1. Das überforderte Gehirn Löbsack-1983
Zwei Welten, in denen wir leben — Keine ökologische Nische für den Urmenschen — Tätigkeitsdrang — Orgasmus als Lustprämie — Lustgefühl beim Basteln — Darwins Lehre — Wie wir die natürliche Auslese überspielen — Immunsystem — Wie menschenwürdig leben 20 Milliarden? — Die Sahelkatastrophe — Der Heidelberger-Mensch brauchte keinen »Fortschritt« — Von der Pferdedroschke zur Weltraumfahrt — Der Veränderungsdrang des Menschen — Die Bombe als Großhirnprodukt — »Alle Kollegen vertreten die Meinung, daß psychische Störungen zunehmen...« — Schulversager — Überlebenskrise — Eigentlich müßten wir Wesen von anderen Planeten sein — Kann der forschende Mensch seine Neugier verleugnen?
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Überschaut man das Treiben des Menschen auf der Erde in den letzten hundert Jahren, so ist kaum zu übersehen, daß viele seiner Aktivitäten seine Lebensgrundlagen zusehends schmälern. Dabei geht doch sein ganzes Tun und Lassen auf Denkergebnisse seines Gehirns zurück, also auf jenes Organ, das ihm andererseits das Leben meistern hilft.
Spielen wir ein bißchen mit dem Gedanken, dann ergibt sich zunächst, daß wir Menschen gewissermaßen in zwei Welten leben. Die eine, das ist die Welt der überkommenen Dinge, die Welt von einst, soweit sie sich erhalten hat, es ist das Universum mit seinen Gesetzen, es ist die Erde mit ihren natürlichen Gegebenheiten, die Land- und Wasserverteilung, es sind die Pflanzen und die Tiere, es ist das Wetter, das Klima.
Die andere, die zweite Welt, das sind die vom Menschen erzeugten Dinge, die er in die vorgegebene Welt mehr oder weniger geschickt zu integrieren versucht hat. Es sind seine Bauten und die Umweltveränderungen, es sind seine Einflüsse schlechthin, mit denen er die Natur überformt, abgeschafft oder ersetzt hat, und es ist nun zunehmend die Frage, ob wir in der von uns errichteten und veränderten Welt auf die Dauer existieren können, oder ob wir die ursprüngliche Welt letzten Endes doch noch brauchen, um zu überleben.
Mehr als durch Umweltveränderungen wird die Zukunft des Menschen heute durch seine eigene stürmische Vermehrung belastet.
detopia-2010: 1 Milliarde Zuwachs in (cirka) 13 Jahren
Absolute Milliarde / im Kalenderjahr:
1/1804, 2/1927, 3/1960, 4/1974, 5/1987, 6/1999, 7/2012
Fortschreibung/Hochrechnung/Abschätzung: 8/2025 9/2038 10/2051
Immer mehr Menschen verlangen nach Brot, Gütern und Dienstleistungen, brauchen Schulen und Arbeit, wollen ein Dach über dem Kopf haben und Wohlstand erreichen - eine Entwicklung, die auf einem begrenzten Planeten unweigerlich einem Punkt zutreibt, an dem ein schmerzliches »Zurück auf den Teppich des Möglichen« einsetzen muß - wenn Schlimmeres vermieden werden soll.
Darum hält der Verfasser die Haltung der katholischen Kirche zur Empfängnisverhütung — ihre Ermunterung zu großem Kindersegen selbst der Menschen in den übervölkerten Entwicklungsländern — für einen der gefährlichsten Einflüsse auf das Geschehen unserer Zeit. Aber auch unabhängig davon zeigt sich in vielen Teilen der Welt, daß es dem Menschen nicht mehr gelingen will, die Bevölkerungszahl in einem angemessenen Verhältnis zu den verfügbaren Siedlungsräumen und Nahrungsquellen zu halten.
Schon hier hätten wir einen Hinweis für ein Versagen des Großhirns, wenn man so will, denn die Bevölkerungsexplosion hat ihre Ursachen im wesentlichen in der praktischen Anwendung medizinischer Erkenntnisse und ethischer Grundsätze als spezifischer Leistungen dieses Organs. Dies aber nur als Beispiel — wir kommen darauf zurück.
Ich möchte in diesem einleitenden Kapitel erst einmal die Thesen zusammenfassen, um die es vor neun Jahren ging und die soviel Aufsehen erregt haben. Sie bilden den Hintergrund für das alarmierende Geschehen seither und für zahlreiche neue Indizien, die bestätigen, daß die damals ebenso gewagte wie geschmähte Hypothese über das Großhirn des Menschen nicht aus der Luft gegriffen war. Vielmehr deutet alles darauf hin, daß die Dinge ihren vorhergesagten Lauf nehmen. Dieses Buch will zeigen, warum.
Auf den ersten Blick hin muß die Behauptung, der Mensch solle demnächst abgewirtschaftet haben, natürlich ganz unsinnig klingen. Man denke nur an unsere Erfolge in Technik und Medizin.
Wir schützen uns heute gegen nahezu alles, was unsere Vorfahren noch dahinraffte. Wir haben eine hochentwickelte pharmazeutische Industrie und klimatisierte Hochhäuser, wir fliegen in Überschallmaschinen, bauen Kernkraftwerke, wir erobern den Meeresgrund. Wir können auf dem Mond landen und ferngelenkte Erkundungssysteme Millionen Kilometer weit zum Saturn schicken. Unsere Ärzte haben gelernt, Nieren und Herzen zu verpflanzen, sie können dem menschlichen Körper ein paar Dutzend Ersatzteile einverleiben — was sollte uns eigentlich passieren?
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Andererseits hat uns die geistige Ursprungsstätte all dieser Errungenschaften, das Gehirn, auch Fragwürdiges beschert. Bevölkerungsproblem, Umweltverschmutzung, Gefährdung der Erbanlagen, Atombombe, Rüstungswettlauf, politische, wirtschaftliche und soziale Krisen — all das sind Produkte dieses Organs.
Der Nobelpreisträger Max Born hat einmal gesagt: »Es scheint mir, daß der Versuch der Natur, auf dieser Erde ein denkendes Wesen hervorzubringen, gescheitert ist.« Ist also der Mensch ein Fehlschlag unter den Lebewesen? Ist er eine Fehlentwicklung, die in eine Sackgasse geführt hat?
Blicken wir zurück.
Als unsere frühesten Vorfahren vor ein paar Millionen Jahren vom Baumleben im Urwald zum Leben in der freien Steppe übergingen, waren sie noch nicht an die Anforderungen ihrer neuen Umgebung angepaßt. Für den Urmenschen gab es streng genommen keine »ökologische Nische«, in die er sich rasch hätte hineinfinden können. Er mußte sich seine Umwelt nach seinen Bedürfnissen selber schaffen. So tat er, was er konnte, um den Naturkräften zu trotzen und den neuen Siedlungsraum für seinen Bedarf »passend« zu machen. Erst waren es Höhlen und Felsüberhänge, heute sind es Großstädte, Industrieanlagen und komplizierte soziale Systeme, die ihm Schutz und Geborgenheit bieten sollen.
Dabei war ihm sein rasch sich entwickelndes Gehirn zunächst ein nützlicher und immer gegenwärtiger Helfer. Nicht nur hatte es sich als Überlebensorgan zur Beantwortung von Sinnesreizen bewährt, sondern es war auch so leistungsfähig geworden, daß es den Menschen im Konkurrenzkampf mit den Tieren bestehen ließ. Schließlich schenkte es ihm Erkenntnisse, dank derer er viel mehr vermochte als notwendig war, um jenseits der Urwälder zu überleben.
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Mit Hilfe von Wissenschaft und Technik entwickelte der Homo-sapiens einen geradezu unheimlichen Tätigkeitsdrang. Er wühlte die Erde auf, entwässerte weite Landstriche, holzte Wälder ab und erntete auf einst unfruchtbaren Gebieten, er verstellte aber auch seinen Lebensraum mit technischen Konstruktionen, und er leidet mittlerweile an der »schwersten Geißel des Großstadtmenschen«, der Einsamkeit in der Masse.
Dank unserer medizinischen Fortschritte vermehren wir uns auf eine Weise, daß es schon hieß, die Menschheit überziehe die Erde wie ein wuchernder Bakterienrasen den Nährbrei. Mehr und mehr vernichten wir die Natur, die uns hervorgebracht hat, verschmutzen wir Luft und Wasser, treiben wir unbekümmert um den Bedarf künftiger Generationen Raubbau an den verbliebenen Rohstoffen und hantieren seit kurzem mit der gefährlichsten Energieform, der Kernenergie.
Die Ausgestaltung unserer selbstgeschaffenen ökologischen Nische nahm so beängstigende Formen an, daß uns das Ergebnis unseres Tatendranges heute schon fast zu erdrücken droht. Das war kein bloßes »Wohnlichmachen« mehr, das waren blanke Überschußreaktionen. Das Großhirn, so scheint es, kann die zunehmend komplizierter werdenden Probleme des »Sich-Einrichtens« und des Zusammenlebens großer Menschengruppen immer weniger meistern und sinnvoll steuern.
Eine der Triebfedern für diese Entwicklung ist sicherlich die erblich verankerte Verpaarung von Gefühlen mit einem bestimmten Verhalten gewesen, eine Kombination, die irgendwann in einer stammesgeschichtlich frühen Epoche in unserem Gehirn eingetreten sein muß. Es ist eine Art Verkoppelungstrick der Natur, ein Phänomen, das vielleicht sogar schon auf die Tiere zurückgeht. Zwei Beispiele: Die Flucht gelingt besser, wenn dem Flüchtenden die Angst im Nacken sitzt. Der Kampf führt eher zum Sieg, wenn den Kämpfer die Wut anstachelt.
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Sieht man einmal vom Orgasmus als der »Lustprämie der Natur« für zweckmäßiges Fortpflanzungsverhalten ab, so trat bei uns Menschen eine besonders folgenreiche Verbindung eines Gefühls mit einem Verhalten auf. Es ist die Beschäftigung mit dem Werkzeug schlechthin, mit technischen Hilfen, mit Geräten und Verfahren, die uns in die Lage versetzen, die Natur zu beherrschen, während sie zugleich lustvolle Befriedigung schenken.
Man beobachte einmal einen leidenschaftlichen Bastler oder betrachte die wie gebannt blickenden Zuschauer an einer Baustelle in der Stadt, wenn dort ein Greifbagger die Anwendung der Hebelgesetze demonstriert. Da sieht man, wie tief uns die Besessenheit im Blute sitzt. Meist sind es übrigens Männer, die da stehen, auch hierin erweist sich augenscheinlich ein Unterschied der Geschlechter.
Die Lustempfindung beim Basteln und Erfinden entschied sicherlich das Schicksal des Menschen mit.
Das fing beim Faustkeil an und endete vorerst — immer unter der Regie des Gehirns — bei den Kernkraftwerken, die große Energiemengen bereitstellen und damit einen neuen weltweiten Industrialisierungsschub mit allen Problemen des Rohstoff-Verbrauchs und der Umweltbelastung einleiten, angesichts ihres Gefahrenpotentials aber große Bevölkerungsteile auch bedrohen. Gerade im Zeichen der Ölverknappung werden in aller Welt jetzt neue Kernkraftwerke fieberhaft gebaut und werden die Risiken hingenommen, die sie mit sich bringen. Es dürfte vermutlich nur eine Frage der Zeit sein, bis ein neuer großer Unfall — vergleichbar jenem von Harrisburg (USA) im Jahre 1979, oder ein noch schwererer — ein weiteres Zeichen setzen wird.
Ermöglicht wurde die stürmische Entwicklung aber auch durch die sogenannte kulturelle Evolution. Sie war es, die den Menschen über die rein biologische Stufe hinausgehoben und »vorangebracht« hat und die ihn insofern auch vom Tier unterscheidet. Indem er aufrecht gehen lernte, bekam er Arme und Hände frei für den Werkzeuggebrauch, und indem sein Großhirn sich mächtig entwickelte, brauchte er auf die Herausforderungen des Lebens nicht mehr nur mit Instinkthandlungen zu reagieren, sondern konnte mehr und mehr planvoll, vorausschauend, nach gedanklich vorher durchgespielten Möglichkeiten handeln.
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Den mächtigsten Anstoß erhielt die kulturelle Evolution damit, daß der Mensch sprechen lernte. Mit der Sprache erwarb er die Fähigkeit, das, was er sah und hörte, roch und schmeckte, was er tun oder lassen wollte, mit bestimmten Lautfolgen zu kennzeichnen. Aus solchen Lauten wurden später Wörter und Sätze. Das mag vor 500.000 Jahren begonnen haben, vielleicht auch schon viel früher, zur Zeit des Homo-habilis vor drei Millionen Jahren.
Der Grund, weshalb wir über die zeitlichen Anfänge der Sprachentwicklung so wenig wissen, liegt darin, daß so wenige Knochenfunde aus jener Epoche vorliegen. Vor allem fehlen die zur Beurteilung der Sprachfähigkeit so wichtigen Knorpel- und Weichteile der Kopfregion, denn sie haben sich über so lange Zeiträume nicht erhalten können. Jedenfalls konnte der Mensch mit der allmählich vervollkommneten Sprache Gegenstände, Eindrücke, Vorgänge, Farben und Formen, Tätigkeiten und Empfindungen gewissermaßen etikettieren und die Lautfolgen zur gegenseitigen Verständigung und Belehrung der Kinder immer wieder benutzen.
So gewann der schon zum »fortgeschrittenen Denken« befähigte Mensch einen weiteren Vorteil. Er war jetzt im Gegensatz zum Tier beim Daseinskampf, beim zweckmäßigen Verhalten in der Natur nicht mehr nur auf seine ererbten Fähigkeiten angewiesen und auf das, was er im individuellen Leben an Erfahrung sammelte, sondern er konnte Wissen und Erfahrungen auch unabhängig davon durch mündliche Überlieferung von den bereits Lebenden erwerben.
So wurde die Sprachverständigung zu einer sekundären Form der Vererbung, zu einer neuen evolutiven Kraft. Die »Tradition«, die zweite, die »soziale Vererbung«, begann. Eine übergreifende, die Begrenztheit der Erfahrungen und Verhaltensmuster der Einzelindividuen übersteigende Kultur konnte entstehen mit all ihren Möglichkeiten wie Glaubensformen, philosophischen Schulen, politischen und wirtschaftlichen Systemen, mit Sitten und Gebräuchen.
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Zurück aber zu unserem Problem. - Es besteht darin, daß nicht nur die technologische Betriebsamkeit, sondern auch das Sprechen- und Denkenkönnen den Menschen zu einem letztlich gegen sich selber gerichteten Treiben angeregt haben, ja, wohl unausweichlich anregen mußten.
Da ist zunächst die Tatsache, daß es dem Menschen gelang, sich dem Auslesegesetz der Natur oder — populär gesagt — dem »Kampf ums Dasein« weitgehend zu entziehen. Das Auslesegesetz ist eines der grundlegenden Prinzipien, nach denen sich das Leben auf der Erde zu seiner heutigen Vielfalt entwickelt hat und nach denen es sich unter den wandelbaren Umweltverhältnissen auch erhält.
Um das zu verstehen, muß man dreierlei wissen.
Erstens. Die meisten Lebewesen erzeugen viel mehr Nachkommen, als notwendig wären, um ihre Art zu erhalten.
Zweitens. Diese Nachkommen sind untereinander nicht alle gleich. Sie unterscheiden sich in meist geringfügigen erblichen Abweichungen, die sie im Wettbewerb der Artgenossen um die besseren Fortpflanzungschancen in ihrer Umwelt mehr oder weniger geeignet machen.
Drittens. Die erblichen Abweichungen oder Mutationen ergeben sich ungezielt und zufällig durch verschiedene Einflüsse, darunter energiereiche Strahlen, Stoffwechselvorgänge, Wärme und anderes. Außerdem entstehen neue Merkmalskombinationen durch die Verbindung unterschiedlicher Erbanlagenbestände bei der geschlechtlichen Fortpflanzung. Die meisten all dieser Änderungen sind nachteilig oder neutral, einige wenige aber bringen ihren Trägern auch Vorteile im Konkurrenzkampf um das bessere Fortkommen, bedeuten also letztlich größere Vermehrungschancen. So setzen sich die Erbanlagen der besser Angepaßten allmählich unter der strengen Auslese der Umweltverhältnisse gegen die weniger geeigneten Artgenossen durch und können schließlich auch neue Rassen und Arten bilden, die besser an ihre Umwelt angepaßt sind als ihre Vorgänger. Gegebenenfalls können sie nach dem gleichen Prinzip auch neue Umwelten, neue ökologische Nischen, besetzen.
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Ich möchte dies hier nicht weiter ausführen und auch nicht auf andere Evolutionsfaktoren eingehen wie Isolation, Separation oder Radiation. Wir werden auf das Wichtigste noch zurückkommen. Auch ist das Evolutionsgeschehen heute noch nicht in allen seinen feineren Zusammenhängen erforscht. Es wäre aber töricht, daraus schließen zu wollen, die Abstammungslehre sei prinzipiell verfehlt oder revisionsbedürftig.
Vielmehr wollen wir fragen: Wie hat der Mensch in das Zusammenspiel von Mutation und Auslese eingegriffen, wie hat er das Auslesegesetz für seine Spezies durchbrochen, wie hat er es unwirksam gemacht?
Er hat es getan, erstens natürlich, indem er sich dank seiner »Großhirn-Intelligenz« den ihn bedrohenden Naturkräften weitgehend entzog. Wir schützen uns gegen Hitze, Kälte und Hunger, indem wir Häuser bauen, Kleider tragen und Nahrungsvorräte anlegen. Seit einigen Jahren machen wir das Auslesegesetz aber noch auf eine viel raffiniertere Weise unwirksam. Dazu gehört, daß wir die natürliche Mutationsrate erhöht haben. Was heißt das?
Erinnern wir uns:
Einflüsse wie energiereiche Strahlen, Chemikalien, Wärme und andere können das Erbgut verändern. Man kann abschätzen, daß es bei allen Lebewesen unter natürlichen Umständen in einer bestimmten Zeitspanne zu einer bestimmten durchschnittlichen Zahl von Mutationen kommt, also zu Erbänderungen, die dann der Umwelt gewissermaßen zur Prüfung auf ihren Auslesewert, auf ihre Tauglichkeit für ihre Träger vorgezeigt werden. An diese »Mutationsrate« sind die Arten gewöhnt oder angepaßt. Zwischen Mutationsrate und Selektion besteht eine Art Gleichgewichtszustand, auf dem es beruht, daß zwar immer wieder nachteilige Merkmale auftreten, diese aber nie überhand nehmen können, weil ihre Träger im Konkurrenzkampf gegen die unveränderten oder vorteilhaft veränderten Individuen unterliegen.
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Auch für den Menschen hat diese Regel früher einmal in vollem Umfang gegolten. Mehr und mehr sind wir nun aber dabei, das Gleichgewicht in Frage zu stellen. Wir stören es zum Beispiel dadurch, daß wir die erbändernden Einflüsse durch den massiven Einsatz energiereicher Strahlen und bestimmter Chemikalien vermehren. Wir benutzen die Strahlen heute in der medizinischen Diagnostik und Therapie, wir verwenden in zunehmendem Maße radioaktive Isotope und gehen mit zahlreichen Chemikalien um, die sich als erbändernd, als »mutagen«, erwiesen haben. So ist zu erwarten, daß Mutationen beim Menschen gegenwärtig und zukünftig häufiger auftreten als früher, also auch nachteilige Erbänderungen öfter vorkommen werden als einst.
Würde der so erhöhten Mutationsrate eine schärfere Auslese entsprechen, so wäre — biologisch gesehen — alles wieder im Lot. Denn dann würde das Zuviel an schädlichen Veränderungen durch geringere Fortpflanzungschancen der Betroffenen wieder wettgemacht. Tatsächlich ist aber gerade das Gegenteil der Fall. Wir ermöglichen die Fortpflanzung des Menschen heute auch in jenen Fällen, in denen sie ihm wegen einer Erbkrankheit normalerweise versagt bleiben würde, und zwar aus humanitären Gründen ganz bewußt mit den Möglichkeiten der modernen Medizin.
Hier sind wir beim dritten Eingriff des Menschen in den natürlichen Gang der Dinge, mit dem er das Ausleseprinzip unterlaufen, entschärft, ja mit dem er es nahezu völlig außer Kraft gesetzt hat.
Dieser dritte Eingriff geht zwar vordergründig auf die Medizin, letztlich aber auf unsere Ethik und die Moralbegriffe zurück.
Ich will versuchen, dies mit wenigen Sätzen zu erklären.Dank unserer fortschrittlichen Heilkunst nehmen wir dem Tod heute immer häufiger die Entscheidung darüber ab, wann er ein Menschenleben auslöschen darf. Mit potenten Arzneien und chirurgischen Kunstgriffen überlisten wir den Knochenmann, und es gelingt uns insbesondere auch, früher todgeweihte Erbkranke weiterleben zu lassen, so daß sie heiraten und Kinder haben können.
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Um hier kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: Es ist selbstverständlich, daß wir erbkranken Menschen helfen müssen wie jedem anderen Kranken auch, solange wir für uns in Anspruch nehmen, Menschen zu sein und menschlich zu handeln. Dies freilich bedeutet, daß wir in diesen Fällen auch die negativen Auswirkungen des humanen Handelns, also die mit ihm geförderte Verbreitung von Erbleiden in Kauf nehmen müssen.
Die Folgen des von unserer Ethik her unausweichlichen Handelns lassen sich heute schon an der Statistik ablesen. Man vergegenwärtige sich hierzu die steigenden Zahlen mancher Erbkrankheiten. Sie sind zwar teilweise auch als Ergebnis besserer Diagnosemöglichkeiten zu deuten, gehen aber auch darauf zurück, daß früher todgeweihte Erbkranke heute überleben, daß sie größere Heiratschancen haben und ihre Anlagen weitergeben können.
Erwähnt seien die erblichen Formen der Zuckerkrankheit, die sich seit der Entdeckung des Insulins vervielfacht haben, die erbliche Verengung des Magenausgangs (Pylorusstenose), die man chirurgisch beheben kann, eine Reihe behandelbarer Enzym-Mangelkrankheiten, der Augenkrebs (Retinoblastom), die Lippen-Kiefer-Gaumenspalte, die erbliche Hüftgelenksverrenkung und viele mehr.
Wieder auf das Großhirn bezogen: Mit Hilfe seiner Denkergebnisse hat der Mensch die Balance zwischen den schädlichen Neumutationen und der dabei relevanten Sterberate aufgehoben und damit auch das Gesetz unterhöhlt, das seine eigene Entwicklung seit der Zeit der Menschwerdung ermöglicht hat.
Verhältnismäßig neu in diesem Zusammenhang ist ein Verdacht, den meines Wissens erstmals der Heidelberger Genetiker Friedrich Vogel ausgesprochen hat.[72] Er hat auf das Immunsystem des Menschen hingewiesen, also die Gesamtheit der körperlichen Abwehrkräfte gegen Infektionskrankheiten. Dieses Abwehrsystem ist genetisch verankert wie andere Erbeigenschaften auch. Wie wir wissen, starben bis vor etwa zwei Jahrhunderten noch fast die Hälfte aller Neugeborenen an Krankheiten dieses Typs.
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Es fand damals also noch eine scharfe Auslese in Richtung auf starke, funktionstüchtige, leistungsfähige Immunsysteme statt, da die meisten Kinder durch ihren frühen Tod daran gehindert wurden, ihre nachteiligen Anlagen weiterzuvererben, während Kinder mit starken Immunsystemen überlebten. Wahrscheinlich muß man sogar davon ausgehen, daß die Abwehrsysteme des Menschen erst unter dem Druck dieser Auslese zu ihrer späteren Vollkommenheit ausgeformt worden sind.
Im Gegensatz zu früher überleben heute unter dem Schutz der Hygiene, der Antibiotika, der Sulfonamide und Impfstoffe rund 95 Prozent aller Kinder und kommen ins fortpflanzungsfähige Alter. Unter ihnen sind auch nahezu alle jene mit erblich schwachen Abwehrsystemen. Sie überleben und können ihrerseits Kinder zeugen, weil Heilverfahren verfügbar sind, die ihnen die Infektionsabwehr abnehmen.
Das heißt, die Auslese wird auch auf diesem Wege mehr und mehr entschärft. Sie wird unwirksamer, sosehr wir andererseits die Fortschritte der Medizin begrüßen. Friedrich Vogel hat sicher zu Recht die Befürchtung geäußert, daß die Immunsysteme als Folge davon im Laufe weniger Generationen gänzlich wirkungslos würden, daß sie sich auflösen und dann so rasch nicht wieder neu gebildet werden könnten.
Künftige Generationen würden also erblich immer »abwehrschwächer« sein und folglich auch immer stärker abhängig von Arzneien und »Prothesen«. Entsprechende Medikamente und medizintechnische Hilfsgeräte müßten dann stets in hinreichender Menge und Wirksamkeit greifbar sein, wenn es nicht zu einer Katastrophe kommen soll.
Zusammengefaßt:
Damit, daß wir das Auslesegesetz für den Menschen gleich von mehreren Angriffsrichtungen her entkräftet haben, ist unser Leben zwar angenehmer geworden. Wir haben es verlängert, haben Tod und Krankheiten vielfach den Stachel genommen, doch geschah dies alles zu einem hohen Preis. Der Preis ist ein steigender Krankenstand, ist der allmähliche Verfall jener Abwehreigenschaften, die den Menschen vor Krankheiten schützen, und es ist eine zunehmende Anfälligkeit auch gegen alltägliche Infektionen und Allergien, der mit immer neuen Schutzmaßnahmen, mit Arzneien und Impf-Seren begegnet werden muß.
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Wir können diese Entwicklung nicht umkehren oder ungeschehen machen, und wir feiern sie auch als Sieg des menschlichen Geistes. Nur müssen wir zugeben: Wir haben keinen humanen Ersatz für das brutale, im biologischen Sinn aber zweckmäßige Wirken des Auslesegesetzes gefunden. Auch der Glaube an eine göttliche Vorsehung, die diese Entwicklung zum Guten wendet, kann und wird hier nicht helfen.
Letzten Endes hat der medizinische Fortschritt auch das Bevölkerungsproblem verursacht. Der Zusammenhang ist deutlich. Mit Hilfe unserer Medikamente und Heilverfahren verlängern wir einerseits das durchschnittliche Lebensalter, so daß es immer mehr ältere Menschen gibt. Außerdem sorgen wir dafür, daß möglichst wenige Säuglinge sterben.
Weltweit gesehen schlägt sich dies derzeit in einem Zuwachs von täglich weit über 200.000 Erdenbürgern nieder. Das ist mehr als die Einwohnerzahl einer Stadt wie Freiburg. Wenn die Weltbevölkerung also heute um Freiburg zunimmt, so wächst sie morgen um Saarbrücken, übermorgen um Braunschweig, am folgenden Tag um Basel, und alle sechs oder sieben Tage um die Einwohnerzahl von München.
Um das Bevölkerungsproblem richtig zu verstehen, muß man den Zuwachs dynamisch sehen. Das heißt, es ist ein Unterschied, ob sich in einer bestimmten Zeitspanne eine Zweimilliarden-Bevölkerung oder eine Sieben-Milliarden-Bevölkerung vermehrt. Eine kleine Lawine läßt sich unter Umständen noch stoppen, bei einer großen aber werden katastrophale Folgen unausweichlich sein.
Außerdem — und auch das ist hinlänglich bekannt — vermehrt sich die Erdbevölkerung nicht überall gleich stark. In den hochentwickelten Ländern stagnieren oder steigen die Bewohnerzahlen nur langsam gegenüber einem um so stürmischeren Wachstum in anderen Teilen der Welt.
Zunehmend schlecht ausgebildete, zu differenzierten Einsichten in die Gesellschaftsprobleme weniger befähigte Erdenbürger werden daher an Einfluß gewinnen und die Bewohner der hochzivilisierten Länder mit ihren Problemen immer drängender konfrontieren.
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Schließlich ist es wahrscheinlich ein Trugschluß, daß mit zunehmendem Wohlstand in den heutigen Entwicklungsländern die Geburtenrate dort automatisch und genügend rasch absinken werde. Zahlen dazu nannte schon der Fischer-Weltalmanach von 1974 anhand von zehn Entwicklungsländern. Aus ihnen geht hervor, daß mit dem Wachstum des Bruttosozialprodukts die Geburtenrate zunächst eher steigt als sinkt.
Beispiele sind Kuweit und Sierra Leone. In Kuweit lag das Bruttosozialprodukt Anfang der siebziger Jahre bei rund 5000 Dollar je Bewohner. Mitte der Siebziger lag es schon bei rund 11.000 Dollar. In Sierra Leone dagegen liegt es bei 157 Dollar. Während hier, in Sierra Leone, die Geburtenrate nur 1,6 Prozent beträgt, erreicht sie in Kuweit mit seinem viel größeren Wohlstand 9,8 Prozent.
Dies sei hier nur deshalb erwähnt, um die allzu hochfliegenden Erwartungen mancher Optimisten zu dämpfen, die darauf verweisen, daß sich Entwicklungshilfe grundsätzlich als bremsender Faktor bei der Bevölkerungsvermehrung auswirke. Entwicklungshilfe dürfte eigentlich nur dort geleistet werden, wo zugleich auch eine wirksame Geburtenkontrolle gewährleistet werden kann.
Gefährlich am derzeitigen Bevölkerungswachstum ist vor allem seine offenkundige Unaufhaltsamkeit. Normalerweise versucht der Mensch, Krisen durch rationale Gegenmaßnahmen zu bewältigen. Die Verantwortlichen beschließen Gesetze und Verordnungen und bekommen die Lage früher oder später meist wieder in den Griff.
Verstandesmäßige Mittel versagen jedoch gegenüber einem biologischen Trieb, der zu den stärksten bei allen Lebewesen zählt. Noch nie hat staatliche Macht eine absolute Kontrolle über das Vermehrungsverhalten der Bürger ausüben können und wird es wahrscheinlich auch nie ausüben, denn ob das chinesische Experiment gelingt (Bestrafung der Kinderreichen) und ob es auf andere Länder übertragbar sein wird, ist äußerst unwahrscheinlich.
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Millionen von Elternpaaren müßten sich alle kollektiv im selben Sinne verhalten, sie müßten übereinkommen, etwa nur noch durchschnittlich ein oder zwei Kinder zu haben — eine völlig irreale Wunschvorstellung. Und dies müßte dann auch noch zu einer Zeit geschehen, da die Bevölkerungspyramiden in den unterentwickelten Ländern mit ihrem derzeit hohen Anteil an jungen vermehrungsfreudigen Jahrgängen für die kommenden Jahrzehnte Schlimmes befürchten lassen.
Noch ein Punkt bleibt zu erwähnen.
Immer wieder lesen und hören wir die Thesen notorischer Optimisten, die mit einem gewissen Frohlocken verkünden, die Erde könne zehn, fünfzehn, ja zwanzig und noch mehr Milliarden Menschen ernähren.
Ich frage mich manchmal, ob diese Propheten eigentlich wissen, wovon sie reden.
Ob sie sich auch nur den Schatten einer Vorstellung von der Vermehrungspotenz derartiger Menschenmassen machen und sich vorstellen können, wie »menschenwürdig« das Gedränge auf unserem Planeten dann noch wäre. Ob sie sich klar darüber sind, welches Ausmaß an Umweltbelastung, welche Einschränkungen des Freiheitsraumes für den einzelnen und welche entnervenden Kämpfe um einen angemessenen Anteil am Bruttosozialprodukt es unter den Bedingungen einer solchen Pferchung geben würde. Es wäre, mit einem Wort, ein unerträgliches Leben, dem alle Merkmale des Humanen fehlten, ein Leben, das sich niemand wünschen kann und das man deshalb auch nicht herbeireden sollte.
Schließlich ist da das wachsende Analphabetentum in der Welt.
Geht man von heute verfügbaren Erhebungen aus, so gibt es etwa drei Milliarden erwachsene Erdenbürger, von denen etwa eine Milliarde Analphabeten sind. Das bedeutet: Ungefähr jeder dritte Erwachsene auf der Erde kann weder lesen noch schreiben.
Ein Mensch aber, der sich umweltfreundlich verhalten oder nicht allzu viele Kinder bekommen sollte, braucht dazu plausible Motive. Er sollte also ansprechbar, zugänglich, informierbar und überzeugbar sein. Er sollte Zusammenhänge verstehen können, die über den täglichen Nahrungserwerb und die Freuden des Ehelebens hinausgehen.
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Solche Informationen zu vermitteln ist aber schwierig, wenn der Betreffende nicht lesen und schreiben kann und wenn dazu bei ihm vielleicht noch der Gedanke kommt, sich durch möglichst viele Kinder im Alter am besten versorgt zu wissen. Je rascher jedenfalls die Bevölkerungen in der Dritten Welt wachsen, um so schwerer wird es, dem Analphabetentum zu begegnen und den Kindern eine angemessene Schulausbildung zu ermöglichen.
Überschaut man das Bevölkerungsproblem auf seine Auswirkungen hin, so sind die Folgen vor allem: Hunger, soziale Spannungen, Gewalt, Krankheiten, wirtschaftliche Depressionen und Arbeitslosigkeit.
Hier muß auf die wohl härteste Begleiterscheinung hingewiesen werden, den Hunger. Für ihn haben wir in den letzten Jahren Beispiele in der afrikanischen Sahelzone, in Bangladesh und auch in südamerikanischen Dürregebieten erlebt, von Krisengebieten infolge kriegerischer Verwicklungen in Vietnam, Kambodscha und Thailand zu schweigen. In manchen Gegenden Afrikas, wie etwa Teilen Äthiopiens, scheint der Hunger schon zum Dauerzustand geworden zu sein. Allein im Sahel wurden in den frühen siebziger Jahren Zehntausende von Toten geschätzt als Folge einerseits der Zusammenpferchung in den riesigen Sammellagern der von der Dürre heimgesuchten Menschen, zum andern aber auch wegen der unzureichenden und problematischen Hilfeleistungen von außen.
Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich die Sahelkatastrophe oder das Kambodscha-Elend als Modellfall für ein zukünftiges, weit umfangreicheres Geschehen vorzustellen, in dessen Verlauf wesentlich mehr Menschen dahingerafft würden oder gar ein weltweites Desaster eingeleitet wird.
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Ein dritter Trend, der als Denkergebnis des Gehirns in eine gefährliche Richtung weist, ist das Beschleunigungsphänomen des technischen Fortschritts mit seinen Folgen.
Versetzen wir uns einmal 500.000 Jahre in unserer Geschichte zurück. Damals lebte in Europa der Heidelberger-Mensch, von dem wir dank des »Unterkiefers von Mauer« wissen. Der »Heidelberger« arbeitete noch mit primitiven Steinwerkzeugen. Mit ihnen tötete er Tiere, schnitt er Äste ab und spitzte Lanzen zu, schabte er Fleisch von den Knochen und zerkleinerte er seine Beute. Vielleicht baute er sich mit ihrer Hilfe auch schon primitive Tierfallen und Unterkünfte — das wissen wir nicht.
Was wir aber wissen, ist, daß sich die Lebensweise der Menschen damals über Jahrtausende, ja über Jahrzehntausende hinweg kaum verändert hat. Die Funde offenbaren, daß die Werkzeugtypen der Frühmenschen über lange Zeiträume nahezu gleichgeblieben sind.
Verglichen mit den riesigen Zeitspannen von ehemals sind wir, sind die letzten vier Generationen in den Industriestaaten aus einer Zeit der Ölfunzeln und Pferdedroschken förmlich hineinkatapultiert worden in eine Gegenwart mit schnellen Autos, Kernkraftwerken, Fernsehen, Computertechnik, Weltraumfahrt und waffenstarrender Aufrüstung. Und wieder sind es Denkprozesse des Großhirns gewesen, die diesen Entwicklungsschub ermöglicht haben.
Was hier interessiert, ist aber nicht so sehr das, was die industrielle Revolution den Menschen an Segnungen gebracht hat, sondern es sind die biologisch-medizinischen Konsequenzen, die sich aus ihr ergeben.
Es stellt sich die Frage:
Kann der Homo-sapiens die überstürzte Industrialisierung und Technisierung mit allen ihren Folgen vor allem auch für seine Psyche langfristig verkraften?
Dazu ein paar Anmerkungen.
Wenn vor zwei oder drei Generationen ein junger Mensch bei uns noch hoffen konnte, sein Leben nach einem in aller Ruhe im Familienrat gefaßten Plan zu gestalten, so erlebt er heute von der industriellen Entwicklung her bestimmte, rasch sich wandelnde Verhältnisse, die einen planvollen Lebensablauf kaum noch durchzuhalten erlauben.
Der Amerikaner Alvin Toffler hat darauf hingewiesen, daß der (vom Großhirn diktierte!) Veränderungsdrang des Menschen und das damit verbundene Beschleunigungsphänomen des technischen Fortschritts zu einer gefährlichen Desorientierung führen können, weil die Maßstäbe, an die wir uns in unserer Jugend halten konnten, immer rascher ungültig werden und fortwährend neuen Maßstäben weichen müßten. In immer kürzeren Abständen, betont Toffler, erlebten wir heute tiefgreifende Veränderungen, und doch sollten wir diese Veränderungen verarbeiten und uns immer neu an sie anpassen.[71]
deto-2018: Toffler 35
Unter dem Streß dieser technokratischen Krise, wenn man sie so nennen darf, hat sich auch unser Verhältnis zur Natur gewandelt.
Vieles von dem einst natürlichen Respekt vor den Wäldern, den Flüssen, vor Naturerscheinungen, Tieren und Pflanzen ist uns verlorengegangen, ein Respekt — von Ehrfurcht zu schweigen —, den frühere Generationen noch viel stärker empfunden haben als wir Heutigen.
Ludwig Klages sah in den »Geistesträgern« schon im Jahr 1913 den Feind und Zerstörer des Lebens: »Die Höhe der Wissenschaft sei zugegeben, wie wenig sie auch vor jeder Anfechtung sicher ist; die der Technik steht außer Zweifel. Was aber sind davon die Früchte?« An anderer Stelle kritisierte er:
»Die Mehrzahl der Zeitgenossen, in Großstädten zusammengesperrt und von Jugend auf gewöhnt an rauchende Schlote, Getöse des Straßenlärms und taghelle Nächte, hat keinen Maßstab mehr für die Schönheit der Landschaft, glaubt schon Natur zu sehen beim Anblick eines Kartoffelfeldes und findet auch höhere Ansprüche befriedigt, wenn in den mageren Chausseebäumen einige Stare und Spatzen zwitschern«.33
Das brutale Untertanmachen, ja Unterjochen der Natur, die staatlich verordnete Landschaftszerstörung, der hemmungslose Straßenbau, die fabrikmäßige Erzeugung von Nutztieren und deren Produkten, die fortschreitende Ausrottung von immer mehr Tier- und Pflanzenarten — all das ist für uns Menschen erschreckend selbstverständlich geworden, vor allem für jene, die nicht mehr in natürlicher Umgebung aufwachsen, sondern schon ihre Kindheit in den Betonwüsten der großen Städte verbringen müssen.
Der einst vielleicht noch vorhandene Instinkt für einen behutsamen Umgang, für einen maßvollen Gebrauch der irdischen Güter scheint mehr und mehr zu erlöschen.
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Das Schlimmste aber ist, daß das Verändern, daß die Eingriffe in die natürliche Ökologie nicht weitsichtig erfolgen, daß sie nicht mehr unter striktem Bewahren des Bewährten vor sich gehen, sondern zunehmend auf kurzfristige Erfolge zielen, daß sie immer öfter blindlings unter rein ökonomischen und politischen Gesichtspunkten geschehen, ohne daß die langfristigen Folgen für den Naturhaushalt und das Wohlbefinden des Menschen dabei bedacht würden.
Was den steuerlos gewordenen technischen Fortschritt betrifft, so müssen wir natürlich auch von der Kernenergie sprechen. Was Otto Hahn im Dezember 1938 veranlaßte, in einer vergleichsweise primitiven Versuchsanordnung Neutronen auf Urankerne zu schießen und dabei Kräfte freizusetzen, die alles damals Vorstellbare übertrafen, war ja zunächst nichts anderes als Wißbegier. Wissenschaftler für etwas anzuklagen, das sie entdecken und das sich später als potentiell verhängnisvoll für die Menschheit erweist, ist müßig. Andererseits ist der Gedanke an den gezielten Beschuß eines Urankerns mittels Neutronen — wie alle mehr oder weniger ambivalenten Errungenschaften des Menschen — die Idee eines menschlichen Großhirns gewesen.
Greifen wir den besonders krassen Fall der Atombombe heraus.
Wie immer wir uns drehen, wir kommen nicht um diesen Sachverhalt herum: Es war ein menschliches Organ, dem die Entdeckung von Naturkräften gelang, deren Entfesselung die Menschheit als Ganzes zum erstenmal und geradezu überfallartig tötbar machte. Drücken wir es noch deutlicher aus: Ein menschliches Organ entpuppt sich als Lieferant des Rezeptes für eine Tötungsmaschinerie für eine ganze irdische Spezies, die erst durch dasselbe Organ zu dieser Spezies geworden war.
Man mache sich das Makabre allein dieses Tatbestandes einmal bewußt.
Wir wollen hier aber die Möglichkeit eines Atomkrieges nicht weiter verfolgen, obwohl schon dieser Aspekt ein hinreichendes Indiz wäre für den Menschen als Fehlschlag der Natur. Vielmehr soll noch von der zunehmenden psychischen Belastung die Rede sein, die heute weltweit als Folge unserer komplizierter werdenden Lebensumstände und des immer engeren Zusammenrückens der Menschen eingetreten ist.
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Es gibt darüber zahlreiche Untersuchungen. Eine von ihnen, eine Fragebogenaktion, haben die Psychiater Kielholz, Walcher und Pöldinger durchgeführt. Die drei haben etwa 10.000 niedergelassene Ärzte in der Schweiz, in Osterreich und der Bundesrepublik einschlägig befragt. Aus den Antworten ging übereinstimmend hervor: »Alle Kollegen vertraten die Meinung, daß sowohl psychische Störungen überhaupt als auch Depressionen im speziellen zunehmen.« Walcher führte das Ergebnis auf die »anhaltenden Belastungsfaktoren unserer heutigen, dem unabdingbaren Leistungs- und Erfolgsprinzip unterstellten unbiologischen Lebensweise« zurück.[32]
Andere Erhebungen, auch solche aus anderen Ländern, bestätigen diesen Befund. Bekannt ist die Manhattan-Studie aus den fünfziger Jahren, eine Umfrage unter 110.000 Einwohnern des New Yorker Stadtteils Manhattan. Aus ihr ergab sich, daß — je nach dem Bewertungsmaßstab — zwischen 23 und 80 Prozent der Befragten seelisch krank waren.
In der Bundesrepublik leidet nach einer Schätzung von Wolfgang Schmidbauer schon mindestens ein Drittel aller derjenigen Patienten an seelischen Störungen, die heute einen Arzt wegen einer beliebigen Erkrankung aufsuchen. Am härtesten betroffen sind von dieser Entwicklung die Jugendlichen, zumindest soweit sie in den großen Städten und Ballungsgebieten aufwachsen und dort der Reizflut und dem Einfluß der Massenmedien voll ausgeliefert sind. Sie sehen sich in einer Situation, in der sie sowohl fortgesetzt stimuliert, als auch gleichzeitig in ihrem Tätigkeitsdrang behindert werden.
Verhalten sie sich auf eine Weise, zu der sie etwa durch Filme aus der Sexualsphäre oder durch harte »Western« ermuntert werden, so werden sie für dieses Verhalten von derselben Gesellschaft bestraft, die ihnen diese Filme vorsetzt und aus denen der Staat auch noch Steuern zieht.
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Wir dürfen uns eigentlich nicht wundern, wenn es immer mehr nervöse, angstneurotische Schulversager unter den Kindern gibt, wenn Alkoholismus, Rauschgiftsucht, Kriminalität und Selbstmorde unter den Jugendlichen zunehmen.
Alle diese psychischen Erkrankungen und Leiden gibt es bei wildlebenden Tieren nicht. Es müssen ihnen spezifisch menschliche Ursachen zugrunde liegen. Es müssen Gründe sein, die entweder im Lebenslauf der Betreffenden zu suchen sind oder sich aus der fortschreitend unnatürlicher, artifizieller, technischer werdenden Umwelt des Menschen herleiten, oder aus beidem.
Möglicherweise mitverantwortlich ist auch die wachsende Spannung zwischen einer als unbefriedigend empfundenen Arbeit einerseits und einer Freizeit, die von vielen doch nicht wirklich sinnvoll genutzt werden kann. Es ist bezeichnend, daß uns ein ständig wachsendes Repertoire an Möglichkeiten geboten wird, die freie Zeit auszufüllen, und immer mehr Konsumenten sich mit wahrer Besessenheit auf diese Möglichkeiten stürzen, so daß hier und da schon das Hobby zur Belastung für die Familienmitglieder oder Nachbarn wird. Viele dieser unbewußt Verführten können es gar nicht eilig genug haben, die mühsam gewonnenen Vorteile der Technisierung — wo sie es sind — wieder ins Gegenteil zu verkehren und aus der Freizeit eine »besetzte Zeit« zu machen.
Das, was wir »Muße« nennen, scheint zugleich immer weniger gefragt, geschweige denn erlebbar zu sein, und auch hier dürfte einer der Gründe liegen, warum sich die Psychiater und Seelsorger heute so vielen schwer faßbaren Krankheitsbildern im Vorfeld der Psychosen und Neurosen gegenübersehen.
Beispiele dafür, wie der Mensch durch seinen sogenannten technischen Fortschritt, seine umweltverändernden Aktivitäten die Grundlagen seiner Existenz aufs Spiel setzt, gibt es viele. Erinnert sei an den Raubbau an unersetzlichen Rohstoffen, die zum großen Teil zur Produktion ungezählter, aber völlig entbehrlicher Waren verschwendet werden. Erinnert sei an die Verschmutzung der Meere, die Dezimierung des pflanzlichen und tierischen Lebens (während es doch gerade darauf ankäme, eine möglichst große Vielfalt von Lebensformen zu erhalten!), an die Gefährdung der atmosphärischen Ozonschicht und die zunehmend zu einem unkalkulierbaren Risiko sich auswachsende Nutzung der Kernenergie.
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Obwohl die sogenannten Sachzwänge für das scheinbar Unausweichliche dieses menschlichen Treibens sprechen, sollte man erkennen, daß es das menschliche Großhirn ist, dem wir zwar Kunst und Wissenschaft und manche erhebende Erkenntnis verdanken, das aber letztlich auch den Keim dafür gelegt hat, daß wir uns in immer problematischere Lebensumstände hineinverstricken.
Hat man dies erst erkannt, so ist der nächste Gedanke fast zwingend. Es drängt sich nämlich nun förmlich auf, das menschliche Großhirn mit bestimmten Organen oder exzessiven Merkmalen gewisser Tierarten zu vergleichen, die früher einmal auf der Erde gelebt haben und denen diese Merkmale zum Verhängnis geworden sind. Andere Arten, die heute noch leben, aber ähnliche Merkmale aufweisen, scheinen kurz vor dem Aussterben zu stehen.
Biologen, die mit Evolutionsfragen vertraut sind, ist bekannt, daß nahezu alle stark spezialisierten Arten sehr empfindlich gegenüber Umweltveränderungen sind, wobei die Umwelt hier im weitesten Sinn zu verstehen ist, also einschließlich Klima, Nahrungsangebot, Feinden, Lebensraum und so weiter. Zu diesen Spezialisten gehören bestimmte Bewohner von Korallenriffen, hochempfindliche Fische zum Beispiel, die schon von einer geringen Änderung des Salzgehaltes im Meerwasser an ihrem Lebensnerv getroffen würden. Ein Beispiel für das Gegenteil, also für einen besonders robusten Erdbewohner, wäre die weltweit heimische Ratte. In ihrer Umwelt müßte schon sehr Einschneidendes geschehen, bevor sie kapitulierte.
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Oft nun lassen sich die Spezialisten unter den Tieren an äußeren Merkmalen erkennen, darunter auffallende Körpergröße im Vergleich zu ihren nächsten stammesgeschichtlichen Verwandten, auch an extrem ausgebildeten Körperteilen wie langen Stoßzähnen, Fühlern, Schwanzfedern oder Geweihen. Zu den bekanntesten Vertretern solcher Spezies zählten und zählen die Saurier, die eiszeitlichen Riesenhirsche, der Herkuleskäfer, der Hirschkäfer, die Wildschweingattung Babirussa auf Celebes mit ihren langen, zum Wühlen unbrauchbar gewordenen Hauern und die ausgestorbenen Säbelzahnkatzen, deren lange, gebogene Zähne es ihnen selbst bei weit aufgerissenem Maul immer schwerer machten, die Beute zu packen. Auch bestimmte übertriebene Verhaltensweisen gehören hierher, von denen wir noch sprechen werden.
Immer dann, wenn die betreffenden Organe oder wenn das Verhalten dieser Tiere die Gesamtbilanz positiver und negativer Eigenschaften zum Schädlichen hin verschob oder verschiebt, waren oder sind auch ihre Tage gezählt gewesen, weil ihnen die Anpassung an die Umweltverhältnisse auf die Dauer nicht mehr gelang und weil die stammesgeschichtliche Entwicklung sich nicht umkehren läßt.
Auch dafür, daß das menschliche Großhirn ein solches überspezialisiertes oder Exzessivorgan ist, spricht einiges. Der Mensch ist ebenfalls relativ groß im Vergleich zu seinen nächsten Verwandten, den Menschenaffen, wenn man einmal vom Gorilla absieht. Andererseits ist der Mensch zumindest bis in seine jüngste Vergangenheit dabei gewesen, auch den Vorsprung des Gorillas noch einzuholen. Im Zuge der Akzeleration hat seine durchschnittliche Körpergröße allmählich zugenommen. Auch sei» Gehirn ist das größte innerhalb der Primatengruppe. Seine Fähigkeit zur Abstraktion, seine imaginären Kräfte und seine technischen Möglichkeiten zur Umweltveränderung gehen weit über den zum Überleben auf der Erde notwendigen Bedarf hinaus.
Das entscheidende, das Überleben des Menschen bedrohende Merkmal scheint jedoch die Eigenschaft des Großhirns zu sein, als sozusagen ruheloser Motor seine Träger zu überschießenden, luxurierenden Eingriffen in den Lebensraum und anderen Aktivitäten anzutreiben, die mehr und mehr — weltweit gesehen — unkoordiniert und steuerlos stattfinden und die vielerorts bereits auf eine Gefährdung oder Zerstörung der Lebensgrundlagen hinauslaufen.
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Bezeichnend ist es zugleich, daß seit Jahrzehnten alle Warnungen vor dieser Entwicklung fruchtlos geblieben sind und nur hier und da unbedeutende Erfolge im Sinne einer Mäßigung sichtbar wurden.
Der Grund dafür dürfte wiederum in der funktionellen Eigenart jenes Organs liegen, das den Menschen veranlaßt, sich selbst dann nicht mit dem Erreichten zu begnügen, wenn es sich bewährt hat, sondern nach fortgesetzter Veränderung zu streben, nach einem »immer mehr und nie genug«, und nicht zuletzt nach einer ständigen - wie er meint - »Verbesserung« seiner Lebensumstände.
Ich habe daher 1974 einen Gedanken ausgesprochen, der sich meiner Meinung nach zwingend aus diesen Prämissen ergibt: Da der Mensch die natürliche Auslese überspielt hat und dem Kampf ums Dasein seiner biologischen Vorfahren entrinnen konnte, werden ihn zwar Mechanismen zu Fall bringen, die nur bedingt Parallelen zu den historischen Beispielen aus dem Tierreich zulassen. Doch wird sich der Mensch zunehmend als unfähig erweisen, jene Umwelt- und Lebensverhältnisse zu beherrschen, die sein Großhirn in den letzten hundert Jahren hervorgebracht hat, die es weiter hervorbringt und deren Kontrolle ihm jetzt mehr und mehr entgleitet.
Wenn er aus diesen Gründen möglicherweise schon bald in eine ernste Überlebenskrise gerät, so nicht, weil ihm überlegene Konkurrenten erwachsen wären oder natürliche Umweltänderungen ihn bedrohten, sondern weil er sich mit seiner Massenvermehrung, seiner erbbiologischen Schwächung, seinen vielfach törichten Eingriffen in die Naturhaushalte, der Eskalation seiner Waffenarsenale — kurz, weil er sich durch seine selbstgeschaffenen Umweltverhältnisse sukzessiv in eine tödliche Gefahr für sein Überleben begeben hat.
Mit einem Satz: Er wird am Exzessivverhalten seines Großhirns scheitern.
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Warum eine Alternative zu dieser Entwicklung so schwer vorstellbar ist, das hat seine Gründe in der Geschichte.
Nach allem, was gerade die jüngere Vergangenheit des Menschengeschlechts erkennen läßt, kann man schwerlich darauf hoffen, daß menschliche Gehirne zu einer kollektiven Selbstbesinnung bereit oder sogar nur fähig wären — betont sei: zu einer kollektiven. Wahrscheinlich sind die menschlichen Großhirne damit schlicht überfordert.
Um der Lage noch Herr zu werden, müßten wir geradezu asketische Einschränkungen in fast allen Lebensbereichen auf uns nehmen können, die völlig im Gegensatz stehen zu den ererbten Verhaltensmustern, die unsere Großhirne uns unablässig diktieren und denen wir nicht entrinnen können.
Dazu gehörte auch ganz Vordergründiges, wie etwa, daß endlich weitblickende Ökologen in die Parlamente der Staaten gewählt würden statt überwiegend Politiker, die ihrer Herkunft nach vor allem Wirtschaftler, Juristen, Beamte und redegewandte Persönlichkeiten von zumeist geisteswissenschaftlicher Ausrichtung sind.
Eine weltweite Umkehr von der uns innewohnenden Mentalität würde übermenschliche Ausnahmenaturen erfordern und nicht Menschen, wie sie die Erde nun einmal bevölkern: jene in ihrer überwiegenden Mehrzahl kurzsichtig und egoistisch handelnden, auf raschen Erfolg und Profit bedachten Zeitgenossen.
Es würde sozusagen Wesen von einem anderen Stern voraussetzen und nicht einen Homosapiens, der sich trotz seines anspruchsvollen, selbsterteilten Attributs mit seinem Geistesorgan außerstande sieht, die wachsende Komplexität seiner selbstgeschaffenen Verhältnisse zu beherrschen und in gemeinschaftlicher Anstrengung so zu steuern, daß seine Art menschenwürdig überlebt.
Das führt auch zur Frage nach der Verantwortung der Wissenschaftler, die ja nicht zuletzt in Notsituationen immer wieder angerufen werden.
Doch was bliebe dem Wissenschaftler zu tun?
Er könnte es sich nach dem Gesagten leicht machen und erklären, bei solcher Prognose bliebe nur Resignation. Es bliebe, den Kopf in den Sand zu stecken und den Karren laufen zu lassen, denn nach ein paar Jahrhunderten sei ohnehin alles vorbei.
Er könnte freilich auch sagen, man möge die Beschwörung einer apokalyptischen Zukunft als einen letzten verzweifelten Versuch zur Mobilisierung noch vorhandener Vernunftsreserven verstehen.
Denn in jedem Fall scheint ja noch eine Galgenfrist zu bleiben, was immer geschehen mag, und wo Zeit gewonnen werden kann, kann unter Umständen auch Rat kommen, Rat vielleicht gerade von Wissenschaftlern, denen bestimmte langfristige Entwicklungen vertrauter, oder sagen wir, besser vorstellbar sind als anderen.
Ich will das nicht völlig ausschließen, wenn dazu auch ein Wunder geschehen müßte.
Doch die Wissenschaftler befinden sich in einem bemerkenswerten Dilemma. Einerseits wird ihnen vorgeworfen, sie gewännen Erkenntnisse, von denen eine Bedrohung der Menschheit ausgehe. Zum anderen würde es aber ihr Selbstverständnis schmälern und die ihnen und uns allen gegebenen Möglichkeiten beschneiden, wollten sie ihre Wißbegier als integralen Bestandteil menschlichen Wesens leugnen und sozusagen in eine geistige Kastration einwilligen.
Wer auch würde von ihnen verlangen, daß sie ihr Suchen nach Erkenntnis der Wahrheit, ihre Fragen nach Ursache und Wirkung und nach Zusammenhängen einstellten und statt dessen erklärten, auf dem derzeitigen Stand des Wissens verharren zu wollen. Selbst wenn alle Wissenschaftler den politischen Realitäten und Rivalitäten auf diesem Planeten zum Trotz so dächten, so wäre eine solche Haltung zwar vielleicht noch nobel, aber doch zugleich absurd, da sie ja das Nichtvorhandensein von Eigenschaften voraussetzte, die nun einmal zum menschlichen Wesen gehören.
Auch die Wissenschaft wird also dem Menschen kaum helfen können, wenn es darum geht, ihn zu einem auf lange Sicht »überlebensgerechten« Verhalten zu bewegen.
Wie sollte es auch einer vom »Großhirnwesen Mensch« geschaffenen Institution gelingen, im Bereich des menschlichen Verhaltens jene Grundmuster auszulöschen und durch andere zu ersetzen, die die Entwicklung des Menschen über lange Zeiträume unter gänzlich anderen Voraussetzungen erfolgreich geleitet haben!
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Die letzten Jahre der Menschheit - 1983 - Theo Löbsack