6. Chemikalien, Nahrung und Rohstoffe
Lovelock-2006
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In der Ersten Welt leben heute mindestens 90 Prozent der Menschen in Städten oder Ballungsräumen. Selbst unseren Urlaub verbringen wir in der Regel in den urbanisierten Ferienanlagen, die überall auf der Erde entstanden sind. Darüber hinaus gehen nur noch wenige von uns zum Vergnügen in freier Natur spazieren. Es gibt weiterhin wunderschöne Landschaften, auch wenn die Agrarindustrie viel davon zu Monokulturfeldern hinter Stacheldraht oder zu unpassierbaren matschigen Weiden mit viel zuviel Rindern oder Schafen gemacht hat.
Ein natürlicher Zustand ist das nicht, und nur die vor 1950 Geborenen wissen noch, wie herrlich das Land einst war und wie es wieder werden könnte.
Weil wir so völlig verstädtert leben, stellt die Demokratie sicher, dass Regierungen gewählt werden, die den Kontakt zur natürlichen Welt fast ganz verloren haben.
Sandy und ich durchwandern oft die verbliebene unberührte Natur des britischen Südwestens, wo wir leben. Besonderen Spaß macht uns der Küstenweg, der sich über gut 1000 Kilometer von Minehead in Somerset über Land's End bis nach Poole in Dorset hinzieht. Selbst im Hochsommer begegnen wir nur wenigen anderen Fußgängern, und auch die bewegen sich meist nur innerhalb weniger Hundert Meter vom nächsten Parkplatz, und oft sind es gar keine Wanderer, sondern Leute, die den Weg als Toilette für ihre Hunde betrachten.
Der Abschnitt zwischen Poole und Lyme Regis ist landschaftlich so reizvoll, dass er zum Weltnaturerbe zählt und den Namen »Jurassic Coast« trägt, weil die Klippen Querschnitte durch Felsen zeigen, die einst zur Zeit der Großechsen Landoberfläche waren. Die Fossilien dieses spannenden Zeitalters treten jetzt an den Stränden bei Charmouth und Kimmeridge wieder zutage.
Kein Wunder, dass Fettsucht so weit verbreitet ist: Wir werden immer dicker und sterben an Stoffwechselkrankheiten wie Diabetes, an Schlag- und Herzanfällen, weil wir nicht nur zu viel essen, sondern uns auch zu wenig bewegen. Überlegen Sie einmal, wie viele Kinder noch zu Fuß zur Schule gehen oder aus der Stadt hinaus, um statt Straßenlaternen die Sterne zu sehen, die wie auf schwarzem Samt verstreute Juwelen funkeln, oder um im Frühling einen Kuckuck rufen zu hören.
Den Regierungen ist klar, dass mit unserer Lebensweise etwas nicht stimmt, und sie haben Ministerien eingerichtet, die sich um die Umwelt kümmern. Sieht man sich deren Arbeit jedoch genauer an, dreht sie sich meist um Straßen und Abwasser und die Planung neuer Städte. Die freie Natur wird größtenteils als »unerschlossenes« Land betrachtet, das sich für Windparks, Landwirtschaft, Stauseen und andere Großanlagen eignet, die den Stadtbewohnern dienen.
Bei solch einer Lebensart und solchen Prioritäten überrascht es nicht, dass Gaias natürliche Welt vielen fremd vorkommt, die wenig über das große irdische System wissen, das seit Äonen unseren Planeten zu einem Ort macht, an dem das Leben gedeihen kann. Eine Welt ohne Menschen sehen wir nur noch in Form eines Ersatzes auf den Fernsehbildschirmen, wenn Naturprogramme laufen oder Astronauten uns an ihrer Sicht der Erde aus dem All teilhaben lassen.
Sie würden sich kaum von einem Anfänger operieren lassen, der bloß Bücher gelesen oder TV-Dokumentationen über die Entfernung eines entzündeten Blinddarms gesehen und noch nie zuvor ein Skalpell geführt hat.
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Warum sollten wir unser Vertrauen also urbanen Umweltschützern schenken, die unsere gewählten Regierungen beraten, welche Gesetze sie zum Wohlergehen unseres Planeten beschließen sollen? Wie Amateurchirurgen haben sie gute Absichten, aber die Durchführung ist oft jämmerlich — oder definitiv schädlich. Natürlich lieben wir noch immer die freie Natur, und wir sehnen uns oft nostalgisch nach einem einfacheren, natürlicheren Leben. In jedem Supermarkt kann man Bioprodukte kaufen — Eier von freilaufenden Hühnern und Lebensmittel, die als nicht mit Chemikalien kontaminiert etikettiert sind. Schon lange benutzen wir keine CFK-Sprühdosen mehr, und wir kaufen und fahren Autos mit niedrigeren Abgaswerten. Wir glauben wirklich, alles richtig zu machen, und in einigen Ländern wählen wir sogar grüne Parteien an die Regierung.
Ja, all das machen wir, und wir meinen es gut, aber all das reicht keinesfalls, und oft sind die Folgen schlimmer als das Nichthandeln. Dieses Kapitel beschäftigt sich mit einigen der schweren Fehler, die im Namen des Umweltschutzes gemacht wurden, seit vor über 40 Jahren Rachel Carsons Der stumme Frühling veröffentlicht wurde; es zeigt auf, was sich zum Guten gewendet hat und wo wir versagt haben.
Insektizide und Herbizide
Rachel Carson argumentierte überzeugend, dass der ungezügelte Gebrauch von Pestiziden in der Landwirtschaft zu einem weitverbreiteten Vogelsterben führte. Sie zeigte, dass Vögel, die mit Pestiziden vergiftete Insekten fraßen, Schaden nahmen, und sie war besorgt, dass es letztlich zu einem so großen Vogelsterben kommen würde, dass eines schönen Frühjahrs keine mehr zu hören wären.
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In den meisten Weltgegenden wurden inzwischen die Pestizide, die Carson Kopfschmerzen bereiteten, verboten, oder ihre Anwendung wurde streng reglementiert. Nutzpflanzen und Schlachtfleisch werden heute auf Pestizidreste untersucht, und die Gesetze zur Eindämmung der Pestizide greifen.
Carson hatte den Einsatz chemischer Pestizide überspitzt angeprangert, und ich hege den Verdacht, dass unschuldige Studenten mit ihrem natürlichen jugendlichen Hang zum Sozialismus sich vorstellten, DDT sei von einem Angestellten einer monolithischen Chemieindustrie erschaffen worden, die von gierigen Kapitalisten allein um des Profits willen betrieben wurde. Tatsächlich aber wurden die Insekten tötenden Eigenschaften des DDT von dem Schweizer Professor Paul Hermann Müller im Jahr 1939 entdeckt. Zu Recht wurde er dafür mit dem Nobelpreis für Medizin geehrt, denn DDT rettete mehr Leben als jede andere bis dahin entwickelte Chemikalie.
Müller war ein guter Mensch und gab sein Preisgeld an seine Studenten weiter, was für einen Professor eine höchst ungewöhnliche Geste ist. Doch ungewollt machte Carson ihn zu einem Dämon. Es ist wichtig, sich die Geschichte des DDT richtig in Erinnerung zu rufen. Ursprünglich wurde es gegen Insekten eingesetzt, die Krankheiten übertragen, um vor allem Epidemien einzudämmen — zum Beispiel den Typhus, der nach dem Zweiten Weltkrieg Neapel heimsuchte. Später wurde DDT gegen Mücken verwendet, die Malaria, Gelbfieber und andere Tropenkrankheiten verbreiten. In dieser Funktion rettete das Gift bis zu seinem Verbot jährlich Millionen von Menschen und verbesserte die Lebensqualität von Hunderten Millionen, die in Malariaregionen lebten. So angewendet, stellte das Gift kaum eine Bedrohung für die Natur dar.
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Zu einer Umweltgefährdung wurden DDT und andere Insektizide erst, als die Agrarindustrie sie in großem Maßstab einsetzte, um die Ernteerträge zu steigern. Diese Anwendungsweise musste in der Tat streng eingeschränkt werden, aber das pauschale Verbot von DDT und anderen chlorhaltigen Insektiziden war ein egoistischer, auf Unkenntnis beruhender Akt von Luxusradikalen der Ersten Welt. Die Bewohner tropischer Länder haben einen hohen Preis in Form von Todes- und Krankheitsfällen dafür bezahlt, dass sie nicht länger DDT zur wirksamen Malariakontrolle einsetzen konnten.
Diese Vorgänge habe ich selbst nicht nur als Außenstehender miterlebt, sondern zum einen als Erfinder eines außergewöhnlich empfindlichen Instruments — des ECD (electron capture detector), das noch feinste Spuren von Pestiziden wie DDT aufspüren kann — und zum anderen als wissenschaftlicher Berater von Lord Rothschild, dem damaligen Wissenschaftskoordinator für das Unternehmen Shell, das im großen Umfang DDT unter dem Namen Dieldrin und andere chemische Pestizide herstellte. Lord Rothschild war auch ein ausgezeichneter Biologe und Mitglied der Royal Society. Wir beide gehörten zu den wenigen Wissenschaftlern weltweit, die zu jener Zeit die Biophysik der Spermatozoen erforschten, und dieses gemeinsame Interesse hatte uns erstmals zusammengebracht.
Ich werde nie vergessen, mit welchem Schmerz und welcher Wut er Rachel Carsons Buch las und den davon hervorgerufenen Mediensturm durchlitt. Als Naturforscher durchlebte er Qualen, als ihm klar wurde, wie viel Schaden sein Unternehmen unbeabsichtigt angerichtet hatte, und ihn ärgerte die Politisierung dessen, was seiner Ansicht nach auf anständige Weise hätte gelöst werden können.
Wir müssen begreifen, dass nicht einfach die Vergiftung mit Pestiziden zum »stummen Frühling« führte; die Vögel starben, weil es in unserer intensiv bewirtschafteten Welt keinen Platz mehr für sie gab. Heutzutage streben so viele Menschen die Le-
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bensweise der Ersten Welt an, dass wir unsere Partner auf dem Planeten — die anderen Lebensformen — verdrängen. Es muss uns klar werden, dass das Zurückfahren von Treibhausgasemissionen nur Teil dessen ist, was wir zu tun haben; wir müssen auch aufhören, das Land so zu nutzen, als wäre es nur für uns da. Das ist es nicht: Es gehört der Gemeinschaft der Ökosysteme, die allem Leben dienen, indem sie das Klima und die chemische Zusammensetzung der Erde regulieren.
Ich entschuldige mich nicht dafür, immer zu wiederholen, dass Gaia ein evolutionäres System ist, in dem alle Arten — einschließlich der menschlichen —, die ständig ihre Umwelt so verändern, dass die Überlebenschancen ihrer Nachkommen sinken, zum Aussterben verdammt sind. Indem wir Gaia massiv Land zur Ernährung von Menschen rauben und Luft und Wasser vergiften, schädigen wir ihre Fähigkeit, das Klima und die Chemie der Erde zu regulieren. Und wenn wir das weiterhin tun, laufen wir Gefahr, ausgelöscht zu werden. In gewisser Hinsicht sind wir in einen Krieg gegen Gaia hineingestolpert, den wir nicht gewinnen können. Uns bleibt nur, Frieden zu schließen, solange wir noch stark sind und kein am Boden zerstörter Haufen.
Da ich mich für einen Grünen hielt, rüttelten mich die neuen Beweise wach, dass landwirtschaftliche Pestizide Schaden anrichten. In Wiltshire, wo ich damals lebte, war die gesamte Landschaft von jungen, begeisterten Agrarmanagern sterilisiert worden. Die reiche Biodiversität einer Landschaft mit kleinen Wiesen und Hecken verschwand rasch; ersetzt wurde sie durch riesige Felder mit Monokulturen von Gerste und Raps, und diese waren mit Stacheldraht eingezäunt.
Unser Dorf Bowerchalke hatte sich mit seinen fünf Höfen und den auf ihnen arbeitenden Menschen seit dem Mittelalter kaum verändert. Die jungen Paare aus den angestammten Familien konnten sich ein Häuschen mieten oder kaufen und ihr Leben so führen, wie ihre Vorfahren das seit Hunderten von Jahren getan hatten.
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Binnen eines knappen Jahrzehnts änderte sich das alles: Die Farmen wurden von Lohnarbeitern bewirtschaftet, die von außen geholt worden waren; die Preise für Häuser stiegen, bis die Dörfler sie nicht mehr bezahlen konnten; und das Dorf selbst wurde zu einer Aussiedlerkolonie der wohlhabenden städtischen Mittelschicht. Die Entweihung der ländlichen Szenerie, die überall in Süd- und Ostengland stattfand, vollzog sich fast unbemerkt, und nur wenige beklagten den Verlust von Biodiversität und Dorfgemeinschaften. Diese Verheerungen setzen sich noch immer fort, und noch immer entgehen sie der Aufmerksamkeit der Medien; man sollte das einmal mit dem Aufschrei vergleichen, den die geringeren Leiden und Verluste der Bergarbeitergemeinden in den achtziger Jahren hervorriefen. Beides waren schändliche Entwicklungen, aber dass die ländlichen Armen so wenig Unterstützung und Sympathie fanden, macht sie zu einer nicht wahrgenommenen Minderheit unserer multikulturellen Gesellschaft. Bowerchalke hatte ein Kricketteam, das die County-Mannschaft von Somerset schlagen konnte, eine gut besuchte Dorfschule, in die meine Kinder gingen und in traditioneller Weise Lesen, Schreiben und Rechnen lernten, und natürlich gab es auch die Dorfwirtschaft, »The Bell«, deren strenge Wirtin Chris Gulliver Besäufnisse und schlechtes Benehmen nicht duldete. Natürlich litten nur wenige Leute wirklich Not, als man ihnen das Landleben raubte. Den Dorfbewohnern bezahlte man für ihre Häuschen relativ gesehen enorme Summen; die jungen Leute, die nichts besaßen, zogen in Sozialwohnungen in den nahen Städten und fanden dort Arbeit. Gelitten haben die Vögel, die Tiere und die Wildpflanzen der Gegend; Felder mit uralten Hecken dazwischen, die im Frühling bunt blühten und in denen der Vogelgesang widerhallte, wurden zu kahlen Flächen mit Getreidemonokulturen. Auch Stadtbewohner litten unter dem Verlust einer ursprünglichen Landschaft, in der man wandern und an der man sich erfreuen konnte wie in früheren Zeiten.
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Ich wusste eine Menge über die Agrarindustrie und die Gründe, warum diese Kriegsfurien losgelassen worden waren, um die englische Landschaft zu zerstören. Alles drehte sich darum, mehr Nahrungsmittel zu erzeugen; während des Zweiten Weltkriegs hatten wir gehungert, und wir waren entschlossen, die altmodische, wenig produktive englische Landwirtschaft effizienter zu machen. Um sich vorstellen zu können, was passierte, denken Sie an einen großen Garten mit Bäumen und Büschen und Blumenbeeten und abgetrennt davon einen mit einer Mauer umgebenen Garten voller Gemüse, vielleicht auch noch ein paar Schafe, um das Gras kurz zu halten. So sah die Landschaft aus, ehe Wissenschaftler herausfanden, dass eine solch ineffiziente Bewirtschaftung falsch war. Die Bäume und Büsche mussten weg, die Wiesen umgepflügt und mit einer einzigen, optimierten Getreidesorte bepflanzt werden, die zu den lokalen Boden- und Klimaverhältnissen passte. Das vollzog sich in den sechziger bis achtziger Jahren nicht nur in England, sondern in weiten Teilen Europas, und wir fühlten uns beraubt. Das Land, wie man es liebte, wurde einem weggenommen, und man konnte nichts tun, um dem Einhalt zu gebieten. Und all das geschah — wie bei jedem Krieg — im Namen der einen oder anderen Ideologie. Ein paar Grüne schienen meinen brennenden Hass auf diese neue Barbarei zu teilen, und Autoren wie Miriam Shoard und Richard Mabey — vor allem in seinem jüngeren Buch Nature Cure — haben ihre Betroffenheit in Worte gefasst. Traurigerweise stehen viele Grüne heute geschlossen hinter einer Endlösung des Problems der ländlichen Regionen: Nutzt sie im großen Stil zur Erzeugung erneuerbarer Energien, errichtet Windparks und baut lukrative Nutzpflanzen für Biotreibstoffe an, damit in der Stadt die Lichter weiter brennen und der Nahverkehr fährt. Wie können sie angesichts so schwarzer Politik von einer grünen Welt reden?
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X oder das Pestizid Y karzinogen sein könnte, in der Regel lohnten und ihnen Ruhm und Geld jenseits aller Träume einbrachten. Die Medien hatten jetzt eine nahezu nicht versiegende Quelle für ihre Geschichten und später für die Gerichtsdramen, als Anwälte sich mit Schadensersatzforderungen einmischten. An den gut bestückten Esstischen heizte jetzt Angst den Debatten ein, denn nichts ist in Friedenszeiten erschreckender als die Aussicht, an Krebs zu erkranken. Bald wurden alle Chemikalien für gefährlich gehalten, und das verhalf den harmlosen und meist auch nutzlosen Praktiken alternativer Medizin zu Ansehen. Das Verlangen nach naturbelassenen, ohne menschengemachte Chemikalien produzierten Nahrungsmitteln beflügelte die Grünen. Anders ausgedrückt: Die Grünen drifteten gefährlich in die Richtung, sich obsessiv mit persönlichen menschlichen Problemen zu beschäftigen.
Es ist nur menschlich, sich um das Wohlergehen farbenfroher Vögel und knuddeliger Tiere in fernen Rousseau'schen Wäldern zu sorgen, aber solche Lebewesen gleichen den Dandys unserer Zivilisation: Sie tragen kaum etwas zu der Schwerarbeit bei, die Gaia am Laufen hält; die erledigen größtenteils die Bodenbewohner, die Mikroorganismen, Pilze, Würmer, die Schleimpilze und die Bäume. Mit diesem natürlichen Proletariat, der Unterwelt der Natur, hat sich der Umweltschutz kaum befasst; im Wesentlichen geht es hier um radikale politische Aktivität, und es überrascht nicht, dass Rachel Carsons Botschaft bald an den gut gedeckten Tischen der reichen Vororte und Universitäten von einer Gefahr für die Vögel in eine Gefahr für uns Menschen umgedeutet wurde. In solch einem Meinungsklima dauerte es nicht lang, bis von Geldsorgen geplagte Wissenschaftler herausfanden, dass sich Forschungsergebnisse der Art, dass die Verbindung
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Wenn wir wirklich um das Wohlergehen der Menschheit besorgt sind, ist es unsere Pflicht, Gaia den Vorrang einzuräumen und sicherzustellen, dass wir ihr nicht mehr als unseren fairen Anteil wegnehmen. Sich ohne dies im Hinterkopf auf Gaia zu berufen ist nicht besser, als Sonntagsreden zu halten.
Die Krebsangst in der Ersten Welt führte zu einem pauschalen und unklugen Kampf gegen DDT und ähnliche Chemikalien, ohne dass man die Schäden in Betracht zog, die möglicherweise angerichtet wurden, weil man den Menschen in den Entwicklungsländern die sehr realen Segnungen verweigerte, die aus einem maßvollen und angemessenen DDT-Gebrauch herrühren. Die Überreaktion auf Nitrate ist ein weiteres Beispiel für eine überzogene Gesetzgebung.
Nitrate
Als wir vor fast 30 Jahren in unser heutiges Heim in Coombe Mill zogen, war die Landschaft im westlchen Devon noch idyllisch, so ganz anders als die agrarindustrielle Wüste unseres früheren Zuhauses in Wiltshire. Der Ort liegt am Carey, einem Nebenflüsschen des Tamar, dessen Verlauf die Grenze zwischen Devon und Cornwall bildet. 1977 war der Carey frisch und klar und so voller Lachse und Meerforellen, dass Aufsichtsbeamte hier patrouillierten, um illegales Angeln zu unterbinden. Manchmal kamen Angler mit hohen Gummistiefeln von den erlaubten Fischgründen am Unterlauf des Flüsschens auf unser Land und erzählten unvergessliche Geschichten von Fischen, die ihnen entwischt waren.
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Die Region gehört zu den feuchteren Gegenden Südenglands, und schwere Regenfälle, vor allem im Sommer, machen den Ackerbau schwierig. Die meisten Bauern hier ziehen Schafe und Rinder, die sich von dem satten, reichlichen Gras ernähren. 1977 wirtschafteten sie, wie sie es immer getan hatten, machten im Spätfrühling und Frühsommer Heu und lagerten es in Schobern, um damit im Winter das Vieh zu füttern. Diese wenig in die Natur eingreifende Form der Landwirtschaft hatte aus großen Teilen Englands eine Gegend gemacht, die man wohlgefällig betrachtete und in der man gern lebte, und die einheimischen Wildtiere fanden reichlich zu fressen.
Als im und nach dem Zweiten Weltkrieg die Not groß war, wurde Druck gemacht, mehr Nahrungsmittel anzubauen, und so verbreitete sich der Gebrauch von Kunstdünger. Der Mist der größeren Viehherden reichte nicht mehr aus, um den Zyklus der wichtigen Nährstoffe — vor allem des lebenswichtigen Stickstoffs — aufrechtzuerhalten. Um das Defizit auszugleichen, düngten die Bauern mit Stickstoff in Form von Ammoniumnitrat sowie Kalium und Phosphor in Form von Kaliumphosphat. Nitrate sind Salze, die aus der Reaktion von Salpetersäure mit Alkalien wie Kalium, Natrium oder Ammoniumhydroxid entstehen; das ergibt ein weißes Pulver, das wie Kochsalz in Wasser löslich ist. Ammoniumnitrat, der häufigste Landwirtschaftsdünger, wird in riesigen Plastiksäcken geliefert, die Hunderte Kilo weißes Granulat enthalten. In der Landwirtschaft richtet es keinen Schaden an, Terroristen haben daraus aber schon Bomben gebaut. Wenn Nitrat eines seiner Sauerstoffatome verliert, wird es zu einem neuen Ion namens Nitrit. Nitrite sind potenziell gefährlich, weil sie unter sauren Bedingungen rasch mit Aminen reagieren — Molekülen, bei denen Stickstoffatome mit zwei Wasserstoffatomen und einem der zahllosen Kohlenwasserstoffe verbunden sind. Die Produkte dieser Reaktion heißen Nitrosamine. 1963 lernte ich bei einer Konferenz über Strahlenbiologie den Mediziner W Lijinsky kennen. Er war durch die Erforschung der karzinogenen Eigenschaften dieser Nitro-
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samine bekannt geworden. Für die meisten aus der älteren Chemikergeneration war das ein gewisser Schock, denn als Studenten hatten viele von ihnen zu Übungszwecken zig oder Hunderte Gramm Diethylnitrosamin produziert. Wir fragten uns, ob das Einatmen der Dämpfe dieser unerwarteterweise giftigen Verbindungen in unseren Körpern Krebs-Zeitbomben in Gang gesetzt hatte.
Nicht lange danach entdeckten besorgte Umweltschützer, dass die von Natur aus im Essen und Wasser vorkommenden Nitrate durch unseren Speichel in Nitrite umgewandelt werden, die wir mit dem täglichen Essen hinunterschlucken, sodass sie sich dann mit unserer Magensäure mischen. Amine kommen ebenfalls von Natur aus in unseren Nahrungsmitteln vor (sie lassen zum Beispiel Fisch stinken), und sie können mit der salpetrigen Säure aus den Nitriten reagieren und die potenziell tödlichen Nitrosamine bilden. Dieses Wissen nutzten Aktivisten dazu, ständig Ängste über Nitrate im Essen oder Trinkwasser zu schüren, bis in den siebziger Jahren Gesundheitsbehörden in Europa und den Vereinigten Staaten Nitrate im Essen und Wasser als gesundheitsgefährlich zu betrachten begannen. Damals wurden neue, strenge Vorschriften erlassen, die die Verwendung von Nitraten als Dünger einschränkten und somit ihren Gehalt in Nahrungsmitteln und Wasser reduzierten.
Diese neue Sichtweise und Gesetzgebung zur Eindämmung von Nitraten als Kunstdünger hat vielleicht die bösartigen Veränderungen beschleunigt, die auf dem Land bereits in Gang waren. Die Bauern in Devon und vielen anderen Gegenden gingen nach und nach anders mit ihrem Gras um und ersetzten Heuschober durch Silos oder Plastiksäcke voller Silage. Nach wenigen Jahren streuten sie kein Ammoniumnitrat mehr auf ihre Felder und machten kein Heu mehr. Das modernere Verfahren war, das Gras im Frühjahr zu mähen und in Silage zu verwandeln, die dem Vieh ungefähr so gut schmeckt wie Sauerkraut uns.
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Das ist eine effizientere Methode, und die Bauern hatten den Vorteil, dass sie damit auf ihrem Land mehr Vieh halten konnten. Statt Nitratdünger brachten sie jetzt den im Winter angefallenen Mist auf ihren Ackern aus, entweder direkt oder mit Wasser gemischt als Gülle. Für einen städtischen Umweltschützer war das eine korrekte, organische Art der Landwirtschaft. Doch Anfang der achtziger Jahre wurde das jungfräuliche klare Wasser des Carey braun und schaumig und stank wie ein offener Abwasserkanal. Im Sommer waren die ruhigen Abschnitte, wo einst Fische nach Fliegen gesprungen waren, mit schleimigen grünen Algen bedeckt, und langsam starb der Fluss. Die neue organische Güllewirtschaft belastete das Flusswasser mit größeren Dungmengen, als es vertragen konnte. Bei jedem Regen wurde Mist von den Äckern in den Fluss gespült, und bald ging sein Sauerstoffgehalt gegen null.
Die vielen Arten, die partnerschaftlich das Ökosystem eines Flusses ausmachen — die grünen Pflanzen, die für Sauerstoff im Wasser sorgen, die zahllosen Insektenarten, die im Fluss und unter den Steinen an seinen Ufern leben —, starben hauptsächlich mangels Licht für die Fotosynthese und mangels Sauerstoff. Die Fische fanden keine Insekten mehr zu fressen, also konnten sie auch nicht zurückkehren, wenn die Gülleverschmutzung nicht so stark war. Das Problem wäre nicht so groß gewesen, wenn die Bauern nicht begonnen hätten, ihr Vieh im Winter nicht nur mit Silage, sondern auch noch mit importiertem Getreide zu füttern; ihre Herden waren jetzt viel größer, als ihr Land allein hätte ernähren können. Folglich wurden die Wiesen und Äcker jetzt zusätzlich zu Deponien für die Dungmassen, die sich in den Mistgruben und Gülletanks den Winter über angesammelt hatten.
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Von 1977 bis Mitte der achtziger Jahre musste ich mit ansehen, wie der Fluss starb und das Land verkam, und für mich war das ein so erschütterndes Erlebnis wie das Sterben der Vögel, von dem Rachel Carson in Der stumme Frühling berichtete. Diesmal konnte man nicht den üblichen Verdächtigen, der chemischen Industrie, die Schuld geben: Es war unser aller Fehler, nicht zuletzt wegen unserer schlecht beratenen Neigung, allem, was man der Industrie vorwirft, Glauben zu schenken. Wir alle haben die Regierungen gewählt, die Gesetze zur Eindämmung von Nitraten verabschiedeten, und gleichzeitig die Augen vor den Exzessen der gemeinsamen europäischen Agrarpolitik verschlossen.
Wie üblich ist die wirkliche Welt komplizierter und unvorhersehbarer, als wir alle glauben. Im Carey gibt es mittlerweile wieder ein paar Fische, kleine Forellen und Stichlinge, aber die Güllelast unter den Steinen entlang des Flussbetts wird erst in Jahrzehnten so weit abgebaut sein, dass der Fluss wieder leben kann. Diese Verbesserung verdankt sich nicht einer wachsenden Einsicht, sondern dem Umstand, dass unsere Gegend schwer von zwei Tierseuchen getroffen wurde: der Maul- und Klauenseuche und BSE, dem Rinderwahnsinn. Die Viehherden nahmen drastisch ab.
Gaia ist ein vertrackt komplexes System und ähnelt in vielerlei Hinsicht unserem Körper. Man kann sie nicht in großem Stil so manipulieren, dass sie eine stetig wachsende Menschenlast folgenlos ernährt. Allzu oft treibt von Krebsangst ausgelöste Panik uns zu unklugem und überzogenem Handeln.
Ein beunruhigendes Nachwort zu dieser Nitratgeschichte erschien im September 2004 in Scientific American; dort wurde berichtet, Forscher hätten festgestellt, dass Nitrate im Essen und Wasser uns nicht schaden, sondern nützen. Beim Verdauungsprozess unterstützen sie die Magensäure beim Abtöten krankheitserregender Bakterien, die nur zu häufig unsere Nahrung befallen.
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Saurer Regen
Sie haben inzwischen wahrscheinlich gemerkt, dass viele der schlimmsten Erscheinungen von Umweltverschmutzung iatrogen sind, das heißt, sie rühren von einer Behandlung her, die Schaden anrichtet, statt die Krankheit zu heilen. Der saure Regen bietet ein besonders warnendes Beispiel für unsere unglückselige Neigung, Schäden anzurichten, wenn wir versuchen, Gutes zu tun.
In seinem 1987 erschienenen Buch Acid Rain gibt Fred Pearce eine klare und lesbare Zusammenfassung der Geschichte des sauren Regens. Bis zu dessen Lektüre hatte ich nicht gewusst, dass der norwegische Dramatiker Ibsen die ersten Symptome dieser Krankheit des Industriezeitalters geschildert hat. In einem seiner frühen Stücke, Brand (1866), heißt es:
Schlimmre Bilder, schlimmre Lose Tauchen aus der Zukunft Schöße! Eine schwarze Wolkenwand, Naht der Kohlenqualm des Briten; Was da frisch und grün, befleckend, Jeden Keim mit Ruß bedeckend, Kommt er giftschwer angeglitten, Stiehlt den Tag von allen Wegen, Rieselt wie ein Aschenregen Des Vesuv, auf Stadt und Land.
100 Jahre später, in den Siebzigern, stellten die Bewohner Norwegens und Schwedens bestürzt fest, dass das einst reiche Leben in ihren Flüssen und Seen im Niedergang war, und chemische Messungen lieferten deutliche Hinweise, dass irgendeine Veränderung oder Verschmutzung die Gewässer zu sauer für das Leben gemacht hatte.
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Norwegen und Schweden sind weder dicht bevölkert noch Wirkungsstätten von so viel Schwerindustrie wie Großbritannien oder Deutschland. Wo kam die Säure also her? Es dauerte nicht lange, und man hatte die Quelle gefunden. Das Regenwasser in den Auffangbehältern der Wetterstationen Skandinaviens war noch saurer als die Seen und Flüsse. Die zerstörerische Säure brachte der Regen mit; aber wo kam dieser Regen her?
In Westeuropa weiß jeder, dass die vorherrschenden Winde vom Atlantik kommen, aus Westen. Die einzige größere Landmasse westlich oder vielmehr südwestlich von Skandinavien sind die Britischen Inseln. Es war bekannt, dass das Vereinigte Königreich seine Elektrizität größtenteils durch die Verbrennung von Kohle in riesigen Kraftwerken gewinnt — in Yorkshire zum Beispiel gab es das größte der Welt. Was die Forschung über den sauren Regen herausgefunden hatte, wurde bald publik und zu einem großen Medienthema im nördlichen Europa: Man beschuldigte England, Hauptexporteur der Säure zu sein. Das Verbrechen des Säureexports entsprach den Vorurteilen, die die meisten hegten — auch die Engländer pflichteten dem bei, denn wir alle wussten, dass die Industrie böse war und die Umwelt verschmutzte und nur um des Profits willen betrieben wurde (bequemerweise vergaßen wir dabei, dass die Kohle- und die Stromindustrie seit mehr als 20 Jahren verstaatlicht waren). Alle waren sich sicher, dass die englischen Kohlekraftwerke schuld waren; dass sie jetzt zum Wohle der Öffentlichkeit betrieben wurden, änderte daran gar nichts.
In den achtziger Jahren trafen sich Vertreter der jeweiligen Wissenschaftsakademien der skandinavischen Länder und Englands, um das Problem zu diskutieren und nach Abhilfemöglichkeiten zu suchen. Es war keiner jener Prozesse, bei denen der Angeklagte bis zum Beweis des Gegenteils als unschuldig galt. Meine Freunde Sir John Mason und Sir Eric Denton,
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die bei dieser Konferenz die Royal Society vertraten, berichteten mir, dass der skandinavische Vorsitzende bei seiner Eröffnungsansprache sagte: »Meine Herren, wir sind hier, um zu beweisen, dass die britischen Schwefelgasemissionen die Ursache des sauren Regens in Skandinavien sind.« An der Verurteilung bestand kaum Zweifel, und das Vereinigte Königreich nahm die Schuld auf sich und willigte ein, Rauchgasentschwefelungsanlagen in seine Großkraftwerke einzubauen. Heute glauben in Nordeuropa die meisten Menschen, dass die Gerechtigkeit gesiegt hatte und die Übeltäter dazu gebracht worden waren, ihr umweltschädliches Verhalten zu ändern.
Aber hinter dem sauren Regen steckt mehr, als die Skandinavier dachten. Wie bei Rachel Carsons Geschichte, dass Pestizide aus der chemischen Industrie die einzige Ursache für das Vogelsterben waren und schließlich zu einem stummen Frühling führen würden, war es zu einfach gewesen, den Briten die Schuld zu geben. Sicher, die britischen Kohlekraftwerke waren zum Teil die Quelle der Säure — rund 17 Prozent —, die auf Skandinavien regnete. Für sich allein hätte das aber nicht die schwere Versauerung der skandinavischen Flüsse und Seen verursacht. Wo um alles in der Welt kam also der größere Teil der Säure her?
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Tabelle 2 zeigt die Hauptquellen der sauren Niederschläge (alle Zahlen sind dem 1990 erschienenen Buch von H.A. Bridgman entnommen). Aus Deutschland stammten genauso große Mengen wie aus Großbritannien, und die östlichen Länder waren damals noch Teil des kommunistischen Sowjetimperiums, in dem das Wohlergehen des Staates weit vor irgendwelchen Umweltbelangen kam. Nicht nur das, Ostdeutschland verbrannte in seinen Kraftwerken heimische Braunkohle, die besonders schwefelhaltig ist. Und einen Teil der Säure lieferten die skandinavischen Länder sogar selbst.
Am meisten mag überraschen, dass die Nordsee eine weitere Quelle ist, wenn auch nicht in dem Ausmaß, wie ich einst glaubte. Im Meer lebende, mikroskopisch kleine Algen produzieren das Gas Dimethylsulfid (DMS), das in die Luft entweicht, dort oxidiert und zu Schwefelsäure und Methansulfonsäure wird. In den letzten Jahren ging es den Algen gut, da die europäischen Flüsse ihnen reichlich Nährstoffe aus der Landwirtschaft herangeführt haben; sowohl die Ost- als auch die Nordsee sind weit nährstoffreicher als der Atlantik im Durchschnitt.
Ich kann mich noch gut an einen Besuch des niederländischen Seebads Scheveningen im Jahr 1990 erinnern; als wir am Strand spazieren gingen, widerten uns meterhohe Berge von üblem, nach Schwefel stinkendem Schlamm an, die da am Wassersaum auf dem Sand lagen. Es handelte sich um eine Algenblüte, wahrscheinlich Phyocystus, die der Wind von der überdüngten Nordsee ans Ufer geweht hatte. Doch 1996 veröffentlichten Sue Turner und Kollegen von der University of East Anglia einen Artikel, der einen guten Überblick über die natürlichen Emissionen von DMS aus der Nordsee und die möglichen Auswirkungen dieser Emissionen auf den Schwefelhaushalt der europäischen Atmosphäre gibt. Sie stellten fest, dass der jährliche Eintrag von Schwefel in Form von DMS aus der Nordsee nur 0,4 Prozent aller industriellen Emissionen der Nordseeanrai-
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nerstaaten ausmacht. Andererseits sind Emissionen von Algen ein jahreszeitliches und auch ein lokales Phänomen: 1991 schätzten Leck und Rodhe, dass im Juli das an Skandinavien grenzende Meer 0,8- bis 3-mal so viel Schwefel produziert wie die Industrie in Norwegen. Dennoch ergreife ich gern diese Gelegenheit und korrigiere den falschen Eindruck in meinem früheren Buch Gaia: The Practical Science ofPlanetary Medicine, dass natürliche Emissionen in wesentlichem Ausmaß zur Säureablagerung in Skandinavien beitragen.
1988 hatte ich Gelegenheit, den damaligen Direktor der britischen Stromindustrie, Lord Marshall, zu fragen, warum wir so widerstandslos all die Schuld für die Schwefelemissionen auf uns genommen haben. Knapp antwortete er; » Die Kosten für den Einbau von Schwefelabscheidern waren winzig im Vergleich zu denjenigen, mit denen ich damals für die Privatisierung der Elektrizitätsindustrie konfrontiert war.« Allzu leicht scheinen wir jeden Sinn für Verhältnismäßigkeit zu verlieren.
Die Geschichte vom sauren Regen ist damit noch nicht zu Ende. Als Reaktion auf das Problem des sauren Regens führte die EU Gesetze ein, um den Schwefelgehalt von Treibstoffen zu reduzieren und sicherzustellen, dass die Schwefelemissionen von Kraftwerken herausgefiltert werden. Die guten Arzte von Brüssel griffen zu der Therapie, die wir alle zur Heilung der Krankheit für notwendig hielten. Leider wissen wir heute, dass vielleicht wieder einmal eine iatrogene Krankheit die Folge war. Neueste Forschungen bestätigen, was einige von uns schon länger vermuteten, dass nämlich der allgegenwärtige europäische Atmosphärendunst, der den Sommerhimmel bleicht und die Sichtweite auf manchmal nur ein paar Hundert Meter beschränkt, von einem Sulfat-Aerosol herrührt, das dazu beiträgt, was man als »globales Dimmen« bezeichnet. Was wir hier sehen, ist die Säure des sauren Regens, die sich über ganz Europa
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und noch bis nach Asien ausbreitet. Aber ehe Sie glauben, wir müssten dem Einhalt gebieten, hören Sie sich den Rat der Wissenschaftler an. Sie sagen, dass dieser Dunst Sonnenlicht ins All reflektiert und uns, die wir darunter leben, um mehrere Grad kühler hält, als andernfalls vielleicht zu erwarten wäre. In gewisser Hinsicht sind die Aerosole des sauren Regens auch eine Therapie gegen die globale Erwärmung. Stellen Sie sich nur vor, wie viel schlimmer die große Hitze des Sommers 2003 ohne den Dunst gewesen wäre und wie viel schlimmer es sein wird, wenn diese europäische Gesetzgebung Wirkung zeigt.
Gefährliche Nahrungsmittel
Das Leben in der Stadt bietet zu wenig Kontakt zur Natur, und ich hege den Verdacht, viele von uns meinen, pflanzliches Leben hätte sich irgendwie entwickelt, um uns als perfekte Nahrung zu dienen. Vor noch nicht allzu langer Zeit waren wir sicher, ein gütiger Gott hätte es einzig und allein zu diesem Zweck erschaffen. Es überrascht, wie wenige Menschen sich klarmachen, dass Pflanzen nicht gern gegessen werden und außergewöhnliche Maßnahmen ergreifen, um jedwedes Lebewesen, das sie zu fressen versucht, abzuschrecken, krank zu machen oder sogar umzubringen. Knoblauch mag manchen von uns gut schmecken, aber bei seiner Evolution ging es darum, mit der Synthese eines übel riechenden Gemenges von Schwefelverbindungen die meisten Insekten, Tiere und Mikroorganismen in seiner Umwelt wirkungsvoll abzuwehren. Versuchen Sie einmal eine rohe Kaper zu essen, die unreife Samenkapsel einer Pflanze aus der Wolfsmilchgattung: Die Schmerzen und die Blasen im Mund und an den Lippen werden Ihnen zu schaf-
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fen machen. Eiben und Christpalmen (die Rizinusöl liefern) bringen jeden Menschen — oder jedes Tier — um, der oder das dumm genug ist, ihre Samen zu kauen, statt sie einfach herunterzuschlucken.
Der herausragende amerikanische Arzt Bruce Arnes ist für seinen Arnes-Test berühmt, mit dem jede Substanz oder Strahlung entdeckt wird, die den genetischen Code eines Organismus verändert. Solche Codeveränderungen nennt man auch Mutationen, und in der Regel erweisen sich diese für die Nachkommen des geschädigten Organismus als fatal oder führen zumindest zu einem verkürzten Leben; nur in seltenen Fällen erweisen sich Mutationen als segensreich. Mutationen können zu Krebs führen, und was solche Mutationen bewirken, bezeichnet man als Karzinogene. Bestimmte in der Natur vorkommende Substanzen sind von sich aus nicht karzinogen, aber sie können bei mutierten Zellen Krebs auslösen, und solche Substanzen nennt man Kokarzinogene. 1983 beschrieb Arnes in einem grundlegenden Beitrag für Science die Allgegenwart von Karzinogenen und Kokarzinogenen im Essen, das wir normalerweise zu uns nehmen. Am wichtigsten war, dass von pflanzlichen Organismen produzierte natürliche Karzinogene in tausendfach größeren Mengen vorkamen als solche der chemischen Industrie. Wer von uns sich angewöhnt hat, nur »gesunde« natürliche Nahrungsmittel zu sich zu nehmen, sollte wissen, dass wir auch bei deren Verzehr eine erstaunliche Vielfalt von natürlichen Substanzen zu uns nehmen, die lebende Zellen bösartig werden lassen können. Wenn wir aus Unwissenheit oder per Zufall Nüsse essen, auf denen Schimmel wächst, können wir uns eines der tödlichsten Karzinogene einverleiben: Aflatoxin. Trotzdem ist die abergläubische Angst vor »menschengemachten Chemikalien « weit verbreitet, während natürliche Chemikalien noch immer als segensreich betrachtet werden. Denkt man diese bornierte urbane Illusion logisch zu Ende, müssten wir zu dem Schluss kommen,
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dass Gifte wie Strychnin oder Botulinustoxine unschädlich sind, weil sie natürlichen Ursprungs sind. Paracelsus' Erkenntnis ist vergessen, und wir wissen nicht mehr, dass selbst Wasser im Übermaß schädlich und Zyanid in kleinen Dosen harmlos ist. Es ist richtig, dass man mit der Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse vorsichtig sein muss, wie wir oft feststellen, wenn in der Medizin wissenschaftliche Entwicklungen schieflaufen. Aber unkritisch die Unwahrheiten einer New-Age-Medizin willkommen zu heißen ist töricht und gefährlich, auch wenn der Umstand, dass die Jungen und Gesunden ihre Hypochondrien mit den harmlosen, aber nur beschränkt nützlichen Praktiken der Alternativmedizin pflegen, wenigstens den Druck auf die überlasteten Krankenkassen lindert. Weniger unschädlich ist das Verlangen nach »organischen« Nahrungsmitteln, die ohne menschengemachte Chemikalien produziert werden. Für mich ist das eine monströse Ironie, da ich ursprünglich während meines Studiums der »organischen« Chemie dazu ausgebildet wurde, genau die Chemikalien herzustellen, vor denen so viele Angst haben. Der Trend zu Bio-Lebensmitteln, die ohne »unnatürliche« Kunstdünger oder Pestizide erzeugt werden, ist die richtige Reaktion auf die Exzesse der Agrarindustrie. Aber wenn ich in den Supermärkten die mit »organisch« produzierten Erzeugnissen gefüllten Regale betrachte, so ist vieles davon aus fernen Ländern importiert, und ich frage mich, ob dies nicht eine Agrarindustrie von anderer Art ist. Einige Anhänger natürlicher Ernährung schwenken die antiwissenschaftliche Fahne und entwickeln zugleich die gefährliche Tendenz, sich obsessiv mit persönlichen menschlichen Ängsten zu befassen und dabei die wirklichen, der Erde zugefügten Schäden zu übersehen. Wie ich zuvor schon ausgeführt habe, können wir nicht mehr als rund die Hälfte der Erdoberfläche landwirtschaftlich nutzen, ohne Gaias Fähigkeit zu schädigen, einen bewohnbaren Planeten bereitzustellen. Unglücklicherweise ist angesichts unserer heuti-
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gen Bevölkerungszahlen der natürliche Landbau wegen seiner geringeren Produktivität im Vergleich zur Intensiv-Agrikultur ein zweifelhaftes Unternehmen. Mit dieser Kritik stehe ich nicht allein da. Patrick Moore, Gründungsmitglied von Greenpeace, teilt meine Ansichten. Weil unser Wohlergehen, sogar unser Überleben, letztlich völlig von Gaias Gesundheit abhängt, appellieren wir immer wieder an die städtischen Grünen, umzudenken und zu erkennen, dass sie zuerst und vor allem der lebendigen Erde verpflichtet sind. Die Menschheit kommt erst an zweiter Stelle.
Risikowahrnehmung
Wenn wir unseren alltäglichen Geschäften nachgehen, beteiligen wir uns fast alle an der Zerstörung Gaias. Stunde um Stunde tun wir das jeden Tag, wenn wir zur Arbeit oder zum Einkaufen fahren, Freunde besuchen oder zu weit entfernten Urlaubszielen fliegen. Wir tun es, wenn wir unsere Häuser und Arbeitsstätten im Sommer kühl und im Winter warm halten. Die Gesamtsumme unserer Umweltverschmutzung hat der Atmosphäre bereits 500 Milliarden Tonnen Kohlenstoff hinzugefügt; wenn die geologischen Daten aus dem Eozän vor 55 Millionen Jahren stimmen und wir weiterhin so viel Dreck produzieren, reicht das aus, um die Welt so grundlegend zu verändern, dass kaum einer unserer Nachkommen das noch erleben wird. Indem wir egoistisch nur an das Wohlergehen der Menschheit denken und dasjenige Gaias ignorieren, werden wir uns an den Rand der Auslöschung bringen.
Der hochgeschätzte Wissenschaftler E. O. Wilson hat wiederholt gewarnt — wie auch andere hervorragende Biologen, unter anderem Robert May und Norman Myers —, dass wir
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durch die Nutzung natürlicher Habitate für die Landwirtschaft Leben in einem Umfang auslöschen, der dem Verschwinden der großen Echsen vor 65 Millionen Jahren vergleichbar ist. Ihre Überlegungen bestätigen das Millennium Ecosystem Assessment für 2003 und ein Bericht in Science von Jonathan Foley und seinen Kollegen im Jahr 2005 über die globalen Folgen der Landnutzung. Es ist gut, dass die Biowissenschaftler gemeinsam mit den Geowissenschaftlern des IPCC den Standpunktvertreten, dass wir gefährdet sind; weniger hilfreich ist es aber, wenn sie diese Bedrohung so hinstellen, als sei sie eine rein biologische. Sie hätten die für das 20. Jahrhundert typische Trennung der Disziplinen überwinden müssen. Vielleicht ist es zu viel zu erwarten, dass alle Wissenschaftler mit einer Stimme und in gemeinverständlicher Sprache reden, glücklicherweise aber fangen viele aus den Kreisen der Klimaforscher damit an. Die Wissenschaftler des IPCC und einzelne Klimatologen sind sich der wechselseitigen Zusammenhänge des gesamten irdischen Systems inklusive der Lebensformen durchaus bewusst, und es ist ihnen auch klar, warum diese größere Entität — und nicht bloß die Biosphäre oder einzelne Ökosysteme — so wichtig ist angesichts des drohenden Klimawandels, der das Aussterben beschleunigen wird.
Trotz all dieser Warnungen machen wir mit den Zerstörungen weiter und sorgen uns anscheinend nur um das fast banale, ja sogar imaginäre Risiko, durch Mobiltelefone, Starkstromleitungen, Pestizidreste in Nahrungsmitteln oder Sonnenschein an Krebs zu erkranken. Und über all dem steht die Angst, irgendetwas mit Kernenergie anzufangen. In der Tat sieben wir Mücken aus, schlucken aber ohne Weiteres Kamele.
Vielleicht wissen wir tief in unserem Inneren, wie bedroht wir wirklich sind, und stellen uns lieber diesen kleinen imaginären Risiken, als uns mit den unausweichlichen Konsequenzen der Zerstörung auseinanderzusetzen. Seit vielen Jahren kommen
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nun vernünftige junge Männer und Frauen, die ihr Leben noch vor sich haben, zu mir und fragen, ob es für ihre Zukunft noch irgendeine Hoffnung gibt. Als meine Freunde und ich jung waren, wäre uns solch eine Frage niemals in den Sinn gekommen, selbst als der Zweite Weltkrieg drohte; wir waren zuversichtlich, ein gedeihliches und vermutlich erfülltes Leben führen zu können. Heute entwerfen junge Menschen wohl intuitiv, weil sie unbewusst die Summe aller Anzeichen in ihr Weltbild einbauen, für sich eine düstere Zukunftsperspektive. Vielleicht verbirgt sich hinter dem Eifer derer, die die globale Erwärmung anzweifeln, in ähnlicher Weise ihre Angst, dass sie unrecht haben könnten.
Die in vergangenen Jahrhunderten weitverbreitete Furcht vor dem Teufel und dem Höllenfeuer ist heute anscheinend durch Angst vor Krebs ersetzt worden. Genau wie in der Vergangenheit skrupellose Menschen mit dieser Furcht spielten, um sich zu bereichern, manipulieren heute Reinkarnationen von Jago1 unsere natürliche Angst vor Krebs im Sinne ihrer eigenen egoistischen Agenda. Ehe wir ihre falschen Behauptungen widerlegen können, müssen wir uns Krebs und seine Ursachen näher ansehen.
Wenn wir die Tragödie der globalen Erwärmung überleben, werden Historiker in der Rückschau erkennen, dass einer unserer größten Fehler darin bestand, so viel Angst vor Krebs gehabt zu haben. Die Menschen der Ersten Welt haben sich selbst eingeredet, dass Chemikalien und Strahlung ihrer persönlichen Unsterblichkeit im Weg stehen. Ich war erstaunt, eine intelligente Amerikanerin mittleren Alters sagen zu hören, die menschliche Lebensspanne betrage einiges über 100 Jahre; sie vertraute völlig darauf, dass das Alte Testament wörtlich zu nehmen sei, und war folglich überzeugt, vermeidbare Umwelt-
1) Der Schurke in Shakespeares Othello
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gifte würden sie um ihre natürliche Lebenserwartung bringen. Ich hege den Verdacht, dieser erstaunliche Irrglaube ist weit verbreitet und der Grund, warum so viele sich nicht klarmachen, dass der globale Wandel ihr Leben viel stärker bedroht.
Was sind die Fakten? Rund 30 Prozent von uns werden an Krebs sterben; nur wenigen scheint bewusst, dass die Hauptursache dafür das Atmen von Sauerstoff ist. Eine der großen Ironien von Gaias Evolution besteht darin, dass das Lebenselixier von Tieren der Sauerstoff ist, der ihnen das große Geschenk rasch verfügbarer Energie macht — ohne ihn wären sie so unbeweglich wie ein Baum. Für dieses Geschenk müssen sie aber den Preis einer kürzeren Lebenserwartung zahlen, und für Gaia ist der Preis unsere Fähigkeit, Energie aus Verbrennung zu gewinnen.
Innerhalb jeder der Milliarden Zellen, aus denen unser Körper besteht, gibt es winzige Abteilungen namens Mitochondrien; sie sind die Kraftwerke unserer Zellen. In diesen winzig kleinen Organen reagiert der Brennstoff aus unserer Nahrung mit dem Sauerstoff, den wir eingeatmet haben. Die Mitochondrien liefern ihre Energie in Form eines Stroms von molekülgroßen, wiederaufladbaren Akkus — Adenosintriphosphat-Molekülen —, die jeweils für einen kurzen Moment unseren Muskeln und unserem Gehirn Kraft geben, damit wir gehen, rennen und denken können. Wenn sie leer sind, werden diese molekularen Akkus in den Mitochondrien-Kraftwerken wieder aufgeladen. Gefährlich für unseren Körper mit seinen Milliarden von winzigen Mitochondrien ist der gelegentliche zufällige Austritt von Verbrennungsprodukten. Wenn Sauerstoff mit den Nährstoffen reagiert, bilden sich unerwünschte Schadstoffe. Dazu zählen das Sauerstoffmolekül mit negativer Ladung namens Superoxid, die Hydroxylradikale und andere höchst reaktive Molekülarten. Diese zerstörerischen Moleküle entweichen den Mitochondrien und stellen toxische Schadstoffe dar; sie
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entstehen auch zufällig überall dort im Körper, wo Sauerstoff ungehindert reagieren kann. Die Omnipräsenz von Sauerstoff in unserem Körper verstärkt auch die Schädigungen durch Strahlung und chemische Gifte ganz erheblich. Die heftig reagierenden Oxidationsprodukte oder Radikale attackieren fast jedes andere Molekül, dem sie begegnen, und auf diese Weise fügen sie unserem komplex aufgebauten inneren Zellverband Schäden zu. Die meisten dieser Defekte werden von Enzymen und Mechanismen repariert, die sich im Verlauf der Evolution ausgebildet haben — und die wir als Sicherheitsdienste des Sauerstoff atmenden Lebens ansehen können. Doch es ist unumgänglich, dass auch genetische Chemikalien in unseren Zellen, etwa die DNS, geschädigt werden, in denen die Programme und Prozeduren für den Bau neuer Zellen festgeschrieben sind. Wunderbarerweise werden auch Schäden an der DNS repariert, und ihre Integrität wird ständig überprüft.
Im Verlauf eines ganzen Lebens aber versagen unvermeidlicherweise ein paar von den Milliarden Kontrollen. Werden Sauerstoffschäden nicht repariert, entstehen neue Zellen mit fatalen oder beinahe fatalen Störungen. Die meisten dieser geschädigten Zellen begehen Selbstmord, alle haben dafür eine »Todespille« an Bord, ein Ausführungsmolekül namens Capsase. Wenn das aktiviert ist, setzt ein geordneter Prozess der Selbstzerstörung ein. Diesen wunderbaren Vorgang nennt man Apoptose. Man stelle sich vor, jeder von uns begänne, wenn er zu dem Schluss käme, dass er mehr schade als nütze, sich selbst in so perfekter Weise zu zerlegen, dass ein kleiner, wohlgeordneter Stapel von Ersatzteilen für zukünftige Menschen übrig bliebe.
Manchmal setzen DNS-Schäden durch Oxidationsprodukte die Gene außer Kraft, die die Anweisungen für den programmierten Zelltod enthalten, und wenn das passiert, entsteht eine einzelne Zelle, die unkontrolliert wächst. Nach mehreren po-
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tenziell schädlichen Veränderungen kommt es dann zu einer voll ausgebildeten Krebswucherung, die immer weiter wächst und den gesamten Körper durchdringt und ihn schließlich tötet.
Das ist nur eine ziemlich grobe Skizze der Krebsentstehung. Über die genauen Details wissen wir noch zu wenig, aber es reicht, um zu zeigen, dass die lebensspendende Kraft des Sauerstoffs ihre Kehrseite hat.
Bis wir das biblisch vorgesehene Alter von 70 Jahren erreichen, werden 30 Prozent von uns an Krebs gestorben sein, und für die allermeisten dieser Todesfälle wird das Atmen von Sauerstoff die Hauptursache gewesen sein.
Natürliche radioaktive Strahlung aus dem All und von radioaktiven Elementen in der Erde, in der Luft und in unseren Häusern kann in der Tat Krebs verursachen, weil sie energiereich genug ist, um die in der lebenden Zelle reichlich vorhandenen Wassermoleküle zu spalten und dieselben freien Radikale herauszulösen, die auch die Verbrennung von Sauerstoff entstehen lässt. Ahnlich funktionieren weitere natürliche sowie von Menschen gemachte Krebsauslöser, aber abgesehen von Rauchen und zu häufigem Sonnenbrand trägt nichts davon signifikant zu den 30 Prozent bei, die auf das Atmen von Sauerstoff zurückgehen. Eine Entzündung ist, wie die Bezeichnung nahelegt, von der Empfindung des Brennens begleitet und stets auch von einer vermehrten Oxidation im entzündeten Gewebe und von einer erhöhten Rate der Zellreproduktion. Es überrascht nicht, dass dies auch mit Krebs zu tun hat. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum einige Viruserkrankungen wie Hepatitis B und C aufgrund der chronischen Leberentzündung Krebs hervorrufen.2
2) Wer es genauer wissen will, lese die ausgewogene und verständliche Zusammenfassung in Robert Weinbergs Buch One Renegade Cell.
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Nur wenigen ist bewusst, dass der Luftsauerstoffdas dominante Karzinogen unserer Umwelt ist, aber eine Mehrheit ist der falschen Überzeugung, die meisten Krebserkrankungen seien die vermeidbare Folge von Umweltverschmutzung, und ein nie versiegender Strom von Aufsätzen und Artikeln stützt diesen Irrglauben.
Wie um Himmels willen, fragen Sie sich vielleicht, konnte etwas so Gutes, so Segensreiches wie die Kernenergie so weit dämonisiert werden, dass Menschen und vernünftige Regierungen vor ihrem Gebrauch zurückschrecken? Ich halte dies für eine Folge davon, dass Menschen anfällig für die erstaunliche Überzeugungskraft endlos wiederholter Unwahrheiten sind. Werbung, Propaganda und gut geschriebene Romane leisten ganze Arbeit, und die meisten Leute glauben noch immer, »nuklear« bedeute so viel wie »tödlich«. Aber man sollte sich gelegentlich fragen, warum die Krebsrate, obwohl wir all die Radioaktivität und die vielen Chemikalien in uns aufnehmen, nicht merklich gestiegen ist. Und warum diejenigen, die ihr Arbeitsleben in Kernkraftwerken verbringen, länger leben als der Bevölkerungsdurchschnitt und weit länger als Kohlekumpel. Weil wir so viel Angst vor Krebs haben, verlieren wir jeden Sinn für Verhältnismäßigkeit. Wie viel von dieser Angst auch gerechtfertigt sein mag, es gibt keinen Grund, sich heute mehr davor zu fürchten; trotz all unserer Ängste wegen Krebs aufgrund von Strahlung, Chemikalien in der Nahrung und sogar Mobiltelefonen und Starkstromleitungen leben wir länger als je zuvor.
Ich wohnte eine Zeit lang im texanischen Houston, einer reichen amerikanischen Stadt, in der die Rechtsanwälte folglich ebenso kompetent wie teuer sind. Einer von ihnen, ein berühmter Strafrechtler, trat mit einem außerordentlichen Angebot im lokalen Fernsehen auf. Er lud alle Zuschauer, die jemanden ermorden wollten, ein, dies zu tun, selbst im Angesicht von so unanfechtbaren Zeugen wie dem Papst oder dem Polizeichef. Er versprach eine Verteidigung, die zu einem Freispruch führen würde; es würde jedoch, fügte er hinzu, die Betreffenden ihren gesamten Besitz kosten. Seine Erfolge vor Gericht ließen den Schluss zu, dass dies keine bloße Prahlerei war.
Ich will jetzt nicht behaupten, dass die Anti-Atom-Bewegung oder die Advokaten der Kampagne für atomare Abrüstung so mächtig sind wie jener Rechtsanwalt in Houston, aber sie haben ihr Ziel erreicht, die Mehrheit davon zu überzeugen, dass alles Nukleare von Übel ist. Für mich ist das eine grobe Verzerrung der Wahrheit und genauso falsch wie der Freispruch, den jener Rechtsanwalt versprach.
Es ist eine Folge unserer Evolution, dass wir positiv zu unseren Entscheidungen stehen, selbst wenn sie falsch oder irrational sind. Wenn wir uns einen Partner aussuchen oder ein Haus kaufen, wird an der schließlich getroffenen Entscheidung alles als gut und an den verworfenen Möglichkeiten alles als Nachteil betrachtet. Diese »kognitive Dissonanz« ist heute sowohl ein Fluch als auch ein Segen, und man kann sie in die Worte fassen: »Irritieren Sie mich nicht mit Fakten, ich habe mich entschieden.«
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