wird das Bevölkerungsproblem viel zu einseitig als Ernährungsproblem verstanden. Viel zuwenig werde auf die drohende Demoralisierung von Menschen hingewiesen, die in Not gerieten und zugleich unter Pferchungsbedingungen zu leben gezwungen seien.
Wenn man solche Überlegungen weiterführt, so drängt sich noch Ärgeres auf. Unwillkürlich sieht man Szenen vor sich, in denen Menschen in akute Lebensgefahr geraten sind. Über die Kräfte, die uns in solchen Augenblicken zuwachsen, aber auch über die Unberechenbarkeit der Handlungen im Angesicht des Todes gibt es dramatische Schilderungen.
Nachdem der Luxusdampfer <Crescent Star> auf eine Treibmine gelaufen und gesunken war, trieb eine Gruppe Überlebender in einem überlasteten Rettungsboot im Meer. In einem aufkommenden Sturm zwang damals der vom sterbenden Kapitän mit der Befehlsgewalt ausgestattete Offizier die Kranken und Schwachen, über Bord zu springen, damit die Gesunden in dem nun entlasteten Boot eine Überlebenschance erhielten. Der Offizier wurde später wegen Mordes angeklagt, aber nur zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt, weil die Frage, ob er richtig gehandelt hatte, nicht eindeutig beantwortet werden konnte. Ähnlich verzweifelt ist manchmal die Lage von Überlebenden nach Flugzeugabstürzen in unwegsamem Gelände fernab von Siedlungen. Es hat Menschen gegeben, die sich nicht scheuten, ihren Hunger am Fleisch toter Passagiere zu stillen.
Wenn es ernst wird, das wissen wir nur allzu gut, hört bei den weitaus meisten Betroffenen die Nächstenliebe auf. Sie weicht dem elementaren Trieb zur Erhaltung des eigenen Lebens, der auch vor Mord und Totschlag nicht haltmacht.
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Daß Menschen sich auf solche Situationen sogar bewußt vorbereiten, erfuhr man in den fünfziger Jahren, als begüterte Bürger in den USA sich atomsichere Bunker bauen ließen. Zu der Bunker-Ausrüstung gehörten neben den Notrationen, Radio und Gerätschaften auch scharf geladene Revolver und Gewehre. Nach dem Zweck der Waffen befragt, erklärten die Eigentümer, sie würden sie notfalls zur Selbstverteidigung gegen die eigenen Landsleute einsetzen, wenn diese im Katastrophenfall die Bunker zu stürmen versuchen sollten.
Der brutale Kampf Mann gegen Mann wird freilich noch lange nicht — und auch in der Endphase des menschlichen Lebens auf der Erde vermutlich nur ausnahmsweise — die Szene beherrschen. Auch der Tod durch solche Kämpfe wird selten, der Tod im Krieg dagegen, in der Revolution, und der stille Tod durch Krankheit und aus Entkräftung in den Asylen der Obdachlosen — sie werden die Regel sein.
Bis es zu alledem kommt, wird es noch zahlreiche Vorboten für das nahende Ende geben. Vor allem werden die psychischen Belastungen unter den Menschen in den Ballungsräumen zunehmen.
Neue Formen seelischer und psychosomatischer Krankheiten werden entstehen, und immer mehr Menschen werden zu Beruhigungsmitteln, »seelischen Dämpfern« und stimmungshebenden Mitteln greifen.
Anlaß für diese Entwicklung wird das zunehmende Menschengedränge auf einer mehr und mehr technisierten und industrialisierten Erde sein und der Anspruch einer nicht zuletzt durch politische Parolen verblendeten Bevölkerungsmehrheit auf hohen, aber nicht zu realisierenden Lebensstandard.
Fortschreitende Naturentfremdung, Konkurrenzkampf und hektisches Konsumverhalten werden ein übriges tun, vor allem aber wird die schon für mittlere Jahrgänge immer schwieriger werdende Anpassung an die beschleunigte Umweltveränderung durch Technik und Industrie den Menschen das Leben immer schwerer machen.
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Bleiben wir beim Anpassungsproblem:
Schon heute heißt es, daß derjenige das geringste berufliche Risiko eingehe, der möglichst vielseitig ausgebildet ist, weil er sich auf diese Weise den wechselnden Chancen im Arbeitsleben am besten anpassen könne, wenig Umschulungsaufwand treiben brauche und gegebenenfalls schnell von einer Branche in die andere »umsteigen« könne. Aber je häufiger einer hin und her wechselt, je weniger er den festen Boden einer abgeschlossenen Berufsausbildung und eines gesicherten Arbeitsplatzes unter den Füßen spürt, um so mehr wird er auch psychisch belastet.
Und je mehr ein Mensch leidet — und dies ist ja nur ein Aspekt —, desto mehr psychosomatische Krankheiten wird er haben. Die Magengeschwüre, die Ulcusleiden, die Herz- und Kreislaufstörungen — mit einem Wort: die Zivilisationskrankheiten — werden zunehmen und die Krankenhäuser zu Krankensiedlungen werden lassen. Der steigende Krankenstand wird die verfügbaren Ärzte überfordern, so daß es in absehbarer Zeit mehr Kranke, vor allem mehr psychisch Kranke und Zivilisationskranke geben wird, als durch Ärzte und Pflegepersonal ausreichend versorgt werden können.
Das wird zweierlei Folgen haben:
Einmal die, daß der heute schon kostspielige Pflegekomfort an den Kliniken absinken wird, und zweitens, daß die Haltung der Gesunden gegenüber den Kranken einer bedrückenden Gleichgültigkeit weicht. Wenn ein Ausnahmezustand zur Regel wird, dann erregt er nicht mehr die gleiche Aufmerksamkeit, wie wenn er die Ausnahme bleibt.
Unter diesen Umständen wird es auch mit der Hygiene bergab gehen. Die Beherrschung infektiöser und aggressiver Keime in den Krankenanstalten wird noch schwieriger werden. Infektionskrankheiten werden wieder häufiger auftreten, weil die Bakterien im Wettlauf mit den Gehirnen der nach neuen Antibiotika suchenden Chemiker die schnelleren sind. Sie entziehen sich der Vernichtung immer wieder, sie werden »resistent«.
Es wird auch nicht ausbleiben, daß Viruskrankheiten wieder vordringen und dort, wo ihnen durch mangelnde Hygiene der Boden bereitet ist, zu Seuchen ausarten. Krankheiten wie Cholera, Pocken, Ruhr, Hirnhautentzündung und ähnliche werden wieder aufflackern. Sie werden um so mehr Opfer finden, je schlechter der allgemeine Gesundheitszustand der Bevölkerung ist und je weniger Medikamente als indirekte Folge der Rohstoff-Verknappung zu ihrer Bekämpfung zur Verfügung stehen.
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Der Preis, den wir Menschen für das segensreiche kurative Wirken der Medizin zahlen müssen, liegt auch darin, daß unser Organismus von ihr verweichlicht wird. Schließlich ist die Medizin stellvertretend für die körpereigenen Abwehrkräfte eingesprungen, hat immer wieder mit Medikamenten eingegriffen, wenn es erforderlich schien, hat unseren Immunsystemen und Regelmechanismen die Arbeit abgenommen. Sie hat uns dafür freilich wie allzu behütete Kinder auch anfällig gemacht für zahlreiche Gesundheitsgefahren.
Wenn die Hilfe der Medizin - aus welchen Gründen immer - eines Tages ausbleibt, so wird es nicht mehr der Mensch alter Prägung sein, den diese Situation trifft, sondern es wird ein medizinisch »verwöhnter« Mensch sein, ein widerstandsarmer, dessen körpereigene Abwehrkräfte auf ständige Stützen und Hilfen von außen angewiesen sind. Besonders nachteilig wird es sein, daß diese Kräfte mittlerweile auch genetisch weiter geschwächt sind, weil die Medikamente über Generationen hinweg jene stammesgeschichtliche Auslese entschärft haben, mit deren Hilfe früher immer wieder gut funktionierende Immunsysteme begünstigt wurden.
Wir werden also in die Lage kommen, daß immer mehr Menschen mit reduzierter Gesundheit und verminderten Abwehrkräften unter psychisch stark belastenden Verhältnissen leben müssen.
Auch der allgemeine Krankenstand, als Folge des fortschreitenden Erbverfalls, dürfte steigen. Wir haben im Kapitel »Zweischneidige Medizin« darüber gesprochen, welche Einflüsse das Erbgut des Menschen gegenwärtig schädigen. Wir haben dabei erfahren, daß die langfristig gefährlichsten Auswirkungen sowohl der energiereichen Strahlen wie auch der mutagenen Chemikalien die Punktmutationen sind: Änderungen im molekularen Bereich der Gene, die meist einem rezessiven Erbgang folgen.
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Da die Körperzellen des Menschen jeweils einen doppelten Satz von Anlageträgern (Chromosomen) besitzen und jedes Gen mit Ausnahme der auf den Geschlechtschromosomen doppelt vorhanden ist, können Veränderungen einzelner Gene im allgemeinen zwar noch keine Krankheit auslösen. Dazu muß erst vom Geschlechtspartner ein gleichsinnig verändertes Gen hinzukommen. Punktmutationen wären also nicht so schlimm, solange noch gesunde Partnergene für den Ausgleich sorgen.
Ganz so unkompliziert ist die Sache jedoch nicht. Denn leider muß angenommen werden, daß bei einer gewissen Zahl rezessiver, also in einfacher Ausgabe oder »verdeckt« vorhandener Erbschäden dem Organismus eine allgemeine Vitalitätsschwäche erwächst. Für diese These hat der deutsche Strahlenbiologe Professor Horst Traut gute Gründe vorgebracht. Traut meint auch zu wissen, wie die Schwäche sich äußert, nämlich in einer generell gesteigerten Anfälligkeit gegen Krankheiten. Geht man davon aus, daß die Punktmutationen durch erbschädigende Einflüsse verschiedener Art künftig deutlich zunehmen, so wird die Erdbevölkerung schon nach wenigen Generationen in einen Zustand erblich bedingter Abwehrschwäche geraten, der den »Verwöhnungseffekt« der Medikamente verstärkt und den Betroffenen im Verein mit psychischem Streß, Hunger und Umweltverschmutzung das weitere Überleben immer schwerer machen wird.
Wir müssen in diesem Zusammenhang noch einen weiteren Umstand bedenken.
Zunächst muß beunruhigen, daß auch in unserer Zeit noch neue Krankheitserreger entstehen. Dazu gehören Viren aus der Gruppe der von Zecken übertragenen Arboviren, auch Grippe-Erreger. Wie die schwierige Grippe-Bekämpfung zeigt, sind gerade krankheitserregende Viren außerordentlich wandelbar. Immer wieder treten sie in neuer Gestalt auf. Immer wieder entziehen sie sich der Therapie durch Veränderung ihrer Erbeigenschaften. Hat die Medizin glücklich ein Impfserum gegen einen Erregerstamm entwickelt, so stellt sich schon bald heraus, daß die Arznei nur noch bedingt wirksam ist, weil ein neuer Erregertyp das Feld beherrscht.
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Das kann sich natürlich in den nächsten Jahrzehnten noch ändern. Nicht ändern aber wird sich die genetische Wandelbarkeit der Viren. Diese Wandelbarkeit ist um so gefährlicher, je rascher Varianten gebildet werden und je größer der Vitalitätsverlust einer durch Hunger und Erbschäden geschwächten Bevölkerung ist.
Dies alles deutet darauf hin, daß es Viren, aber auch Bakterien sein werden, die einst die Exekutive übernehmen, wenn das Ende der Menschenzeit auf der Erde kommt.
Und je mehr wir dazu beitragen, die Abwehrkräfte unserer Körper gegen die Krankheitserreger zu schwächen, um so eher werden diese ihre Chance wittern.
Hierher gehört auch eine Auswirkung der verbreiteten antibiotischen Therapie, vor der bisher viel zuwenig gewarnt worden ist. Im selben Maß nämlich, wie beispielsweise durch Penicillin-Tabletten die Darmbakterien des Menschen zurückgedrängt werden, besetzen andere Mikro-Organismen, vor allem auch Viren, die freigewordenen »ökologischen Nischen« mit zuweilen verheerenden Folgen. Die zunehmenden Magen- und Darmgrippen sollten dafür schon heute ein Warnsignal sein. Tritt irgendwann in einem solchen Fall eine Abwehrschwäche des Körpers hinzu, so ist eine ernste Erkrankung fällig.
Wenn wir jetzt einmal davon ausgehen, daß es in 150 oder 200 Jahren - vielleicht eher - zu einer ersten großen Sterbewelle unter den Menschen kommen wird, so lassen sich daran weitere Überlegungen knüpfen.
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Einmal stellt sich die Frage nach dem Verhalten der Überlebenden. Die Erfahrung lehrt, daß der Mensch unweigerlich einer Abstumpfung seiner Gefühle unterliegt, wenn diese allzu häufig von gleichen oder ähnlichen Ereignissen beansprucht werden. Auch das Mitgefühl gegenüber Sterbenden macht da keine Ausnahme. Je mehr Menschen in einem bestimmten Gebiet umkommen, desto gleichgültiger wird der Zeuge dieses Sterbens dem Tode gegenüber sein, desto gelassener wird er die Verluste hinnehmen; was freilich nicht bedeuten muß, daß er auch gleichmütiger angesichts der gegen ihn selbst gerichteten Gefahr wird.
In jedem Fall — dafür liefert die Reaktion der Öffentlichkeit auf die Vorgänge in der Sahel-Zone das Beispiel — wird der Leidensdruck herabgesetzt und die Erregungsschwelle heraufgesetzt werden, die das Phänomen Tod durch Hunger und Krankheit normalerweise bewirken.
Schlimmer noch: Allen herkömmlichen Normen von Ethik und Moral zum Trotz wird ein Massensterben mit geheimem Einverständnis der Nichtbetroffenen oder Noch-nicht-Betroffenen als Voraussetzung für das eigene Überleben hingenommen werden. Wo hundert sterben, da wird Platz für andere.
Der Selbsterhaltungstrieb wird in dieser Zeit alle und alles beherrschen. In der verbreiteten Mitleidslosigkeit, die er hervorruft, werden auch Sitte und Moral weitgehend unterhöhlt werden. Beispielsweise ist vorstellbar, daß angesichts der schlechter werdenden Lebensbedingungen auch in den Hochburgen der Kultur und Zivilisation heute noch undenkbare Praktiken stillschweigend toleriert werden, darunter massive Geburtenkontrolle einschließlich Abtreibung und Kindestötung.
Sterbehilfe wird auf Wunsch des Kranken ohne Umstände gewährt, ihre Verweigerung als unmenschlich empfunden werden. Unsere heutigen Moralbegriffe werden veralten, Verstöße gegen sie immer weniger Anlaß zur Erregung sein.
Religiöse Verbote empfängnisverhütender Mittel oder der bedingungslose Schutz des ungeborenen Lebens werden als moralischer Luxus einer Gesellschaft bewertet werden, die den Ernst ihrer Lage nicht einmal ahnte.
Die Anstrengungen der Ärzte, Menschenleben in den Sterbezonen der Erde mit allen verfügbaren Mitteln zu erhalten, werden erlahmen und das ärztliche Ideal, der Hippokratische Eid, wird fragwürdig werden angesichts der veränderten Situation.
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Denn die Sterbenden würden ja nur noch gerettet, um kurze Zeit später einen anderen Tod zu erleiden. Ärzte und Angehörige von Todkranken werden sich fragen müssen, ob es human sei, einen Menschen zwei- oder dreimal sterben zu lassen. Aufwendige Herzverpflanzungen, die Rettung leberkranker Patienten durch den vorübergehenden Anschluß ihres Blutkreislaufs etwa an den eines Pavians, werden Erinnerungen an eine »gute alte Zeit« sein, in der es sich die Medizin leisten konnte, elitäre Glanztaten zur kurzfristigen Verlängerung des Lebens einzelner zu vollbringen.
Wenn die Annahme berechtigt ist, der Mensch werde im Fall seines Untergangs prinzipiell wie andere Lebewesen früherer Erdepochen aussterben, so wird sein Sterben in aufeinanderfolgenden Schüben verlaufen, möglicherweise in Form einer gedämpften Schwingung. Auf die erste große Ernte des Todes wird eine Atempause folgen, in der die Erdbevölkerung wieder etwas zunehmen kann. Dann werden neue Sterbewellen kommen.
Die großen Städte werden sich leeren. Erschütternde Szenen werden sich in fernen, unwirtlichen Gebieten abspielen, wo klimatische Unbill die Zufluchtsuchenden erfrieren, ertrinken oder verdursten lassen wird.
Es wird überfüllte Überlebensschulen geben, in denen verzweifelte Anstrengungen gemacht werden, das einfache Leben zu lernen, Schulen, in denen man erfährt, wie auf vereistem Boden Feuer zu entfachen und aus welcher Baumrinde ein noch genießbarer Brei zu bereiten ist.
Sauberes Wasser wird dann in weiten Teilen der Erde kaum noch verfügbar sein. Der Sauerstoffgehalt der Luft, der im wesentlichen vom Pflanzenkleid der Erde stammt, wird angesichts der mehr und mehr reduzierten Grünflächen gefährlich abgenommen haben.
Schon heute sind nahezu 50 Prozent des irdischen Waldbestandes durch den Menschen vernichtet worden, und es scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis der Mensch seine Axt auch an die tropischen Regenwälder legt.
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Diese Wälder gehören zu den verwundbarsten Vegetationsgebieten der Erde überhaupt, aber das wird ihn nicht hindern, obwohl er es weiß. Die wuchernd-grünen, verfilzten Pflanzenmassen täuschen. Außerdem sind die Urwaldböden weder besonders nährstoffreich noch fruchtbar. Die täglichen Regenfälle schwemmen die Nährstoffe rasch aus den Oberflächenschichten heraus — daher die vielfach tiefreichenden Wurzeln der Urwaldbäume. Nur etwa 30 Prozent der mineralischen Nährstoffreserven enthält der Urwaldboden, die Hauptmenge ist in den Pflanzen selber gespeichert.
Im Amazonasgebiet hat der nährstoffarme Boden die Bewohner seit jeher gezwungen, einen großen Teil ihres Eiweißbedarfs aus tierischer Nahrung zu befriedigen. Da dies nur begrenzt möglich ist, haben die Eingeborenen Praktiken entwickelt wie die Kindestötung, sexuelle Tabus und andere, um das Gleichgewicht der Bewohnerzahl mit den Ernährungsmöglichkeiten aufrechtzuerhalten.
Wird ein Urwaldstück gerodet, wie es in Brasilien gegenwärtig beim Bau der Straßenverbindung zwischen Brasilia und Belem, dem Zentrum der Gummigewinnung, geschieht (dort soll im gleichen Zuge ein 20 Kilometer breiter Streifen links und rechts der Trasse der Landwirtschaft zugänglich gemacht werden), da beschwört dies die Gefahr einer fortschreitenden Erosion des komplizierten Ökosystems »Urwald« herauf.
Für die Folgen haben wir anschauliche Beispiele in den Karstgebieten Südeuropas. Nur wird in den Tropen das Ausmaß der Waldzerstörung umfangreicher sein und nicht nur den Sauerstoffgehalt der Atmosphäre, sondern auch das Klima beeinträchtigen.
Das große Wälderlegen wird auch hier den Satz des Nobelpreisträgers Max Born bestätigen: »Es scheint mir, daß der Versuch der Natur, auf dieser Erde ein denkendes Wesen hervorzubringen, gescheitert ist.«
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Nach der ersten großen Dezimierungswelle, vielleicht nach der zweiten, wird ein seltsamer Zustand auf der Erde herrschen.
Die Überlebenden werden sich zwar mit primitiveren Verhältnissen abfinden müssen. Aber dies werden weder steinzeitliche Verhältnisse sein, noch werden die Davongekommenen mit dem Rüstzeug des Steinzeitmenschen dastehen. Das, was sie zur Verfügung haben werden, wird sich als eine Art Müll-Kultur erweisen. Es wird die Hinterlassenschaft der Toten sein: öde Industriegebiete, ausgedehnte Erosionswüsten und verschmutzte Meere. Man wird Berge von zumeist demoliertem Zivilisationsplunder zur Verfügung haben, stilliegende Industrieanlagen und nutzlos gewordene Gerätschaften aus Kunststoffen, Stahl und Blech, Fahrzeugwracks und Elektronik, Waffen und Haushaltsbestandteile aller Art. Es wird komplizierte, noch intakte Apparate geben, deren Benutzung jedoch weitgehend sinnlos geworden sein wird, weil die Zwecke, für die sie konstruiert wurden, nicht mehr aktuell sind.
Es wird viel Raum geben, aber unfruchtbaren und von Betondecken versiegelten Raum, der erst aufgerissen, unter dem die Erde erst freigelegt werden muß, um sie wieder bepflanzen und nutzbar machen zu können.
Die großen Städte werden nicht mehr von Menschen bewohnt, Häuser und Straßen leer sein.
Es wird erregte Diskussionen um die Frage geben, ob ein kleiner Teil der Menschheit jetzt noch überleben könne: die Robustesten vielleicht, die Anspruchslosesten? Man wird die Oberfläche der Erde absuchen nach solchen <Ledernacken>. Man wird sie in den Restbeständen der Urwälder vermuten oder in den rauhen Einöden der Tundra oder in den kanadischen Wäldern — falls diese noch stehen.
Aber es wird auch Wissenschaftler geben, die von solchen Überlegungen wenig halten. Wenn die Bevölkerungsabnahme einen kritischen Punkt unterschreitet, so werden sie argumentieren, dann wird es kein Halten mehr geben, bis auch der letzte Mensch gestorben ist, weil der Inzucht-Effekt die ohnehin geschädigten Erbanlagen weiter verschlechtert.
Man wird sie anfeinden, die solches verkünden, und immer wieder wird es Hoffnung geben.
Propheten werden sich finden, die einen neuen Messias beschwören und andere, die in flammenden Reden das große Gericht als göttliche Strafe für das Treiben jenes Wesens bezeichnen, von dem Georg Picht sagte:
»Kein Raubtier erreicht die Stufe der Bestialität, der Ruchlosigkeit und der zynischen oder tückischen Wut, mit der der Mensch im Namen der Zivilisation zu morden, zu vernichten, auszurotten, zu unterdrücken, zu erpressen, zu knechten und auszubeuten versteht. Man muß an Gott glauben, wenn man den Glauben an die verborgene Zukunft des Menschengeschlechtes nicht verlieren soll. Empirisch läßt sich die Hoffnung nicht mehr begründen, daß aus der Schändung von allem, was heilig ist, daß aus Niedertracht, Dummheit, Gier, Roheit und Barbarei noch ein Segen für die Zukunft der Welt hervorgehen kann.«
Das Schicksal der noch Lebenden wird dann ihre körperliche und seelische Verfassung sein. Der allgemeine Gesundheitszustand mochte zwar für ein Leben in einer hochgezüchteten Zivilisation noch ausgereicht haben, wird aber Belastungen nach dem ersten oder dem zweiten Akt der Katastrophe nicht mehr standhalten. Man mag hier an die Nachkriegszeit in einer ausgebombten Stadt denken.
Doch dieser Vergleich hinkt.
Denn damals waren die Menschen für den Wiederaufbau zwar körperlich geschwächt, nicht aber eigentlich krank. Ihre Immunsysteme waren noch nicht von einer jahrzehntelangen Antibiotika- und Sulfonamid-Therapie geschwächt, die Medizin hatte ihre Pyrrhussiege auf diesem Gebiet nicht gefeiert. Die Fähigkeit, sich gegen Erkrankungen zu wehren, war noch besser. Die Abhängigkeit von Medikamenten und Prothesen war noch nicht so gravierend, wie sie es in Zukunft sein wird.
Die Menschen damals fanden zwar Trümmer vor, aber die Erde hatte noch ihre Rohstoffe. Das Wasser war noch sauber, die Luft noch rein. Die Äcker trugen noch Frucht, die Wiesen blühten noch und die Wälder bildeten weithin unversehrte, zusammenhängende Vegetationsreservate.
Dagegen werden sich die Überlebenden der ersten Wellen viel stärker mit den Problemen der eigenen Existenz und der Krankenversorgung auf einer mißhandelten und verwahrlosten Erde konfrontiert sehen. Sie werden sich tierische Feinde vom Leibe halten müssen — von den Krankheitserregern über die Insekten bis zu den Ratten — Feinde, die in die freigewordenen Räume nachstoßen und überall dort zu finden sind, wo höheres Leben auf dem Rückzug ist.
Die Kindersterblichkeit wird massiv zunehmen.
Die Alten und Schwerkranken werden mehr oder weniger sich selbst überlassen bleiben.
Und die relativ Gesunden werden vor den Aufgaben, die auf sie warten, immer häufiger kapitulieren.Wie lange die dann lebenden Menschen die Erde noch bevölkern werden, wird niemand voraussagen wollen. Insgesamt werden die Aussichten jedoch schlechter werden, denn geschädigte Erbanlagen lassen sich schwerlich reparieren. Wahrscheinlich werden die letzten Wellen mit nur geringer Verzögerung kommen und jene »gedämpfte Schwingung« auslaufen lassen, an deren Ende der Mensch von der Erde abgetreten sein wird. Dieses Ende wird undramatisch mit einem drastischen Fruchtbarkeitsverlust kommen, der den noch halbwegs Gesunden — vielleicht aufgrund gestörter innersekretorischer Systeme — immer weniger und schließlich keine Nachkommen mehr bringt.
Die letzten der Art Homosapiens werden sich dann vielleicht noch lieben, aber ihre Liebe wird keine Früchte mehr tragen. Vielleicht werden sie sich auch nicht mehr lieben, sondern gleichgültig nebeneinander herleben als Überbleibsel ihrer selbst: erloschene Zeugen eines Großversuchs der Natur mit einem Wesen, das in seiner vermeintlichen Blütezeit die Erde beherrscht hat.
In ihrer Erinnerung werden die letzten Menschen dieser, ihrer, großen Zeit nachtrauern. Aber ihre Reue wird ihnen nichts mehr helfen. Der Planet wird überleben, nicht der Mensch.
314-315
Ende
1974 Der Mensch: Fehlschlag der Natur Theo Löbsack