Zweiter Teil Die Wirklichkeit des »nur« Subjektiven
Was in Zukunft aus der Menschheit werden wird, ist unvoraussagbar; es wird durch Vorgänge bestimmt werden, die sich ausschließlich im Menschen selbst abspielen. Alle äußeren Faktoren, die zu einer kreativen Evolution genetischer oder kultureller Art führen, sind außer Kraft gesetzt. Ob die Menschheit zu einer Gemeinschaft wahrhaft humaner Wesen werden wird oder zu einer straffen Organisation entmündigter Un-Menschen, hängt ausschließlich davon ab, ob wir uns von unseren nichtrationalen Wertempfindungen lenken lassen. Wenn wir sie ernst nehmen und ihnen als kategorischem Imperativ Gehorsam leisten sollen, müssen wir zunächst von ihrer Wirklichkeit überzeugt sein. Diese Überzeugung zu vermitteln ist die Aufgabe des zweiten Teils dieses Buches.
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Das Leib-Seele-Problem
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Die Legitimierung phänomenologischer Verfahren
Im ersten Teil dieses Buches habe ich versucht, den Irrglauben zu widerlegen, daß das Weltgeschehen vorherbestimmt und zweckgerichtet sei. Ich hielt dies für nötig, weil die Überzeugung von einer vorgegebenen Zweckbestimmtheit des Weltenlaufes den Menschen von seiner Verantwortlichkeit entlastet und damit jenem Fortschrittsglauben Vorschub leistet, der sich heute so verderblich auswirkt.
Im dritten Teil wird die Denkweise, die ich synonym als ontologischen Reduktionismus bezeichnen werde, als eine epidemische Krankheit des Geistes dargestellt, und es werden ihre speziellen soziologischen und kulturgeschichtlichen Ursachen besprochen, doch müssen einige allgemeine erkenntnistheoretische Erwägungen über die verschiedenen kognitiven Mechanismen des Menschen hier vorweggenommen werden.
Szientismus kann vereinfacht als der Glaube definiert werden, daß nur das Realität besitzt, was in der Terminologie der exakten Naturwissenschaften ausgedrückt und durch Quantifizierung bewiesen werden kann. Demnach können Messen und Rechnen als die einzig wissenschaftlich legitimen Erkenntnisweisen des Menschen gelten. Die Ansicht, man könne eine Erkenntnis dadurch »objektiver« gestalten, daß man den Erkenntnisapparat, der sie uns vermittelt, aus der Betrachtung ausschaltet, ist falsch. Es ist dies, um ein Gleichnis zu gebrauchen, als hielte man die bunten Ränder, die ein altes, nichtachromatisches Objektiv an allen Konturen erscheinen läßt, für Eigenschaften des Objektes und nicht für solche des Aufnahmeapparats. Das klassische Beispiel einer solchen irrigen Zu-schreibung von Eigenschaften ist Goethes Farbenlehre. Meines Wissens hat der Physiker P. W. Bridgman als erster das Verhältnis zwischen unserem menschlichen Erkenntnisvermögen und dem erkenntnisvermittelnden Apparat gesehen. Er hat in klaren Worten gesagt, daß der Vorgang des Wissens und das Objekt, von dem gewußt wird, gleichzeitig betrachtet werden müssen und legitimerweise nicht voneinander getrennt werden dürfen. Mein altes Paradigma eines Objektivierungsvorganges ist folgendes: Ich berühre die Wange meines Enkelkindes, und diese erscheint mir fieberheiß. Dennoch glaube ich keinen Augenblick an eine Erkrankung des Kindes, da ich weiß, daß ich, aus dem winterlichen Garten kommend, sehr kalte Hände habe
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und daß meine Wärmeempfindung dadurch verschoben ist. Das Wissen um diese »nur« subjektive Verschiebung meiner Wärmeempfindung ermöglicht mir also eine richtige Objektivierung einer außersubjektiven Gegebenheit.
Das In-Betracht-Ziehen des subjektiven Phänomens und seiner Eigengesetzlichkeiten ist nicht nur ganz allgemein unentbehrlich für unser Bestreben, die Außenwelt möglichst objektiv zu erfassen. Es ist auch im Speziellen unerläßlich, wenn der Mensch als erkennendes Subjekt erfaßt werden soll. Der Terminus Phänomenologie bedeutet für uns eben diese für jeden Versuch der Objektivierung nötige Erkenntnis des subjektiven Erlebens und der ihm innewohnenden Gesetzlichkeiten.
Kritik des Szientismus und seiner Kritiker ^^^^
Es gibt viele Denker, die den Szientismus als Irrweg des menschlichen Geistes erkannt haben. Leider aber glauben manche von ihnen, die szientistische Weltanschauung sei eine notwendige Folge der Naturforschung, und diese sei somit als Schädling des Menschentums zu betrachten. Lord Snow spricht von Natur- und Geisteswissenschaften als von zwei Kulturen, die, einmal getrennt, miteinander nicht mehr vereinbar seien. Der Wiener Physiker Herbert Pietschmann spricht in seinem Buche »Das Ende des naturwissenschaftlichen Zeitalters« von »zwei Straßen«,
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von denen die eine zur Erkenntnis dessen führen soll, was richtig ist, während die andere zu dem führt, was wahr ist. Er sagt: >»Richtig< ist das, was bewiesen werden kann, im extremen Falle die Mathematik, aber gerade dort geht der Bezug zur Wirklichkeit verloren. >Wahr< ist demgegenüber nur eine konkrete gelebte Situation, die wegen ihrer Einmaligkeit nun gerade ständig unbewiesen bleiben muß.« Pietschmann geht so weit, das System aller naturwissenschaftlichen Erkenntnis auf die Gesamtheit jener Tatsachen zu beschränken, die »intersubjektiv« vorhanden sind, d. h. nach ihrer Eigenschaft, daß jede von ihnen jedem Einzelmenschen als logisch unwiderlegbar bewiesen werden kann.
Erwin Chargaff sagt in seinem Buche »Unbegreifliches Geheimnis«: »Die großen Denker der vorsokratischen Zeit - vielleicht die tiefsten, die der Westen je gekannt hat - waren von der Unermeßlichkeit der umgebenden Welt so durchdrungen, daß ihnen jedes Messen als vermessen erschienen wäre, jedes Wägen als zu gewagt.« Chargaff sagt in scharfen Worten, daß die Naturforschung notwendigerweise zu »immer nur kleineren wägbaren Winzigkeiten« fortschreite und daß der Überblick über das Ganze dabei verlorengehe.
Bei seiner Kritik der Naturforschung nimmt Chargaff ausdrücklich die Beobachtung tierischen Verhaltens aus: »Von einem Tinbergen oder von Frisch will ich hier nicht reden, denn für mich sind das Beispiele ehrlichster Naturfor-
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schung der alten Observanz. Es müßte aber ein ungewöhnlicher Molekularbiologe sein, der diese Art von Forschung noch als Biologie anerkennen würde.« Diese Anklage gegen die Molekularbiologen ist nicht gerechtfertigt. Sie wären keine, wenn sie sich nicht für Biologie interessieren würden, und ich persönlich kenne eine ganze Reihe, die auch in speziellen Bereichen wie dem der vergleichenden Verhaltensforschung wohlbewandert sind.
Den Kritikern der analytischen Naturforschung ist vorzuwerfen, daß sie offensichtlich selbst glauben, daß nur das Wägbare real, oder zumindest, daß alles Unwägbare unbegreiflich und grundsätzlich unerkennbar sei. Ebenso scheinen sie zu meinen, daß derlei Dinge uns Menschen nur auf dem Wege von Offenbarungserlebnissen zugänglich seien. Dabei setzen sie -ein weiterer Irrtum - offenbar das uns Unerkennbare mit dem Über- oder Außernatürlichen gleich. Zumeist empfinden sie wohl auch, zumindest unreflektiert, daß jede ursächliche Erklärung eine Entheiligung des Erklärten sei.
Man weiß, daß die rechte und die linke Gehirnhälfte des Menschen gleich wichtige Erkenntnisleistungen vollbringen. Man weiß, daß in der linken Hirnhälfte die Leistungen des logischen Denkens und der Sprache lokalisiert sind, in der rechten der Großteil der emotionellen Erlebnisse, vor allem aber auch die ganzheitliche Zusammenschau des Erlebten: sagen wir ruhig die Gestaltwahrnehmung.
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Wer von der Richtigkeit und Wahrheit der Evolutionslehre überzeugt ist - ich gebrauche bewußt im Sinne Pietschmanns hier beide Ausdrücke -, der teilt weder die erkenntnistheoretische Einstellung der Szientisten noch die ihrer Kritiker. Er ist überzeugt, daß man zur Naturforschung der Gestaltwahrnehmung bedarf, aber er weiß, daß mit dieser Wahrnehmung die wissenschaftliche Arbeit eigentlich erst beginnt: nämlich die Aufgabe, den Nachweis ihrer Richtigkeit, hier im Sinne Herbert Pietschmanns, zu erbringen.
Wer davon überzeugt ist, daß der Weltbildapparat des Menschen, der »perceptive apparatus« Karl Poppers, in äonenlanger Entwicklung und in Anpassung an eine reale Außenwelt entstanden ist und im Zuge dieses Werdens gewaltige Mengen von Information gespeichert hat, die es ihm erlauben, die äußere Realität tatsächlich einigermaßen adäquat abzubilden, kann keinem der beiden hier diskutierten reziproken Irrtümer verfallen. Schon Charles Darwin hat das klar gesagt: Erstaunlich ist nicht, wie viele Dinge sich der Erkenntnis entziehen, sondern wie viele höchst komplizierte und dem praktischen Leben fernstehende Dinge sich immerhin von unserem Weltbildapparat abbilden lassen.
Für den evolutionären Erkenntnistheoretiker ist die Frage nach der Kluft zwischen den zwei Kulturen Lord Snows und den zwei Straßen Herbert Pietschmanns ein Scheinproblem, das vor allem daraus entsteht, daß selbst diese Gegner
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des szientistischen Reduktionismus den Gültigkeitsbereich von Logik und Mathematik überschätzen. Wenn man diese Erkenntnisfunktionen nicht für die einzig legitimen hält und den nichtrationalen Leistungen unseres Erkenntnisapparates, einschließlich der Gestaltwahrnehmung, die Bedeutung beimißt, die ihnen zukommt, wundert man sich nicht mehr über die Widersprüche zwischen den verschiedenen Ergebnissen unserer vielfachen kognitiven Leistungen. Werner Heisenberg hat gesagt, daß die Gesetze der Mathematik nicht Gesetze der Natur, sondern solche eines ganz bestimmten Mechanismus menschlichen Erkennens seien.
Die scheinbare Unvereinbarkeit der von verschiedenen voneinander unabhängigen kognitiven Leistungen vermittelten Erkenntnisse, vor allem die Inkompatibilität des logischen Denkens und der Gestaltwahrnehmung, wird durch typologische Verschiedenheiten der Forscher gefördert. Die von Chargaff und Pietschmann kritisierten Analytiker sind offenbar häufig weniger begabt, Zusammenhänge innerhalb komplexer integrierter Systeme zu »sehen«. Bei Goethe, dem großen Seher, war es umgekehrt. Er verachtete das analytische Denken und seine Ergebnisse. Offensichtlich wenden sich die logisch-analytisch begabten Menschen und diejenigen, deren Gestaltwahrnehmung auf größere Systeme anspricht, mit einer gewissen Regelmäßigkeit verschiedenen Forschungszweigen zu, was die Verständigung weiter erschwert. Wer die Wahrheit
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in sich aufgenommen hat, daß der menschliche Erkenntnisapparat ein im Laufe der Evolution entstandenes System ist, empfindet es nicht wie Erwin Chargaff als Widerspruch gegen das Prinzip der Naturwissenschaft, daß wir von »unbegreiflichen Geheimnissen« umgeben sind. Für ihn ist »unbegreiflich« nicht »über-« oder »außernatürlich«. Es gibt tatsächlich »eine schier unendliche Menge von Dingen, die durchaus natürlich und dennoch für unser Hirn völlig unbegreiflich sind«, wie Carl Zuckmayer seinen Rattenfänger so schön sagen läßt. Das primitive, in prinzipiell unvoraussagbarem Maße vereinfachte Abbild, das unser Erkenntnisapparat uns von der realen Außenwelt vermittelt, kann man etwa mit dem Wissen vergleichen, das ein Eskimo über die Biologie der Robben oder Wale besitzt, von denen er lebt. In seinem Bilde werden vor allem die Eigenschaften des Beutetieres aufscheinen, die für ihn als Jäger von Belang sind. Wenn wir uns die Lebensweise unserer Ahnen zur Zeit der Menschwerdung und die verschiedenen Arten des Selektionsdruckes, die damals auf die Evolution ihres Weltbildapparates eingewirkt haben, vergegenwärtigen, so wundern wir uns nicht darüber, daß uns auch heute noch sehr vieles unerkennbar bleibt. Wir wundern uns vielmehr darüber, daß unser archaischer Weltbildapparat Dinge abzubilden vermag, die für unsere Vorfahren noch vor wenigen Jahrhunderten überhaupt keine Bedeutung hatten. Wir wundern uns über die universelle Anwendbarkeit unserer Denk-
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und Anschauungsformen, die in unserem Gehirn ein Modell der umgebenden räumlichen Struktur entstehen lassen, das sogenannte zentrale Raummodell, oder der abstrahierenden Leistung unserer Gestaltwahrnehmung, deren Funktionen es unserem begrifflichen Denken gestatten, die ursprünglichen Grenzen des Vorstellbaren, der Anschauungsformen und Denkkategorien zu tran-szendieren und Unvorstellbares zu denken.
Wenn man sich diese eigentlich banalen Selbstverständlichkeiten der evolutionären Erkenntnistheorie zu eigen gemacht hat, wundert man sich auch nicht darüber, daß unser Weltbildapparat manchmal zwei unterschiedliche Empfangsmechanismen zur Abbildung einer außersubjektiven Gegebenheit entwickelt hat. Es stürzt uns also nicht in logische Schwierigkeiten, wenn wir innewerden, daß uns dasselbe an sich Seiende, je nach dem Weg, auf dem wir an es herankommen, als etwas völlig Verschiedenes erscheint: Zum Beispiel wird das Elektron einmal als Körperchen, das andere Mal als Welle abgebildet, und es kann - um den Widerspruch auf die Spitze zu treiben - an zwei Orten zu gleicher Zeit sein. Unser Bedürfnis nach Logik schreit Ze-ter und Mordio, doch müssen wir uns an dergleichen gewöhnen. Die genetisch programmierten »Empfangsapparate«, die uns Informationen über die außersubjektive Wirklichkeit vermitteln, gleichen Fenstern, die uns Blicke in verschiedene Richtungen ermöglichen oder uns zwei völlig verschiedene, scheinbar in keinem logischen Zu-
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sammenhang stehende »Seiten« derselben Wirklichkeit sehen lassen. Physiologische und psychische Vorgänge sind in dieser - wie Max Hartmann sagt - a-logischen Weise miteinander identisch. Materie und Energie sind es ebenso, und von Raum und Zeit gilt das gleiche.
Da wir wissen, daß die ganze Organisation unseres Denkens wie alle anderen organischen Strukturen im Verlauf der Stammesgeschichte entstanden ist, sind wir weit davon entfernt, ihren Aussagen absolute Gültigkeit zuzuerkennen. Andererseits wird unser Vertrauen in sie dadurch gestärkt, daß zwei physiologisch voneinander verschiedene Erkenntnisweisen zu übereinstimmenden Resultaten kommen: Es sind das die abstrahierenden Leistungen, die von der Gestaltwahrnehmung einerseits und der logisch-rationalen Schlußfolgerung andererseits vollbracht werden. Die funktionelle Ähnlichkeit ist so groß, daß der Entdecker dieser Vorgänge, Hermann Helmholtz, diese Leistung der Wahrnehmung für unbewußte Schlußfolgerungen hielt. In Wirklichkeit sind die komplexen Verrechnungsvorgänge der Wahrnehmung physiologische Prozesse, die der Selbstbeobachtung nicht zugänglich sind. Unter den sogenannten Konstanzphänomenen sei das der Farbkonstanz als Beispiel erwähnt. Dieser »Computer« errechnet die einem Gegenstand anhaftenden Reflexionseigenschaften aus zwei Größen, nämlich aus der im Augenblick herrschenden Farbe der Beleuchtung und aus den vom Gegenstand im Augenblick reflektierten Wellenlängen.
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Das Ergebnis wird dem Erleben unmittelbar als »die Farbe des Gegenstandes« gemeldet. Man weiß, daß dieser Verrechnungsvorgang nicht von der Ratio geleitet wird; Karl von Frisch hat gezeigt, daß die Honigbiene über den gleichen Mechanismus verfügt wie der Mensch. Wenn man die »Prämissen« solcher Verrechnungsvorgänge im Experiment fälscht, erhält man entsprechende voraussagbar falsche Wahrnehmungen. Die meisten sogenannten optischen Täuschungen beruhen, wie Erich von Holst nachgewiesen hat, auf eben diesem Prinzip. Egon Brunswik nannte diese Leistungen der Wahrnehmung ratiomorph, um ihre Analogie zu rationalen Vorgängen, aber auch ihre psychophysiologische Andersartigkeit auszudrücken.
Die Analogie der rationalen Vorgänge des auch von den radikalsten Szientisten als wissenschaftlich legitim anerkannten Denkens und der ratiomorphen Leistungen der Wahrnehmung ist ein sehr zwingendes Argument dafür, daß auch kognitive Leistungen, die sicher nicht rationaler Natur sind, als legitime Quellen wissenschaftlicher Erkenntnis anerkannt werden müssen. Rationale und ratiomorphe Vorgänge bilden ein weiteres Beispiel dafür, daß unser Erkenntnisapparat nicht selten zwei verschiedene, unabhängig funktionierende Organe zur Bewältigung derselben Aufgabe ausgebildet haben kann.
Eine kognitive Leistung zu vernachlässigen bedeutet einen Wissensverzicht - und das ist der größte Verstoß gegen den Geist der Wahrheitssu-
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che, den ein Forscher begehen kann. Das Vorgehen der Behavioristen, die auf die Erlebnisseite des Verhaltens als Wissensquelle verzichten, kann mit dem eines Menschen verglichen werden, der aus unerforschlichen Gründen ein Auge dauernd geschlossen hält und sich dadurch des stereoskopischen Sehens beraubt. Das Gleichnis hinkt, da der Informationsverlust beim monokularen Sehen vergleichsweise viel geringer ist, doch leitet es zu einem anderen Beispiel über: Manche Kritiker des ontologischen Reduktionismus halten zwar beide Augen offen, sehen aber Doppelbilder, wo die wirkliche Welt eine Einheit ist. Lord Snow sieht zwei unvereinbare Kulturen, Herbert Pietschmann zwei Straßen, deren eine zum Wahren und Schönen und deren andere zum wissenschaftlich Richtigen führt.
Die Unbezweifelbarkeit des Erlebens ^^^^
Unser subjektives Erleben wird merkwürdigerweise von vielen Wissenschaftlern gering geschätzt. Schon seine Definition im Brockhaus lautet: »voreingenommen, vorurteilsvoll, von zufälligen Wertungen abhängig«. Selbst Denker, die volle Einsicht in die erkenntnistheoretischen Folgen des ontologischen Reduktionismus oder Szientismus besitzen, sehen im Studium des subjektiven Erlebens, in der Phänomenologie, keine Quelle wissenschaftlicher Erkenntnis.
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Herbert Pietschmann sagt in seinem Buch »Das Ende des naturwissenschaftlichen Zeitalters«, daß das Bestreben der Wissenschaften, zu einem »intersubjektiven« Bild der Welt zu kommen, unser Erkenntnisstreben immer mehr vom Menschen selbst und von seinen individuellen Problemen entferne. Wenn wir »versuchen, auf das Individuum einzugehen«, sagt Pietschmann, dann begeben wir uns in die »Privatsphäre«, in den »weniger realen Teil der Wirklichkeit«, der »nur subjektiv« und daher nicht interessant ist. An anderer Stelle sagt Pietschmann: »Die Naturwissenschaft befaßt sich nur mit intersubjektiven Phänomenen und sieht vom menschlichen Individuum bewußt ab.«
Dies ist von Pietschmann zweifellos als Vorwurf gegen szientistische Denkweisen gemeint und läßt daher den Ethologen und den evolutionären Erkenntnistheoretiker ungekränkt, die eben unter Naturwissenschaft etwas anderes verstehen. Die Naturwissenschaft kann nicht nur, sondern muß schlechterdings alles, was es in der Welt gibt, zum Gegenstand ihrer Forschung machen. Der Objektivität kann man sich, wie schon in einem früheren Abschnitt auseinandergesetzt, nur durch gleichzeitige Betrachtung des menschlichen Weltbildapparates und des von ihm Abgebildeten nähern. Der Vorgang des Wissens und das Objekt des Gewußten sind legitimerweise nicht voneinander zu trennen.
Ganz abgesehen von diesen erkenntnistheoretischen Erwägungen stimmt es einfach nicht, daß das subjektive Erleben ausschließlich die Privat-
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sphäre des Einzelmenschen betreffe. Gott sei Dank gibt es im Emotionalen und insbesondere auf dem Gebiete der Wertempfindungen Gemeinsamkeiten - Emotionen, die bei jedem normalen Menschen durch bestimmte Außensituationen ausgelöst werden, so z. B. unsere Empörung bei ernstlichen Verletzungen von Menschenrechten. Dabei spielen sicherlich auch angeborene Programmierungen eine Rolle; es gibt aber auch kulturbedingte Empfindungen von allgemeinster Verbreitung. Wilhelm Furtwängler berichtet, daß bei der ersten Aufführung eines Werkes nahezu keine Beziehung zwischen seinem Wert und seinem Publikumserfolg besteht. Symphonien und Opern, die heute allgemein geschätzt werden, sind bei ihrer Premiere durchgefallen. Auf die Dauer jedoch setze sich, so sagte Furtwängler, der wahre Wert eines musikalischen Kunstwerkes in gerechter Weise durch; er habe festgestellt, daß das große Publikum den relativen Wert verschiedener Opern ungefähr ebenso ansetze wie er selbst.
Auf genetischen Programmen beruht nicht nur der Apparat der Sinneswahrnehmungen und des logischen Denkens, der unser Weltbild malt; auf ihnen beruhen auch die komplizierten Gefühle, die unser zwischenmenschliches Verhalten bestimmen. Besonders unser soziales Verhalten ist von uraltem Erbe arteigener Aktions- und Reaktionsmuster beherrscht; diese sind zweifellos um ein Vielfaches älter als die spezifischen Intelligenzleistungen unseres Neocortex, d. h. des
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stammesgeschichtlich jüngsten Teils unseres Gehirns. Diese rationalen Leistungen dienen in viel höherem Maße der Auseinandersetzung des Menschen mit seiner außerartlichen Umwelt, und auf diesem Gebiete schadet die Vernachlässigung aller anderen Erkenntnisleistungen weniger. Der ontologische Reduktionismus und die szientistische Wissensbeschränkung haben sich hier nicht so deletär ausgewirkt wie hinsichtlich des zwischenmenschlichen Verhaltens. Vernunft und Verstand führen oft eine Scheinherrschaft über die menschlichen Emotionen. Über diese wissen wir einfach zu wenig, um sie zu steuern; dieses Wenige scheint heute außer Werbefachleuten und Demagogen kaum jemand anzuwenden.
Der szientistisch orientierten Naturwissenschaft ist es so gut wie verboten, von Gefühlsqualitäten zu sprechen, weil diese weder in der Sprache der exakten Naturwissenschaften definierbar noch quantitativ erfaßbar sind. Je schärfer man die menschliche Erkenntnis als dasjenige definiert, was sich in Worten ausdrücken läßt, desto deutlicher wird, wie viele wesentliche Phänomene sich nicht unmittelbar in Worten ausdrucken lassen. Ludwig Wittgenstein, der in seiner Logik dem Positivismus nahestand, sagte, er »wolle dem Denken eine Grenze ziehen oder vielmehr, nicht dem Denken, sondern dem Ausdruck der Gedanken«. Die Interpretation von K. Wuchterl und A. Hübner, daß »alles Sprechen vom Lebenssinn, von der letzten Wahrheit, vom
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Guten und Schönen, von Gott nur fehlgehen kann, denn all dies ist zwar existent, aber unsagbar«, ist wohl richtig.
Gewiß» können Erlebnisqualitäten sprachlich nicht definiert werden, wie wir später anhand der einfachen Qualität »rot« zeigen werden. Trotz dieser (nach Max Hartmann) a-logischen Beziehung zwischen physiologischen und subjektiven Vorgängen ist die Korrelation zwischen beiden so verläßlich, daß das subjektive Phänomen, z. B. die Wahrnehmung einer Komplementärfarbe, im Kontrastphänomen als verläßlicher Indikator für das parallelgehende physiologische Geschehen verwendet werden kann, wofür Erich von Holsts Arbeiten über Sinnestäuschungen den Beweis liefern. Das Argument, daß alles, was ausschließlich durch den Blick nach innen, durch Selbstbeobachtung in Erfahrung gebracht werden kann, »nur subjektiv« sei, d. h. keine objektive Realität besitze, ist inkonsequent. Wir erhalten auch beim Ablesen eines Meßinstrumentes durch subjektive Erlebnisse Kenntnis von dem Ergebnis, nämlich durch das Erleben der Wahrnehmung eines roten Zeigers, der sich auf dem Hintergrund einer schwarz-weißen Skala bewegt. Die Basis aller unserer Erfahrungen über die Außenwelt ist unser primäres Wissen; Wolfgang Metzger nennt es das »Vorgefundene«. Donald Campbell nennt es »das proximale Wissen«, im Gegensatz zum »distalen«, das wir erst durch Kombination und deduktive Auswertung der Primärerieb-nisse ermitteln.
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Unsere Gefühle, vor allem unsere Wertempfin-dungen, gehören durchwegs zur großen Sparte realer Vorgänge, die »zwar existent, aber unsagbar« sind. Sie sind in ihrer subjektiven Qualität kaum mit Worten definierbar, aber durch experimentelle Forschung faßbar: durch die Untersuchung jener äußeren Reizsituationen, in denen sie auftreten. Es besteht kein Zweifel, daß eine große Anzahl von qualitativ unverwechselbaren Gefühlen allgemein menschlich, d. h. in der Erbmasse des Menschen verankert, ist.
Die Kunst als Wissensquelle der Phänomenologie ^^^^
Erlebnisqualitäten lassen sich, wie gesagt, nicht definieren, doch läßt sich auch das Unsagbare ausdrücken: der Künstler kann es. Der Tondichter, dessen Werk unmittelbar zu Herzen geht, bedarf nicht einmal des gesprochenen Wortes. Doch auch in Worten läßt sich das Unsagbare ausdrücken, wie uns die Dichtkunst belehrt.
Schon aus der Allgemeinverständlichkeit der Literatur geht hervor, daß die Dichtkunst allgemein Menschliches zum Gegenstand hat, ganz besonders die Gefühle des Menschen. Wenn wir das Gilgamesch-Epos, die Odyssee, Shakespeares Dramen oder einen Roman lesen, immer können wir die Erlebnisse der dargestellten Helden mitfühlen. Sie erleben Liebe und Haß, Freundschaft, Eifersucht, Neid, Lust und Leid, Angst und Wut, ganz wie wir.
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Der Dichter kann das Erleben nur in Gleichnissen schildern. Was er anschaulich macht und wodurch er vor allem das Mitfühlen hervorruft, ist die Schilderung der menschlichen Situation, in der die betreffenden Gefühle gesetzmäßig auftreten. Diese durchaus objektiv definierbaren Reizsituationen entsprechen den ausgelösten Emotionen. Der Künstler ist in seiner Darstellung an diese relativ geringe Zahl von Situationen gebunden, für andere hat der Zuhörer ganz buchstäblich »kein Organ«. Wir können berechtigtermaßen annehmen, daß unseren Emotionen allgemein menschliche angeborene Verhaltensprogramme, vor allem angeborene Auslösemechanismen, zugrunde liegen.
Wir dürfen uns also nicht wundern, wenn in der Literatur - wiederum vom Gilgamesch-Epos bis zum modernsten Roman - dieselben Motive immer wieder verwendet werden: der Held, der die gefangene Jungfrau befreit, der Freund, der allen Gefahren trotzt, um dem Freund beizustehen; soziale Themen wie der vom Starken unterdrückte Schwache, der vom Reichen ausgebeutete Arme, das verlassene und hilfsbedürftige Kind kehren immer wieder. Nicht nur der Dichter oder Schriftsteller aus Überzeugung bedient sich dieser Motive. Auch der rein merkantile Produzent von Romanen, Dramen und Filmen versteht es, die genannten angeborenen Auslösemechanismen seines Publikums anzusprechen. Ja, er kann das zum Teil noch besser, weil er kühl mit den durchschnittlichen menschlichen Reaktionen zu rechnen weiß, die er mittels werbetechnischer Methoden erforscht hat.
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Er benutzt seine Attrappen mit weniger Mitgefühl für sein Objekt als Tinbergen bei seinen Stichlingen. Der schöpferische Mensch drückt seine eigenen Gefühle aus und denkt nicht ans Publikum, der kommerzielle Produzent schöpft sein Wissen aus der Reaktion des Publikums. Der Dichter erlebt die spezifischen menschlichen Gefühle selbst, der Kunstproduzent läßt sie sein Publikum erleben. Mörus in Schillers »Bürgschaft« und der Held irgendeines Westernfilms verteidigen den gefährdeten Freund mit gleicher Selbstaufopferung.
Nach kommerziellen Richtlinien konstruierte Produkte bieten in gewisser Hinsicht sogar besonders gute Ansatzpunkte zur Erforschung unserer Gefühle. Sie zeigen nämlich, wie sehr das auslösende Objekt vereinfacht und vergröbert werden kann, ohne seine auslösende Wirkung einzubüßen. Ich kenne viele ernste und kritische Menschen, die sehr wohl empfinden, was für sie »Kitsch« und was »Kunst« ist, und die sich dennoch der Wirkung des primitivsten Kitsches nicht entziehen können.
Drei Hypothesen zum Leib-Seele-Problem ^^^^
Niemand zweifelt daran, daß enge Beziehungen zwischen gewissen Vorgängen in unserem Körper und der Form bestehen, in der wir sie erleben.
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Wir sehen die rote Rose eindeutig in ihrer Farbe und können sie daran wiedererkennen. Wir wissen eine Menge über die Bedingungen, unter denen das Erlebnis der roten Farbe regelmäßig auftritt - nicht nur wenn Licht einer bestimmten Wellenlänge unser Auge trifft, sondern auch als sogenannte Kontrasterscheinung, wenn ein großer Teil der Netzhaut von der »komplementären« Beleuchtungsfarbe »Grün« getroffen wird. Dann erleben wir auf den restlichen Bezirken unserer Retina, auch wenn kein rotes Licht sie trifft, die Farbe »Rot«. Man kann ein solches Qualitätserlebnis ohne weiteres als Indikator für einen ganz bestimmten physiologischen Vorgang benutzen, was die Sinnesphysiologen ja immer schon getan haben. Das oben geschilderte Phänomen des Simultankontrastes ist eine Nebenerscheinung der Vorgänge, die aus Beleuchtungsfarbe und augenblicklich vom Gegenstand reflektierter Wellenlänge dessen Reflexionseigenschaften errechnen - ein typischer »unbewußter Schluß«, dessen Vorgang indes mit verstandesmäßiger Schlußfolgerung nichts zu tun hat. Die »Isomorphie« zwischen physiologischem und subjektivem Geschehen kann also recht weit gehen und sehr verläßlich sein.
Um diese Isomorphie zu erklären, gibt es drei erkenntnistheoretisch als gleich legitim geltende Hypothesen. Vom Standpunkt der evolutionären Erkenntnistheorie ist allerdings nur eine möglich. Die erste dieser Hypothesen ist die der Wechselwirkung. Man kann die physiologischen
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Ereignisse für die Ursache der entsprechenden Erlebnisse halten und annehmen, daß diese ihrerseits auf das physiologische Geschehen zurückwirken. Dieser zunächst recht einleuchtende, grob kausale Zusammenhang trügt, seine Annahme geht mit einer sogenannten metabasis eis allo genos einher: mit einem logisch unzulässigen Hin- und Herspringen zwischen zwei parallel, aber logisch unabhängig voneinander verlaufenden Ketten von Vorgängen. Wenn ein Mensch z. B. von einem anderen eine saftige Ohrfeige bekommt, so malt sich dies in seinem Erleben folgendermaßen: Er empfindet Schreck und Schmerz, er ist im Augenblick tief deprimiert, sein Selbstbewußtsein ist wesentlich herabgesetzt. Innerhalb von Sekunden aber weicht seine Depression dem Zorn, sein Selbstbewußtsein fordert stürmisch nach Wiederherstellung und findet sie in der genußreichen Zurückgabe besagter Watsch'n.
Denselben Vorgang würde der Physiologe, der Erlebnisvorgänge unberücksichtigt läßt, folgendermaßen beschreiben: Eine starke Erschütterung des Kopfes und der Halswirbelsäule und gleichzeitige starke Reizung gewisser sensorischer Nervenendigungen bewirken im sympathischen Nervensystem einen ruckartigen Abfall des Tonus, der auch auf das Zentralnervensystem übergreift und eine vorübergehende Lähmung der willkürlichen Muskulatur bewirkt. Der Mensch steht für den Augenblick nicht nur wie gelähmt da, er ist tatsächlich teilweise gelähmt.
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Er läßt den Kopf hängen und wird blaß, da bei Sympathikusausfall das Blut in die Bauchhöhle absinkt. Unmittelbar darauf, in einem wohlbekannten physiologischen Kontrasteffekt, springt die Sympathikuslähmung in ihr Gegenteil um, in heftige Erregung; das Blut steigt dem Menschen zu Kopfe, die eben noch eingesunkenen Augen quellen hervor, anstelle der Muskelerschlaffung tritt motorische Erregung; und schließlich werden Instinktbewegungen des Kämpfens, wie Schlagen und Beißen, ausgelöst. Die triebbefriedigende proprio- und exterozeptorische Reaffe-renz des eigenen Schlages führt zur Befriedigung und zum Schwinden der Erregung.
Nun ist es zwar richtig, in dem Schlag, der den Empfänger unerwartet getroffen hat, die Ursache der ganzen Geschehenskette auf der physischen wie auch auf der psychischen Seite zu sehen. Es ist aber falsch zu sagen, ein Mensch sei deprimiert, weil das Gleichgewicht zwischen Syrnpa-thikuserregung und Vaguserregung zugunsten der letzteren verschoben sei und er deshalb den Kopf hängen lasse. Kopfhängenlassen ist ja allgemein zum verständlichen Symbol der Trauer geworden, weil es der Ausdruck einer ganz bestimmten nervlichen Innensituation ist, die mit verläßlicher Regelmäßigkeit von den subjektiven Erscheinungen der Depression begleitet wird. Das eine kann nicht die Ursache des anderen sein, weil es ja in gewissem Sinne dieses selbst ist, nur von einer anderen Seite her erlebt.
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Die zweite Theorie, die Lehre vom psycho-physischen Parallelismus, behauptet eben ein solches Parallelgehen von zwei Ereignisketten, die grundsätzlich in keinem logischen Zusammenhang miteinander stehen. Auch die eingehendste Erforschung physiologischer und insbesondere nerven- und gehirnphysiologischer Vorgänge könnte uns dem Verständnis des Leib-Seele-Problems um nichts näherbringen. Selbst wenn wir auch auf der Erlebnisseite sämtliche der Forschung zugänglichen Vorgänge bis zur kompletten utopischen Voraussagbarkeit so genau durchschauen würden wie die physiologischen, so wären wir, wie Gustav Kramer sarkastisch gesagt hat, nur zu der Aussage berechtigt, daß der psycho-physische Parallelismus in der Tat höchst parallel sei.
Niemand bestreitet, daß alle Erlebnisvorgänge von einem nervenphysiologischen Geschehen begleitet sind, doch läßt sich dieser Satz keineswegs umkehren. Es gibt hochkomplizierte ner-venphysiologische Vorgänge, die komplizierten Verrechnungsprozessen gleichkommen und doch völlig unbewußt ablaufen.
Auf der anderen Seite sagt uns die Selbstbeobachtung, daß wir sehr oft unbezweifelbare und qualitativ unverwechselbare subjektive Erlebnisse haben, die - soweit wir heute wissen - nicht mit objektivem und meßbarem physiologischen Geschehen korreliert sind. Daß selbst der flüchtigste Gedanke, das leiseste Aufquellen eines Gefühls physiologische Entsprechungen hat, läßt sich nicht beweisen.
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Doch kennen wir alle Übergänge von solchen »nur seelischen« Vorgängen und solchen, bei denen ein physiologisches Korrelat eindeutig nachweisbar ist. Das im Terminus psychophysischer Parallelismus ausgedrückte Gleichnis hinkt also in doppelter Hinsicht: Es gibt nervenphysiologische Vorgänge ohne merkbares psychisches Korrelat, und es gibt umgekehrt subjektive Vorgänge, deren physiologische Entsprechung nicht nachweisbar ist. Unsere Annahme, daß dieses Korrelat dennoch sehr wohl vorhanden ist, hat gute Gründe. Es ist allerdings sehr wohl möglich, daß physiologische Vorgänge von der zu erwartenden Zartheit und geringen Energie niemals nachweisbar sein werden.
Die dritte mögliche Einstellung zum Leib-Seele-Problem und die einzige, die für den evolutionären Erkenntnistheoretiker vertretbar ist, besteht in der Annahme, daß Leib und Seele, physiologisches und emotionales Geschehen schlicht dasselbe an sich Wirkliche seien und daß wir beides - wie Materie und Energie oder Korpuskularstrahlung und Welle - durch zwei unabhängige und inkommensurable Erkenntnisweisen erfahren.
Die Scheidewand, die zwischen den objektivphysiologischen Vorgängen und dem Erleben gezogen ist, besteht merkwürdigerweise nur für unseren Verstand und nicht für unser Gefühl. Meines Wissens war Karl Bühler der erste, der klar erkannt hat, daß für jeden normalen Menschen die Existenz gleichgearteter und gleich empfindender Mitmenschen ebenso evident ist wie ein
mathematisches Axiom. Auch idealistische Philosophen wie Kant und Schopenhauer haben die Existenz gleichartiger Mitmenschen nie bezweifelt, obwohl sie das Zeugnis der Sinne durchaus nicht für ein Abbild der äußeren Wirklichkeit hielten und obwohl sie von der Existenz gleich empfindender Mitlebewesen nur durch eben dieses, ach so verachtete Zeugnis ihrer Sinnesorgane Kenntnis hatten.
Ich behaupte nun: Wenn ich sage, dort sitzt mein Freund Hans, so meine ich damit ganz bestimmt nicht nur seine physiologisch erforschbare Körperlichkeit, noch auch sein subjektives Erleben, an dem zu zweifeln mir von der Du-Evi-denz verwehrt wird, sondern ich meine ganz bestimmt die Einheit beider. Ich behaupte weiter, daß dies nicht nur bei mir, sondern bei allen Menschen so ist. Von den drei in diesem Abschnitt besprochenen Einstellungen zum Leib-Seele-Problem ist somit die Annahme einer Identität von Leib und Seele die einzig widerspruchslose.
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