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5.

Die Phänomenologie der Wertempfindungen

 

 

Teleonome Wertungsnormen

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William McDougalls ebenso kühne wie Wesentliches treffende Annahme, daß der Mensch ebenso viele Instinkte habe wie qualitativ voneinander unter­scheidbare Gefühle, ist sicher insofern richtig, als die Mehrzahl unserer qualitativ bestimmbaren Gefühle auf neuralen und sensorischen Systemen beruht, deren Struktur phylogenetisch entstanden und genetisch festgelegt ist.

Nach der aphoristischen Definition von Paul Weiss ist ein System schlechterdings alles, was einheitlich genug ist, um einen Namen zu verdienen: »A System is anything unitary enough to deserve a name.« Diese Definition drückt ein hohes, aber berechtigtes Vertrauen in das Feingefühl aus, das die natürlich gewachsene Sprache für psychologische Zusammenhänge besitzt. Die Zahl qualitativ unverwechselbarer Emotionen, wie Haß, Liebe, Eifersucht, Neid, Freundschaft, Trauer, Mutterliebe, Begeisterung, Empörung, Freude, ist, wie gesagt, eng begrenzt.

Diese erlebten Qualitäten sind ebenso allgemein menschlich wie die Du-Evidenz oder die apriorischen Formen der Erfahrung. Die einzelnen angeborenen Bereitschaften zu den verschiedenen Gefühlen sind in der Tat angeborene Formen der Erfahrung. Sie entsprechen phylogenetisch programmierten Verhaltensnormen des Menschen, die vielleicht bei verschiedenen Kulturen auf etwas verschiedene Weise durch Tradition überlagert werden; doch ist die Aussage erlaubt, daß sie höchstwahrscheinlich zu einem arterhaltend sinnvollen System des menschlichen Gesellschaftslebens gehören, also im Sinne Pittendrighs teleonom sind.    wikipedia  Teleonomie

Überschuß und Mangel

Der Annahme, die angeführten, emotionsgesteuerten Verhaltensnormen seien teleonom, scheint zunächst die Tatsache zu widersprechen, daß einige von ihnen positiv, andere hingegen negativ bewertet werden. Begeisterung und Freundestreue etwa werden für lobenswert, Haß und Neid für verdammenswert befunden, Mutterliebe gilt als etwas Edles, Futterneid als etwas Verächtliches, obwohl auch die beiden letztgenannten menschlichen Verhaltensweisen zum instinktmäßigen »Ethogramm« des Menschen zu rechnen sind.

Dieser scheinbare Widerspruch ist, wie ich meine, dadurch zu erklären, daß wir Menschen einen feinen Sinn dafür besitzen, ob in

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der Sozietät, in der wir leben, an einer bestimmten Verhaltensweise Mangel herrscht oder ob sie im Überfluß »angeboten« ist. Beide, Überschuß wie Mangel, erzeugen eine Gleichgewichtsstörung des übergeordneten Systems.

Ich entnehme der Geschichte der Medizin ein Gleichnis:

Unser ärztliches Verständnis für Gleichgewichtszustände, die in einem lebenden System obwalten müssen, entstand wissenschaftsgeschichtlich zum großen Teil aus dem Studium des Systems der endokrinen Drüsen und ihren Störungen. Der schweizerische Chirurg Kocher unternahm als erster den Versuch, die Basedowsche Krankheit, die durch ein Übermaß an Schilddrüsenhormon hervorgerufen wird, durch die Entfernung dieser Drüse zu heilen. Die Patienten starben daraufhin unter Erscheinungen, die denen des Myxoedems verwandt waren, das bei Jodmangel entsteht. Kocher schloß daraus richtig, daß sowohl die Basedowsche Krankheit wie das Myxoedem nur von der Menge der innersekretorischen Hormonausschüttung, d. h. von einer Über- oder Unterfunktion der Thyroxinbildung, verursacht werden.

Das war der erste Schritt zur Erkenntnis, daß zwischen den Funktionen der innersekretorischen Drüsen beim Gesunden ein kompliziertes, wohlausgewogenes Gleichgewicht antagonistischer Wirkungen besteht. Wegen der heute noch nicht durchschaubaren Komplikation dieser Antagonismen ist es unverantwortlich, das System der Hormone willkürlich zu manipulieren.

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Der allzufrüh verstorbene Psychiater Ronald Hargraeves schrieb mir in einem seiner letzten Briefe, er habe es sich zur Pflicht gemacht, bei jeder unbekannten Störung, die ihm begegnete, gleichzeitig zwei Fragen zu stellen: Was ist die ursprüngliche teleonome Funktion des hier gestörten Systems? Und ist die Störung vielleicht nur durch eine Über- oder eine Unterfunktion bedingt? Es gibt viele Fälle, in denen Hargraeves' »doppelte Frage« sinnvoll gestellt werden kann. Offensichtlich findet im Sinnes- und Nervensystem des Menschen und in den zahlreichen, aber immerhin zählbaren Motivationen, die es erzeugt, eine ausgewogene Wechselwirkung statt, die derjenigen analog ist, die das Gleichgewicht im System der endokrinen Drüsen aufrechterhält.

Kein vernünftiger Mensch kann bezweifeln, daß unsere westliche Zivilisation ein System ist, das aus dem Gleichgewicht geraten ist. Kein wissenschaftlich Denkender kann daran zweifeln, daß wir alle die Wiederherstellung dieses Gleichgewichts nur aufgrund einer ursächlichen Einsicht in das Zusammenspiel der normalen Funktionen und die Art der Gleichgewichtsstörung gewinnen. Eine solche Einsicht in das System menschlichen Sozialverhaltens hat zweifellos die medizinische Perspektive zur Voraussetzung. Die pathologische Störung ist also, wie am Beispiel der endokrinen Funktionen dargetan, häufig eine Hilfe für das Verständnis kausaler Zusammenhänge.

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Wenn wir Menschen, wie ich vermute, einen Sinn dafür haben, welche Verhaltensformen in unserer Kultur Mangelware sind und welche überhandnehmen und Gleichgewichtszustände stören, so ist in diesem »Sinn« eine ausgesprochen teleonome Reaktionsweise zu vermuten. Dabei ist es gleichgültig, ob es sich um kulturelle, d. h. an Traditionen gebundene, oder um genetisch programmierte Verhaltensnormen handelt. Es ist durchaus möglich, daß der Sinn für Mangel und Übermaß von Verhaltensweisen uns Menschen im Laufe unserer Stammesgeschichte angezüchtet worden ist. Diese Annahme ist auch für die nun zu besprechenden Wertempfindungen von schön und häßlich, von gut und böse zulässig.

 

  Schönheitsempflnden und Domestikation 

Es besteht eine rätselhafte Beziehung zwischen unserem Empfinden für das Schöne und den schon im ersten Teil beschriebenen Domestikations­erscheinungen, die an nahezu allen Haustieren und auch am zivilisierten Menschen auftreten. Bei der großen Mehrzahl aller Haustiere - seien es nun Vögel oder Säugetiere - sind im Vergleich zur Wildform die langen Röhrenknochen sowie die Schädelbasis verkürzt, das Bindegewebe ist gelockert, der Tonus der quergestreiften Muskulatur verringert; dazu besteht eine ausgesprochene Neigung zum Fettansatz.

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Stellt man, wie ich das in Vorlesungen zu tun pflegte, das Bild verschiedener Hausformen dem der betreffenden undomestizierten Ahnenform gegenüber, so findet nahezu jeder Mensch die Wildform »edel« und schön, die Hausform dagegen ausgesprochen häßlich. Julian Huxley spricht von einer »Vulgarisation« des Haustieres.

Es läßt sich mit ziemlicher Sicherheit vermuten, welche vom Menschen ausgeübte Selektion für die Verhäßlichung der Haustiere verantwortlich ist. Bewegungsfreudigkeit, Körperkraft und alle Verhaltensweisen, bei denen diese eine Rolle spielen, sind begreiflicherweise bei Tieren, die der Ernährung dienen, unerwünscht, die Neigung zum Fettansatz ist hingegen wünschenswert. Wo andere Arten des Selektionsdrucks am Werke waren, wie z. B. bei manchen Pferderassen und bei den Brieftauben, bleibt die Hausform ebenso »edel« wie die Wildform, ja, sie kann diese noch in den durch Domestikation gefährdeten Merkmalen übertreffen.

Es ist denkbar, daß dieser Wertschätzung der Wildformeigenschaften ein angeborener Auslösemechanismus des Menschen zugrunde liegt. Dafür spricht nämlich, daß bei Darstellung des Menschen die Wildformeigenschaften bis ins Maßlose übertrieben werden können. Künstler der verschiedensten Kulturepochen - babylonische, assyrische und griechische Maler und Bildhauer - haben genau diejenigen Merkmale des menschlichen, insbesondere des männlichen Körpers betont, die durch Domestikation gefährdet sind:

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breite Schultern, schmale Hüften, lange Extremitäten und starke Muskulatur. Vielleicht kann man auch hier aus der Möglichkeit der übertriebenen Ausbildung einzelner Merkmale auf das Vorhandensein eines angeborenen Auslösemechanismus (AAM) schließen? In kommerziell oder ideologisch beeinflußten Darstellungen kommt dies deutlicher zum Vorschein als in um ihrer selbst willen geschaffenen Kunstwerken. Die in solchen Darstellungen angepriesenen Proportionsmerkmale sind demnach möglicherweise domestikationsgefährdete Wildformeigenschaften. Es erübrigt sich, in Einzelheiten zu beschreiben, wie auch Proportionsmerkmale des weiblichen Körpers ins Maßlose übertrieben werden können: die Länge der Beine, die Schlankheit der Taille u. a. Die Möglichkeit, durch Merkmalübertreibung übernormal wirkende Attrappen herzustellen, ist von N. Tinbergen und G. Baerends an Tieren experimentell nachgewiesen. Als Baerends einst in einer Vorlesung einen Film zeigte, auf dem ein Austernfischer ein übergroßes, grell blau und schwarz geflecktes Ei zu bebrüten versuchte, während sein eigenes Gelege verlassen daneben lag, drückte ein zufällig anwesender amerikanischer Journalist die hier vertretene Meinung ganz richtig aus, indem er rief: »Why, that's the covergirl.«

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Bewertung von Domestikationserscheinungen im Verhalten

Auf ähnliche Weise, wie unsere unreflektierten Wertempfindungen körperliche Domestikationsmerkmale negativ einstufen, empfinden wir auch gewisse Abänderungen des Verhaltens, die sich regelmäßig bei den verschiedensten Haustieren - und wohl auch bei zivilisierten Menschen - finden, als unschön und »vulgär«. Die allermeisten Haustiere sind in der Nahrungsaufnahme weniger selektiv als die wilde Ahnenform und fressen dementsprechend mehr. Ähnliches gilt bei vielen domestizierten Tierformen, Säugetieren wie Vögeln, für das sexuelle Verhalten. Die negative Wertung, die im Wort »tierisch« zum Ausdruck kommt, hat ihre Bedeutung dadurch bekommen, daß der Mensch Haustiere am besten kennt.

Studien, die Werner Schmidt und schon lange vorher ich selbst dem Vergleich zwischen der Graugans und der von ihr abstammenden Hausgans gewidmet haben, erbrachten besonders schlagende Beispiele für die Vulgarisation im sexuellen Verhalten. Bei reinblütigen weiblichen Graugänsen steht das sexuelle Verhalten unter starken Hemmungen, die nur durch lange persönliche Bekanntschaft mit dem Männchen und vor allem durch ein hochkompliziertes Ritual beseitigt werden können. Die Werbung des Ganters und die zögernde Einwilligung der Gans sind der menschlichen Paarbildung in so vielen Punkten analog, daß man sich durch ihre genaue Darstel-

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lung den Spott aller jener zuzieht, die von Analogie nichts wissen. Bei Hausgänsen und schon bei Mischlingen zwischen Haus- und Wildform sind diese Hemmungen weitgehend geschwunden; der menschliche Beobachter kann nicht umhin, die unumwundenen sexuellen Anträge, die eine Hausgans einem ihr kaum bekannten Partner macht, als etwas Vulgäres, ja Dekadentes zu empfinden. Auch unseren Mitmenschen gegenüber reagieren wir ähnlich. Die typischen Verhaltensänderungen der Domestikation empfinden wir nicht als böse, sondern als vulgär. Sie erregen nicht unser Grauen, wie ein Mord oder ein anderes Gewaltverbrechen es tut, sondern ein Gefühl anderer Qualität, nämlich des verächtlichen Abscheus.

Wenn man annimmt, daß die hochdifferenzierten Rituale der Paarbildung teleonomen Wert besitzen, woran kaum gezweifelt werden kann, dann liegt es auch im Bereich der Möglichkeit, daß wir Menschen programmierte Reaktionen besitzen, die dem Schutz und der Erhaltung bewährter, ritualisierter Formen sozialen Verhaltens dienen. Rituale dieser Art sind es ja, die gewissermaßen das Skelett der Sozietätsstruktur bilden, wobei es für unsere Betrachtung zunächst gleichgültig ist, ob diese formfesten Strukturen im Genom oder nur in der Tradition verankert sind.

Bei der Graugans erlauben die bisher gesammelten Protokolle die Aussage, daß der Fortpflanzungserfolg des Individuums, gemessen an erwachsenen Kindern, die im Frühling nach ihrer

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Geburt die Eltern verlassen, in geradem Verhältnis zur Dauerhaftigkeit seiner Paarbindung steht.

Dazu kommt, daß bei paarbildenden und in beiden Geschlechtern brutpflegenden Wirbeltieren die Werbung eine Zurschaustellung jener Eigenschaften ist, die bei der Brutpflege und vor allem bei der Verteidigung der Nachkommenschaft eine wichtige Funktion haben. Der Ganter demonstriert Angriffslust und Mut gegenüber stärkeren Gegnern, ebenso Wachsamkeit. Das vielzitierte Triumphgeschrei ist eine ritualisierte Demonstration der Angriffsbereitschaft nach außen und der großen Zärtlichkeit gegen die Familie. Schon bei Knochenfischen, die in Dauerehe leben, findet sich ähnliches. Die Teleonomie all dieser - spätere Verhaltensweisen der Brutpflege vorwegnehmenden - Balzformen liegt offensichtlich darin, daß das Weibchen Gelegenheit hat, unter seinen Bewerbern den zu wählen, der voraussichtlich der beste Familienvater sein wird. Der Ganter prahlt außerdem mit Kraft, indem er unnötig oft auffliegt, übertrieben schnell beschleunigt und ebenso scharf bremst. Beides machen der Hengst und der junge Menschenmann in ähnlicher Form, letzterer sogar mit motorgetriebenen Fahrzeugen.

Die teleonome Wirkung dieser Verhaltensweisen hat zur Voraussetzung, daß das Weibchen einen fein differenzierten Sinn für die Qualität seiner Bewerber hat, außerdem aber auch, daß die so zustandekommende Paarbildung monogam ist, zumindest auf Seiten der Weibchen. Die

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sorgfältige Auswahl des Gatten nach familiensoziologisch teleonomen Eigenschaften hätte wenig Sinn, wenn das Weibchen anschließend von beliebigen Männchen befruchtet würde. Für diese Auslegung der monogamen Paarbildung spricht auch, daß nur die Weibchen absolut monogam sind. Beim Ganter können die Verhaltensweisen der Begattung auch dissoziiert von denen der Paarbildung ausgelöst werden, beim Weibchen sind sie viel fester an diese gebunden.

Es wäre denkbar, daß die negativen Wertempfindungen, mit denen wir auf Vereinfachung und Auflösung mancher sozialer Verhaltensnormen, insbesondere jener des Paarbildungsverhaltens, reagieren, das Produkt einer Selektion sind, die auf Erhaltung fester Normen abzielt. Wozu allerdings unsere negative Bewertung der »unedlen« körperlichen Domestikationsformen dienen soll, ist völlig unklar.

Wertempfindungen von recht und unrecht

Auf grobe Verstöße gegen die Normen des sozialen Verhaltens sprechen wir mit einer ganz anderen Gefühlsqualität an. Der Mörder, der rücksichtslose Terrorist lösen Gefühle des Grauens und der Empörung aus; wir empfinden sie als Unmenschen, aber keineswegs als verächtlich oder »gemein«. Schon im Wort gemein steckt derselbe Sinn wie in dem Wort vulgär.

Der amerikanische Rechtsphilosoph Peter

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H. Sand und ebenso Albert Ehrenzweig kommen aufgrund vergleichender Untersuchungen des Gruppenprojektes der Cornell Universität »Common Core of Legal Systems« zu der bemerkenswerten Meinung, daß das Rechtsempfinden des normalen Menschen in angeborenen Programmen verankert sei. Sie führen an, daß nachweislich in Staaten, in denen ein bestimmtes Verbrechen durch besonders strenge Gesetze geahndet wird, die Geschworenen regelmäßig dazu neigen, eine möglichst milde Strafe zu verhängen, während umgekehrt in Staaten, in denen dasselbe Verbrechen oder Vergehen vom Gesetz nur milde bestraft wird, die Strengstmögliche Auslegung befürwortet wird.

Seltsamerweise kann die kategorische Frage Kants nicht ohne weiteres entscheiden, ob eine menschliche Verhaltensweise einem genetischen Programm oder einer moralischen Selbstbefragung entsprungen ist. Diese Frage lautet bekanntlich sinngemäß: Kann ich die Maxime meines Handelns zum Naturgesetz erheben, oder würde dabei Vernunftwidriges herauskommen? Die negative Bewertung des »Vernunftwidrigen« ist die Voraussetzung dafür, daß die Antwort auf die kategorische Frage zu einem Gebot, eben dem Imperativ, oder aber zu einem Verbot wird. Die kategorische Frage und eine auf sie erfolgende bejahende Antwort werden oft als Beweis dafür gewertet, daß die in Frage stehende Handlung des Menschen moralisch, d. h. der vernunft-mäßigen Verantwortung entsprungen, sei. Das

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ist ein naheliegender Irrtum. Wenn ein Kind ins Wasser fällt und ein Mensch nachspringt und es herauszieht, dann kann er nachträglich die Maxime seiner Handlung der Kantischen Frage unterziehen und formulieren: Wenn ein erwachsener Mensch ein Kind in Lebensgefahr sieht und es ohne jede eigene Gefährdung daraus erretten kann, so tut er es. Diese Maxime, zum Gesetz erhoben, enthält keinen vernunftmäßigen Widerspruch, weil die Handlungsweise auf einem genetischen Programm beruht, das an sich schon als ein Naturgesetz gelten kann. Eine gesunde, genetisch programmierte Verhaltensnorm ist daher nicht mit Hilfe der kategorischen Frage von moralischem Verhalten zu unterscheiden, wiewohl sie auf weit einfacherem Wege zustande kommt. Sämtliche in diesem Kapitel behandelten Verhaltensnormen des Menschen sind der Prüfung durch die Kantische Frage bedürftig. Ihre durch die rasch sich verändernden Bedingungen der heutigen Kultur verursachten Fehlleistungen können nur durch die kritische Verantwortlichkeit des Menschen gebannt werden.

Die Wertempfindungen für den Besitz

Wie schon auseinandergesetzt, betreffen Wertempfindungen niemals absolute, sondern immer nur relative Intensitäten einer Erlebnisqualität. Die relative Bedeutung von gut und schlecht haben wir bereits erörtert. Das substantivierte Wort

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»Gut« bezeichnet nun allerdings einen ganz bestimmten Begriff, nämlich den eines Grundbesitzes. Die Wortverbindung »Hab und Gut« ist uns ebenso vertraut wie das Eigenschaftswort »begütert«. Das Wort »Besitz« enthält die Vorstellung des dauernden Verbleibens auf einem bestimmten Landstück. Territorialbesitz ist bei sehr vielen Tieren sicher genetisch programmiert. Das scheint für den Menschen, zumindest in seinen einfachsten Gesellschaftsformen, nicht zu gelten. Bei den Kulturen, die heute noch im Jäger-Sammler-Stadium verharren, spielt die persönliche materielle Habe offenbar nur eine recht geringe Rolle und beschränkt sich wohl meist auf einige Gebrauchsgegenstände und Waffen. Zwar verteidigen solche Kulturen die von ihren Streifzügen nach einem mehr oder weniger geregelten System berührten Gebiete bis zu einem gewissen Grade gegen Übergriffe benachbarter Gruppen; man kann jedoch, grob gesprochen, annehmen, daß eine echte Territorialverteidigung erst Hand in Hand mit dem Ackerbau entstanden ist, gleichzeitig mit einer hierarchischen Gesellschaftsordnung: der Scheidung der Menschheit in Herren und Knechte.

In Form unreflektierter Gewohnheitsrechte war sehr wahrscheinlich schon bei sehr frühen Jägerkulturen das Beutetier Besitz des Erbeuters. Dies ist interessanterweise auch beim Schimpansen so. Selbst ein untergeordneter Schimpanse, der einen jungen Pavian oder ein Antilopenkitz getötet hat, wird von ranghöheren Tieren in aller

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Demut angebettelt und teilt großzügig Stücke seiner Beute an alle Mitglieder der Horde aus, wobei er allerdings nicht »gerecht« vorgeht, sondern seine Freunde bevorzugt.

Eine sehr alte Form des persönlichen Besitzes war ganz sicher das Weidetier des Nomaden. Das lateinische Wort pecus, von dem pecunia und »pekuniär« abgeleitet sind, heißt Kleintier; speziell war wohl meist das Schaf gemeint. Phänomenologie kann man am besten in Selbstbeobachtung treiben, d. h. eigene Empfindungen beschreiben und hoffen, daß man von anderen verstanden wird. Einige Spekulationen seien mir erlaubt. Meine Empfindungen der Freude daran, etwas zu »haben«, hat fast ausschließlich lebende Tiere zum Objekt. Wenn in einem Aquarium durch reinen Zufall und ohne mein Zutun eine große Schar von Fischen aufwächst und gedeiht, so bereitet mir dies tiefe Befriedigung, auch wenn diese Fische mir an sich durchaus uninteressante Salmler sind. Die Betrachtung der ständig wachsenden Schar unserer Graugänse macht mir Freude, obwohl wir unser Bestes tun, möglichst viele von ihnen auf gutem Wege loszuwerden, weil die große Zahl den für unsere Forschungsarbeiten notwendigen Überblick erschwert. Diese Selbstbeobachtungen bestärken meine Meinung, daß die positive Empfindung für das Wachsen der Herde mehr von genetischen Programmen beeinflußt ist als andere Arten der Besitzfreude.

Eine qualitativ andere Art der Freude am Haben scheint sich auf Objekte zu richten, die man sammeln und horten kann. Sie wird sehr stark ausgelöst durch Nahrungsmittel von genügender Haltbarkeit. Der Drang zum Sammeln gleichartiger Objekte ist höchstwahrscheinlich genetisch programmiert; er hat die gefährliche Eigenschaft, sich mit der Quantität des bereits Gesammelten zu verstärken. Es ist bekannt, daß leidenschaftliche Sammler von bestimmten Kunstgegenständen diesem Trieb soweit erliegen, daß sie vor kriminellen Handlungen nicht zurückscheuen. Daß die Sammelwut nach Art einer Neurose allmählich die ganze Persönlichkeit des Sammlers »auffressen« kann, ist nicht nur dem Psychiater bekannt.

Einer der gefährlichsten Teufelskreise, die das Leben der gesamten Menschheit bedrohen, entsteht dadurch, daß das Streben nach einer möglichst hohen Rangordnungsstellung, mit anderen Worten, das Streben nach Macht, sich mit der zur Neurose gewordenen Habsucht verbindet, deren Ergebnisse Macht verleihen. Es wurde schon gesagt, daß die Quantität des Angesammelten den Drang zum Sammeln steigert; die böseste gegenseitige Steigerung findet zwischen Macht und Herrschsucht statt.

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