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 8. Eine persönliche Sicht der Umweltbewegung 

Lovelock-2006

 

193-207

Die Vorstellung von Gaia als einem lebendigen Planeten ist für mich die entscheidende Grundlage für einen stimmigen und praktikablen Naturschutz; sie läuft der heutigen Haltung zuwider, dass die Erde ein Besitz ist, eine Immobilie, die man zum Nutzen der Menschheit ausbeuten kann. 

Diese falsche Überzeugung, dass die Erde uns gehört oder wir ihre Verwalter sind, erlaubt uns, Lippenbekenntnisse zu Umweltpolitik und Umwelt­schutz­programmen abzulegen, dabei aber weiterzumachen wie gewohnt. Ein Blick in eine beliebige Wirtschaftszeitung bestätigt, dass Wachstum und Entwicklung noch immer unsere Ziele sind. Wir beklatschen jede neu entdeckte Erdgas- oder Öllagerstätte und halten die derzeitigen steigenden Benzinpreise für eine potenzielle Katastrophe und nicht für eine willkommene Eindämmung der Umweltverschmutzung. 

Auch unter Klimaforschern und Ökologen machen sich anscheinend nur wenige wirklich voll und ganz klar, wie nahe die globale Katastrophe schon ist und welche Ausmaße sie annehmen kann. 

Einsicht ist nach wie vor einzig eine Frage des bewussten Nachdenkens - sie kommt noch nicht aus der Angst im Bauch. Es fehlt uns an einem intuitiven Erfassen, an einem Instinkt, der uns sagt, dass Gaia in Gefahr ist. Wie gelangen wir dazu, nicht nur die Existenz des großen irdischen Systems, sondern auch seinen Gesundheitszustand instinktiv zu erfassen, beziehungs­weise wie gewinnen wir diesen Instinkt zurück? 

Wir haben nicht viel, worauf wir aufbauen können, denn in den letzten beiden Jahrhunderten, in denen der Reduktionismus triumphierte, wurden Begriffe wie Intuition und Instinkt vorzugsweise ignoriert oder bestenfalls als dubios und versponnen betrachtet. Jetzt, im 21. Jahrhundert, sind wir ein bisschen freier, über so etwas wie Instinkt und Intuition nachzudenken, und es ist anzunehmen, dass wir einst im Verlauf unserer Evolutions­geschichte, als unsere Vorfahren einfache, im Wasser lebende Tiere waren, bereits die Fähigkeit ausgebildet hatten, auf der Stelle etwas Lebendiges vom größtenteils anorganischen Ozean zu unterscheiden. Dieser urzeitliche Instinkt dürfte für das Überleben überaus wichtig gewesen sein, denn Lebewesen sind entweder Nahrung, potenzielle Sexualpartner oder eine tödliche Gefahr für einen selbst. 

Wahrscheinlich ist dieser Instinkt Teil unseres genetischen Erbes und fest in unserem Gehirn verdrahtet, sodass wir noch in vollem Umfang über ihn verfügen. Wir brauchen keinen Doktor in Biologie, um einen Käfer von einem Stein zu unterscheiden oder eine Pflaume von einem Kiesel. Aufgrund seiner Genese beschränkt sich dieses instinktive Erfassen von Lebendigem aber auf die Reichweite unserer Sinneswahrnehmungen und funktioniert nicht bei Dingen, die größer oder kleiner sind als das, was wir sehen können. Ein Pantoffeltierchen nehmen wir als lebendig wahr, aber nur wenn wir es unter dem Mikroskop sehen. Selbst Biologen ignorieren, wenn sie sich mit der Biosphäre beschäftigen, allzu oft alles, was mit bloßem Auge nicht zu erkennen ist.

Meine Freundin und Kollegin Lynn Margulis hat mehr als alle anderen auf die primäre Bedeutung von Mikroorganismen für Gaia hingewiesen, und ihre Gedanken darüber hat sie 1986 in dem gemeinsam mit Dorion Sagan geschriebenen Buch <Microcosmos> zusammengefasst. 

 wikipedia  Lynn_Margulis  1938-2010    194/195

Die Erde wurde nie als Ganzes betrachtet, bis Astronauten sie aus dem All erblickten, und dann sahen sie etwas völlig anderes als die planetengroße Felskugel mit einer dünnen Schicht Luft und Wasser, die wir erwartet hatten. Einige Astronauten — vor allem die, die bis zum Mond flogen — waren sehr ergriffen und erkannten die Erde als ihre Heimat. Irgendwie müssen wir wie sie denken und unser instinktives Erkennen von Leben so ausweiten, dass es die Erde einschließt.

Die Fähigkeit, Leben unmittelbar zu erkennen, und andere Instinkte wie Höhenangst oder Panik vor Schlangen sind Teil unserer langen Evolutions­geschichte, aber es gibt auch eine andere Art von Instinkt, der nicht angeboren ist, sondern in der Kindheit konditioniert wird. 

Die Jesuiten fanden heraus, dass man den Geist eines Kindes so formen konnte, dass er ihren Glauben akzeptierte, und wenn das gelungen war, hielt das Kind instinktiv sein gesamtes Leben an diesem Glauben fest; in ähnlicher Weise lässt sich auch eine lebenslange Loyalität gegenüber dem Stamm oder der Nation prägen. Der Geist eines Kindes ist sogar formbar genug, dass es dann mit religiösem Eifer etwas so Trivialem wie einer Fußball­mannschaft oder etwas möglicherweise so Gefährlichem wie einer politischen Ideologie anhängt. 

Reichliche Erfahrungen dieser Art lassen den Schluss zu, dass wir, wenn wir wollten, Gaia zu einem instinktiven Glaubensziel machen könnten, indem wir unsere Kinder mit der Natur konfrontieren, ihnen sagen, warum und wie das alles das Werk Gaias ist, und ihnen zeigen, dass sie dazugehören.

Die Begründer der großen Religionen Judentum, Christentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus lebten in Zeiten, da es viel weniger Menschen gab, welche mit ihrer Lebensweise die Erde nicht belasteten. Diese heiligen Männer hatten keinerlei Ahnung, in welch schlimmem Zustand sich der Planet in 1000 oder mehr Jahren befinden würde. Ihre Sorge galt zu Recht menschlichen Belangen. 

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Regeln und Leitlinien für das richtige Verhalten des Einzelnen, der Familie und des Stammes wurden gebraucht; das Menschengeschlecht wuchs in Gaias Natur auf, und wie Kinder nahmen wir unser Heim als gegeben hin und stellten seine Existenz nie infrage. Wie erfolgreich diese Religionen waren, kann man daran ermessen, dass sie als Glauben und Verhaltensregeln weit mehr als 1000 Jahre weiteren Bevölkerungswachstums überdauerten. 

Als ich ein Kind war, war ich vom christlichen Glauben durchtränkt, und noch immer leitet er unbewusst mein Denken und Verhalten. 

Jetzt aber haben wir unser planetarisches Heim verdreckt und bekommen die Folgen zu spüren, neue Gefahren drohen, die viel schwieriger zu begreifen oder zu handhaben sind als die persönlichen und die Stammeskonflikte der Vergangenheit. Unsere Religionen haben uns keine Regeln und Leitlinien für unser Verhältnis zu Gaia gegeben. Das humanistische Konzept der nachhaltigen Entwicklung und das christliche Konzept der Verwaltung der Erde werden von unbewusster Hybris vereitelt. Wir haben dazu weder die Kenntnisse noch die Kapazitäten. Zur Verwaltung oder Entwicklung der Erde sind wir nicht besser qualifiziert als Ziegen zum Gärtnern.

Vielleicht brauchen die Christen eine neue Bergpredigt, die den Menschen die Grenzen für einen anständigen Umgang mit der Erde setzt und ihnen Regeln dafür vorgibt. Ich träume seit Langem davon, dass die Religionen und die säkularen Humanisten sich dem Konzept Gaia zuwenden und erkennen, dass menschliche Rechte und Bedürfhisse nicht alles sind; gerade die Gläubigen könnten die Erde als Teil von Gottes Schöpfung akzeptieren und wegen ihrer Entweihung beunruhigt sein. 

Es gibt Anzeichen, dass kirchliche Würdenträger sich in Richtung einer Theologie der Schöpfung bewegen, die Gaia mit einschließen könnte. Rupert Shortt zitiert in seinem Buch God's Advocates (2005) ein Interview mit Rowan Williams, dem Erzbischof von Canterbury:

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Interviewer: Das nächste Problem ist, dass die Berichte von Wundern die Wissenschaft mit Verachtung strafen. Es gibt keine Beweise für Wunder, und ihnen haftet auch etwas intrinsisch Unplausibles an.

Erzbischof: Das ist ein sehr großes Thema, die Frage des göttlichen Handelns. Abermals denke ich, man muss es im Rahmen der Gottesdoktrin sehen und sollte nicht anfangen, irgendeine Behauptung ganz spezifisch zu prüfen. Lassen Sie es mich so ausdrücken: Für einen theologisch Gläubigen ist die Beziehung zwischen Gott und der Schöpfung weder die des alten Bildes von jemandem, der die Uhr aufzieht und sie dann laufen lässt, noch die eines Theaterregisseurs oder, schlimmer noch, eines Puppenspielers, der ständig bei allem, was vor sich geht, die Fäden in der Hand hält. Es ist das Verhältnis einer äußeren Aktivität, die in jedem Moment alles, was es gibt, energetisiert, real macht, aktiviert. Und manchmal habe ich das Gefühl, unsere Theologie hat zu großen Teilen dieses außerordentlich lebendige oder aufregende Gefühl verloren, dass die Welt im klassischen theologischen Sinn von göttlicher Energie durchdrungen ist.

 

Als ich diese klugen, beeindruckenden Antworten las, fühlte ich mich in die siebziger Jahre zurückversetzt, als Richard Dawkins und andere fähige Wissen­schaftler vehement das Konzept Gaia bestritten und dabei Argumente gebrauchten, die jenen ähnelten, die sie heute als Atheisten verwenden, um das Konzept Gottes und seiner Schöpfung infrage zu stellen. 

Die Debatte über Gaia ist meiner Ansicht nach insofern beigelegt, als akzeptiert wurde, dass Gaia in dem Sinn real ist, dass wir eine sich selbst regulierende Erde haben. Dabei wird zunehmend erkannt, dass viele Naturphänomene sich uns entziehen und niemals mit klassisch reduktionistischen Begriffen erklärt werden können — Phänomene wie Bewusstsein, Leben, die Emergenz der Selbstregulierung und eine immer länger werdende Liste von Vorgängen in der Welt der Quantenphysik. 

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Ich denke, es ist an der Zeit, dass Wissenschaftler sich von Theologen den wunderbaren Begriff der »Unbeschreiblichkeit« ausborgen, der den Gedanken ausdrückt, dass Gott immanent, aber nicht zu erkennen ist.

Wichtige Konzepte wie Gott oder Gaia sind mit unserem beschränkten bewussten Denken nicht zu erfassen; aber in jenem Inneren unseres Geistes, das der Sitz der Intuition ist, ergeben sie Sinn. Unsere zutiefst unbewussten Gedanken sind nicht rational aufgebaut; sie emergieren voll ausgebildet als unser Gewissen und eine instinktive Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Vielleicht wussten daher die frühen Quäker, dass die leise, dünne Stimme im Innern nicht aus bewusster Überlegung hervorgeht. Unser bewusstes rationales Denken ist zu diesen Gedanken nicht besser befähigt als der winzige Monitor eines heutigen Mobiltelefons zur Wiedergabe eines Vermeer-Gemäldes in all seiner Pracht. 

Die außerordendiche Macht unseres unbewussten Denkens kommt in Dingen zum Ausdruck, die wir als alltäglich betrachten, etwa Laufen, Fahrradfahren oder einen Ball fangen. Wir würden erbärmlich scheitern, wenn wir so etwas bewusst versuchten; das automatische und instinktive Bewältigen solcher Aufgaben erfordert ein langes, oft langweiliges Training. Dasselbe trifft auf wahre Erfinder zu, die nach viel Übung in ihrem Metier eine Inspiration bekommen, sich Dinge vorstellen und dann bauen, die sich als emergent erweisen, wenn man sie anschaltet. Auf ähnliche Weise erkunden Physiker die unglaublichen Rätsel der Quantenphänomene, obwohl sie sie bewusst nicht begreifen.

Die Wissenschaftsgeschichte zeigt, dass wir das, was an vergangenen Interpretationen der Welt gut war, beibehalten und neu aufkommendes Wissen damit verschmelzen müssen. Newtons Erkennmisse trieben die Physik 300 Jahre lang voran.

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Einsteins Relativitätstheorie verwarf die Newton'sche Physik nicht, sondern erweiterte sie. In ähnlicher Weise hat Darwins große Vision von der Evolution die Biologie von einer katalogisierenden Angelegenheit zu einer Wissenschaft erhoben, aber jetzt beginnen wir zu erkennen, dass auch der Darwinismus noch unvollständig ist. Evolution ist nicht bloß ein Merkmal von Organismen — das gesamte irdische System mit all seinen lebenden und nicht lebenden Teilen evolviert als eine eng miteinander verknüpfte Entität. Es ist dumm zu glauben, wir könnten die Wissenschaft, während sie sich weiterentwickelt, rational und bewusst erklären. 

Wir müssen das grobe Werkzeug der Metapher verwenden, um bewusste Ideen in unbewusstes Wissen zu übersetzen. Genau wie die Metapher von der lebendigen Erde, mit der Gaia erklärt wird, von reduktionistischen Wissenschaftlern zu Unrecht verworfen wurde, kann es falsch sein, wenn sie auch die Metaphern und Fabeln der heiligen Texte zurückweisen. Es mögen grobe Annäherungen sein, aber sie dienen dazu, das intuitive Verständnis Gottes und der Schöpfung zu entzünden, das mit rationalen Argumenten nicht falsifiziert werden kann.

Als Wissenschaftler weiß ich, dass die Gaia-Theorie vorläufig ist und wahrscheinlich von einer größeren, umfassenderen Sicht der Erde abgelöst werden wird. Für den Moment jedoch betrachte ich sie als Saat, aus der ein instinktiver Umweltschutz wachsen kann; einer, der sofort erkennt, ob der Planet gesund oder krank ist, und der eine gesunde Welt aufrechtzuerhalten hilft.

Grüne Vorstellungen und Ideen sind ebenso vielfältig und in Konkurrenz miteinander wie die Pflanzen eines Wald-Ökosystems; aber im Gegensatz zu den Pflanzen ist ihnen noch nicht einmal das reine Farbspektrum des Chlorophylls gemeinsam. Grüne Vorstellungen reichen von Rot- bis zu Blauschattierungen.

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Die totalitären Grünen, manchmal als Ökofaschisten bezeichnet, sähen gern die meisten anderen Menschen mittels Genozid eliminiert, sodass ihnen eine perfekte Erde bleibt. Am anderen Ende des Spektrums stehen jene, die die allgemeinen Menschenrechte und das Wohlergehen der gesamten Menschheit im Blick haben und hoffen, dass mit etwas Glück Gaia oder die nachhaltige Entwicklung diesen Traum wahr werden lassen. Als grün könnte man definieren, wer den Niedergang der Natur verspürt und etwas dagegen unternehmen möchte. Der Umweltschutz ist das gemeinsame Ziel der Grünen, aber in der Wahl der Mittel unterscheiden sie sich erheblich. 

Die humansten grünen Argumente sind vielleicht die von Jonathon Porritt in seinen beiden Büchern Seeing Green (1984) und Playing Safe: Science and the Environment (2000). Mehr als alle anderen hat er versucht, die europäischen Machtbasen davon zu überzeugen, so zu denken und zu handeln, wie er es im Hinblick auf Umweltschutz für vernünftig hält, und selbstlos hat er einen großen Teil seines Lebens diesem Ziel gewidmet.

Seit ich Jonathon 1982 in Dartington kennengelernt habe, betrachte ich ihn als Freund, und daher bedaure ich es zutiefst, dass wir in den letzten beiden Jahren getrennte Wege gegangen sind. Auch wenn unsere Ansichten zu Kernkraft und Windenergie grundverschieden sind, ist es wichtig, dass wir noch immer sehr viel gemeinsam haben. Im fünften und sechsten Kapitel habe ich Detailkritik an grünem Denken und Handeln geübt, aber das geschah von innen, aus der Umweltschutzbewegung heraus, nicht von außen wie kürzlich in Dick Tavernes Buch The March of Unreason (2005), in dem der Standpunkt eines aufgeklärten Liberalen zum Ausdruck kommt, der zu Recht die Grünen für ihren nicht praktikablen Romantizismus kritisiert. Angesichts der heutigen Umweltbewegung empfinde ich eher wie die Direktorin einer großstädtischen Problemschule oder der Oberst eines neu gebildeten Regiments von ungezügelten und von Natur aus ungehorsamen jungen Männern: Wie zum Teufel kann dieser chaotische Haufen diszipliniert und zur produktiven Zusammen­arbeit gebracht werden?

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Die Wurzel unserer Umweltprobleme ist das ungezügelte Bevölkerungswachstum. Eine »richtige« Anzahl von Menschen, die wir uns zum Ziel nehmen könnten, gibt es nicht: Sie variiert stets mit dem Gesundheitszustand des Planeten und der Art und Weise, wie wir auf ihm leben. Sie veränderte sich naturgegeben von wenigen Millionen Jägern und Sammlern bis zum Bruchteil einer Milliarde, als wir einfache Bauern waren; jetzt aber ist sie auf über sechs Milliarden hochgeschnellt, was Gaia in ihrem momentanen Zustand absolut nicht aushalten kann, selbst wenn wir bereit und in der Lage wären zurück­zustecken.

Wenn wir beispielsweise bis zum Jahr 1840 zurückgehen und von vorn anfangen könnten, würden wir vielleicht eine stabile Bevölkerung von sechs Milliarden Menschen erreichen können, wenn wir von Beginn an von einem richtigen Verständnis der Erde geleitet würden. Wir würden wissen, dass die Verbrennung fossiler Energieträger eingeschränkt werden muss, dass Rinder- und Schafzucht viel zu viel Land verbrauchen, um nachhaltig betrieben werden zu können, dass reiner Ackerbau und als Fleischlieferanten Schweine und Hühner, die hauptsächlich pflanzliche Abfälle fressen, der bessere Weg wären. Es könnten vielleicht sogar zehn Milliarden Menschen oder mehr werden, wenn sie in gut geplanten, verdichteten Städten lebten und synthetische Nahrung äßen.

Wenn wir die durch unsere massive Zerstörung von Ökosystemen und globale Umweltverschmutzung hervorgerufene, selbstgenerierte Gefahr des tödlichen Klimawandels überwinden können, wird unsere nächste Aufgabe darin bestehen, sicherzustellen, dass unsere Anzahl immer dem entspricht, was Gaia und wir ernähren können. 

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Persönlich glaube ich, es wäre klug, eine stabile Population von vielleicht einer halben bis einer Milliarde Menschen anzustreben, dann wären wir frei, auf viele verschiedene Weisen zu leben, ohne Gaia zu schaden. Auf den ersten Blick mag das als schwierige, widerwärtige oder sogar unlösbare Aufgabe erscheinen, aber Ereignisse im vergangenen Jahrhundert legen den Schluss nahe, dass das leichter sein könnte, als wir denken. Wenn man etwa in wohlhabenden Gesellschaften Frauen eine faire Chance gibt, ihr Potenzial zu entfalten, dann entscheiden sie sich freiwillig für weniger Nachkommen. 

Das ist nur ein kleiner Schritt auf dem Weg zu einem besseren Zusammenleben mit Gaia, und er hat Probleme wie eine verzerrte Altersstruktur der Gesell­schaft und ein nicht mehr funktionierendes Familienleben mit sich gebracht, ist aber ein Keim des Optimismus, aus dem andere freiwillige Maßnahmen der Geburtenkontrolle sprießen könnten und weit bessere als das kaltblütige Konzept der Eugenik, das an seiner eigenen Amoralität zugrunde gegangen ist. Letztlich wird wie immer Gaia selektieren und die eliminieren, die gegen ihre Regeln verstoßen. Wir haben die Wahl, entweder dieses Schicksal zu akzeptieren oder unseren Weg gemeinsam mit Gaia zu planen. Wie immer wir uns entscheiden, wir müssen stets fragen: Was sind die Folgen?

Die Regulierung der Geburtenrate ist nur Teil der Bevölkerungskontrolle, gleich wichtig ist die Regulierung der Sterberate. Auch in diesem Fall wählen in Überflussgesellschaften Menschen freiwillig einen anständigen Tod. Traditionellerweise sind Krankenhäuser für die Älteren Orte, wo sie relativ bequem und schmerzlos sterben; die Hospiz-Bewegung hat hier Standards gesetzt und dieser ansonsten verschwiegenen Rolle des Gesundheitssystems zur Akzeptanz verholfen. Laut Henry M. Hodkinsons Buch Geriatrie im Abriss sterben 25 Prozent der in Krankenhäuser eingewiesenen älteren Menschen binnen zwei Monaten. 

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Jetzt, da die Erde unmittelbar in Gefahr ist und in einen heißen, unbewohnbaren Zustand überzugehen droht, scheint es unmoralisch, ostentativ unsere eigene Lebensspanne über die normale biologische Grenze von rund 100 Jahren auszudehnen. 

Als ich nach meiner Promotion an der Harvard Medical School in Boston arbeitete, beklagte sich ein angesehener Kinderarzt über das Missverhältnis, dass für die Krebsforschung mehr als zehnmal so viel an Geldern bereitgestellt wurde wie für die Erforschung von Kinderkrankheiten; ich vermute, das ist noch immer so.

Fast alle der Grenzen, die die Natur unserem Bevölkerungswachstum setzt, haben wir überschritten: Wir können überall zwischen den Polen und den Tropen leben, und unser Wasser — solange es noch welches gibt — liefern uns Rohrleitungen. Unser einziger nennenswerter natürlicher Feind sind heute Mikroorganismen, die gelegentlich eine kurze Pandemie auslösen. Wenn wir als Zivilisation, die erfolgreich Naturkatastrophen vermeidet, weiter gedeihen wollen, müssen wir unserem Wachstum selbst Grenzen setzen — und sie müssen wirkungsvoll sein, und wir müssen das jetzt tun.

 

Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in Städten, und diese Menschen sehen, spüren oder hören die Natur kaum. Unsere vornehmste Pflicht als Grüne müsste daher sein, sie zu überzeugen, dass die wirkliche Welt die lebendige Erde ist und dass sie und ihre Städte lebendige Teile davon und völlig von ihr abhängig sind. Unsere Aufgabe ist es, zu lehren und durch unsere Lebensführung ein Beispiel zu geben. 

Bei rein menschlichen Belangen hat Gandhi vorgemacht, wie das geht; sein modernes Äquivalent könnte aus der Tiefenökologie-Bewegung kommen, die der norwegische Philosoph Arne Naess begründet hat. Die Ideen der Tiefenökologie haben mich sehr berührt, und ich komme im nächsten Kapitel darauf zurück. 

In gewisser Hinsicht zählt mein langjähriger Freund Edward Goldsmith zu den wenigen, die versucht haben, wie ein Tiefenökologe zu leben und zu denken. Sein gelehrtes und anregendes Buch Der Weg. Ein ökologisches Manifest ist Pflichtlektüre für alle, die mehr über grüne Philosophie erfahren wollen. Er gründete The Ecologist, eine Zeitschrift, die sich mit grünem Denken und grüner Politik beschäftigt. Sie wird heute ganz in seinem Sinn von seinem Neffen Zac Goldsmith weiterbetrieben. 

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Wir unterscheiden uns allerdings durch unseren Werdegang. Angesichts meiner 23 Jahre in der medizinischen Forschung überrascht es nicht, dass ich wie ein Arzt oder sogar Chirurg denke. Aus diesem Grund sähe ich es gern, wenn wir unsere technischen Fähigkeiten nutzten, um die Krankheiten der Erde wie auch die der Menschen zu heilen. Teddy Goldsmith und die Tiefenökologen verachten aufgrund ihrer humanistischen Ursprünge die moderne Technologie, befürworten alternative Techniken und alternative Medizin und würden einfach der Natur ihren Lauf lassen. Ich erkenne an, dass sie vielleicht recht haben und iatrogenische Krankheiten, also jene, die von der Behandlung hervorgerufen werden, allzu weit verbreitet sind, aber ich kann einfach nicht zusehen, wie unsere Zivilisation sich mit fossilen Brennstoffen umbringt. Aus diesem Grund betrachte ich die Kernenergie, sosehr sie auch gefürchtet wird, als ein notwendiges Gegenmittel.

Die Gemeinschaft der Grünen hätte mit der Gründung von Interessengruppen und politischen Parteien zögerlicher umgehen sollen; beide kümmern sich um Menschen und deren Probleme, und wie Megafone verstärken sie die demagogischen Stimmen ihrer Anführer. Unsere Aufgabe als Individuen aber ist, zuerst an Gaia zu denken. In keiner Weise verhalten wir uns dadurch inhuman oder gleichgültig; unser Überleben als Spezies hängt völlig von Gaia und von unserer Unterwerfung unter ihre Disziplin ab.

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Oft werde ich gefragt: »Was ist unser Platz in Gaia?« 

Für eine Antwort müssen wir weit in der Menschheitsgeschichte zurückgehen, bis zu einer Zeit, als wir noch Tiere waren — Primaten, die mit Gaia zusammen­lebten und sich nur unbedeutend von anderen Spezies unterschieden. Wir hatten damals dieselbe Rolle wie jene: Kohlenstoff und andere Elemente zu recyceln. Wir waren Allesfresser und gaben der Luft sämtlichen in unserer Lebensspanne in Form von tierischer und pflanzlicher Nahrung aufgenommenen Kohlenstoff als Kohlendioxid zurück. Im System der Evolution hatten wir unsere Nische besetzt, und wahrscheinlich waren wir nicht mehr als eine Million.

Als intelligente Räuber waren wir mit nützlichen Gehirnen und Händen ausgestattet und konnten die Grenzen unserer Nische in Richtungen ausweiten, die anderen Tieren verschlossen blieben. Wir konnten Steine werfen, einfache Werkzeuge aus Holz und Stein gebrauchen, und wir machten das besser als andere Primaten.

Viele Tiere, auch Insekten wie Bienen und Ameisen, können kommunizieren. Sie kennen Alarm- und Paarungsrufe und können detaillierte Informationen über die Größe, die Lage und die Entfernung von Nahrungsquellen weitergeben. Wir Menschen hatten das Glück, dank Mutationen die Fähigkeit zu erwerben, unsere Stimmen so modulieren zu können, dass es für eine primitive Sprache reichte. Für uns als Primitive war dieser Wandel so grundlegend wie die Erfindung des Computers oder der Mobiltelefonie für moderne Menschen. Die Mitglieder des Stamms konnten Erfahrungen austauschen; sie konnten für Dürre- und Hungerzeiten im Voraus planen und sich gegen Raubtiere verteidigen. Der sich ausbildende Homo sapiens war höchstwahrscheinlich das erste Tier, das bewusst versuchte, die Umwelt nach seinen Bedürfnissen umzugestalten. Am bemerkenswertesten war, dass wir von Blitzen entfachte natürliche Feuer zum Kochen, zum Roden und zur Jagd nutzten.

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Die Naiven unter den städtischen Intelligenzlern denken und reden über Frühmenschen, als hätten diese in Einklang mit der Natur gelebt. Einige von ihnen gehen einen Schritt weiter und sammeln Spenden ein, um das zu bewahren, was sie für Naturvölker in abgelegenen Gegenden wie etwa den Tropenwäldern halten. Sie betrachten die moderne Welt als clever, aber schlecht, und diese schlichte Lebensweise als natürlich und gut. Sie haben unrecht. Wir dürfen nicht annehmen, dass die Frühmenschen besser oder schlechter waren als wir; wahrscheinlich unterschieden sie sich in Wirklichkeit nur wenig von uns.

Andere halten uns wegen unserer Kultur und unseres Intellekts für überlegen; dank unserer Technologie können wir Autos fahren, Textverarbeitungs­programme nutzen und große Entfernungen durch die Luft zurücklegen. Einige von uns leben in klimatisierten Häusern, und wir lassen uns von Medien unterhalten. Wir glauben, wir seien intelligenter als Steinzeitmenschen, aber welche modernen Menschen könnten erfolgreich in Höhlen leben und wüssten, wie man ein Holzfeuer zum Kochen entzündet, wie man aus Tierhäuten Kleidung und Schuhe macht oder Pfeil und Bogen so gut herstellt, dass sie ihre Familien damit ernähren können? 

Ich danke Jerry Glynn und Theodore Gray, dass sie dies in ihrem Benutzerhandbuch für das Computer-Mathematikprogramm Mathematica herausgestrichen haben. Als Beispiel nennen sie die Tatsache, dass moderne Kinder kaum noch ohne Taschenrechner eine Zahlenkolonne addieren können, führen dazu jedoch aus, dass dies nichts Schlechtes bedeutet, weil jede Phase der menschlichen Entwicklung ein maßgeschneidertes Bündel neuer Fähigkeiten mit sich bringt, die andere, nicht mehr benötigte ersetzen. Die Steinzeitmenschen hatten mit ihrem Leben wahrscheinlich genauso alle Hände voll zu tun wie wir mit dem unsrigen.

Eine Gruppe der frühen Menschen wanderte nach Australien aus, als der Meeresspiegel viel tiefer lag und die Überfahrt mit einem Boot oder einem Floß wahrscheinlich weder weit noch schwierig war. Von dieser Gruppe stammen die modernen australischen Aborigines ab, von denen man oft behauptet, sie seien ein Beispiel für Menschen, die natürlich und in Frieden mit der Erde leben. Doch ihre Methode der Feuerrodung hat die natürlichen Wälder des Kontinents genauso zerstört, wie moderne Menschen das mit Kettensägen tun. Friede sei mit euch, Aborigines: Als Individuen seid ihr nicht schlechter oder besser als wir; der Unterschied ist nur, dass wir Motoren haben und viel zahlreicher sind.

Mit Gaias Augen sehe ich Wissenschaft und Technik als Merkmale von Menschen, die das Potenzial haben, viel Gutes zu tun und viel Schaden anzurichten. Weil wir Teil von Gaia sind, nicht von ihr zu trennen sind, ist für sie unsere Intelligenz ebenso sehr eine neue Fähigkeit und Stärke wie auch eine neue Gefahr. Die Evolution macht Umwege, begeht Fehler, rennt in Sackgassen; mit der Zeit aber sorgt die große Korrektorin, die natürliche Auslese, in der Regel für eine saubere, wohlgeordnete Welt. 

Vielleicht war der größte Irrweg von Gaia und uns der bewusste Missbrauch von Feuer.  

Sich Fleisch über einem Holzfeuerchen zu braten wäre vielleicht noch akzeptabel gewesen, aber die absichtliche Zerstörung ganzer Ökosysteme durch Brände, nur um die Tiere herauszutreiben, war mit Sicherheit unsere erste an der lebendigen Erde begangene große Sünde. 

Seither plagt uns dieses Laster, und die Verbrennung von Kohlenstoff könnte jetzt zu unserem Scheiterhaufen, zum Grund für unser Aussterben werden.

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   von James Lovelock 2006