3. Anatomie eines Zeitzünders Löbsack-1983
Die komplizierteste Materieform: das Gehirn — Weiß die linke Hälfte, was die rechte tut? — Das »nichtsprechende Selbst« — Mit dem Gehirn das Gehirn ergründen? — Nervenzellen — »Funkverkehr« im zentralen Nervensystem — Gedanken, Gefühle, Begreifen, Erkennen, Gedächtnis — Das Begriffliche Denken? — Wenn der Frühmensch Lanzen spitzte — Großhirn und kulturelle Evolution — Ein Farbfleck auf der Schimpansenstirn — Intelligenz, was ist das? — Die beschädigte Persönlichkeit — »Dr. Jekyll und Mr. Hyde« als Kronzeugen — Wie das richtige Denken zustande kam — Erbe oder Umwelt: John Eccles beantwortet eine alte Frage — Das Tier in uns — Neugierverhalten — Handeln wie unter einem Zwang? — Das Menschenhirn als ungebärdiger Treibsatz.
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Beschäftigen wir uns mit dem Gehirn als dem eigentlichen Risikofaktor für das Überleben des Homosapiens. Untersuchen wir es auf seine Beschaffenheit. Klopfen wir es auf seine Leistungen ab und sehen wir uns vor allem die riesige Großhirnrinde an, die dachartig alle übrigen, stammesgeschichtlich älteren Gehirnteile überwuchert hat. In diesem »Neocortex« oder »Neuhirn« befinden sich alle für den Menschen typischen Zentren der sogenannten höheren Nerventätigkeit. Hier ist seine Gedanken- und Ideenküche, hier entstehen die Antriebe für sein Handeln.
Beim lebenden Menschen ist das Großhirn ein rosarotes, fest-elastisches, knapp drei Pfund schweres Gebilde. Mit seinen vielfachen Windungen und Falten sieht es aus wie ein unordentlich in einen Koffer gestopfter Teppich. Es ist, soweit wir wissen, die komplizierteste aller Materieformen im ganzen Universum.
Prinzipiell ist das Gehirn ein Körperorgan wie andere auch. Die Überlegung dazu ist einfach. Alle Lebewesen haben zwar ihre typischen Merkmale, doch sind sie in jedem Fall auch »Systeme«, die körperliche Signale und Umwelteindrücke empfangen und auf sie reagieren. Das Organ für diese Umsetzfunktion ist das Nervensystem, bei höheren Tieren und beim Menschen ist es das Gehirn mit seinen verschiedenen Abschnitten, vor allem dem Kleinhirn und der entwicklungsgeschichtlich imponierendsten Errungenschaft, dem Großhirn.
Mit den Maßstäben der Stammesgeschichte gemessen, ist das Großhirn noch sehr jung. Verfolgt man den Stammbaum der Wirbeltiere, so zweigte vor rund 200 Millionen Jahren von den Reptilien her eine Linie zu den Vögeln ab, ein anderer Zweig führte zu den Säugetieren.
Manche Anthropologen behaupten, die klassische Gehirnentwicklung habe bei den Vögeln ihren Endpunkt gefunden. Die Säugetiere mit ihrem stürmisch sich vergrößernden Großhirn seien gewissermaßen Abweichler, Dissidenten auf der Lebensbahn. Das kann man sehen, wie man will. Seine gewaltigsten Ausmaße jedenfalls erreicht das Großhirn bei den Menschenaffen und schließlich beim Menschen. Es ist also erst »ein paar Millionen Jahre« alt.
Der Riesenwuchs des Großhirns hat viele Vorzüge, aber auch Nachteile mit sich gebracht. Einer ist die Bürde bestimmter Gebrechen, die es bei Tieren nicht gibt, darunter die Geisteskrankheiten.
Grob anatomisch besteht das Großhirn aus zwei kalottenartigen Hemisphären. Ein Verbindungssystem mit vielen Millionen Nervenfasern, das Corpus callosum oder der Balken, verbindet die Teilstücke. Man kann davon sprechen, daß die linke Hälfte der rechten übergeordnet sei, weil alles, was uns hier bewußt wird, wegen der ebenfalls dort liegenden »Sprachzentren« auch mitteilbar ist. Die rechte Hälfte ist zwar auch ein hochentwickeltes Gehirn, doch kann es sprachlich nicht wiedergeben, was in ihm vorgeht. Man hat vermutet, in der rechten Hemisphäre existiere ein rätselhaftes anderes Bewußtsein, das im Dunkel bleibe, weil es sich durch die Sprache nicht äußern kann. Der Nobelpreisträger und Gehirnforscher John Eccles sieht in der rechten Hemisphäre gar den Sitz eines »nichtsprechenden Selbst«, von dem wir ebensowenig wüßten wie vom Bewußtsein der Tiere.
Wie arbeitet das Gehirn, dieses Wunderwerk aus Nervenzellen? Welches Geheimnis verbirgt sich hinter dem Bewußtwerden unserer Außenwelt, den Sinnesempfindungen, dem Denken, dem zweckmäßigen Verhalten? Wie kommt es zu einer Muskelbewegung, was regt eine Hormondrüse an, ihre Aufgabe zu erfüllen?
Die Antworten darauf sind, wenn überhaupt, so gewiß nicht leicht zu geben. Vor allem müssen wir uns fragen, ob es überhaupt gelingen kann, das Gehirn zu durchschauen. Für den Versuch zu erfahren, wie dieses Organ funktioniert, verfügen wir ja nur über die gleichen Mittel und Möglichkeiten, die es uns selbst in die Hand gibt: jenes Gewirr aus rund 14 Milliarden hochspezialisierten Zellen, aus Leitungsbahnen, Umschaltpunkten, aus Zentren und anderen Strukturen, die das »große verschlungene Knäuel« in unserem Kopf ausmachen.
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Nach einem Grundsatz der Informationstheorie ist für das Verständnis eines Systems immer ein System von wesentlich höherem Komplikationsgrad erforderlich. Unsere Bemühungen müßten also Stückwerk bleiben, und wahrscheinlich bleiben sie es auch. Immanente Erkenntnisgrenzen schieben der Wißbegier einen Riegel vor. Andererseits besteht das Gehirn aus lebenden Zellen, aus Nervenzellen. Sie aber sind Lebenseinheiten, die prinzipiell den gleichen Gesetzen unterliegen wie andere Zellen auch. Nichts grundsätzlich Geheimnisvolles birgt ihre Gestalt und ihre Funktion. Das Erregungsmuster, der Signaltransport in ihnen kann nachgewiesen werden. Man kann Gehirnnerven künstlich reizen und dadurch Empfindungen auslösen, wie sie auch bei einem natürlichen Vorgang entstehen, etwa bei einem Geräusch. Schließlich gliedern »Schaltkreise« als funktionale Einheiten das Gehirn in bestimmte Bereiche auf, fast wie bei einem Rundfunkgerät.
Wie die Gehirnnerven funktionieren, darüber kann man im Tierversuch Genaueres durch eine geniale Technik erfahren, die sogenannte »Transport-Autoradiographie«. Dazu wird zunächst eine radioaktive Substanz, das heißt, eine Strahlung aussendende chemische Verbindung, in harmloser Menge ins Gehirn injiziert. In der Nähe der Einstichstelle nehmen die Nervenzellen die strahlenden Teilchen auf und transportieren sie durch ihre Zellfortsätze an die Kontaktstellen zu anderen Nervenzellen. Bringt man später einen strahlenempfindlichen Film in diesen Bereich, so zeigt er nach der Entwicklung unter dem Mikroskop die »Wanderwege« der eingespritzten Substanz. So läßt sich feststellen, welche Gehirnteile von den Nerven an der Einstichstelle mit »Nachrichten« versorgt werden.
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Ähnlich nutzen läßt sich der Traubenzucker Glucose, der »Betriebsstoff« der Nervenzellen. Aktive Zellen brauchen viel, in Ruhe befindliche weniger Glucose. In eine Vene eines Versuchstieres injiziert man eine radioaktiv markierte Glucoseverbindung. Anschließend läßt man das Tier ein Geräusch hören. Wird das Gehirn daraufhin nach dem Verbleib der radioaktiven Substanz »abgesucht«, so läßt sich ausmachen, welche Gehirnteile beim Vorgang des Hörens mitgewirkt haben: Es sind jene, in denen sich die meiste Glucose befindet.
Wenn Sinnesreize oder andere Botschaften im Gehirn weitergeleitet werden sollen, dann setzt dies geeignete Strukturen voraus. Unsere Frage ist also: Wie sehen die Nervenzellen aus? Betrachtet man eine solche Zelle unter dem Mikroskop, so erkennt man einen Zellkörper von nur fünf bis hundert tausendstel Millimeter Durchmesser. Vom Zellkörper geht die Nervenfaser ab, ein langer, »Axon« (auch »Neurit«) genannter fadenartiger Ausläufer, der sich am Ende verzweigt. Außer dem Axon strahlen vom Zellkörper mehrere kürzere und verästelte Fortsätze ab, die Dendriten. Milliarden Nervenzellen oder Neurone bilden im Gehirn ein dichtes, scheinbar unentwirrbares, doch wohlorganisiertes Geflecht. Innerhalb der Zellen gibt es eine Art Arbeitsteilung: Die Dendriten empfangen Signale über die Axone anderer Nervenzellen, der Zellkörper nimmt die Informationen auf, verwertet sie und sendet über das Axon seinerseits Signale an andere Nervenzellen ab.
Diese Signale muß man sich als elektrische Impulse vorstellen, als extrem schwache Stromstöße. Sie eilen die Nervenfaser entlang, bis sie an eine Stelle kommen, an der die Faser auf eine andere Nervenzelle trifft. Hier endet der Weg in einer kleinen blasenförmigen Verdickung, dem »Endköpfchen«. Dieses Gebilde berührt jedoch die nächste Nervenzelle nicht direkt. Ein winziger Spalt von nur 0,2 millionstel Millimeter Breite liegt dazwischen. Endköpfchen, Spalt und Membran der folgenden Zelle zusammen nennt man »Synapse«.
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Bis hierher also läuft erst einmal der elektrische Impuls. Dann passiert etwas Merkwürdiges. Von der elektrischen Erregung aktiviert, wandern jetzt spezielle chemische Verbindungen — Neurotransmitter genannt — aus dem Endköpfchen in den Spalt zur nächsten Nervenzelle. Aus dem elektrischen Impuls wird gewissermaßen eine chemische Reaktion. Diese ihrerseits sorgt dafür, daß der Impuls in der anschließenden Nervenzelle sofort wieder in elektrische Erregung umgewandelt wird und weiterlaufen kann. Das alles geht sehr rasch vor sich — in etwa einer tausendstel Sekunde.
Der chemische Vorgang kann durch bestimmte Enzyme allerdings auch rasch gestoppt werden. Das bedeutet Einflußnahme auf die Erregungsleitung: Die Synapsen fungieren als Filterpunkte, als Regulatoren, die über Hemmung oder Weiterleitung von Nervenreizen entscheiden und den Informationsfluß im Gehirn steuern können. (Die Beschreibung muß hier notgedrungen etwas unscharf bleiben, weil über das Intimgeschehen an den Synapsen bisher noch nicht viel mehr bekannt ist als das Prinzip.)
Um es kurz zu sagen:
Der Erregungsimpuls überwindet im Fall seiner Weiterleitung die Synapse wie ein Springreiter die Hürde. Eine chemische Reaktion ist zwischengeschaltet. Der Reiz läuft nicht kontinuierlich vom Ort seiner Entstehung zum Bestimmungsort, sondern ruck- oder stoßartig. Er kann auch bedarfsweise an ungezählte andere Nervenzellen umgelenkt werden. Daß dabei kein »Stromabfall« eintritt, keine Schwächung als Folge »länger werdender Leitungswege«, das verdankt das Nervensystem der Tatsache, daß die elektrische Energie in jeder Nervenzelle neu erzeugt wird, jede Zelle also zugleich ein kleines Kraftwerk darstellt [2, 13, 14, 60].
In den letzten Jahrzehnten ist auch Genaueres darüber bekannt geworden, wie die Impulse in den Nervenzellen entstehen und wie sie die Nervenfaser entlanglaufen. Auch dies ist ein faszinierendes Kapitel der modernen Gehirnforschung. Eine wichtige Rolle beim Zustandekommen eines Nervensignals spielen die zarten Umhüllungen, die »Membranen« der Nervenzellen. Wenn man besonders feine Geräte benutzt, so findet man, daß zwischen ihrer Innen- und Außenseite eine elektrische Spannung besteht, die bei ruhender Nervenzelle etwa minus 80 Millivolt beträgt.
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Mit anderen Worten:
Im Innern der Zelle befinden sich negativ geladene Atome und Moleküle (Anionen), außen vor der Zellmembran dagegen positiv geladene (Kationen). Dazwischen liegt die Membran oder Zellwand, die ähnlich wie ein Kondensator verhindert, daß die Ladung sich sofort ausgleicht. Im Gegensatz zum Kondensator der Elektrotechnik ist die Nervenzell-Membran allerdings teilweise durchlässig, so daß positive (Natrium-)Ionen zwar schwer, aber allmählich doch in die Zellen eindringen können. Um das »Ruhepotential« (jene rund minus 80 Millivolt) aufrechtzuerhalten, werden sie jedoch wie von einer Pumpe aus dem Zellinnern laufend wieder hinausbefördert. Die negativen (Kalium-)Ionen verbleiben indes im Zellinnern.
Wie kommt nun der kleine Stromstoß zustande, der Nervenimpuls?
Dazu müssen wir wieder davon ausgehen, daß die Zellmembran in Ruhe nur schwer durchlässig für die außen befindlichen, positiven Natrium-Ionen ist. Empfängt die Nervenzelle jedoch an einer Synapse über einen Neurotransmitterstoff einen Reiz, so ändern sich die Verhältnisse schlagartig. Dann nämlich wird die Membran plötzlich besser durchlässig für die positiven Ionen. Sturzbachartig strömen sie nach innen, während zugleich Kalium-Ionen nach außen gerissen werden. Dabei bricht die Spannung zusammen, das Ruhepotential wird abgebaut. Und weil das Einströmen von Natrium-Ionen ins Zellinnere nicht nur zur elektrischen Neutralisierung führt, sondern für etwa eine zweitausendstel Sekunde »überschießend« wirkt, entwickelt sich im Zellinnern kurzfristig eine positive Ladung von ungefähr 30 Millivolt. So wird der Zelle eine elektrische Kraft zugeführt, die man »Aktionsstrom« nennt. Er ist letztlich die Folge einer Umpolung an der Zellmembran. Der Aktionsstrom pflanzt sich als Kettenreaktion entlang der Nervenfaser fort — ähnlich wie einmal angestoßene Dominosteine nacheinander umkippen.
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Hat eine Umpolung an einer Stelle der Nervenzelle erst einmal stattgefunden, so wird sie — nach nur etwa einer tausendstel Sekunde — sofort wieder rückgängig gemacht. Unmittelbar nach dem lawinenartigen Einbruch positiver Natrium-Ionen »pumpt« die Zellmembran die Eindringlinge durch Poren wieder hinaus und stellt den alten Zustand wieder her. Nach einer kurzen Erholungsphase kann ein neuer Nervenreiz kommen und das Spiel sich wiederholen.
Die Ströme laufen also die Nervenfasern entlang und erregen an ihrem Ende andere Nervenzellen. Sie sind die Grundlage der geistigen Prozesse, des Denkens und Fühlens. Ohne die Aktionsströme gäbe es kein psychisches Erleben, ebensowenig könnten unsere Herzen schlagen oder der Mensch seine Muskeln bewegen. Mit ihrer Hilfe können wir im Fall einer Gefahr auch blitzschnell reagieren, zum Beispiel mit dem Zurückzucken der Hand vor einem heißen Plätteisen. In diesem wie in allen anderen Fällen, wenn Sinnesempfindungen bestimmte Handlungen auslösen, beteiligen sich sogar zwei Erregungswege: Im Falle des Plätteisens gelangt der Hitzereiz von den temperaturempfindlichen Hautstellen über sensible Nerven an einen Umschaltpunkt im Rückenmark, und von hier läuft reflexhaft der Befehl »Zurückzucken« über motorische Nerven an die Arm- und Handmuskeln.
Freilich erklärt das alles noch nicht die Tatsache, daß es »Signale« mit ganz verschiedenem Informationsgehalt gibt. Warum bedeutet der eine Nervenimpuls einen Befehl an einen Muskel, warum löst ein anderer eine Erinnerung aus? Wie kann es sein, daß Nervensignale die verschiedensten Gedanken und Empfindungen bewirken? Hier tappt die Wissenschaft noch sehr im dunkeln. Sind die Nervensignale etwa eine Art Morseschrift? Liegt das Geheimnis im Muster der Aufeinanderfolge von Pausen zwischen den Erregungsimpulsen?
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Rätselhaft auch dies:
Da ungezählte Nervenzellen im Gehirn jederzeit über ungezählte Schaltstellen elektrische Impulse erhalten und auf diese Weise Informationen austauschen, müßte eigentlich ein Informations-Chaos die Folge sein. Das ist aber nicht der Fall. Offenbar können die Nervenzellen trotz zahlreicher Anregungen immer wieder sinnvoll darüber entscheiden, ob sie ein Signal weiterleiten oder nicht, und wohin. Trotzdem sind wir gegenüber dem zentralen Nervensystem noch immer in der Lage eines Abiturienten, der in Physik zwar aufgepaßt und einiges über Schaltelemente gelernt hat, beispielsweise über Drosseln, Widerstände, Kondensatoren, Transistoren und Schwingkreise, aber nur wenig von Schaltplänen versteht, in denen die Einzelteile sinnvoll zusammenwirken, also um das Geheimnis ihrer Funktion im Verbund, etwa in einem Fernseh- oder Rundfunkgerät.
Auch vor den »Schaltplänen« im Gehirn stehen wir noch wie Laien vor einem großen Computer. Vereinfacht läßt sich sagen, daß wir es mit drei funktionell verschiedenen Nerventypen zu tun haben: Da sind erstens Nerven, die von den Sinnesorganen her kommen. Ihre Botschaften übergeben sie einer zweiten Nervenzellgruppe, den intermediären Neuronen. Diese senden ihrerseits Signale aus, die von anderen Neuronen empfangen, verarbeitet und erneut weitergeleitet werden, bis hin zu der dritten Gruppe, den motorischen Nerven. Sie sind die Befehlsübermittler. Sie stellen die Verbindung vom Gehirn zu Muskeln und Drüsen her, sie lösen als »Exekutive« unsere Handlungen aus.
Man kann also im zentralen Nervensystem eine Eingangs- oder Input- und eine Ausgangs- oder Outputseite unterscheiden, zwischen denen der »Verarbeitungsprozeß« stattfindet. Dabei übernehmen es die Nerven der Eingangsseite auch noch, die gerade wichtigen Eindrücke auszusieben und nur sie, und nicht ein Durcheinander aller möglicher, an die dafür zuständigen Zellbezirke im Gehirn weiterzuleiten. Ebenso zweckmäßig müssen die Verarbeitungsvorgänge und die Impulse der Ausgangsseite sein, damit unsere Hand, um beim Vergleich zu bleiben, statt zurückzuzucken, nicht etwa noch fester auf das Plätteisen drückt.
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Zwischen Eingangs- und Ausgangsseite der Nerventätigkeit wird uns offenbar auch unser Ich und unser Erleben der Außenwelt bewußt. Hier haben Gedanken und Gefühle, Begreifen und Erkennen, Phantasie, Erinnerung und Willensakte ihren Sitz. Aber der Schleier, der über dem allem liegt, ist noch dicht. Zwar kennt man schon ziemlich gut die Anatomie der Zentren und Schaltwege für das große Feld des wachen Bewußtseins, doch die »weißen Flecke« sind noch zahlreich.
Offen ist auch die Frage, wie unser Gedächtnis funktioniert. Wenn sich jemand erinnert, durchlaufen Nervenimpulse das Gehirn auf anscheinend vorgebahnten Wegen. Wie es aber zu der Vorbahnung kommt, auf welchen Anstoß hin und wie die Laufstrecke »wiedergefunden« wird, ist noch unbekannt. Vielleicht liegt die Lösung bei den Synapsen. Es könnte sein, daß beim Einprägen eines Geschehens, eines Textes, einer Melodie, die hier beteiligten Synapsen gegenüber anderen aktiver sind und deshalb beim späteren Erinnern von der zunächst »suchenden« Nervenerregung bevorzugt werden. Ein bestimmter Laufweg für den Impuls wäre also vom Synapsen-Verhalten vorgeprägt. Er würde beim Erinnern immer wieder eingehalten ähnlich dem Wildwasser, das an seinem einmal gebahnten Bett im Gelände festhält und sich nur in außergewöhnlichen Fällen, etwa bei Hochwasser, neue Wege sucht.
Was aber sollen wir antworten, wenn jemand fragt, wie das kurzfristige, das mittelfristige und das langfristige Gedächtnis funktionieren? Wie unterscheiden sie sich voneinander? Wohl stimmt es, daß diese Gedächtnisarten existieren, aber erklären lassen sie sich mit plausiblen Denkmodellen noch nicht.
Was das Langzeit-Gedächtnis betrifft, so weiß man allerdings, daß es irgendwie mit einer eigenartigen Struktur in der älteren Großhirnrinde zusammenhängen muß, mit dem »Hippocampus«.
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Schon in den siebziger Jahren sind schwedische, englische und amerikanische Forscher in dieser Hirnregion auf eine merkwürdige Erscheinung gestoßen. Reizt man im Tierversuch Nervenzellen des Hippocampus wiederholt in ganz kurzen Abständen - etwa hundertmal innerhalb von zehn Sekunden -, so verhalten sich die Zellen anschließend höchst sonderbar. Reizt man sie nämlich nach einer Ruhepause erneut, aber nur mit einem einzelnen kurzdauerndem Impuls, so erhält man ein »abnorm starkes Antwortpotential«, wie es in der Fachsprache heißt. Außerdem fällt auf, daß die Bereitschaft zu solcher »Überreaktion« noch stunden- und sogar tagelang weiterbesteht. Sollte hier das Geheimnis der langfristigen Speicherung von Gedächtnisinhalten liegen?
Aufgegeben haben die Neurologen jedenfalls die früher einmal vertretene Meinung, wonach es so etwas wie »Gedächtnismoleküle« geben könnte. Man hatte angenommen, es könnten beim Speichervorgang Stoffe im Gehirn gebildet werden, die entlang der Nervenfasern abgelagert würden, um dann beim Erinnern wieder in Funktion zu treten. Statt dessen spricht man heute von einer »Plastizität der Synapsen«. Man vermutet, daß wahrscheinlich schon vorhandene Moleküle in den Synapsen beim Merkvorgang biochemisch verändert werden. Später, beim Erinnern, könnten diese Moleküle dann dem Nervenimpuls sozusagen den richtigen Weg weisen. Auch dies ist freilich vorerst nur eine Hypothese [21]. Die Unverbindlichkeit der Worte zur Beschreibung des Komplizierten zeigen deutlich, wie schwankend der Boden ist, auf dem wir hier noch stehen.
Fassen wir zusammen, so ergibt sich nach dem heutigen Stand der Erkenntnis ungefähr folgendes Bild:
Geschätzt wird, daß im Gehirn, dem »zentralen Nervensystem« des Menschen, etwa 14 Milliarden Nervenzellen oder Neuronen miteinander vernetzt und verflochten sind. Was diese Zellen leisten, kann man im Sinne eines kybernetischen Modells verstehen. Das heißt, die Gehirnfunktionen ähneln technischen Systemen, die auf bestimmte Eindrücke hin, sprich Eingabe von Zeichen oder Zahlen, bestimmte Prozesse durchführen und schließlich das Ergebnis auswerfen.
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So gesehen, lassen sich die geistigen Leistungen des Menschen als ein Ablauf von Aufnahme, Übertragung, Verarbeitung, Speicherung und Abgabe von Informationen verstehen, wobei sowohl auf der Eingabeseite (etwa das, was die Augen sehen) als auch auf der Empfängerseite (die Neuronen der Sehrinde) eine Auswahl getroffen wird. Die von außen kommenden Sinnesreize werden in dafür spezialisierten Zellen in eine Aufeinanderfolge von elektrischen Impulsen oder Spannungsstärken (Aktionspotentialen) verwandelt, wobei die Stärke des Sinnesreizes wahrscheinlich durch die mehr oder weniger hohe Frequenz dieser Potentiale ausgedrückt wird. Man kann also, was dies betrifft, von einer Art Codierungssystem sprechen.
Im »verarbeitenden« Nervensystem folgen dann zahlreiche Schaltvorgänge an den Synapsen, den Kontaktstellen zwischen den Neuronen mit dem Zweck, die Eindrücke auf das Wesentliche zu beschränken. Schließlich gelangt die Information über eine letzte Schaltstelle, den sogenannten Thalamus, in bestimmte Gebiete der Großhirnrinde, wo sie bewußt wird.
Aufschluß über die elektrischen Vorgänge im Gehirn gewinnt man mit Hilfe des »Hirnstrombildes« oder des »Enzephalogramms« (EEG). Das EEG kann Spannungsunterschiede von einigen millionstel Volt registrieren. Sie entstehen, wie wir gesehen haben, während der Nerventätigkeit. Man leitet sie über Elektroden auf der Kopfhaut ab und macht sie auf einem abrollenden Papierstreifen als Kurvenzüge sichtbar. Anhand solcher Kurven lassen sich auch Krankheiten des Gehirns feststellen, wie etwa Epilepsie, manche Stoffwechselanomalien oder Tumoren.
Über die »Arbeitsteilung« innerhalb der Großhirnhemisphären weiß man aus Versuchen mit Patienten, denen während einer Hirnoperation die Verbindung zwischen der linken und rechten Großhirn-Hemisphäre durchtrennt werden mußte. Diese Menschen verhalten sich im Alltagsleben ganz normal. Läßt man sie aber in einem Experiment bestimmte Aufgaben lösen und verwendet dazu Vorrichtungen, die es gestatten, über das Auge oder Ohr nur jeweils eine Hirnhälfte mit Informationen zu versorgen, so kann man herausfinden, was die rechte und was die linke Großhirnhälfte leistet.
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Es zeigte sich dabei, daß die linke Hälfte als eigentlicher Sitz des Bewußtseins vorwiegend für sprachliche und schriftliche Kontakte zur Außenwelt zuständig ist. In der rechten Hälfte dagegen werden Gegenstände und Formen erkannt, außerdem finden hier Abstraktionsvorgänge statt, z.B. die Zuordnung einzelner Sinneseindrücke zu übergeordneten Begriffen mit Hilfe der Erfahrung. Auch die Projektion aktueller Erlebnisse in die Zukunft oder Vergangenheit vollzieht sich hier. Die rechte Großhirnhälfte, das haben wir schon erwähnt, kann sich schriftlich oder sprachlich nicht äußern, dies ist der linken vorbehalten. Beim gesunden Menschen stehen beide Bewußtseinsbereiche natürlich in ständiger Verbindung. Über den »Balken«, das Corpus callosum, tauschen sie Informationen aus, ein Vorgang, bei dem über 200 Millionen Nervenfasern beteiligt sind.
Eine der interessantesten Fragen im Zusammenhang mit dem Gehirn ist die nach dem Ursprung des begrifflichen Denkens.
Nach allem, was wir heute wissen, müssen schon beim Frühmenschen Anfänge dafür existiert haben. Einen Hinweis darauf gibt die Werkzeugherstellung, und hier müssen wir nun auf ein Merkmal eingehen, das den werdenden Homosapiens von den Menschenaffen mehr und mehr zu unterscheiden begann.
Schimpansen können in ihrem Käfig Kisten übereinandertürmen, um an eine hochhängende Banane zu gelangen. Sie stecken auch kurze Bambusstöcke zusammen und angeln damit nach einer außerhalb des Käfigs liegenden Frucht. Sie verwenden auch Stangen als Hilfe beim Springen und Strohhalme zum Trinken. Es ist jedenfalls klar, daß wir es hier mit einer Art Werkzeuggebrauch zu tun haben: Das Tier benutzt ein Gerät, um mit seiner Hilfe etwas zuwege zu bringen, das es anders nicht schaffen würde. Ähnliches sieht man bei gewissen Finkenarten auf den Galapagos-Inseln: Sie gebrauchen kleine Hölzchen zum Stochern nach Insekten unter der Baumrinde. Auch gibt es Greifvögel, die Steine vom Boden aufheben, um Eierschalen mit ihnen zu zertrümmern.
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Etwas ganz anderes ist es aber, wenn der Frühmensch etwa einen Ast zuspitzte oder einen Stein durch Zerschlagen so veränderte, daß eine scharfe Kante zum Schneiden entstand. Werden im ersten Fall nur zufällig vorhandene Gegenstände für eine unmittelbar anschließend zu lösende Aufgabe benutzt, so setzt die gezielte Bearbeitung einen schon fortgeschrittenen Denkprozeß voraus. Hier nämlich hat sich der Akteur geistig in eine erst später eintretende Situation hineinversetzt. Wenn er am Höhleneingang saß und Äste spitz schabte, dann dachte er vielleicht schon an die Jagd am nächsten Tag, bei der er sie als Wurfgeschosse oder Lanzen verwenden würde. Er dachte an künftige Schnitzarbeiten, wenn er handliche Steine zuschlug, so daß sie scharfgratige Ränder bekamen. Damit war eine höhere Stufe des Denkens erreicht. Der Schimpanse würde nicht auf den Gedanken kommen, sich verschieden geformte Zweige zu verschaffen und aufzubewahren, um in einer bestimmten Situation dann den jeweils geeignetsten zu benutzen. Dies wäre zuviel von ihm verlangt. Er kann nur für den Augenblick denken und handeln.
Die ersten aufrechtgehenden Steppenbewohner im Übergangsfeld zwischen Tier und Mensch waren da offenbar auch noch nicht viel weiter. Wie Funde vermuten lassen, haben sie zwar schon Steinwerkzeuge benutzt, doch waren es unbearbeitete, natürlich entstandene kleine Trümmerstücke, deren Beschaffenheit sich zum Aufschlagen von Nüssen, zum Schneiden oder Schaben eigneten (»Eolithen«). Erst später hat sich der Vormensch gezielt »Werkzeuge« geschaffen, indem er Steine zertrümmerte und anschließend in den Bruchstücken nach Brauchbarem suchte oder — noch später — die gewünschten Formen durch ein, zwei Schläge — Stein auf Stein — erzeugte.
Die vorausschauende Überlegung trat also erst mit der zielbewußten, auf zukünftige Tätigkeiten hin geplanten Bearbeitung auf, wobei die Gerolle erst nur von einer, später von beiden Seiten durch zahlreiche Zuschläge so geformt wurden, daß scharfe Arbeitskanten, Spitzen oder geschwungene Schneiden entstanden. Im ersten Fall also ein noch primitives Verhalten zur Bewältigung eines unmittelbar gegebenen, sicht- und greifbaren Problems, im zweiten das abstrakte, in eine noch unsichtbare, bloß vorgestellte Zukunft projizierte Denken.
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Hier vollzog sich offenbar etwas, das den angehenden Homosapiens über das Tierhafte seiner bisherigen Existenz hinaushob. Eine Qualitätssteigerung im Denkprozeß trat ein, die dem Tier versagt blieb. Auch Tiere besitzen zwar »Werkzeuge« in Gestalt mancher Körperorgane: Zähne und Krallen, Flossen und Greifhände. Auch den wärmenden Pelz, Muskeln und Sinnesorgane können sie — wenn man so will — wie »Werkzeuge« benutzen und — wie im Falle der Bambusstöcke — vervollkommnen. Aber sie können keine Werkzeuge herstellen.
Handelt es sich im ersteren Fall um Gewachsenes, das nicht gezielt geschaffen wurde, so dient das gefertigte Werkzeug in einem viel stärkeren Maße dazu, vorhandene Möglichkeiten zu erweitern. Echte Werkzeuge sind Hilfsmittel, die die Natur effektiver machen: der Knüppel verlängert den Arm und erhöht die Wucht des Schlages, der scharfgratige Faustkeil schneidet tiefer und wirkungsvoller ins Fleisch, als der Zahn es vermag, der Grabstock reißt die Erde kräftiger auf als die bloße Hand, und der Bogen befördert den Pfeil weiter und sicherer, als der Arm ihn schleudern könnte.
Das alles aber ermöglichte das Großhirn. Dank neu erworbener Nervenzellbereiche konnten die »Großhirn-Wesen« aus früher Erlebtem allgemeine Gesetzmäßigkeiten ableiten. Diese wieder ließen auf zukünftige, noch gar nicht erlebte Situationen schließen. Das heißt, ein begriffliches, abstrahierendes Denken begann. Mit ihm war zugleich auch die geistige Grundausrüstung für jene schöpferischen Tätigkeiten geschaffen, die später in den Werken der Kunst, der Wissenschaft und Technik, aber auch in der Moral und Humanität, also schlechthin der Kultur, ihren Ausdruck fanden.
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Spätestens der Cro-Magnon-Mensch vor 30.000, wahrscheinlich aber schon die Neandertaler vor 100.000 Jahren, werden sich weit mehr Gedanken über Leben und Tod gemacht haben als ihre Vorgänger, die »Heidelberger« oder gar die Australopithecinen. Sie sahen mit an, wie ihre Jagdfreunde starben und tot im Grase liegen blieben. Sie werden davorgestanden und sich überlegt haben: Das kann auch dir passieren. Vom Neandertaler wissen wir, daß er seinen Toten bereits Beigaben ins Grab legte. Glaubte er an ein Weiterleben nach dem Tode oder eine Art Jenseits? Mit dem Aufkommen solcher Regungen, dem Einfühlenkönnen in den Mitmenschen, wird auch jene Humanität begründet worden sein, die mit der geistig-kulturellen Evolution weiterentwickelt worden ist und heute als Bestandteil des Menschseins gilt.
Bleiben wir bei der Fähigkeit zur gezielten Werkzeugherstellung als einem der Merkmale, die den Menschen vom Tier unterscheiden.
Seine Werkzeuge dienten ihm dazu, sich von der Natur unabhängiger zu machen, sein Leben angenehmer und sicherer zu gestalten. Mit ihrer Hilfe baute er Hütten, Häuser und Fahrzeuge, konstruierte er Maschinen, Waffen und Bedarfsgegenstände für sein tägliches Leben. Ohne den Werkzeuggebrauch im weitesten Sinn wäre der Mensch außerstande gewesen, sich die Natur in jenem Maße zu unterwerfen, wie wir es heute erleben: Ackerbau und Viehzucht, Wasser- und Waldwirtschaft, Bergbau, Land-, Wasser- und Luftverkehr — wohin wir blicken, überall ist die Natur in irgendeiner Weise »zum Nutzen« des Menschen eingespannt und verändert worden.
Es wäre jedoch verfehlt, wollte man alle diese Errungenschaften allein auf das begriffliche Denken zurückführen. Einiges mehr an geistigen Fähigkeiten kam hinzu. So vermag der Mensch, verschiedene Spielarten des eigenen Tuns »theoretisch« abzuwägen und deren Für und Wider im eigenen Interesse zu bedenken. Vieles, was beim Tier durch bloß instinkthaftes Verhalten fixiert ist, wurde beim Menschen der freien Entscheidung anheimgestellt, mit anderen Worten: Seine Unternehmungen wurden disponibel, sie konnten mit vorausschauendem Weitblick geplant und entweder so oder anders durchgeführt oder auch wieder verworfen werden, je nachdem, wie es ihm Erfahrung und Intelligenz nahelegten.
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Der Ganove kann sich überlegen, welche Chancen er beim Einbruch in ein Juweliergeschäft hat. Der Schachspieler bedenkt mögliche Züge seines Gegners für seine eigene Strategie, der Geschäftsmann wird eine Marktanalyse machen, bevor er ein neues Produkt herausbringt, und verantwortliche Eltern werden versuchen, soziale und wirtschaftliche Entwicklungen abzuschätzen, um erst dann ihren Kindern einen Beruf zu empfehlen, der ihren Anlagen entspricht.
Alles das spielt sich in der Hirnrinde zwischen »Input« und »Output« ab. Es geschieht in der rätselhaften Zwischenzone der intermediären Nerven, die unsere Sinneseindrücke verarbeiten und dafür auch auf früher gemachte Erfahrungen zurückgreifen können. Nach einer Stechmücke auf der Haut muß man nicht unbedingt schlagen, wie es der Reflex verlangt, man kann sie auch saugen lassen, vielleicht, um hinterher ein aufregendes Großfoto vom blutgefüllten Mückenleib zu machen. Der erfahrene Jäger weiß um den Vorhaltewinkel beim Zielen auf ein quer zur Schußrichtung fliegendes Rebhuhn. Raum und Zeit und viele andere Faktoren können als »Software« in den menschlichen Entscheidungsprozeß einfließen.
Jeder Einsichtige erkennt, daß bei alledem mehr im Spiel ist als nur begriffliches Denken, sondern das ganze umfassende Phänomen des Bewußtseins und der Intelligenz mitwirkt. Auch das »Innewerden« der Welt um uns mit allen Konsequenzen ist eine Leistung der Großhirnrinde, die wir bei Tieren schwerlich erwarten können. Dem Menschen wird offenbar nicht nur ein Abbild seiner Welt bewußt, sondern er hat auch eine Vorstellung vom eigenen Ich, von Vergangenheit und Zukunft, von der Spanne seines Lebens, vom Geborenwerden und Sterbenmüssen. Ein Schimpanse greift sich an die Stirn, auf die man einen Farbfleck gemalt hat, wenn man ihm einen Spiegel vorhält. Weiß er aber um sein begrenztes Dasein? Kann er sich eine Vorstellung von der Größe des Universums machen? Hat er die Fähigkeit zur Abstraktion?
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Nach allem, was wir aus dem Verhalten der Menschenaffen schließen müssen, stehen sie »geistig« zwar weit höher als die meisten anderen Tiere — die Delphine vielleicht ausgenommen —, doch beschränkt sich ihr Bewußtsein wahrscheinlich auf viel weniger Einzelheiten als beim Menschen. Schon die fehlende Sprache würde ihre Möglichkeiten zu differenziertem Denken und Handeln begrenzen.
Auch uns Menschen wird allerdings nicht die ganze Wirklichkeit um uns herum bewußt, jedenfalls nicht unmittelbar. Denken wir nur an unser eingeschränktes Farbensehen oder Hörvermögen, oder an unsere Ohnmacht, befriedigende Antworten auf sogenannte »Letzte Fragen« zu finden. Trotzdem läßt uns die Großhirnrinde einen entscheidend tieferen Einblick in die Welt um uns gewinnen. Wir können unseren Lebensraum »geistig durchdringen«, indem wir Fragen stellen, Experimente machen, Erfahrungen im psychischen Bereich sammeln und Apparate bauen, die die Fähigkeiten unserer Sinnesorgane steigern: Fernrohre, Mikroskope, Funkgeräte, Computer ...
Dabei sind die Gehirne, in denen soviel vor sich geht, nicht alle gleich. Ihre Leistungsfähigkeit ist verschieden je nach Erbanlage und erworbenem Wissen, und diese Unterschiede äußern sich im »Intelligenzgrad« eines Menschen. Unter Intelligenz versteht man gewöhnlich die Befähigung, sich in ungewohnten Situationen rasch zurechtzufinden und richtig zu verhalten. Während primitive Lebewesen in ihrer Umwelt ohne großen geistigen Aufwand auskommen, reagieren die höher entwickelten abgestufter oder differenzierter auf die Umwelt-Anforderungen. Beispiele sind der Nestbau der Vögel, der Dammbau der Biber, die »Sklavenhaltung« der Ameisen, die Bauten der Bienen oder Termiten, die unterirdischen Gänge der Maulwürfe und manches mehr. Der Mensch schließlich beeinflußt seine Umwelt systematisch im größten Maßstab, er tut es aktiv und unbekümmert, wie er es für richtig hält.
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Bleiben wir beim Gehirn. Schon länger ist bekannt, daß das Bewußtsein erlischt, wenn Sauerstoffmangel, Blutverlust oder Medikamente die Nerventätigkeit lähmen. Bestimmte Krankheiten oder Verletzungen beeinträchtigen die Gehirnfunktionen oder lassen sie gänzlich ausfallen. Wird das Sehzentrum im Hinterhauptslappen der Hirnrinde zerstört, so erblindet der Betroffene. Entsprechendes geschieht, wenn Hirngebiete erkranken, in denen die Hör-, Riech- oder Tastnerven enden.
»Zentren« im Gehirn, das heißt, Zuständigkeitsorte für bestimmte Bewußtseinsbereiche, sind also Realitäten. Die Neurologen nutzen solche Erkenntnisse im Klinikbetrieb auch schon lange. Sie wissen, daß bestimmte Krankheitsbilder auf bestimmte gestörte Komplexe von Nervenzellen hinweisen. Lähmungen sind unweigerlich die Folge von Blutungen in der vorderen Zentralwindung. Wenn die dritte linke Stirnwindung (bei Rechtshändern) verletzt wird, kann der Patient nicht mehr sprechen — um nur zwei Beispiele zu nennen. »Seit vielen Jahrzehnten«, schreibt der Neurologe H. Rohracher, »bestimmen die Kliniker aufgrund solcher Ausfallserscheinungen den Ort im Gehirn, der geschädigt ist.« [60]
Rätselhaft dagegen ist es noch immer, wie sich die Zentren im Lauf der Gehirnentwicklung bilden. Zwar liefern die Erbanlagen die Information zum Aufbau der Nervenzellen. Auch die Zahl der Zellteilungen liegt fest, die zu der endgültigen Anzahl der Nervenzellen im Gehirn führt. Unbekannt aber ist noch, welcher Regelmechanismus dahintersteckt, daß sich »Zentren« bilden, und wie die notwendigen Verschaltungen dafür zustande kommen.
Daß wir vom Gehirn noch so wenig wissen, bedeutet freilich nicht, daß wir es mit grundsätzlich unlösbaren Fragen zu tun hätten. Wohl hat Rudolf Virchow einmal gesagt, naturwissenschaftliches Denken habe seine Grenzen und reiche nicht aus, das Weltganze zu erklären. Lassen wir das Weltganze aber dahingestellt und beschränken uns auf das menschliche Gehirn, so entsprach Virchows Auffassung von damals der eines Kindes, das nach zwei Mathematikstunden die Relativitätstheorie als für den Menschen zu schwierig hält.
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Die Gehirnforschung hat rasche Fortschritte gemacht und macht sie weiter. Mehr und mehr bisher Unbekanntes fügt sich, indem es mosaiksteinartig die Wissenslücken füllt, zu einem größeren und umfassenderen Bild zusammen. Gestern noch Rätselhaftes wird erklärlich. Es ist vielleicht nur noch eine Frage der Zeit, bis wir das Gehirn mit unserem Gehirn tatsächlich zu verstehen lernen.
Vieles ist beispielsweise heute schon über jene Gehirnstrukturen bekannt, die für die eigentlich menschlichen Eigenschaften verantwortlich sind. Zahlreiche Anhaltspunkte lassen den Einfluß ermessen, der vom Gehirn auf das menschliche Handeln ausgeht. Ein Beispiel sind Veränderungen des Charakters, wenn die Nervenzell-Systeme des Stirnhirns beschädigt werden, insbesondere die Gehirnwindungen an seiner Basis. Werden sie verletzt, fand der deutsche Neurologe K. Kleist, dann vermindert sich bei den Patienten die Fähigkeit zur Selbstkontrolle. Sie verlieren die Beherrschung, ihre Selbstachtung sinkt. Ausdauer, Mut, künstlerische Neigungen, falls vorhanden, lassen nach. Man könnte auch sagen, ein »Abbau der Persönlichkeit« tritt ein.
Die Stirnhirn-Geschädigten scheinen ihre gute Erziehung zu vergessen, sie betragen sich ungehörig, nehmen weniger Rücksicht auf andere, und wenn sie bisher als achtbare und redliche Bürger galten, so fangen sie nun an zu lügen, zu betrügen und bringen es immer weniger fertig, sich als verantwortliche Glieder einer Gemeinschaft zu benehmen. Kleist, der nach dem Ersten Weltkrieg hirngeschädigte Soldaten untersuchte, fand bei ihnen auch eine allgemeine Leistungsschwäche des Gehirns. Die Patienten zeigten Ermüdungserscheinungen, waren vergeßlich, reizbar, und ihre intellektuelle Leistungsfähigkeit lag deutlich unter dem Durchschnitt. Nach allem, was in jüngerer Zeit über Persönlichkeitsveränderungen nach Schäden am basalen Stirnhirn bekannt geworden ist, dürften hier jene Hirnregionen liegen, in denen die höchsten psychischen Leistungen, Vorgänge oder Funktionen ihren Sitz haben.
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Immer wieder werden auch Fälle bekannt, in denen Kranke sich tiefgreifend psychisch veränderten, nachdem ihnen wegen einer bösartigen Geschwulst das Stirnhirn teilweise entfernt werden mußte. Geistig und charakterlich qualifizierte Persönlichkeiten verloren ihren inneren Halt und wurden aggressiv. Manche verhielten sich unerträglich schamlos. Alles das scheint darauf hinzudeuten, als säße im basalen Stirnhirn eine Kontrollstelle über die elementaren Regungen des Anstandes und sittlichen Benehmens. Ihr Verlust scheint die Schleusen für alles Triebhafte und selbstsüchtig Aufbrausende zu öffnen, vergleichbar den Zuständen des berühmten Mr. Hyde in Louis Stevensons Erzählung <Dr. Jekyll and Mr. Hyde>, in der sich der Titelheld mit einem selbstgebrauten Elixier zeitweise in einen abenteuerlichen Zustand wütender Unbeherrschtheit und sadistischer Schadenfreude versetzte, körperliche Veränderungen erlitt, ein fratzenhaft verzerrtes Gesicht bekam und seine Mitmenschen quälte und schockierte. Bekannt sind schließlich die Charakterveränderungen nach der (heute vermiedenen) »Lobotomie«, einer Gehirnoperation, mit der bei stark neurotischen, an krankhaften Angstzuständen oder unbehebbaren Schmerzen leidenden Patienten die Verbindungen zwischen Stirnhirn und Thalamus, einem Hauptteil des Zwischenhirns, durchtrennt werden.
Umgekehrt scheint es so, als schaffe das intakte basale Stirnhirn erst die Voraussetzung für das eigentlich Menschliche im Menschen/Offenbar befähigt es uns nicht nur zu sozialen Wesen, sondern läßt uns auch psychische Leistungen vollbringen, die weit über das hinausgehen, was wir von Tieren kennen.
Nicht zuletzt befinden sich im Stirnhirn der linken Großhirnhälfte die so wichtigen Sprachzentren. Auch dies weiß man aus klinischen Untersuchungen an Hirnverletzten. Es sind die Nervenzellsysteme für jenes Medium, dem der Mensch unter anderem seine kulturelle Evolution verdankt. Schon der französische Arzt Paul Broca, nach dem die Brocasche Sprachwindung genannt ist, konnte zeigen, daß die Zerstörung der unteren Frontalwindung die Betroffenen am Sprechen hindert, wenngleich sie Sprache weiter verstehen können.
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Erst dann, wenn die obere Schläfenwindung geschädigt ist, das »hintere Sprachzentrum«, kann der Betroffene gehörte oder geschriebene Sprache nicht mehr verstehen. Diese Kranken können sich nur noch in einem verworrenen Jargon verständlich zu machen versuchen.
Da dem Sprechen normalerweise ein bestimmtes Denken vorausgeht, müssen wir auch nach dieser arteigenen menschlichen Gehirnleistung fragen. Wie kommt das Denken zustande, was spielt sich dabei im Gehirn ab? Vor allem: Warum können wir folgerichtig denken und tun dies auch meist?
Geht man davon aus, daß das Geistige, also auch das Denken, das Ergebnis oder die Begleiterscheinung elektrophysiologischer Umsetzungen in den Nervenbahnen ist, so muß es einen Grund geben, warum diese Prozesse jeweils so ablaufen, daß an ihrem Ende meist richtige, logische Schlüsse stehen. Immerhin wäre ja auch das Gegenteil »denkbar«.
Alles spricht dafür, daß wir dieses Problem stammesgeschichtlich sehen müssen. Offenbar ist uns das logische Denken aus der Frühzeit des Menschengeschlechts als Eigenschaft mit positivem Auslesewert überkommen. Diejenigen, die logisch dachten, werden gegenüber anderen mit weniger effizientem Denken bessere Überlebens-, also auch Fortpflanzungschancen gehabt haben — die Erbanlagen für die Voraussetzungen des richtigen Denkens konnten sich also ausbreiten.
Wie das Denken im Gehirn zustande kommt, darüber läßt sich vorerst nur spekulieren. Anscheinend bilden sich zahlreiche Erregungsmuster im Gehirn. Nervenimpulse durcheilen verschiedene Hirnbereiche, die miteinander kommunizieren, Beziehungen herstellen, in eigengesetzlicher Weise sich vergleichen, neue Kombinationen bilden und bestimmte Erregungsmuster schließlich in harmonischer Weise vereinen. An diesem Punkt hätte das Nachdenken ein Denkergebnis hervorgebracht. Dies kann gespeichert werden oder als Ausgangspunkt für neue Denkanstrengungen dienen.
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Reaktionen auf Sinnesempfindungen, Denken und Sprechen, die Art der Gefühlsäußerungen und des Sich-Gebens — all das macht die Persönlichkeit eines Menschen aus. Fragen wir danach, was dahintersteckt, so sind auch hier bestimmte Erbanlagen beteiligt. Wäre dem nicht so, gäbe es in geistiger Hinsicht viel weniger Unterschiede unter den Menschen. Erbanlagen sind es, die über Zahl und Verschaltungsmuster der Nervenzellen entscheiden, vielleicht auch über deren Leistungsfähigkeit. Aber auch die Umwelt ist beteiligt, weil sie mitbestimmt, was aus einem Menschen wird und wie er wird. Erlernte Verhaltensweisen, Erziehung, Milieu prägen ihn im Rahmen dessen, was seine Erbanlagen zulassen.
Mit anderen Worten:
Der Genotyp, die Gesamtheit der Erbanlagen, legt die Grenzen fest, innerhalb derer sich ein Lebewesen geistig und körperlich entfalten kann. Die Auffassung, allein die Umwelt entscheide über die Eigenschaften eines Menschen, ist schon deshalb absurd, weil Menschen, die unter gleichen Umweltbedingungen aufwachsen, sich dann mehr oder weniger gleichen müßten. Das hat die Zwillingsforschung längst widerlegt. Im Gegenteil: In seinen Erbanlagen besitzt der Mensch einen natürlichen Schutz vor dem völligen Ausgeliefertsein und dem Manipuliertwerden durch seine Umwelt. Andererseits gilt: Um seine Individualität voll zu entfalten, braucht er Umweltverhältnisse, die seinen Anlagen möglichst gut entsprechen. Ein ausgesprochen musikalisch begabtes Kind, zum Beruf eines technischen Zeichners gezwungen, wird es am Reißbrett nicht weit bringen, und umgekehrt.
Eng mit dem Denken oder, wenn man so will, mit der Qualität des Denkens, hängt die Intelligenz zusammen. In welchem Maße sich bei einem Menschen Intelligenz entwickelt, darüber entscheiden zwar auch Lern- und Erfahrungsprozesse. Wie diese aber genutzt und verwertet werden, ob jemand ein höheres oder niedrigeres Intelligenzniveau erreicht, das hängt wieder von der ererbten Grundlage dafür ab, von den Nervenzellen, ihrer Leistungsfähigkeit und ihren Verbindungswegen, die unweigerlich »vorgegeben« sind.
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»Genies werden geboren, nicht gemacht«, sagt der australische Nobelpreisträger und Gehirnforscher John Eccles. Sie werden zu Genies, fügt er hinzu, wenn sie »genau den Beruf, genau das Tätigkeitsfeld finden, das den außergewöhnlichen Fähigkeiten ihres Gehirns entspricht. Die Umwelt ist nur für die Entwicklung und Verwendung unseres Erbes wichtig. Dies ist der Kern des uralten Problems der Natur- und Kulturbedingtheit.« [13, 14]
So unterschiedlich aber die Leistungsfähigkeit menschlicher Gehirne auch sein mag, in den Grundzügen dessen, was uns antreibt und wie wir auf Umweltreize reagieren, darin sind wir uns alle gleich.
Uns alle drängt es nicht nur, unsere elementaren Lebensbedürfnisse zu befriedigen, sondern wir sind auch mehr oder weniger bemüht, einen möglichst hohen Lebensstandard zu erreichen. Fast alle Menschen hören gern Musik oder haben beim Hören von Musik ähnliche Gefühle, nahezu alle Menschen sind betroffen von ungewöhnlichen Schicksalen anderer und ähnliches mehr.
Uns allen gemeinsam ist auch eine stärkere oder schwächere allgemeine Erlebnisfähigkeit. Alles, was im Stirnhirn vor sich geht, wird beeinflußt von triebhaften Regungen, die vom Stamm- oder Urhirn ausgehen. Hier entstehen die Emotionen, die Gefühle, hier werden Konflikte geboren, die zu Unausgeglichenheit, zu gefährlichen Spannungen und Abgründigkeiten im Leben eines Menschen führen können. »Das Tier in uns«, sagt der Volksmund. Und wir wissen auch: Dieser Einfluß des Stammhirns kann so mächtig werden, daß unser Verstand, der normalerweise das Emotionale in uns unter Kontrolle hält, seine Autorität völlig verliert.
Die Erregungsmuster im Stammhirn können die verstandesbezogenen Prozesse im Stirnhirn gewissermaßen lahmlegen. Ist das Stammhirn durch ein Ereignis einmal hinreichend intensiv angesprochen, so setzt es die Steuerfunktion der Gehirnrinde stark herab. Der Mensch kann dann zeitweise »unzurechnungsfähig« werden oder »im Affekt handeln«. Beispiele dafür sind Wut- und Zornesausbrüche, ist aufwühlende Trauer, die einen Menschen mit zerstörender Gewalt treffen kann, aber auch die sexuelle Vereinigung, wenn im Orgasmus ein Zustand außerhalb von Raum und Zeit erlebt wird.
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Sieht man von solchen Ausnahmezuständen ab, so verlangen die immer gegenwärtigen Stammhirnerregungen zunächst nicht ein bestimmtes Verhalten, sondern sie sind merkwürdig ungerichtet. Sie lösen eigentlich nichts anderes aus als eine Art dumpfen Wünschens, das nach Erfüllung strebt. Solange die Erregung nicht übermächtig wird, kann dies durchaus vorteilhaft sein — sie kann sich als allgemeiner Antrieb zum Handeln auswirken. Die stammesgeschichtlich jüngeren Großhirnbezirke geben diesem Trieb sein Objekt, richten ihn auf ein Ziel, sei es auf einen bestimmten Menschen, den Besitz von Sachen oder die Bewältigung einer Aufgabe: das Urhirn als Motor, das Stirnhirn als steuerndes Organ. Das Ganze als noch höchst labiles Gespann, als ein Wagen, der von zwei allzuoft auseinanderstrebenden Pferden gezogen wird.
Wir können dieses Kapitel nicht abschließen, ohne noch die vielleicht entscheidendste Eigenschaft des Großhirns zu erwähnen. Es ist seine Neigung, den Menschen, solange er das Greisenalter noch nicht erreicht hat, zu immer höheren Leistungen anzuspornen und zu immer neuen Veränderungen seiner Lebensumstände zu bewegen, um ihm damit auch immer neue Wünsche zu erfüllen. Die weitaus meisten Menschen versuchen ihr Leben »sicherer«, »angenehmer«, »komfortabler« zu gestalten und es gegen unliebsame Zwischenfälle abzuschirmen. Sie wenden dafür ihren ganzen Scharfsinn und all ihre Erfahrung auf, sie schrecken zuweilen auch vor illegitimen Machenschaften nicht zurück, um zum Ziel zu kommen.
Eigenartig menschlich in diesem Zusammenhang ist eine spezielle Form der Neugier, die weit über das hinausgeht, was diese Bezeichnung bei höher entwickelten Tieren verdiente. Im Gegensatz zum Tier macht uns alles »heiß«, was wir noch nicht wissen, von dem wir aber annehmen, daß es existiert. Wir versuchen, das noch nicht Erfahrene zu ergründen, um die gewonnene Erkenntnis dann sogleich für unsere Zwecke zu nutzen.
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Ist das Ziel erreicht, so setzen wir alles daran, den Nutzen zu mehren, den die neue Erkenntnis gewährt, wobei dieser Nutzen vor allem in der Anhäufung materieller Dinge, der »Erleichterung« des Lebens und seiner Bedingungen und der Erfüllung immer neuer Bequemlichkeiten besteht. Meist geschieht dies auf Kosten oder unter Veränderung unserer Umwelt, manchmal auch zum Nachteil übervorteilter Mitmenschen. Es scheint uns unmöglich zu sein, mit stagnierenden Ansprüchen zu leben, eine Art steady-state-Verhalten zu praktizieren und einen gleichbleibenden Lebensstandard zu halten. Denn dort, wo dies der Fall zu sein scheint, da geschieht es unter Zwang, unter dem Druck der Umstände, der die Bäume nicht in den Himmel wachsen läßt. Tatsächlich wollen wir immer mehr und möglichst alles doppelt und dreifach. Und um dieses Mehr zu erzwingen, begeben wir uns auch auf heikle Pfade und spüren selbst gefährlichen Dingen nach, aus deren Anwendung uns erhebliche Risiken erwachsen können, wie etwa die Atomkernspaltung.
Woher dieser dunkle Drang kommt, können wir nur vermuten. Es muß ein uns innewohnender, vom Gehirn ausgehender Trieb zur Umweltveränderung sein, der uns drängt, einmal Erreichtes über kurz oder lang wieder aufzugeben und nach neuen Wegen zu suchen, die vermeintlich noch Besseres verheißen. Sind diese Wege gefunden, so verlassen wir sie nicht selten schon bald erneut, doch nur, um auch die nächsten Schritte alsbald wieder in Frage zu stellen.
Diese unsere Neigung wird geschickt auch noch von Werbe- und Verkaufsstrategien genutzt, wo die freie Marktwirtschaft die Möglichkeit dafür bietet. Man halte sich nur einmal die in rascher Aufeinanderfolge produzierten Kraftfahrzeugtypen, die Fernseh- und Rundfunkgeräte vor Augen, die Kameramodelle, die immerfort neu »kreierten« Armbanduhren und andere Gebrauchsgegenstände von eigentlich langer Lebensdauer.
Man bekommt den Eindruck, als ob es sich hier nicht um Geräte handelt, die jahre- und jahrzehntelang benutzt werden könnten, sondern um Backwaren oder Aufschnitt. Als ob die ständigen Neuerungen den Benutzern nicht auch neue Bedienungsprobleme brächten und als Folge einer immer komplizierter werdenden Technik auch neue Fehlerquellen und damit Ärgernisse bescherten.
Ganz offensichtlich ist der viel zu rasche Wechsel völlig überflüssig, zumal der jeweilige Gewinn an technischer Qualität oder Bedienungskomfort von Modell zu Modell meist so gering bleibt, daß er das rasche Verwerfen des bewährten älteren und den kostspieligen Neuerwerb gar nicht rechtfertigt. Stichworte wie Wirtschaftswachstum, Arbeitsplatzsicherung, Konkurrenzkampf, Modebewußtsein, Anspruchsverhalten und ähnliche deuten freilich an, welche Motive hier im Spiel sind.
Die ganze Wahrheit über den ungebärdigen Treibsatz, als welcher sich das menschliche Gehirn damit erweist und mit dem es seine Träger unablässig zu ruheloser Tätigkeit anspornt, werden wir jedoch so bald nicht ans Licht bringen.
Wir werden aber versuchen, einige Gründe dafür aufzudecken. Vorerst soll es uns genügen zu wissen, daß dieser Antrieb, dieser Motor zum Ruhelosen existiert. Wir können ihn jeden Tag von neuem an uns selbst erfahren.
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1983 Theo Löbsack