Vorwort Löbsack-1982
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Mehr als zwölf Jahre sind seit dem ersten Entwurf meines Buches <Der Mensch: Fehlschlag der Natur> vergangen. Nach seiner Veröffentlichung im Frühjahr 1974 hat es mehrere Auflagen erlebt, auch eine Taschenbuch-Ausgabe und eine Übersetzung ins Holländische.
Außer verhaltener Zustimmung hat der Band heftige Kritik und üble Autorenschelte herausgefordert. Der Saarbrücker Dozent Wolfgang Kuhn erklärte, das Buch lasse als Zukunftsprognose nur leerer Hoffnungslosigkeit Raum, einem »grauenhaft sinnlosen Nihilismus progressiver Selbstvernichtung«. Der Pessimist, so Kuhn, sei der einzige Mist, auf dem nichts wachse. Offenbar stellt man provozierende Thesen auch in unserer toleranten Gesellschaft (ist sie dies wirklich?) nicht ungestraft auf. Mir war jedenfalls zumute, als hätte ich meine nackten Arme in einen Ameisenhaufen gesteckt.
Noch immer erträgt es der Mensch offensichtlich nicht, wenn man ihm die Krone der Schöpfung abspricht und ihm sein baldiges stammesgeschichtliches Ende voraussagt. Trotz Darwin und Haeckel haben wir die Konsequenzen aus der Evolutionstheorie noch immer nicht begriffen. Wir sind eine eitle Gesellschaft geblieben, die nichts so übelnimmt wie einen Angriff auf ihre Selbstgefälligkeit.
Immerhin gab es auch Kritiker, die ohne Scheuklappen urteilten. Rolf Denker notierte in der FAZ, daß die »ganz großen Gedanken« heute nicht mehr von Philosophiepulten aus gesprochen, sondern von Wissenschaftlern produziert würden, zu denen auch die wenigen fähigen Wissenschaftspublizisten zählten. »In seinem neuen Buch«, schrieb Denker,
»schlägt Löbsack mit aller journalistisch ausgestatteten Dramatik als ein Ludwig-Klages-redivivus der Menschheit ihr Großhirn um den Kopf. Seine These ist ebenso simpel wie in ihren argumentativen Folgen furchtbar. Indem der Mensch sein Schicksal nicht dem blinden Mechanismus der Natur überließ, sondern sich mit stolz aufgerichtetem Gang seinem Großhirn anvertraute, entschied er sich langfristig für sein eigenes Verhängnis. Mit Maschinen, Medizin und Moral überlistete er die Natur. Er nahm die ganze Erde in Besitz, trotzte ein immer längeres und sich üppig vermehrendes Leben den widrigsten Umständen ab und regelte wider alle Natur mit entwickelter Moral das Zusammenleben in menschlichen Großgebilden, wie sie moderne Staaten mit ihren Bündnissystemen sind. Die Tiere weit hinter sich lassend ... setzte er alle natürlichen Regulationsmechanismen und Ausleseprinzipien außer Kraft, mit dem schrecklichen Ergebnis, daß das begrenzte System Erde nun zu klein ist für alle ...«
wikipedia Rolf_Denker (*1932 in Bielefeld bis 1999, 67) wikipedia Redivivus (Anknüpfung an einen Vorgänger) Ludwig Klages
Georg Kleemann von der <Stuttgarter Zeitung> klagte:
»Theo Löbsack hat resigniert wie alle naturwissenschaftlich allzu Gebildeten. Er weiß zuviel über die Gefährdung des Menschen in dieser Weltsekunde. Natürlich wird viel herumgeschimpft werden an diesem Buch. Niemand lacht ungestraft den Heiligen Vater namens Johannes aus, der da in heiliger Einfalt gesagt hat: <Habt keine Angst davor, viele Kinder zu bekommen. Die Welt ist von Gott nicht geschaffen worden, um ein Friedhof zu sein, der Herrgott segnet die großen Suppentöpfe!> Und niemand zweifelt ungestraft am lieben Gott, der alles bestens geplant hat. Und auf solchen Zweifel läuft Löbsacks Gedankengang ja hinaus: Das menschliche Großhirn, sagt er, kann zwar herrliche Symphonien komponieren, die Relativitätstheorie entwickeln und eine Mondfähre bauen, aber es ist gar nichts mehr wert, wenn wir von ihm verlangen, es solle gefälligst das Überleben des Menschen auf dieser Erde sichern.«
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»Keine besonders angenehme Weltanschauung« war Pessimismus für den inzwischen verstorbenen <Welt>-Mitarbeiter Friedrich Deich. Das Buch, schrieb er, sei freilich von zwingender Logik. Es sei konzipiert unter Verwendung einer großen, fast erdrückenden Menge von Material aus der Biologie. Es erinnere an jene Zeit, da Jean Jacques Rousseau die Preisfrage der Akademie von Dijon: »Hat die Kultur den Menschen gebessert?« mit »Nein« beantwortete.
Den Bezug zum Religiösen nahm sich Manfred Linz im NDR vor, als er kommentierte:
»Die Menschheit hat das brutale, aber arterhaltende biologische Gesetz entschärft oder sogar in sein Gegenteil verkehrt. Die Folge davon sind jetzt schon vier Milliarden Menschen und eine nicht mehr aufzuhaltende Vermehrungslawine, ein beängstigender Verfall der Erbsubstanz, eine immer geringere Widerstandskraft gegen Seuchen. Mitverantwortlich für diese Entwicklung sind vor allem Sitte und Moral der Menschheit, und hier besonders die christliche Verpflichtung zur Nächstenliebe. Denn diese fragt nicht nach den langfristigen biologischen Konsequenzen einer Hilfeleistung, sondern gibt dem aktuellen Schutz des Lebens Vorrang. Sie schützt alles Leben, auch das schwache, auch die überzähligen Esser, auch das kranke Erbgut. Die Dauerfolgen überläßt sie Gott.
Erstaunlich ist nun, daß Theo Löbsack dies alles ohne Anklage vorbringt. Er macht dem Christentum keinen Vorwurf, er stellt fest. Er ruft seine Leser nicht auf, ihr Verhalten zu ändern, um eine Katastrophe zu verhindern. Für ihn ist die Situation bereits aussichtslos.«Demgegenüber sah Jürgen Dahl im WDR die ganze Niedertracht des Buches darin, daß es für alle Formen von Glauben und Religion nur wohlfeilen Spott habe und offenbar übersehe, daß in allen Kulturen dieser »Aberglaube« die dauerhaften Prinzipien in Tabus formuliere und als Pflichten befestige, die auch der ökologischen Stabilisierung dienten. Es sei die ausgemachte Arroganz des aufgeklärten Europäers, daß er sich selbst noch angesichts der Trümmer seiner Welt für »den Menschen« schlechthin, die Heiligen Kühe Indiens hingegen für ausgemachten Blödsinn halte.
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Selbst ein Freund wandte sich ab: »Zum Glück«, so schrieb er in einem 1980 erschienenen Buch, »ist diese nihilistische Auffassung« (vom Großhirn als gefährlichster Errungenschaft der Evolution, d. Verf.) »nicht allzuweit in die öffentliche Meinung vorgedrungen.«
Das traf nun freilich nicht zu, wie die Buchauflagen erwiesen.
Auch der Schweizer Fernseh-Moderator Andre Ratti war mit dem Buch »keineswegs einverstanden«. In einem Fernseh-Interview fragte er den Verfasser unter anderem, ob er mit seiner These Beifall von der richtigen Seite bekommen werde, was wiederum den Zürcher Mikrobiologen Bert Zink zu kritischen Bemerkungen über die fragwürdige Regie dieser Art Fernseh-Interviews veranlaßte.
DPA-Rezensent Friedrich Rethmeyer verwies auf die Buch-These, nach der das Großhirn des Menschen mittlerweile zu einem Katastrophenorgan geworden sei, dem es nicht mehr gelingen wolle, seine eigenen Werke unter Kontrolle zu halten. Als Leser sah Rethmeyer sich auf einen riesigen Wasserfall zutreiben, so zwingend und logisch seien die Argumente des Buches. »Löbsack«, schrieb er, »hat den Mut, sogar den Luxus der christlichen Moral und Ethik in Frage zu stellen.« Das Buch sei dennoch ein heilsamer Schock.
Das <Heidelberger Tageblatt> schließlich fand: »Ein düsteres Bild wird da entworfen. Es wäre indessen zwecklos, vor ihm die Augen zu verschließen. Es gibt tatsächlich kein aktuelleres Buch, kein erregenderes Thema als das hier angeschnittene.«
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Was die Kritiker damals als sensationell, niederträchtig oder mutig bezeichnet haben, war ein zwar neuer, aber doch einfacher Gedanke, nämlich, daß der Mensch drauf und dran ist, an seinem Großhirn zu scheitern, und zwar bald - vielleicht schon nach wenigen Generationen. Die in jahrelanger intensiver Recherchierarbeit ermittelten Fakten für das Buch ließen keine Wahl. Tatsächlich ist es wie unter einem Zwang geschrieben worden.
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Die optimistische Leier, die wir so lange gehört hatten, wenn es um den Homo sapiens ging, sie klang mir in zunehmend kläglichen Dissonanzen im Ohr. Wohin hat es geführt und wohin wird es weiter führen, wenn wir eine tunlichst unbekümmerte Geisteshaltung an den Tag legen? Hätten wir nicht allen Grund, bedachtsamer zu leben? Stehen nicht die Zeichen gerade als Ergebnis der dem Optimisten eigenen, frischfröhlichen und zuversichtlichen Lebenshaltung so schlecht?
Natürlich hätte das Buch auch einen anderen »Tenor« haben können. Mit Leichtigkeit! Man hätte auf die unendliche Güte Gottes verweisen, auf die christlichen Tugenden vertrauen oder auf die Humanitas schlechthin setzen können. Leider spricht aber alles dagegen, daß aus solchem Glauben konkrete Hilfe erwächst oder daß wir es beim lieben Gott gar mit einer festen Burg zu tun hätten. Gläubiger Optimismus kann tödlich sein, wenn der Optimist bestimmte Gegebenheiten nicht wahrhaben will und statt dessen Illusionen folgt, um dann die Zeit zu verpassen, die vielleicht noch bleibt.
Auch die westlichen Wirtschaftsordnungen tun hier das ihre. Selbst realistisch denkende Zeitgenossen setzen auf die angeblich bewährte freie Marktwirtschaft. Sie verweisen auf die Selbstheilungskräfte des Marktes, auf das segensreiche Wirken von Angebot und Nachfrage, mit denen allfällige Krisen noch immer zu meistern seien. Das mag zeit- und teilweise sogar berechtigt sein.
Welche Auswüchse aber jenes freie Kräftespiel treiben kann, dokumentieren nicht nur Butter- und Fleischberge aus profitorientierter oder subventionierter Überproduktion. Nicht nur zeigen es Sabotageakte französischer Weinbauern, die gegen ihren Willen importierten italienischen Wein tonnenweise aus gestoppten Güterzügen auslaufen lassen. Nicht nur macht es der ins Meer geschüttete brasilianische Kaffee deutlich, der die Preise stabil halten soll. Es zeigt sich auch in der Kraftwagenschwemme, die immer neue Straßen zu bauen zwingt — ein Teufelskreis, der unsere Naturlandschaft zunehmend vernichtet und den zu durchbrechen erst einmal verheerende Arbeitslosigkeit mit sich brächte.
Aber auch die sozialistische Planwirtschaft hat ihre Mängel, wie die häufigen Mißernten in den östlichen Ländern zeigen. Wenn der Antrieb zur eigenen Leistung fehlt, dann »läuft« offenbar nichts mehr, und mitnichten wird das Paradies gewonnen.
All dies und vieles andere klagen weitsichtige Leute seit langem an. Auch fehlt es nicht an düsteren Prognosen, die aufzuwärmen oder zu vermehren freilich nicht der Sinn dieses Buches ist. Statt dessen wird zu zeigen sein, daß dem Menschen gar keine andere Wahl bleibt, als seinen eingeschlagenen Weg fortzusetzen und sein stammesgeschichtliches Ende zwangsläufig anzusteuern.
Dieses Schicksal des Homo sapiens war schon das Thema von <Versuch und Irrtum>. Inzwischen ist viel geschehen, das die Prognose von damals zu bestätigen scheint. Manch neuer Tatbestand ist offenkundig geworden, den es anthropologisch zu deuten gilt. Anthropologisch — also aus menschheitsgeschichtlicher Sicht deshalb, weil unsere Art nicht erst seit dem Seßhaftwerden unserer Vorfahren lebt.
Unsere Geschichte ist ein paar Millionen Jahre alt. Aber die längste Zeit, in der sich menschliches Wesen prägte, haben wir unter ganz anderen Lebensumständen und mit einer ganz anderen Lebensweise zugebracht als heute. In vieler Hinsicht haben wir uns zwar verändert. Wir sind »zivilisierte« Wesen geworden. Doch unter dem elegantesten Smoking steckt noch immer das Bärenfell, und mit ihm folgen wir noch immer auch Verhaltensweisen, die einst über Millionen Jahre nützlich waren - heute aber verhängnisvoll für uns geworden sind.
Wie schon <Versuch und Irrtum> versucht auch das vorliegende Buch, den Menschen einmal nicht als Geschöpf Gottes zu sehen. Es ist eigentlich nur für Leser geschrieben worden, die eine derartige Wahrheit ertragen können. Selbst unter jenen aber wird es manchen geben, den der Band ratlos macht.
Man wird sich sagen: "Wenn die Menschheit vor ihrem stammesgeschichtlichen Ende steht, wenn es keine Hoffnung mehr gibt — dann können wir uns ja gleich alle aufhängen ..." Aber deshalb zu dem schweigen, was offenkundig ist? Sollten wir nicht wissen, wie es um uns steht?
Noch hat der Menschheits-Holocaust nicht begonnen. Ein paar Generationen bleiben uns noch — aber dann wird es ernst.
Für ihre kritische Durchsicht des Manuskripts und manche wertvolle Anregung danke ich meiner Frau. Zugunsten eines flüssigen Stils wurde bei den zitierten Personen auf die Angabe akademischer Titel verzichtet. Die in Klammern gesetzten Ziffern verweisen auf die Titel im Literaturverzeichnis.
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Theo Löbsack,
Daisendorf, im Herbst 1982#
Die letzten Jahre der Menschheit 1983 - Vorwort