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2.  Von der Ursuppe zum Menschen    Löbsack-1983

 

Natur als Lehrerin — 3,8 Milliarden Jahre  — Stanley Miller — Moleküle  —  Henne oder Ei? — Holocaust im Meer — Photosynthese  — Kampf ums Dasein schon bei den Vorstufen —  Mutation und Auslese — Wie die Arten entstanden sind — Zufall — Sinnesorgane — Der böse Darwin — Was beim Kampf ums Dasein wirklich geschieht — Der Mensch als Evolutionsprodukt — Wo stand die Wiege der Menschheit? — Vom Baum herab aus purer Neugier? — Männchenmachen —  Verwandlungsakt in der Steppe —  Die Hände  — Pebble Tools  — Die Sprache  — Ein verräterisches kleines Grübchen — Die Erbsünde — Damals, als das Gehirn nicht mehr weiterwuchs.

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Wenn wir die Natur als Lehrerin und die armen Menschen als Zuhörer betrachten, so scheint es, als säßen wir alle in einem großen Hörsaal. Wir wären auch imstande, der Lehrerin zuzuhören und sie zu verstehen, trotzdem interessieren wir uns mehr für die Plaudereien unserer Mitschüler als für das, was die Lehrerin sagt. - Dieser hier sinngemäß zitierte Ausspruch stammt von Georg Christoph Lichtenberg, einem blitzgescheiten Physiker und Philosophen, der gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Göttingen gelebt und gelehrt hat.

Was er scharfsinnig erkannte, kennzeichnet ziemlich genau eine anscheinend unausrottbare menschliche Schwäche, nämlich, daß wir uns allzugern vor an sich notwendigen Einsichten verschließen und uns statt dessen viel lieber mit angenehmen Dingen beschäftigen, zumal dann, wenn uns Denkanstrengungen abverlangt werden.

So mögen es viele auch als Zumutung empfinden, den Menschen als ein Lebewesen zu begreifen, das nicht nur mehr Unheil auf der Erde angerichtet hat als jede andere Kreatur vor ihm, sondern dessen Tage jetzt gezählt sind. Denn haben wir nicht auch Grund zum Stolz? Haben wir nicht viel geleistet? Sind wir nicht das Nonplusultra der Schöpfung?

Und doch deutet vieles darauf hin, daß wir auf der Höhe unseres Ruhms zu fatalen Gefangenen eines Körperorgans geworden sind, das demnächst für unser Verschwinden von der Erde sorgen könnte: unseres Gehirns. Als sei das, was wir da in unserer knöchernen Schädelkapsel mit uns herumtragen, eine verhalten schmorende Zeitbombe, die unweigerlich dem Tage X entgegentickt.

Wer so abfällig von seinem edelsten Körperteil denkt, muß Gründe dafür nennen. Warum sollte uns dieses Organ bedrohen? Was sollte es so gefährlich machen? Vorab jedoch werden wir zu fragen haben: 

Wie ist der Mensch zu seinem Gehirn gekommen? Welche Umstände ließen das große verschlungene Knäuel mit seinen rund 12 oder 14 Milliarden Nervenzellen zu jenem kapitalen Ausmaß anschwellen, das wir nun bei uns vorfinden? Dabei wird eine fast vier Milliarden Jahre umfassende Zeitspanne ins Auge zu fassen sein, denn wir müssen erklären, wie das Leben auf der Erde entstanden ist, und nach welchen Gesetzen die Lebewesen und ihre Organe zustande gekommen sind, also letztlich auch das menschliche Gehirn.

Soviel ist heute gewiß: Pflanzen, Tiere und der Mensch sind nicht durch einen übernatürlichen Schöpfungsakt in sechs Tagen geschaffen worden. Nach allem, was verläßlich bekannt ist, hat sich das Leben nach und nach aus unbelebter Materie gebildet, um allmählich die verschiedenen Umwelten in ungezählten Erscheinungs­formen zu besiedeln. Es hat immer höher organisierte Tier- und Pflanzenarten hervorgebracht und schließlich seine höchste Entwick­lungs­stufe im heutigen Menschen erreicht, im Homo-sapiens.

Der Schauplatz dieser »Evolution« ist die Erde. 

Vor vier Milliarden Jahren etwa, rund 600 Millionen Jahre nach ihrer Entstehung aus dem Sonnensystem, sah sie freilich noch äußerst ungastlich aus. Zwar hatte sich die Erdoberfläche schon soweit abgekühlt, daß die Gesteine erstarren konnten, doch war die Erdkruste noch immer heiß genug, um den unaufhörlich niederrauschenden Regen sofort wieder verdampfen zu lassen. Zu jener Urzeit gab es noch keine Atmosphäre wie heute, vor allem fehlte der freie, nicht an andere Elemente gebundene Sauerstoff. Ein stickiges, giftiges Gasgemisch mit den Hauptbestandteilen Ammoniak, Kohlendioxid, Wasserdampf und Methan umwölkte den damals noch gar nicht »blauen Planeten«. Gewitter tobten, Blitze zuckten vom Himmel. Auch die schützende Ozonschicht gab es noch nicht. Ungehindert strahlte ein hartes ultraviolettes Sonnenlicht auf die Erde herab. Blitze und ultraviolettes Licht aber sind Energielieferanten, die chemische Reaktionen auslösen können. Das sollte noch wichtig werden.

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Wie konnte in einer solchen Umwelt Leben entstehen? Daß es damals geschehen sein muß, beweisen bestimmte Anzeichen für Lebensvorgänge, die von Wissenschaftlern des Mainzer Max-Planck-Instituts für Chemie in 3,8 Milliarden Jahre alten grönländischen Sedimentgesteinen gefunden worden sind. Schon zu dieser Zeit — oder doch nicht sehr viel später — muß es primitives Leben auf der Erde gegeben haben.

Wie es zustande gekommen sein könnte, darüber hat sich schon im Jahre 1953 der Amerikaner Stanley Miller den Kopf zerbrochen. Er stellte einen bemerkens­werten Versuch an. In einer Glasapparatur mischte er kleine Mengen jener Gase, die sich in der vermuteten Uratmosphäre befunden haben. In das Gasgemisch hinein ließ er elektrische Funken als Blitz-Ersatz zucken. Nach einer Weile untersuchte er, was sich in seinem Glasbehälter zusammengebraut hatte. Es war überraschend genug. Miller fand die Urbausteine jener Eiweiß-Moleküle, die wir heute als Bestandteile der lebenden Zellen kennen, sogenannte Aminosäuren. Mit seinem Experiment konnte er nicht weniger als 17 von insgesamt 20 im lebenden Eiweiß vorkommende Aminosäuren hervorbringen. Bei späteren Versuchen ließen sich auf diese Weise mehrere andere Substanzen erzeugen, die man heute in den Nuklein­säuren wiederfindet, den Trägern der Erbanlagen in den Zellkernen. 31,50,55

Die Chemiker wollten aber noch mehr wissen. Sie fragten: Wie konnten die ursprünglich entstandenen, einfachen chemischen Bausteine zu den kompliziert gebauten Molekülen der Eiweiße und der Nukleinsäuren zusammentreten? Und wie entstanden schließlich die ersten lebens- und vermehrungsfähigen Zellen?

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Was die Aminosäuren betrifft, so sind zwar zahlreiche bekannt, aber nur zwanzig von ihnen kommen im »lebenden« Eiweiß vor. Eine Erklärung dafür fand der Chemiker James Lawless von der amerikanischen <National Aeronautics and Space Administration> [29]. Er sagte sich, irgend etwas muß dafür gesorgt haben, daß bestimmte Aminosäuren aus dem großen allgemeinen Angebot »bevorzugt«, andere aber »benachteiligt« worden sind. Lawless fand auch eine Antwort darauf, was die Auswahl bewirkt haben könnte. 

Stark nickelhaltiger Ton nämlich, wie er zur Urzeit der Erde an den Meeresküsten abgelagert worden ist, nachdem sich die Erde weiter abgekühlt hatte, kann Aminosäuren binden und ihre Vereinigung zu Eiweißmolekülen fördern — allerdings gilt das nur für eben jene zwanzig »Säuretypen«. Alle anderen Aminosäuren, die sonst noch in den Urzeitmeeren existierten, wiesen diesen Vorzug nicht auf. Sie blieben für den Ton sozusagen uninteressant. Lawless schloß dies aus Experimenten, bei denen er nickelhaltigen Ton im Labor mit verschiedenen Aminosäuren benetzte und beobachtete, was geschah. Sein Kommentar: »Das Schwermetall Nickel wirkt wie ein kleiner Magnet auf die Grundbausteine des Lebendigen.«

Eine ähnliche »Kupplerrolle« spielt — merkwürdig genug — auch zinkhaltiger Ton. Während aber das Nickel offenbar eine Vorliebe für die eiweißbildenden Aminosäuren hat, kann Zink jene anderen Moleküle »verkuppeln«, die die zweite wichtige Gruppe lebenswichtiger Verbindungen bilden: die Nukleinsäuren. Von ihnen wissen wir inzwischen, daß sie die Informationsträger für die Baupläne der Lebewesen sind, daß sie, mit anderen Worten, die Erbanlagen oder Gene formen.

Es blieb nun zu fragen, wie die Nukleinsäuren mit den Eiweißen, den Proteinen, zusammengekommen sind. Wie brachte es die Natur fertig, aus beiden Stoffgruppen kleine selbständige Systeme zu schaffen, die mit ihrer Umgebung Stoffe austauschten, die dabei Energie gewinnen, wachsen und sich vermehren konnten?

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Eine mögliche Antwort darauf lieferte der Chemiker Sidney Fox von der Universität von Miami. Er vermutet, zunächst einmal seien aus einfachen Eiweiß­molekülen größere und komplizierter aufgebaute entstanden, die dann später zusammentraten und Vorläufer lebender Zellen bildeten. Das könnte in der Nähe tätiger Vulkane geschehen sein. Um seine These zu stützen, rekonstruierte er im Labor das sehr heiße und trockene Kleinklima, wie es etwa am Hang eines Vulkans nach einem Lavaausbruch herrscht. Sind einfache Eiweißmoleküle in der Nähe, so bilden sie kleine Tröpfchen, die eine Art Stoffwechsel zeigen, die wachsen und wieder zerfallen können und sich sogar teilen, ähnlich wie Bakterien.

Fox fand noch mehr: Diejenigen Tröpfchen nämlich, die am lebhaftesten Moleküle aus ihrer Umgebung aufnahmen und andere wieder abgaben, die also ihren »Stoff rasch wechselten«, hielten sich auch am längsten, bevor sie wieder zerfielen. Wenn sie sich teilten, kamen zwar noch keine originalgetreuen Kopien ihrer selbst zustande (wie bei den lebenden Zellen), doch glaubt Fox auf der richtigen Spur zu sein. Er ist überzeugt, daß es zuerst primitive Vorformen des Lebens in Form solcher Eiweißtröpfchen gab und die »Erblichkeit« der Strukturen erst später mit den hinzutretenden Nukleinsäuren entstand. Wenn er recht behält, wäre das Huhn vor dem Ei dagewesen ...

Andere Wissenschaftler halten allerdings auch eine umgekehrte Reihenfolge für möglich. Für sie hat es zuerst Nukleinsäuren gegeben, also jene Zellbestandteile, die sich selbst verdoppeln, die die Synthese der für den Körper wichtigen Aufbaustoffe steuern und das Rezept für das Funktionieren der Stoffwechsel­vorgänge speichern können wie der Computer eine Konstruktionsanweisung.

Lassen wir die Prioritätsfrage beiseite, fragen wir nach dem weiteren Verlauf des Geschehens. Gehen wir davon aus, daß es irgendwann vor 3,5 bis 3,8 Milliarden Jahren zu den ersten vermehrungsfähigen Lebenseinheiten gekommen ist. Wie war die Lage? Wahrscheinlich hatten diese Urlebewesen damals keine Not zu leiden. Sie schwammen ja in einer nahrhaften Brühe. 

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»Schmackhafte« Kohlenstoff-Verbindungen umgaben sie, denen ihrerseits keine Zerstörung drohte, denn der einzige Feind, den sie zu fürchten gehabt hätten, fehlte ja noch im Meer wie in der Uratmosphäre: der chemisch aggressive Sauerstoff. So blieben auch die Nährstoffe erhalten und verfügbar. Sie ermöglichten es den lebenden Zellen, sich im Urozean zu vermehren, bis »alles aufgefressen« war, was für den Stoffwechsel taugte. Die Zellen vermehrten sich so lange, bis der Ozean, wie der deutsche Biologe Hubert Markl es ausdrückt, »von gelösten Nährstoffmolekülen so leergefegt war, wie er es bis zum heutigen Tage geblieben ist« [41].

Diese Situation hätte beinahe schon den Schlußstrich unter die Geschichte des Lebendigen gesetzt, und das zu einer Zeit, als das Leben kaum begonnen hatte. Ein »Aus« wegen Nährstoffmangels wäre eingetreten, wenn nicht ein bemerkenswertes Ereignis die Rettung im letzten Augenblick gebracht hätte.

Einige Nachkommen jener ersten Lebewesen, so müssen wir heute vermuten, verfielen damals auf den Trick, aus den schon »verstoffwechselten«, also energieärmeren Abfallprodukten der Lebensprozesse wieder Brauchbares herzustellen. Und besonders jene unter ihnen schafften das mit Bravour, die dafür das Sonnenlicht als unerschöpflichen Energiespender benutzten. Sie erwiesen sich als erfolgreiche Überlebenskünstler und verdrängten bald die primitiveren Lebensformen, aus denen sie hervorgegangen waren. Ihr Trick war die Photosynthese. Er bestand darin, mit Hilfe des Sonnenlichts aus dem Kohlendioxid und Wasser organische Substanzen herzustellen, darunter Zucker und Stärke. Damit lieferten sie freilich nicht nur neue Nährstoffe für andere Lebensformen wie Bakterien, sondern sie produzierten auch Sauerstoff, der bis dahin in chemisch nicht gebundener Form im Wasser und in der Uratmosphäre fehlte.

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Ein neues Drama bahnte sich an. Denn einmal in der Luft, zerstörte der Sauerstoff durch »Oxydation« alle jene Substanzen, dank derer die Vorstufen des Lebens erst hatten entstehen können. Außerdem vernichtete er zahllose Lebewesen, die sich entweder selbst als hilflos gegen seine Attacken erwiesen, oder die auf sauerstoffempfindliche Nährstoffe angewiesen waren. Markl drückt es so aus: »Die erste große Umweltvergiftung durch Sauerstoff hatte ... eine katastrophale Vernichtungswelle anaerober (auf Sauerstoffabwesenheit spezialisierter, d. Verf.) Lebewesen zur Folge: der aerobe Holocaust.«

Überleben konnten in dieser Zeit also nur die dem Sauerstoff trotzenden Mikroben, die es irgendwie verstanden, mit dem gefährlichen »O2« fertig zu werden. Kein noch so unwahrscheinlicher Zufall hätte seither, also seit der Zeit vor vielleicht 3,5 Milliarden Jahren, nochmals »Leben« aus nicht belebten Vorstufen hervorbringen können — denn diese Chance bestand nur, solange es keinen freien Sauerstoff in der Erdatmosphäre gab. 

Was seit der Zeit des Sauerstoff-Einbruchs auf der Erde noch weiterleben wollte, mußte sich mit ihm arrangieren oder ihn zur eigenen Energie­gewinnung umfunktionieren.

Aus diesem Druck der Umstände gingen, wie man heute zu wissen meint, die ersten Lebewesen mit echten Zellkernen hervor, wahrscheinlich einzellige Grünalgen, später die ersten tierischen Lebewesen, die ihren Stoffwechsel dadurch in Gang hielten, daß sie andere Organismen verspeisten.

Nach all diesen Erkenntnissen kann man feststellen: Das Leben entstand keineswegs »zufällig«. Denn abgesehen von den geschilderten kennen die Biochemiker noch Vorgänge wie die Autokatalyse und Ausleseprozesse innerhalb chemischer Systeme, die nahezu zwangsläufig unter den damals gegebenen Bedingungen zu den ersten primitiven Organismen führen mußten [50]. Hinzu kommt, daß es in der »Ursuppe« auch Bakterien noch nicht gab, die die ersten organischen Verbindungen sofort wieder zersetzt hätten, bevor sie sich zu größeren und stabileren Einheiten zusammenschließen konnten.

Spätestens zu der Zeit nun, da die ersten vermehrungsfähigen Verbindungen von Nukleinsäuren mit Proteinen existierten, muß es auch schon zu einer Art vorzeitlichem Kampf ums Dasein bei diesen primitiven Lebensformen gekommen sein.

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Die jeweils beständigsten chemischen Systeme werden dadurch Vorteile gehabt haben, daß sie sich lebhafter als andere mit Aufbaustoffen aus ihrer Umgebung versorgen konnten. Damit entzogen sie den reaktionsträgeren Systemen in ihrer unmittelbaren Nähe gewissermaßen die Nahrung. Sie hungerten sie aus. Sie wuchsen und vermehrten sich auf deren Kosten. Das Getriebe ihres Stoffwechsels erwies sich als erfolgreicher und konnte sich durchsetzen. Den anderen, weniger stoffwechselfreudigen Verbindungen wurde also die Existenzgrundlage geschmälert. Sie zerfielen rascher in ihre Bestandteile, die wiederum den erfolg­reicheren als »Nahrung« dienten. So kam — in Jahrmillionen — die Auslese der Geeignetsten in Gang.

Unterdessen sorgten die Nukleinsäuren mit ihrer »Erbinformation« und der Fähigkeit zur Selbstverdopplung dafür, die bewährten Erfolgsrezepte zu bewahren und auch weiterzugeben, so daß auch die »Nachkommen« wieder die gleiche Überlebensstrategie anwenden konnten. Das war wichtig und notwendig, weil unter gegebenen Umständen - sagen wir in einem See oder am Meeresgrund - das Angebot an Aufbaustoffen und die sonstigen Umwelt­bedingungen ebenfalls gleichblieben. Würden in einer gleichbleibenden Umwelt die Vertreter einer Art mit immer wieder anderen Eigenschaften geboren werden, so hätten sie wenig Überlebenschancen gehabt. Denn die gleichgebliebene Umwelt wäre für »Abweichler« ein ungewohntes Terrain, womöglich ein gefährliches Milieu gewesen, dem sie sich nicht gewachsen gezeigt hätten. Umgekehrt hätten permanent »gleichbleibende« Lebewesen in einer sich ändernden Umwelt schwer zu kämpfen gehabt (wir werden noch darüber sprechen, wie sich die Natur gegen solche Fälle wappnet).

Hier liegt vielleicht schon der tiefste Grund jener Probleme, mit denen wir heutigen Menschen uns herumplagen. 

Machen wir einmal den gewagten Sprung in die Gegenwart: 

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Indem wir mit Hilfe der Technik — eines Gehirn-Produkts — unsere Umwelt- und Lebensverhältnisse fortwährend und mit wachsender Geschwindigkeit verändern, stören wir immer nachhaltiger das harmonische, weil in langen Zeiträumen entstandene Eingespieltsein des Menschen auf seine gewohnte Umwelt. Es ist durchaus möglich, daß gerade in diesen Jahrzehnten die Anpassungsfähigkeit des biologischen Wesens Mensch an seine fortgesetzt veränderten Umweltverhältnisse jene Grenzen erreicht, die ihm von der Natur gezogen sind. Weder würde er eine hausgemachte Klimaänderung, noch eine Sauerstoffabnahme in der Atemluft, noch erhöhte Radioaktivität, noch allzu große Bevölkerungsdichte oder Nahrungsnot auf die Dauer schadlos verkraften, um nur einige Beispiele zu nennen.

Wir wollen aber nicht vorgreifen, sondern bei der Erbinformation bleiben. Sie ist bekanntlich als »genetischer Code« im chemischen Aufbau der Nukleinsäuren enthalten, und dieser Code bleibt von Generation zu Generation unverändert. Er garantiert die »Konstanz der Arten« (eine Katze bringt immer nur Katzen hervor, ein Apfelbaum Apfelbäume). So überzeugend uns die Natur dieses Prinzip demonstriert, so ganz hundertprozentig korrekt werden die Erbrezepte doch nicht immer weitergegeben. So nützlich es nämlich für ein Lebewesen und für die Erhaltung der Art auch sein mag, an einem einmal bewährten Bau- und Funktionsplan festzuhalten — es kann auch Nachteile haben. Heute wissen wir, daß die Arten nicht konstant sind, sondern sich verändern können, wenn auch nur allmählich und in ganz kleinen Schritten. Und wir wissen auch, worin der »Sinn« der Sache liegt.

Denn die Umwelt, in der eine Tier- oder Pflanzenart lebt, muß nicht für alle Zeiten gleichbleiben. Klimaschwankungen, ein sich wandelndes Nahrungsangebot, veränderte Boden- oder Wasserbeschaffenheit, auch der Vorstoß der Arten über ihre anfänglichen Verbreitungsgrenzen hinaus in Neuland — mit all dem muß ja gerechnet werden. Wenn sich die Nachkommen einer Art über lange Zeiträume wie ein Ei dem andern gleichen würden, so hätten sie es in einer veränderten Umwelt schwer gehabt oder wären vielleicht sogar ausgestorben. 

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Treten aber gelegentlich »Abweichler« vom arttypischen Merkmalsbild auf, die mit den gewandelten Umweltverhältnissen zufällig besser zurechtkommen, so können sie sich behaupten, vermehren und die Art oder Gattung vor dem Aussterben bewahren. Wie funktioniert dieser Trick?

Während der Selbstverdoppelung der Nukleinsäure-Moleküle, dann also, wenn die Erbinformation weitergegeben werden soll, gibt es immer wieder einmal kleine Unregelmäßigkeiten. Das heißt, die chemisch verschlüsselte Schrift verändert sich dann ein bißchen. Kleine Fehler können sich einschleichen. Beispielsweise können einzelne »Buchstaben« herausfallen und falsche sich an deren Stelle setzen. Der so veränderte »genetische Code« bewirkt dann bei den Nachkommen kleine, wiederum erbliche Merkmalsabweichungen, soweit der entstandene »Fehler« nicht lebensbedrohlich ist. Wäre er dies, würde das Lebewesen gar nicht erst geboren.

In einer gleichbleibenden Umwelt bringen solche Veränderungen keine oder nur ganz geringe Vorteile mit sich. Viel eher werden sich Merkmalsänderungen hier schädlich auswirken. Denn die unveränderten Individuen sind ja bereits das Ergebnis eines langen Anpassungsprozesses an eben jene Umwelt. Darum würden Abweichler vom bewährten Merkmalsbild kaum bessere Fortpflanzungschancen gewinnen. Daß dagegen bei einer Umweltveränderung die »Abartigen« größere Überlebenschancen erhalten, läßt sich an einem einfachen Beispiel demonstrieren.

Unter den Wasserflöhen in einem Teich sind einige mit dem zufällig entstandenen Merkmal »äußerst kältefest«. Solange die durchschnittlichen Wasser­temperaturen gleich bleiben, haben diese Sonderlinge kaum Chancen, sich besser zu behaupten als ihre normalempfindlichen Artgenossen. Wird das Teichwasser jedoch durch Naturvorgänge einmal kälter, so würde dies für die Normalempfindlichen den Tod bedeuten, während die zufällig Kältefesten dank ihrer bis dahin »nutzlosen« Eigenschaft überlebten und die Art erhielten. Die erblichen Abweichler hätten sich als »stille Reserve« für den Fall von Umweltänderungen erwiesen.

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Um damit erneut und nicht weniger gewagt auf den Menschen zurückzukommen: Unsere selbstverursachten Umweltveränderungen wären möglicherweise gar nicht so schlimm, wenn uns genügend erbliche Flexibilität gegeben wäre, sie zu verkraften; wenn es beispielsweise genügend Menschen gäbe, die einen Gegenmechanismus zu dem allgemeinen Erbverfall und die zunehmend schwächer werdenden Abwehrsysteme gegen Krankheiten besäßen, wie sie die Errungenschaften moderner Technik und Medizin mit sich bringen. 

Um die dafür notwendigen erblichen Merkmalsänderungen bereitzustellen, brauchte die Natur aber viel Zeit. Unsere Eingriffe in die Umwelt, der Erbverfall, die Naturzerstörung und die Menschenvermehrung auf der Erde gehen viel zu rasch und zu nachhaltig vor sich, als daß wir auf einen solchen »genetischen Anpassungsprozeß« hoffen könnten. Er würde viel zu lange dauern, um die Gefahr mit biologischen Mitteln noch bannen zu können.

Die auslesenden Umweltfaktoren wie Temperatur, Feinde, Nahrungsangebot, Salzgehalt bei wasserlebenden Tieren, Wetterfaktoren, geographische Gegeben­heiten und andere begünstigen nur die jeweils Geeignetsten, sie dezimieren die weniger Angepaßten oder lassen sie sogar aussterben. Aber in einigen wenigen Fällen, in einem oder zwei Prozent vielleicht, bringt eine Mutation auch einmal einen Vorteil für ein Lebewesen mit sich. Solche neuen Merkmale können zweckmäßiger funktionierende Organe sein. Es kann sich darum handeln, daß ein Tier auf Umweltreize rascher, abgestufter, differenzierter zu reagieren versteht, daß es größer oder kräftiger gebaut ist, schneller fliehen kann, eine bessere Tarnfarbe besitzt oder andere Vorzüge hat. Die Folge ist: Es kann sich erfolgreicher fortpflanzen. Es kann mehr Nachkommen mit den gleichen vorteilhaften Merkmalen hervorbringen als seine unveränderten Artgenossen, die nun allmählich verdrängt werden. Auf diese Weise wandelt sich ganz allmählich das Erscheinungsbild der Arten. Neue Typen entstehen, die den jeweiligen Umwelten besser gerecht werden, die dank neu erworbener Merkmale auch neue Lebensräume besiedeln können oder andere Arten aus ihrem angestammten Verbreitungsgebiet verdrängen.

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Halten wir also fest: Der naturgegebene Vorgang, durch den erbändernde Ereignisse — Mutationen genannt — mit einer bestimmten Häufigkeit auftreten, spielt der Umwelt als prüfender Instanz immer wieder neue Merkmalskombinationen zu, so daß die Auslese langsam, aber sicher für immer besser angepaßte Lebewesen sorgen kann und die weniger Geeigneten gleichzeitig verdrängt. Das geschah nicht nur mit jenen ersten, vermehrungsfähigen Gebilden aus Nukleinsäuren und Eiweißen, damals, als das Leben begann, sondern es geschieht überall, wo Leben ist — von der einzelligen Alge bis hin zu den Menschenaffen. Und es betraf ursprünglich auch uneingeschränkt den Menschen.

Verallgemeinernd läßt sich sagen, daß die heutige Artenfülle auf der Erde im Grunde nichts anderes ist als das Ergebnis des Zusammenwirkens zweier sich ergänzender Vorgänge: dem der richtungslosen und zufälligen Erbänderungen im Bereich der Nukleinsäuren, und dem der anschließenden Auslese unter den erblich unterschiedlichen Lebewesen je nach deren Eignungsgrad in ihrer (sich wandelnden) Umwelt.

Manche Kritiker der Evolutionstheorie sind allerdings auch heute noch nicht in der Lage, sich vorzustellen, daß es »nur« gewissermaßen ziellos wirkende Kräfte gewesen sind, die sowohl das Leben einst entstehen ließen, als auch für die stete Höherentwicklung der Arten zu immer besser angepaßten Formen gesorgt haben.

Sie verweisen bei Streitgesprächen gern auf Beispiele für besonders unwahrscheinliche Ergebnisse solchen »Zufalls«, wie etwa die Vielgestaltigkeit des Vogelgefieders, auf die Zweckmäßigkeit der Sinnesorgane, auf die Blütengestalten der Orchideen oder — natürlich — auf das menschliche Gehirn, dem wir abstraktes Denken, Liebesglück und das Wissen vom Zeitablauf verdanken. In seiner Einmaligkeit, so meinen sie, spreche das Menschenhirn allen materialistischen Zufallsthesen von seiner Entstehung Hohn.

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In der Tat haben wir hier ein nicht gerade einfach durchschaubares Problem vor uns. Die Frage stellt sich, wie etwa auch das menschliche Auge mit seinen verschiedenen, für sein richtiges Funktionieren unerläßlichen Bestandteilen allein dank der natürlichen Auslese entstanden sein kann. Die Kritiker argumentieren ungefähr so: Wie sollte es möglich sein, daß zufällig und zeitlich nacheinander ausgerechnet jene Erbeigenschaften in der richtigen Reihenfolge aufgetreten sind, die das »sonnenhafte« Organ letzten Endes ausmachen? Da jede Mutation zunächst ein »Fehler« im Erbgefüge ist, wie sollte dann aus lauter Fehlern etwas entstehen, dessen erstaunliches Funktionieren wir jeden Tag aufs neue bewundern können?

Ein weiterer Gesichtspunkt ist, daß jede Erbabweichung für das betreffende Lebewesen vorteilhaft sein muß, wenn sie erhalten bleiben soll. Wo aber hätte der Vorteil eines Linsenkörpers oder einer Iris gelegen, wenn nicht alle anderen, zum Auge gehörenden Bestandteile schon vorhanden gewesen oder gleichzeitig entstanden wären? Muß man also nicht folgern, daß so komplizierte Gebilde wie das Auge oder das Ohr entweder auf einen Schlag dagewesen sind — was der Evolutionslehre widerspräche — oder überhaupt nicht zustande gekommen sein können? Wir können, so hört man gelegentlich von Kritikern Darwins, geradesogut annehmen, daß wir die Räder, Schrauben und andere Bestandteile eines Uhrwerks, die wir in einen Kasten getan haben, durch einfaches Schütteln dazu bringen, sich so zu ordnen, daß sie eine funktionsfähige Uhr werden.

Die Biologen haben diesen Einwand durchaus ernst genommen, aber sie haben ihn auch widerlegen können. Sieht man nämlich genauer hin, so setzt die These der Kritiker stillschweigend voraus, daß stammesgeschichtliche Vorstufen komplizierter Organe noch nicht funktionsfähig waren. Das ist aber nicht der Fall. Auch die Vorfahren des Menschen bis hinab zu den Amphibien und Fischen haben schon Augen. Selbst das »Urwirbeltier«, das Lanzettfischchen, besitzt lichtempfindliche Pigmentzellen. 

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Alle diese Augen-Vorläufer waren und sind ihren Trägern nützlich, obwohl sie einfacher gebaut erscheinen. Man kann also den Einwand, komplexe Anpassungen seien mit der Mutations-Auslese-Theorie nicht zu erklären, mit dem Hinweis auf den langen Prozeß der Vervollkommnung eines Organs entkräften, dessen Vorstufen durchaus ihren — wenn auch abgestuften — Nützlichkeitswert hatten. Der Mutatipns-Ausleseprozeß, der zu komplizierten Organen führt, vollzieht sich in kleinen Schritten, unter denen auch nutzlose und schädliche sind — die von der Auslese verworfen werden —, deren vorteilhafte aber jeweils kleine Verbesserungen des bestehenden Zustandes bringen und deswegen erhalten bleiben.

Nicht wenigen Kritikern der Evolutionslehre fällt es aber allgemein schwer, den Ablauf jenes Geschehens nachzuvollziehen, das für die Entwicklung neuer und erfolgreicher Eigenschaften bei den Lebewesen ebenso wie für die Artenentstehung verantwortlich ist. Sie übersehen allzuleicht, daß der Zufall bei all den Anpassungen und Zweckmäßigkeiten, also auch bei der Entstehung des menschlichen Gehirns, nur im jeweils ersten Akt eines zumindest zweiteiligen Vorganges wirksam ist. Tatsächlich wäre es völlig ausgeschlossen, daß allein durch Zufall selbst im Zeitraum von Jahrmillionen ein Gebilde wie das einer Algenzelle in noch so kleinen Entwicklungsschritten hätte entstehen können, denn wie sollte der Zufall allein zu immer besseren Anpassungen an die Umwelt führen?

Der Zufall als einziger Regisseur auf der Bühne des Lebens hätte bei der Entstehung von derzeit mehr als 1,5 Millionen meist hervorragend angepaßter Tier- und nahezu 400.000 Pflanzenarten tatsächlich auf hoffnungslos verlorenem Posten gestanden. Nur weil nachträglich die Auslese in Gestalt der Umwelt-Gegebenheiten eingreift, nur weil die Umweltfaktoren das vorgegebene »Spielmaterial« der erblich unterschiedlichen Individuen auf seine Eignung hin prüfen und den Bestangepaßten schließlich bessere Vermehrungschancen verschaffen — nur deshalb konnten die zahlreichen Arten entstehen und auch höhere Komplikationsgrade erreichen. Nur deshalb haben wir eine so bunte belebte Welt. Und nur deshalb gibt es auch uns, die Menschen, mit unseren Gehirnen.

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Mit diesen Fragen hatte sich im vorigen Jahrhundert auch der große englische Biologe Charles Darwin schon beschäftigt. Die Ergebnisse seiner Beobachtungen veröffentlichte er 1859 in seinem berühmten Werk <Die Entstehung der Arten> [9]. Darwins Theorie von der natürlichen Auslese, inzwischen längst gesichertes Wissensgut unserer Zeit, war damals auf die erbitterte Kritik der Kirche gestoßen. Wer Darwin folge, so erklärten die Theologen, der leugne die Geschichte von Adam und Eva aus der Bibel und stelle sich auf den Standpunkt, daß zottige Affen mit schlechten Manieren die Urahnen des Menschengeschlechtes gewesen seien.

Das war schlechterdings eine Todsünde. Aber es war nicht alles, was der alte Darwin zu hören bekam. Bis in unsere Zeit hinein verkannten und verkennen viele den Ausdruck »Kampf ums Dasein« (struggle for life). Sie verstanden Darwin so, als hätte er behauptet, in der Natur setzten sich die Stärksten durch, indem sie die Schwächeren töteten. Das Mord- und Totschlag-Bild seiner Theorie hielt sich hartnäckig als eines der großen historischen Mißverständnisse, es wurde sogar zum Ursprung der verhängnisvollen Idee vom »Recht des Stärkeren«, das Darwin angeblich nachgewiesen haben sollte.

Richtig ist, daß Darwin den Ausdruck »Kampf ums Dasein« im Sinne eines Konkurrenzkampfes verstanden hatte. Tatsächlich ist der »Wettbewerb der Erbmerkmale« um den jeweils größten Auslesevorteil ein vorwiegend friedliches Geschehen, dessen Ergebnis unterschiedliche Fortpflanzungschancen sind. Diese wieder wirken sich so aus, daß weniger geeignete Individuen einer Art von den besser Angepaßten allmählich ins Abseits geschoben werden und unter Umständen auch aussterben.

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Für all das gibt es in der Natur zahlreiche Beispiele. Die Rivalitätskämpfe der Hirsche, die sich mit ihrem Geweih nicht töten, sondern in »Schiebekämpfen« nur ihre Kräfte um die Gunst der weiblichen Tiere messen, die Kommentkämpfe unter Schlangen ohne Einsatz der Giftzähne, die zähnefletschenden Wölfe, deren Aggression sofort erlischt, wenn der Artgenosse am Boden die Unterwerfungsgeste macht — man braucht die Aufzählung nicht fortzusetzen.

Natürlich läßt sich einwenden, das Getötetwerden spiele bei der Auslese der Tauglichsten doch noch eine gewisse Rolle. Beim Angriff eines Bussards auf zwei spielende Junghasen geht es ja durchaus um Leben oder Tod. Wenn der Greifvogel die beiden aus der Luft erspäht hat und zum Angriff ansetzt, mag einer der beiden Hasen den herabstürzenden Vogel um Sekundenbruchteile eher bemerken und gerade noch rechtzeitig hakenschlagend in den Bau entwischen. Der andere dagegen fällt den Fängen des Vogels zum Opfer, weil er um eine Spur unachtsamer war. Findet hier nicht doch ein brutaler Daseinskampf auf Gedeih und Verderb statt?

Es scheint nur so! Denn man muß unterscheiden zwischen dem auslesenden Vorgang in Gestalt des tötenden Bussards und dem Wettbewerb der Erbmerkmale, der sich allein zwischen den beiden Jungtieren abspielt. Der achtsamere Hase überlebt. Er hat damit die Chance, seine vorteilhafte Anlage — die einer größeren Aufmerksamkeit — weiterzuvererben, während der unachtsamere Artgenosse an der Weitergabe seiner Anlagen gehindert wird. Nicht die Hasen kämpfen, sondern die Umwelt führt die Auslese durch.

Dieses Beispiel mag ein weiteres Mißverständnis ausräumen, dem die Entwicklungslehre in der Biologie häufig begegnet. Es zeigt nämlich, daß die Auslese, die Selektion, im Grunde richtungslos oder, wenn man so will, »planlos« wirkt. Denn der einzige Ansatzpunkt, den sie hat, sind ja die ihrerseits richtungslos auftretenden Erbabweichungen (hier die unterschiedlich aufmerksamen Hasen), während der Maßstab, nach dem sie selektiert, wiederum nur die gerade herrschenden Umweltverhältnisse sind (hier der jagende Bussard). Ebensogut könnte das Klima oder das Nahrungsangebot der auslesende Umweltfaktor sein.

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So ist zu schließen: 

Die Lebewesen unseres Planeten sind weder Zufallsprodukte, noch sind sie die Ergebnisse eines erlauchten Planes, der von Anfang an mit dem Ziel bestanden haben könnte, den Menschen als Krone der Schöpfung hervorzubringen, so hilfreich für den Seelenfrieden mancher Menschen diese Vorstellung auch sein mag. Alles deutet vielmehr darauf hin: Wir und mit uns die Welt des Lebendigen sind das Resultat ungezählter Augenblicks­entscheidungen, die ohne jede »Voraussicht« erfolgt sind; wir alle sind von Kräften geschaffen worden, die gar nicht anders konnten als für die jeweilige Gegenwart zu wirken.

Daß es unter diesen Umständen zur Evolution und zur Höherentwicklung der Arten kam, mag zwar überraschen, ist aber zwangsläufig, wenn man das Prinzip von Mutation und Auslese konsequent durchdenkt. Erstaunlicher mutet an, daß so viele unter uns sich die Zweckmäßigkeit von Verhaltensweisen oder Organleistungen nicht anders als von einem göttlichen, das heißt menschenähnlichen Geist erschaffen denken können, und daß sie der »Materie« so wenig zutrauen.

Um solche Denkschwierigkeiten zu bewältigen, sollte man wissen, daß das Ergebnis »planlos« wirkender Kräfte durchaus den Eindruck eines Planes machen kann, solange nur ein Bezugssystem — die Umwelt — existiert, in das hinein entwicklungsfähige Größen — die Lebewesen — sich immer wieder integrieren müssen oder von der Auslese integriert werden, um nicht auszusterben. Genau dieses Prinzip aber sehen wir auf der Erde verwirklicht.

So gesehen, ist also auch der Mensch ein Evolutions-Produkt. Zahlreiche Merkmale seines Körperbaus und seines Verhaltens zeugen davon. Manches entdecken wir bei uns wieder, das sich schon bei unseren Ahnen im Tierreich, teils schon bei einzelligen Lebewesen bewährt hat. Dazu gehören die Nukleinsäuren in den Zellkernen als Träger der Erbinformation, die Nerven-, Sinnes- und Muskelzellen, der Magen-Darmkanal, das Blutgefäßsystem und vieles mehr. Alle diese Eigentümlichkeiten entstanden im Lauf von Jahrmillionen und wurden weiterentwickelt.

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Wahrscheinlich während der Juraperiode vor 150 Millionen Jahren, als die ersten Säugetiere auftraten, begann sich jener Teil des Gehirns zu bilden, der die Menschengeschichte später so nachhaltig prägen sollte: die Vorderhirnrinde. Auch zahlreiche andere exquisite Errungenschaften gehen auf jene Zeit zurück, darunter das beim Menschen später wieder zurückgebildete Haarkleid, die Fähigkeit, die Augen auf »nah« und »fern« einzustellen, die geteilte Herzkammer für Körper- und Lungenkreislauf und die Warmblütigkeit. Mit der letzteren können die Säugetiere ihre Körperwärme unabhängig von der Außentemperatur konstant halten.

Sehr wichtig für die Entwicklung zum Menschen wurde auch die allmählich länger werdende Tragezeit bei den Menschenaffen und die längere Jugendzeit der Tiere. Jene Monate und Jahre, in denen die Alten die Jungen noch schützen und führen, standen jetzt als Lernperiode zur Verfügung. Das erwies sich als vorteilhaft, denn nun konnten die Jungen zunehmend mehr »Kenntnisse« erwerben und Verhaltensweisen annehmen, die über das bloß Ererbte hinausgingen. Hier schon bahnte sich an, was wir heute die »kulturelle Evolution« nennen: eine von der biologischen unabhängige Entwicklung, zu der den späteren Menschen dann endgültig der aufrechte Gang, der Werkzeuggebrauch und die Sprache befähigten.

Leider haben wir darüber noch kein lückenloses Bild. Wir wissen zwar, daß wir affenähnliche Vorfahren gehabt haben, aber wann und wie die Abspaltung der Menschenlinie von diesem Affenstamm vor sich ging und welche Ahnenreihe dann zum Homo-sapiens führte, darüber breitet sich noch Nebel.

Auch die Frage, wo die Wiege der Menschheit stand, ist unbeantwortet. Nach spektakulären Knochenfunden der letzten Jahre gilt zwar wieder einmal Afrika als favorisierter Kontinent, doch brachten neu entdeckte Kieferknochen in Burma wieder Verwirrung in das Puzzlespiel. Viele Forscher suchen die frühesten Vorfahren des Menschen jedenfalls in Asien statt in Afrika. Andere meinen, die Frühformen des Menschen könnten durchaus gleichzeitig sowohl in Afrika als auch in Asien entstanden sein. Wir werden also wohl noch eine Weile mit der Ungewißheit leben müssen.

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Vor etwa 30 Millionen Jahren lebte im heutigen, damals noch dichtbewaldeten Ägypten ein affenartiges Wesen namens Aegyptopithecus zeuxis, das man für den gemeinsamen Vorfahren der Menschenaffen und Menschen hält. Nach Schädelknochenfunden südwestlich von Kairo zu urteilen, hat das Tier nur etwa fünf Kilogramm gewogen und ein Schädelvolumen von 30 Kubikzentimetern gehabt. Die starken Reißzähne der Männchen sollen mehr zu Drohgebärden als zum Beutemachen benutzt worden sein. Der Aegyptopithecus zeuxis oder ägyptische Verbindungsaffe habe nach Meinung seines Ausgräbers E. Simons intensive soziale Kontakte unterhalten und sei vermutlich der Vorfahr der Dryopithecinen gewesen, der späteren Vorläufer der Menschenaffen in Afrika [66].

Ziemlich übereinstimmend halten die Fachleute die sogenannten Ramapithecinen für die ursprünglichsten unmittelbaren Vorgänger des Menschen. Aufgrund von Knochenfunden lassen sie sich als noch halb äffische Baumbewohner mit fliehender Stirn denken, die vor etwa 15 bis 8 Millionen Jahren in Afrika und Asien gelebt haben. Wahrscheinlich richteten sie sich nur gelegentlich auf.

Entscheidend für den »Schritt zum Menschen« ist offenbar der Wechsel des Lebensraumes gewesen: Vor mehr als drei Millionen Jahren verließen die noch äffischen Vorfahren des Menschen aus Gründen, die wir nur vermuten können, den schützenden Urwald und drangen in Steppe und Savanne vor. Bezeichnender­weise begann das Großhirn erst danach, seine »menschlichen« Merkmale anzunehmen.

Warum die Vorfahren des Menschen den Urwald verließen, ist nicht bekannt. An und für sich bot ja der Wald gerade den Menschenaffen nicht nur Schutz, sondern während des ganzen Jahres auch reichlich pflanzliche Nahrung, er war ein geradezu idealer Lebensraum.

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Vielleicht wich zu jener Zeit der tropische Urwald zurück, die Waldbestände schrumpften, so daß sich der Lebensraum für die Baumbewohner verkleinerte. So mag sich ihr Kampf ums Überleben verschärft haben. Vielleicht sahen sie sich aus diesem Grunde nach einem neuen Lebensraum um. Vielleicht lockte sie als hochentwickelte Primaten auch nur der Vorwitz in die Steppe — erste Regungen eines Neugierverhaltens, das den späteren Frühmenschen dann so stark beherrschen sollte. Offenbar hat jedoch die Steppe diesen Primaten aus einer Sackgasse ihrer Entwicklung herausgeholfen.

Machen wir auch hier einen Sprung in die Gegenwart und vergleichen unsere heutige Situation mit der von damals, so gibt es für die Menschen der übervölkerten Erde keine symbolische Steppe zum Ausweichen mehr. Vielmehr sind wir auf Gedeih und Verderb auf unseren schon weidlich strapazierten und ausgeplünderten Planeten angewiesen. Selbst der Sprung auf einen anderen Himmelskörper bleibt uns versagt, denn zusammen mit unserem Menschenüberschuß müßten wir auch die irdischen Lebensbedingungen in den Weltraum exportieren, was allenfalls den Verfassern von Science-fiction-Romanen gelingt.

 

Nach einer noch klaffenden Lücke von rund fünf Millionen Jahren traten dann die Australopithecinen auf. Zahlreiche Skelette dieser noch sehr primitiven Vormenschentypen sind in Südostafrika gefunden worden. Sie deuten darauf hin, daß der Australopitbecus zwischen Menschenaffen und heutigem Menschen gestanden hat. Er könnte ein Zwischenglied gewesen sein, das zu einer Zeit von vor drei bis einer Million Jahren während des frühen bis mittleren Pleistozäns lebte. Der Australopitbecus besaß stark schnauzenartig vorspringende Kieferknochen und eine fliehende Stirn, aber gegenüber dem Schimpansen hatte er schon ein deutlich vergrößertes Vorderhirn. Das läßt auf bereits gesteigerte geistige Fähigkeiten schließen, denn im Vorderhirn liegen zahlreiche Zentren, in denen kompliziertere Denkvorgänge und eine feinere Verarbeitung von Sinnesreizen möglich sind, darunter der Schläfenlappen und das Stirnhirn.

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Der nächste Verwandte des Australopitbecus, der Homo-habilis (der »geschickte«), entwickelte sich offensichtlich aus Australopithecinen. Er ging mit Sicherheit bereits aufrecht. Sein Gehirn war etwa halb so groß wie das des heutigen Menschen, doch sein Gebiß ähnelte bereits dem unsrigen. Die Funde lassen auch vermuten, daß der Homo-habilis schon primitive Steinwerkzeuge anfertigte und verwendet hat.

Der auf ihn folgende Homo-erectus (der »aufgerichtete«) lebte vor etwa eineinhalb Millionen Jahren. Er unternahm weite Wanderzüge, wahrscheinlich verließ er auch den afrikanischen Kontinent und verbreitete sich über Asien und Europa, noch bevor die großen Eiszeiten einsetzten. Ein Verwandter des Homo-erectus, der viele hunderttausend Jahre gelebt hat, ohne sich wesentlich zu verändern, dürfte der »Heidelberger« gewesen sein. Von ihm kündet der »Unterkiefer von Mauer«, einem Fundort in der Nähe Heidelbergs.

Ein noch höher entwickelter Frühmensch mit einem Hirnvolumen von 1150 Kubikzentimetern lebte vor etwa 250.000 Jahren in Europa, man hat ihn nach seinem Fundort den »Steinheimer« genannt.

Einen Übergang vom Homo-erectus zum modernen Homo-sapiens (dem »weisen«) sehen die Paläontologen neuerdings in einem Fund der amerikanischen Anthropologin Mary Leakey in der Nähe von Laetoli in Tansania. Es handelt sich um einen ziemlich genau 120.000 Jahre alten Schädel, der bereits ein Volumen von 1200 Kubikzentimetern aufweist: ein gewissermaßen ursprünglicher Homo-sapiens, bei dem nur die fliehende Stirn und die dicken Augenbrauenwülste noch an die primitiveren Vorfahren erinnern. Die dritte Zwischeneiszeit (Riß/Würm), in der dieser Vertreter lebte, war zugleich eine Periode rascher Gehirnentwicklung. Was ging hier vor, daß wir vor rund 100.000 Jahren Individuen finden, die schon das Gehirnvolumen des heutigen Menschen erreicht haben?

Noch nicht sicher verwandtschaftlich einzuordnen ist der Neandertaler, der vor rund 100.000 bis 30.000 Jahren lebte und dessen Schädelform keine Beziehung zu dem »sapiens-Urtyp« von Laetoli zu haben scheint. Wahrscheinlich muß man den Neandertaler, den Homo-sapiens-neandertalensis, als eine Seitenlinie zum modernen Menschen auffassen. Der letzte Vertreter, den wir hier nennen müssen, ist der Cro-Magnon-Mensch, der vor 30.000 Jahren auftrat und mit einem Hirnvolumen von etwa 1400 Kubik­zentimetern praktisch schon als »moderner Mensch« gilt, als Homo-sapiens-sapiens.

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Kehren wir jetzt zurück zu den Anfängen des Menschengeschlechts, in jene Zeit, da unsere Vorfahren den Urwald verließen und das freie Grasland zu besiedeln begannen. Lassen wir dabei die noch offenen Fragen über unseren Stammbaum beiseite, was um so leichter fällt, als das, worüber wir sprechen wollen, von einer so oder so abgelaufenen Aufeinanderfolge bestimmter Vormenschentypen ziemlich unberührt bleibt. Verschaffen wir uns einen großen Überblick über die Vorgänge, die schließlich zum Homo-sapiens mit seinem riesigen Großhirn führten.

Als Schlüsselfiguren in dem »Schauspiel der Menschwerdung« müssen offenbar die Australopithecinen gelten. Sie, die als erste die Steppe besiedelten, mußten ihre Lebensweise tiefgreifend umstellen. Im Grasland wechselten Perioden der Fülle mit solchen des Mangels an Nahrungspflanzen ab. Da es zeitweise nicht genug Pflanzliches zu essen gab, gingen die Australopithecinen dazu über, auch Tiere zu fangen und zu verzehren — aus den Pflanzenessern wurden die Allesesser.

Auch in der Art, wie er sich fortbewegte, mußte sich der Vormensch an die neue Umgebung anpassen. Da er kein ausgesprochener Schnelläufer war und auch keine »körpereigenen Waffen« wie Krallen oder lange Reißzähne besaß, sah er sich vielen Steppentieren unterlegen. Das mußte ausgeglichen werden. Es geschah erst einmal dadurch, daß er lernte, aufrecht zu gehen. Wollte er im hohen Steppengras Beute fangen, Angreifer entdecken oder sich orientieren, so mußte er sich hochrecken, ähnlich wie Hasen und Kaninchen nach Feinden Ausschau halten. 

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Die neue Umwelt übte also einen sanften Zwang auf die neuen Besiedler aus, aufgerichtet zu gehen, und sie verschaffte denjenigen unter ihnen Auslesevorteile, die »gut zu Fuß« und besonders aufmerksam waren, die außerdem schnell reagieren konnten. Als Ergebnis der Umstellung wird der Vormensch also kräftige Beinmuskeln und schärfere Sinne bekommen haben.

Es muß vor mehr als drei Millionen Jahren gewesen sein, als die Voraussetzungen für die typische Haltung und den Gang des späteren Menschen entstanden. Skelettfunde bestätigen dies auch. Die Anheftungsstelle des großen Gesäßmuskels veränderte sich, so daß nun das Hüftgelenk gestreckt und der Oberschenkel stärker nach rückwärts bewegt werden konnten. Der Fuß wölbte sich und bekam jene federnde, zum Gehen besser geeignete Form. Die große Zehe vergrößerte sich. Die Kniegelenke ließen sich mehr und mehr durchstrecken. Am Hüftgelenk sorgte das Ligamentum ilio-femurale für die Fixierung des Körpers in der aufrechten Haltung, zu der außerdem die Wirbelsäulenkrümmung beitrug.

Auch innere Organe machten einen Wandel durch.  

Beim Vierbeiner lasteten die Eingeweide beim Laufen noch auf der vorderen Bauchwand. Beim Aufrechtgeher drückten sie nun auf den Beckenboden, der seinerseits aus der umgewandelten Schwanzmuskulatur hervorging. Das hatte allerdings seine Risiken. Denn die neue Tragfläche für die Eingeweide mußte sowohl die Ausscheidungsöffnungen als auch — beim weiblichen Geschlecht — den Gebärweg offenlassen. Damit ergab sich die Gefahr von »Durchbrüchen« innerer Organe nach unten. Vor allem den Nieren an der hinteren Bauchwand drohte jetzt das »Abrutschen«. Während die Nieren beim Vierbeiner auf den Eingeweiden ruhen, wurden sie beim Aufrechtgeher künftig vom vergrößerten, umgekehrt u-förmigen, auf- und absteigenden Dickdarm gehalten. Zwar entwickelte sich ein derbes Bindegewebe und schützte die »Bruchpforten«, doch kam und kommt es auch heute noch immer wieder einmal zu Pannen wie dem Durchbruch von Eingeweiden als späten Preis für die Vorteile des Aufrechtgehens.

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Im aufgerichteten Körper wandelte sich auch das Gehirn in der knöchernen Schädelkapsel um und vergrößerte sich. Einen Beitrag dazu leisteten unter anderem die Augen. Von »erhöhter Warte« sahen die Steppenbesiedler jetzt mehr als früher, es schärfte sich also der Gesichtssinn. Mehr und mehr fanden dabei die Augen zu ihrer späteren, das menschliche Gesicht prägenden Parallelstellung, die auch das dreidimensionale Formensehen möglich macht. Zugleich verbesserte sich die Fähigkeit zur Akkomodation, zur Scharfeinstellung auf einen anvisierten Gegenstand. Entsprechend dieser Veränderungen aber mußten sich die zugehörigen Gehirnabschnitte für die Verarbeitung optischer Reize vergrößern.

Im Gegensatz zu den Augen profitierte die Nase wahrscheinlich nicht. Solange das Riechorgan als wichtigste Orientierungshilfe des Vierfüßers nahe am Boden blieb, hatte es immer zu tun und blieb ein wirkungsvoller Signalgeber. Entsprechend gut entwickelt ist bei bodenlebenden Tieren daher die Verarbeitungs­zentrale für die Geruchsreize im Gehirn, das sogenannte Riechhirn. Hier trat beim Aufrechtgeher wahrscheinlich sogar eine gewisse Rückentwicklung ein.

Mit den freiwerdenden Armen und Händen dagegen konnte er jetzt viel mehr anfangen. Vor allem erwarb er mit seinen Händen wertvolle Instrumente zum Greifen, zum Tragen, zum Gestalten, wenn er auch den Daumen zunächst noch nicht sehr weit abspreizen konnte. Da Arme und Hände nun nicht mehr zum Hangeln und Klettern im Baumgeäst notwendig waren, standen sie für neue Aufgaben zur Verfügung. Der Australopithecus begann, mit Steinen zu werfen, mit Knüppeln und Knochenstücken zu hantieren, alles mögliche zu transportieren und irgendwann auch primitive Werkzeuge und Jagdwaffen herzustellen — wir kommen darauf im nächsten Kapitel zurück.

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Man weiß von diesen ersten handwerklichen Versuchen durch erhalten gebliebene, ganz einfach zugeschlagene Steine, die dem Vormenschen offenbar schon vor Millionen Jahren als Schlag-, Schneid- oder Schabwerkzeuge gedient haben, den sogenannten pebble-tools. Mit ihnen wird er damals begonnen haben, Äste, Knochen, Geweihstangen, vielleicht auch Felle und Pflanzenfasern zu bearbeiten. In dieser Zeit bildete sich allmählich auch das äffische »Wehrgebiß« zurück, weil es im selben Maße entbehrlicher wurde, wie der Frühmensch lernte, seine selbstgeschaffenen Geräte auch zur Verteidigung einzusetzen.

Vieles drang in der Steppe auf die Vorfahren des Menschen ein. Der anfangs noch ungewohnte Lebensraum hielt Reizvolles wie Gefährliches für sie bereit. Dem allem mußten sie sich stellen. Ihr Blick schweifte jetzt über weite Grasflächen. Ihr Gehör schärfte sich in der vergleichsweise stilleren Umgebung für noch wesentlich schwächere Geräusche als im Wald. Durch den vielseitigen Gebrauch ihrer Hände entwickelte sich der Tastsinn. Und das alles blieb nicht ohne Folgen für jenes zentrale Organ, dem alle diese Reize zuflossen, das sie analysierte und mit sinnvollen Handlungen beantworten mußte. Mit einem Wort: Das Großhirn wuchs. Es qualifizierte sich. Bald erwiesen sich diejenigen Steppenbewohner als ihren Artgenossen überlegen, deren Gehirne zusätzliche Zellbezirke für rasche und zweckmäßige Verarbeitung der neuen Eindrücke besaßen.

Allerdings muß man einräumen, daß der Umgang mit primitiven Werkzeugen und die neuen Impulse für die Sinnesorgane allein die mächtige Großhirn­zunahme noch nicht erklären. Das vermutet auch der amerikanische Zoologe Ernst Mayr, wenn er schreibt [42]:

»Es ist behauptet worden, daß die geschickte Benutzung von Werkzeugen einen starken Selektionsdruck auf die Zunahme der Gehirngröße ausübte, bis das Hirn groß genug war, seinen Träger zu befähigen, solche Gegenstände selber herzustellen. Die Entdeckung einer Kultur der Steinbearbeitung bei Hominiden (Menschenartigen, d. Verf.) mit recht kleinen Hirnen nötigt uns, unsere Vorstellungen zu modifizieren. Es ist jetzt wohl als wahrscheinlich anzusehen, daß die Benutzung von Werkzeugen ein altertümlicher hominider Zug ist... Gebrauch und vielleicht sogar Herstellung einfacher Werkzeuge erfordern keine bedeutende Zunahme der Hirnkapazität, noch setzten sie eine grundlegende Umkonstruktion der Vorderextremitäten voraus. Arm und Hand änderten sich bemerkenswert wenig von dem Zeitpunkt an, als noch wesentlich mehr nach Ästen gegriffen wurde, bis zu dem Moment, da sie zum erstenmal zum Klavierspiel oder zur Reparatur einer guten Uhr verwendet wurden.«

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Für die stürmische Größenzunahme des Gehirns muß man also wohl noch etwas anderes verantwortlich machen, und dieses andere ist sehr wahrscheinlich die Sprache gewesen. Ihre Bedeutung als »Entwicklungshelferin« für das Gehirn läßt sich tatsächlich kaum überschätzen.

Gingen die frühen Ahnen des Menschen auf die Jagd, wollten sie den Angriffen gereizter, vielleicht verwundeter Raubtiere entgehen, so war es natürlich vorteilhaft, wenn sie sich auch über eine gewisse Entfernung hinweg durch Zurufe warnen und verständigen konnten. Auch wenn es galt, in kleinen Gruppen nach einem Plan vorzugehen, Erfahrungen auszutauschen, »Familienrat« zu halten oder sich über die Folgen eines bestimmten Handelns klarzuwerden und sie abzuwägen, war ein akustisches Verständigungsmittel hilfreich, eine Sprache also, die freilich über rein tierische Laute hinausgehen mußte.

Leider sind aus jener Zeit nur wenige Knochenfunde erhalten, die Rückschlüsse auf die Sprechfähigkeit unserer Urahnen vor zwei oder drei Millionen Jahren zuließen. Gerade die hier so wichtigen Kehlkopf- und Rachenknorpel versteinern ja nicht. Immerhin lassen die überlieferten Knochenreste doch manches vermuten. Schädeluntersuchungen zeigen, daß es in der Hals- und Kopfregion jener Vormenschen Merkmale gab, die sich vorteilhaft für das Sprechvermögen ausgewirkt haben dürften. Dazu gehörten die tiefe Lage des Kehlkopfes, die Ovalform der Zahnreihen, das lückenlose Nebeneinander der Zähne, das vom Kehlkopfknorpel getrennte Zungenbein und die gewölbte Form des Gaumens, unter dem sich die entsprechend gut bewegliche Zunge befand.

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Vergleicht man die Unterkiefer eines Menschenaffen mit dem der frühen Menschen, so ist der frühmenschliche Zungenraum, jene wannenförmige Vertiefung zwischen der u-förmigen unteren Zahnreihe, viel breiter im Vergleich zu dem der Affen. Die Zunge als wichtigstes Sprechwerkzeug bekam dadurch noch mehr Bewegungsfreiheit. Zusätzlich kam diesem Spielraum zugute, daß ein »Affenhöcker« genanntes Knochenstück im Innenbogen des Affen-Unterkiefers beim Menschen nach außen verlagert ist. In beiden Fällen hält dieser Knochen die beiden Unterkieferhälften zusammen. Beim Menschen bildet er jedoch das typische vorstehende Kinn. Die Zunge bekam auf diese Weise innen noch mehr Platz, den sie zum Sprechen nutzen konnte.

Wenn wir also davon ausgehen können, daß sich dank der anatomischen Voraussetzungen allmählich eine Sprache zu entwickeln vermochte, so wird dies auch im Gehirn nicht ohne Folgen geblieben sein. Tatsächlich gibt eine Stelle am Schädel des Homo-habilis auch einen Hinweis darauf. Von einem solchen Schädel hat man einen Gipsausguß angefertigt, der in der Schläfenregion ein kleines Grübchen erkennen läßt. Wenn die Zeichen nicht trügen, haben wir es hier mit einem ersten primitiven Sprachzentrum zu tun.

Natürlich wird man sich nun fragen, wie es im frühmenschlichen Gehirn anatomisch und funktionell zu Verbesserungen, zum Qualitätszuwachs gekommen sein könnte. Denkbar wäre hier eine zusätzliche Zellteilung während der embryonalen Entwicklung. Wie bei anderen Körpergeweben auch, so ergibt sich im Gehirn die endgültige Zahl der Nervenzellen nach einer bestimmten Anzahl von Zellteilungen. Jede Teilung verdoppelt die bereits vorhandenen Zellen. Schlösse sich nun an die letzte Teilung in einem bestimmten Gehirnbezirk noch eine weitere an, so entstünden dort auch doppelt so viele Nervenzellen und entsprechend mehr »Verschaltungsmöglichkeiten«. Neue Nervenbezirke für neue Aufgaben wären verfügbar.

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Mit dem Übergang vom schützenden Urwalddickicht in die freie Steppe erfolgte der stammesgeschichtlich wichtigste Schritt in Richtung auf den Homo- sapiens. Die aufrechte Haltung führte zum Werkzeuggebrauch, zu größerer Intelligenz und schließlich zur Sprache. Dabei wurden die Individuen mit besseren, reicher strukturierten Großhirnen von der Auslese gefördert, weil sie den Daseinskampf erfolgreicher bestanden. Der amerikanische Anthropologe W. La Barre meinte einmal scherzhaft: »Die eigentliche Erbsünde des Menschen bestand nicht darin, daß er die Frucht eines Baumes aß. Die Sünde war, daß er vom Baum herabstieg.«

Mit dem wachsenden Gehirn erwarb der werdende Mensch nicht nur seine Sonderstellung im Tierreich. Nach einer stammesgeschichtlich ganz kurzen Zeit befähigte ihn dieses Organ, alle erdenklichen Erdenwinkel zu durchstöbern und großenteils auch zu besiedeln. In der Wüste, den Polargebieten, auf hohen Bergen, auf und sogar unter Wasser — überall faßte er Fuß. Er wurde zum »Kosmopoliten«. Mit seinem forschenden Geist drang er in die submikroskopische Welt der Atome ein, mit seinen Fernrohren und Raumflugkörpern stieß er ins Universum vor. Dank seiner angewandten Technik machte er sich Bereiche zugänglich, die ihm aufgrund seiner körperlichen Beschaffenheit eigentlich hätten verschlossen bleiben müssen.

Vordergründig avancierte der Homo-sapiens damit zum erfolgreichsten Säugetier, wenn auch dieser »Siegeszug« seinen Preis forderte. Mit seinen wachsenden Ansprüchen, seinem Streben nach immer mehr Besitz, verdrängte er andere Lebewesen oder rottete sie aus. Übermütig geworden durch seine Erfolge im Ringen gegen die lange als feindlich empfundene Natur zerstörte er sie, indem er große Teile der Erdoberfläche zu Industrielandschaften und Kultursteppen verwandelte. Sein Gehirn aber erwies sich bei alledem als getreuer Helfer.

Mehr und mehr dachte der Mensch auch über sein Leben und Sterben nach. Seine Herkunft, der Kosmos, Arbeit und Muße, Kunst, Wissenschaft und Technik, das Verhältnis der Geschlechter, die Probleme des gesell­schaft­lichen Lebens und vieles mehr beschäftigten ihn. 

Ideologien, religiöse Gruppen und soziologische Systeme entstanden, auch zweifelhafte Heilslehren, die er zu verbreiten suchte, und sei es mit Gewalt. Religionskriege und blutige politische Auseinandersetzungen, so weit die Geschichte zurückreicht, zeugen davon, daß den Homo-sapiens das Zusammenleben mit vielen Vertretern seiner Art vor immer wieder neue Probleme stellt. 

Der Gegensatz zwischen zwei Gesellschaftssystemen, dem kommunistischen und dem kapitalistischen, hat sich in letzter Zeit sogar derart zugespitzt, daß das Schlimmste zu befürchten steht. Und dies angesichts von Massen­vernichtungswaffen, die ausreichen würden, die Menschheit in wenigen Stunden vom Erdball zu tilgen.

 

Wir können dieses Kapitel nicht abschließen, ohne noch über ein merkwürdiges Geschehen zu sprechen, das vor etwa 100.000 Jahren eingetreten sein muß. Seither nämlich hat sich das menschliche Großhirn nicht wesentlich weiterentwickelt. Das heißt, unsere Kinder kommen heute noch immer sozusagen mit den Gehirnen der Neandertaler zur Welt. Woraus umgekehrt folgt, daß ein Neandertaler, verfügte er über die heutigen Lern- und Bildungsmöglichkeiten, durchaus Facharbeiter oder, wenn er hochbegabt und fleißig wäre, sogar Nobelpreisträger werden könnte.

Warum das Denkorgan sich nicht weiterentwickelt hat, ist nicht geklärt. Es gibt nur Vermutungen. Vielleicht liegt die Ursache darin, daß die jeweils zusammen­lebenden Gruppen und Gemeinschaften allmählich größer geworden sind. Das könnte erbbiologische Folgen gehabt haben. 

Denn je mehr Mitglieder solch ein Clan hatte, um so weniger konnten sich die Anführer mit ihren hervorragenden Erbeigenschaften genetisch verewigen, indem sie die meisten Nachkommen zeugten. Mehr und mehr kamen auch weniger intelligente Männer zum Zuge. Diese Entwicklung könnte den Selektionsdruck in Richtung auf qualifiziertere, eventuell auch größere Gehirne abgeschwächt haben.

Hätte sich das Gehirn weiterentwickelt, so aller Wahrscheinlichkeit nach dort, wo es stehengeblieben war: Die stammes­geschichtlich jüngsten Abschnitte wären weiter ausgebaut worden, die Zentren für die höchsten geistigen Fähigkeiten. Vielleicht hätte der Mensch noch solche Nervenzentren erworben, die ihm bei der Bewältigung seiner heutigen Überlebens­probleme nützlich gewesen wären. 

Dazu kam es aber nicht mehr. Die Gehirnentwicklung stagnierte. Größere Einsichtsfähigkeit blieb dem Menschen versagt — und das um so mehr, je stürmischer die Bevölkerung wuchs und die hochqualifizierten Mitglieder das Privileg hoher Nachkommenzahlen verloren. »Die soziale Struktur unserer zeitgenössischen Gesellschaft«, so drückt es der amerikanische Zoologe Ernst Mayr aus, »belohnt Überlegenheit nicht länger mit Fortpflanzungs­erfolg.«  

Auch dieser Sachverhalt wird uns später noch beschäftigen müssen.

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1983  Theo Löbsack