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9.  Über das Ende hinaus    Lovelock-2006

 

209-228

Wie in Richard Wagners <Der Ring des Nibelungen> hängt das Schicksal am <Seil der Nornen>, aber der Faden, der unser Los bestimmt, wird gleich reißen. Gaia, die lebendige Erde, ist alt und nicht mehr so stark wie vor zwei Milliarden Jahren. Sie kämpft darum, sich für ihre Myriaden Lebensformen trotz der unausweichlichen Zunahme der Sonnenhitze kühl zu halten. 

Verschärft werden ihre Probleme dadurch, dass eine dieser Lebensformen — Menschen, streitlustige Stammestiere, die davon träumen, sogar andere Planeten zu erobern — versucht hat, die Erde nur zu ihrem eigenen Nutzen zu beherrschen. Mit atemberaubender Dreistigkeit haben sich die Menschen die Kohlen­stoffvorräte genommen, die Gaia vergraben hatte, um den Sauerstoff auf dem richtigen Niveau zu halten, und ihn verbrannt. Damit haben sie Gaias Autorität an sich gerissen und es ihr unmöglich gemacht, ihrer Verpflichtung nachzukommen, den Planeten so zu bewahren, dass er für das Leben geeignet ist. Sie haben nur an ihr eigenes Wohlergehen und an ihre Bequemlichkeit gedacht.

Irgendwann gegen Ende der 60er Jahre ging ich mit meinem Freund William Golding, der in der Nähe wohnte, durch eine ruhige Nebenstraße in meinem Heimatdorf. Wir sprachen darüber, dass ich kurz zuvor im <Jet Propulsion Laboratory> in Kalifornien gewesen war, wo man die Idee verfolgte, auf anderen Planeten nach Leben zu suchen. 

Ich legte ihm dar, warum meiner Meinung nach sowohl Mars als auch Venus unbelebt sind und dass die Erde mehr ist als einfach ein belebter Planet und warum ich sie in gewisser Hinsicht als selbst lebendig betrachte. Er sagte sofort: »Wenn du eine so große Idee verbreiten willst, musst du ihr einen passenden Namen geben; ich schlage vor, du nennst sie <Gaia>.«  

Ich war ihm wirklich dankbar, dass er mir für meine Vorstellungen von der Erde diesen einfachen, überzeugenden Namen schenkte. Glücklich übernahm ich ihn und erwies damit früheren literarischen Bezügen die Ehre, denn auch in vergangenen Jahrhunderten hatte man auf Gaia zurück­gegriffen, als man die Wissenschaften von der Erde Geologie, Geografie und so weiter nannte. 

Damals wusste ich kaum etwas über die griechische Göttin Gaia, und ich hätte mir niemals träumen lassen, dass die zu dieser Zeit aufkommende New-Age-Bewegung Gaia wieder als mythische Gottheit begreifen würde. Wie hinderlich dies auch für die Akzeptanz der Theorie in der Wissenschaft gewesen sein mag, die New-Age-Anhänger waren in bestimmter Weise hellsichtiger als die Wissenschaftler. Wir erleben heute, dass Gaia, das große irdische System, sich wie andere mythische Gottheiten verhält: Kali und Nemesis. Sie ist eine fürsorgliche Mutter, zugleich aber gnadenlos grausam gegenüber allen, die die Regeln nicht einhalten, und seien es ihre eigenen Kinder.

Ich weiß, dass ich mit meiner Personalisierung des irdischen Systems als Gaia — wie ich es oft getan habe und auch in diesem Buch wieder tue — die wissenschaftlich Korrekten irritiere, aber ich bleibe in diesem Punkt stur, weil wir mehr denn je Metaphern brauchen, um das wahre Wesen der Erde und der drohenden tödlichen Gefahren umfassend zu verstehen.

  wikipedia  Nornen      wikipedia  Gaia    210 / 211

Seit 40 Jahren lebe ich nun mit dem Konzept Gaia, und ich dachte, ich würde sie kennen, aber mir wird jetzt klar, dass ich unterschätzt habe, wie streng ihr Regiment ist. Ich wusste, dass sich unsere sich selbst regulierende Erde aus den Spezies entwickelt hat, die ihren Nachkommen eine bessere Umwelt hinterließen, wobei diejenigen eliminiert wurden, die ihr Habitat verschmutzten. Aber nie zuvor habe ich gemerkt, wie zerstörerisch wir sind und dass wir die Erde so schwer geschädigt haben, dass Gaia uns nun mit der äußersten Strafe, dem Aussterben, droht.

Ich bin kein Pessimist und habe immer daran geglaubt, dass letzten Endes das Gute siegen würde. 

Als der königliche Hofastronom Sir Martin Rees, jetzt Präsident der Royal Society, 2003 sein Buch <Our Final Century?> veröffentlichte, wagte er es, über das Ende der Zivilisation und der Menschheit nach­zudenken und zu schreiben. Ich habe dieses durch und durch kluge Buch gern gelesen, es aber mehr für eine Spekulation unter Freunden gehalten, nicht für etwas, das einem den Schlaf rauben sollte. Ich hatte unrecht. Es war hellsichtig. Denn jetzt kommen von Beobachtern auf der ganzen Welt Hinweise, die von einem unmittelbar bevorstehenden Umkippen unseres Klimas in eines künden, das man schlicht und einfach als die Hölle beschreiben kann: so heiß, so tödlich, dass nur eine Hand voll der heutigen Milliarden überleben wird. 

Wir haben auf dem Planeten ein entsetzliches Durcheinander angerichtet, und das in der Hauptsache mit uneingeschränkt liberalen guten Absichten. Selbst jetzt, wo die Glocke schon unsere letzte Stunde einläutet, reden wir noch von nachhaltiger Entwicklung und erneuerbaren Energien, als wären diese kläglichen Angebote ausreichende und angemessene Opfer, die Gaia akzeptieren würde. 

Wir verhalten uns wie rücksichts- und gedankenlose Familien­mitglieder, die alles kaputt machen, aber zu glauben scheinen, es würde reichen, sich zu entschuldigen. Wir sind Gaias Familienmitglieder und als solche willkommen, aber wenn wir nicht aufhören, uns so zu verhalten, als ginge es einzig und allein nur um das menschliche Wohlergehen und als wäre dieses die Entschuldigung für unser Fehlverhalten, ist alles Gerede von irgendeiner Weiter­entwicklung nicht akzeptabel. 

* (d-2015:)  M.Rees bei detopia 

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Wenn eine Katastrophe über uns hereinbricht, stellen wir immer noch oft die Frage: »Wie konnte Gott das zulassen?« Doch kann jetzt, da sich die Möglichkeit abzeichnet, dass die meisten von uns umkommen werden, der Glaube an Gott weiterbestehen? 

Darwin beschrieb den Prozess der Evolution einmal als »schwerfällig, verschwenderisch, voller Fehler, gemein und entsetzlich grausam«. Bestimmt aber nicht so grausam oder so grob fahrlässig, wie wir uns gegenüber dem sonstigen Leben auf der Erde verhalten haben und noch verhalten, vor allem da so viele weitere unschuldige Spezies unser Schicksal teilen werden.

Es fällt nicht schwer, sich unsere Lage so vorzustellen, dass wir und unsere Familien in einer planetengroßen Gefängniszelle eingekerkert sind — in einem kosmischen Todestrakt — und auf die Hinrichtung warten, die unausweichlich kommen wird. Tage und Jahre werden vergehen, die Jahreszeiten werden kommen und gehen, man wird uns zu essen geben und uns unterhalten, und wenn wir gläubig sind, werden wir Gott um eine Gnadenfrist bitten. Einige wie Sandy und ich werden dem Henker wahrscheinlich ein Schnippchen schlagen und sterben, bevor wir an der Reihe sind; die grausamen Konsequenzen müssen unsere Kinder und Enkel tragen.

Ich bin Wissenschaftler und denke in Wahrscheinlichkeiten, nicht Gewissheiten, und folglich bin ich Agnostiker. In uns allen aber ist tief im Innern das Bedürfnis verankert, auf etwas Größeres zu vertrauen als uns selbst, und für mich ist das Gaia, wie ich 2000 in meiner Autobiografie <Homage to Gaia> erklärt habe. War je ein Vertrauen so ernstlich auf die Probe gestellt?

Wie schon so oft im Fall kleinerer Krisen wandte ich mich an meinen Freund und Mentor Sir Crispin Tickell, und zufällig hatte er eine Antwort in Form einer Rede, die er 2002 anlässlich einer Konferenz zum Thema <Die Erde ist unsere Bestimmung> in der Kathedrale von Portsmouth gehalten hatte. Sie war tief bewegend und klug und half, unseren Ort in der Umwelt zu bestimmen.

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Die letzten Absätze lauteten:

Die Ideologie der Industriegesellschaft mit ihren Vorstellungen von Wirtschaftswachstum, ständig steigendem Lebensstandard und dem Vertrauen auf die technische Machbarkeit ist auf lange Sicht unbrauchbar. Wir müssen umdenken und letztlich das Ziel einer menschlichen Gesellschaft verfolgen, in der die Bevölkerungsgröße, der Ressourcenverbrauch, die Abfallentsorgung und die Umwelt grundsätzlich in einem gesunden Gleichgewicht stehen.

Vor allem aber müssen wir dem Leben mit Respekt und Bewunderung begegnen. Wir brauchen ein ethisches System, in dem die Natur nicht nur für das menschliche Wohlergehen wertvoll ist, sondern einen Wert an und für sich darstellt. Das Universum ist gleicher­maßen etwas Internes wie etwas Externes.

Er schloss mit den Worten der Äbtissin Hildegard von Bingen, die im 12. Jahrhundert schrieb:

Ich, das feurige Leben des göttlichen Wesens, zünde über die Schönheit der Felder hin, leuchte in den Gewässern, brenne in Sonne, dem Monde und den Sternen und erwecke mit dem Lufthauche, mit unsichtbarem Leben, das alles hält, lebensvoll jeglich Ding. Luft lebt nämlich im Grün und in den Blumen, die Wasser fließen, als hätten sie Leben ... Und dieses Leben ist der sich regende und wirkende Gott... 

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In gewisser Weise wiederholt die Menschheit die Tragödie von Napoleons Marsch auf Moskau im Jahr 1812. Als er im September die russische Hauptstadt erreichte, war er bereits zu weit gegangen, und seine kostbaren Vorräte nahmen täglich ab, während er seine Eroberungen konsolidierte. Er war sich nicht bewusst, dass die vom General Winter kommandierten unüberwindlichen Kräfte auf Seiten der Russen standen und ihnen einen Gegenangriff ermöglichten, bei dem sie ihre Verluste wettmachen konnten. Die einzige Möglichkeit, der Niederlage zu entgehen, wäre ein sofortiger und professionell abgewickelter Rückzug gewesen, bei dem seine Armee nicht aufgerieben worden wäre und zu einer anderen Zeit wieder hätte kämpfen können.

In Militärkreisen wird die Qualität eines Generalstabs an der Fähigkeit gemessen, einen erfolgreichen Rückzug zu organisieren und durchzuführen. Die Briten erinnern sich stolz an den erfolgreichen Abzug ihrer Armee aus Dünkirchen im Jahr 1940 und betrachten dies nicht als schmachvolle Niederlage. Ein Sieg war er sicherlich nicht, aber ein erfolgreicher und nachhaltiger Rückzug.

Die Zeit ist reif, dass wir alle den Rückzug von einer nicht zu haltenden Position planen, die wir mittlerweile durch den unangebrachten Gebrauch von Technik erreicht haben. Es ist weit besser, sich jetzt zurückzuziehen, solange wir noch die Energie und die Zeit dafür haben. 

Wie Napoleon in Moskau haben wir zu viele Mäuler zu stopfen, und unsere Ressourcen werden täglich knapper, während wir noch nachdenken. Der Rückzug aus Dünkirchen war nicht bloß gute Generalstabsarbeit: Unterstützt wurde er durch die erstaunliche, spontane Selbstlosigkeit der zahllosen Zivilisten, die bereitwillig ihr Leben riskierten und mit ihren kleinen Booten den Ärmelkanal überquerten, um ihre Armee zu retten.

Es muss uns gelingen, dass die Menschen auf der Erde die gegenwärtige reale Gefahr verspüren, sodass sie spontan ihre Kräfte mobilisieren und keine Mühe scheuen, einen geordneten und nachhaltigen Rückzug in eine Welt zustande zu bringen, in der wir in Harmonie mit Gaia zu leben versuchen.

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Ökonomen und Politiker müssen die absolute Notwendigkeit eines raschen und kontrollierten Herunterfahrens der Emissionen aus der Verbrennung fossiler Energieträger mit den Anforderungen der menschlichen Zivilisation in Einklang bringen. Wirtschaftswachstum macht Staaten so süchtig wie Heroin uns; vielleicht müssen wir das Verlangen danach mit einer sicheren Ersatzdroge dämpfen, einem ökonomischen Methadon. Abermals möchte ich vorschlagen, dass Mobiltelefone, das Internet und sonstiger Zeitvertreib mit dem Computer Schritte in die richtige Richtung sind; für sie werden Zeit und Energie aufgebracht, die ansonsten vielleicht für Reisen per Auto oder Flugzeug aufgewendet würden.

Darüber hinaus gibt es die Informationstechnologie und sparsame Formen der Energienutzung, beispielsweise die der hocheffizienten weißen LEDs (Light Emitting Diodes) zur nächtlichen Beleuchtung. Sollte Technologie dieser Art zur Hauptquelle des Wirtschaftswachstums werden, würden wir in unserem Leben nicht so viel Schaden anrichten und einiges von der Zeit, die wir jetzt für treibstoffintensive Reisen brauchen, anders einsetzen. In gewissem Umfang entwickeln wir uns in diese Richtung.

Bis vor ganz Kurzem war vielen von uns zwar bewusst, dass ernsthafte Umweltveränderungen drohen, und wir schenkten den Vorhersagen des IPCC Glauben, aber irgendwie schien unser Wissen theoretisch und akademisch: Es schloss nicht ein, dass sich etwas Tödliches abzeichnet. Mich rüttelte ein kleiner Vorfall wach und führte mir die Gefahren vor Augen. Furcht kristallisierte sich in den übersättigten Gefilden meines Geistes, als meine Nachbarn Christine und Peter Hadden mir im Oktober 2003 von Plänen berichteten, in unserer Gegend riesige Windgeneratoren zu bauen. 

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Plötzlich ging mir auf, was unsere Politiker mit nachhaltiger Entwicklung und erneuerbarer Energie meinten und was sie dem letzten im westlichen Devon verbliebenen guten Land antun würden. Ich konnte sie fast sagen hören: »Lasst uns Windenergie ernten und Bio-Treibstoff-Pflanzen anbauen, damit die Autos der städtischen Wähler weiterfahren können. Das können wir machen, ohne die Luft zu verschmutzen oder mit dem garstigen, dreckigen, Angst machenden Nuklearzeug herumzufummeln.«

Unter »gutem Land« verstehe ich Bauernland und Ortschaften, die friedlich mit der Erde zusammenleben und ein Ökosystem darstellen, das zwar von Menschen dominiert ist, aber auch noch ausreichend Platz für Gehölze, Hecken und Wiesen hat. Vor 1940 sah der größte Teil Südenglands so aus, und die größten intakt gebliebenen Landstriche gibt es heute im Westen, vor allem in Devon. Vor meinem geistigen Auge waren diese Landstriche das Antlitz Gaias, und dies sollte geopfert werden. Das erweckte meinen Zorn und machte mir die Krise der globalen Erwärmung voll bewusst.

Gutes Land in Industriegebiete zur Windenergiegewinnung umzuwandeln — und auch das bloß als Geste, um ihre Glaubwürdigkeit in Sachen Umwelt herauszustellen —, dies zeigte, wie weit unsere Führer davon entfernt waren, unsere Bedrohung zu begreifen. Um es in ihren urbanen Enklaven weiterhin gemütlich zu haben, wollten sie mit industrieller »Entwicklung« die restlichen Flächen guten Landes verwüsten.

Vor 28 Jahren war ich ins westliche Devon gezogen, um den Bulldozern zu entkommen, die die Hecken und Wiesen von Wiltshire zerstörten. Dummerweise hatte ich angenommen, dass das hügelige Bauernland Devons zu arm sei, um erschlossen zu werden, und ich bis zu meinem Ende das Leben in der geliebten Landschaft genießen könnte. Mit unermüdlichen, ideologisch guten Absichten und dem fast religiösen Glauben an erneuerbare Energien und nachhaltige Entwicklung zu unser aller Wohl hatte ich nicht gerechnet.

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Die anderen beschimpfen Sandy und mich, wir würden nach dem Floriansprinzip' handeln, wenn wir gegen ihre Endlösung des Energieproblems kämpfen. Vielleicht tun wir das, aber für uns sind jene städtischen Politiker mit gedankenlosen Ärzten vergleichbar, die ihren Hippokrates-Eid vergessen haben und versuchen, eine sterbende Zivilisation mit einer sinnlosen und unzureichenden Chemotherapie am Leben zu halten, wo es doch keine Hoffnung auf Heilung gibt und die Behandlung nur die letzten Lebensphasen unerträglich macht.

Ist unsere Zivilisation also zum Untergang verurteilt, und wird das Ende dieses Jahrhunderts von einem massiven Bevölkerungsrückgang gekenn­zeichnet sein, sodass nur noch ein paar wenige Verarmte in einer von Kriegsherren regierten Gesellschaft auf einem beschädigten, glutheißen und feindseligen Planeten überleben? 

Ich hoffe, so schlimm wird es nicht kommen. Wenn ein technisch fortgeschrittenes Land erst einmal erwacht und sich seiner Verantwortung stellt — möglicherweise als Reaktion auf unseren Alarmruf —, sagen seine Bewohner vielleicht: »Das können wir reparieren!« Eventuell verwenden sie dafür so etwas wie im All positionierte Sonnenschirme oder Lathams schwimmende Wasserpartikelgeneratoren, die weiße, das Sonnenlicht reflektierende Wolken über dem Meer erzeugen. Das mögen nur technische Behelfslösungen sein, aber wenn sie funktionieren, wären wir selbst schuld, wenn wir nicht davon profitierten.

Sonnenschirme zur Abkühlung der Erde könnten nützlicher sein, als es auf den ersten Blick erscheinen mag; sie könnten die Schäden ungeplanter Methan­freisetzungen voll und ganz neutralisieren. Sie könnten sogar ein genau dosierbares Gegenmittel zum Ausgleich der globalen Erwärmung sein, sollten die Methanclathrate auf dem Ozeangrund plötzlich in die Atmosphäre entkommen. 

1)  »Heiliger Sankt Florian, verschon mein Haus, zünd andre an!«  

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Wenn man bedenkt, wie ähnlich die Physiologie der Erde der eines Menschen ist, macht es Sinn, solche technischen Maßnahmen mit dem notfall­medizinischen Einsatz von Sauerstoff bei Herzversagen und Atemproblemen oder mit einer Kompresse bei Blutungen zu vergleichen: etwas Vorübergehendes, um den Patienten am Leben zu halten, bis man ein Krankenhaus mit seinen umfassenden Möglichkeiten erreicht.

Mit diesen Behelfen allein wird man nicht mehr erreichen, als uns Zeit zu verschaffen, um unsere schädliche Lebensweise zu ändern. Denn wenn wir weiterhin fossile Brennstoffe verheizen und im Übermaß Kohlendioxid freisetzen, wird das Meeresleben, das für Gaias Gesundheit entscheidend ist, weiter Schaden nehmen. Aber das müssen wir vielleicht riskieren, weil es Zeit braucht, die Technik für die Kohlenstoffsequestration und für die Kernfusion und für alle möglichen Arten von wirtschaftlich sinnvollen erneuerbaren Energien zu installieren. 

Auf lange Sicht müssen wir aber begreifen, dass jede technische Lösung, wie segensreich sie auch scheinen mag, das Potenzial hat, die Menschheit in Richtung einer ultimativen Form von Sklaverei in Marsch zu setzen. 

Je mehr wir an der Zusammensetzung der Erde herumpfuschen und ihr Klima zu reparieren versuchen, desto mehr übernehmen wir die Verantwortung dafür, die Erde als einen Ort für das Leben zu erhalten, bis wir uns schließlich unser gesamtes Leben lang abplagen, die Aufgaben zu erledigen, die Gaia drei Milliarden Jahre lang umsonst für uns übernommen hat. 

Dies wäre das schlimmste Schicksal und würde uns wirklich ins Elend stürzen: Bis in alle Ewigkeit müssten wir uns fragen, ob man jemandem oder irgendeinem Land oder irgendeiner internationalen Organisation die Regulierung des Klimas und der Atmosphären­zusammen­setzung anvertrauen kann. 

Die Vorstellung, Menschen seien intelligent genug, um die Erde zu verwalten, zählt zum Vermessensten, was je gedacht wurde.

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Was sollte eine vernünftige europäische Regierung jetzt also tun? 

Ich glaube, wir haben kaum eine andere Wahl, als uns auf das Schlimmste vorzubereiten und davon auszugehen, dass wir die Schwelle bereits überschritten haben. Wie Notfallmediziner müssen unsere Regierenden es als ihre Hauptaufgabe betrachten, zunächst den Patienten — die Zivilisation — am Leben zu halten, während wir uns auf die Reise in eine Welt machen, die sich zumindest nicht mehr rapide verändert. 

Wir gehen grenzenloser Hitze entgegen, und wir werden die Folgen binnen weniger Jahrzehnte zu spüren bekommen. Wir sollten uns jetzt auf einen Anstieg des Meeresspiegels vorbereiten, auf fast unerträgliche Hitze wie in Mitteleuropa im Sommer 2003 und auf Stürme von zuvor nicht gekannter Stärke. 

Wir sollten auch mit Überraschungen rechnen, mit tödlichen lokalen oder regionalen Ereignissen, die völlig unvorhergesehen sind. Auf der Stelle brauchen wir sichere und zuverlässige Energiequellen, damit der Zivilisation nicht die Lichter ausgehen und wir uns gegen den steigenden Meeres­spiegel wappnen können. Zur Kernspaltungsenergie gibt es keine Alternative, bis Energie aus der Kernfusion und aus vernünftigen erneuerbaren Quellen wirklich langfristig zur Verfügung steht. Atomkraft ist emissionsfrei und nicht von Importen aus einer in Unordnung geratenen Welt abhängig. Wir haben recht, wenn wir alle Emissionen auf ein Minimum zurückfahren, einschließlich des Methans aus leckenden Rohren und Mülldeponien. Vor allem aber brauchen wir Elektrizität, um unsere auf Technik aufgebaute Zivilisation am Leben zu erhalten.

Auf verschiedenerlei Weise führen wir unbeabsichtigt Krieg gegen Gaia. 

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Und um mit einer intakten Zivilisation überleben zu können, müssen wir dringend mit Gaia einen gerechten Frieden schließen, solange wir noch für Verhand­lungen stark genug und kein besiegter, geschundener Haufen auf dem Weg in die Auslöschung sind.

Können die heutigen Demokratien mit ihren lärmenden Medien und ihren Interessengruppen schnell genug handeln, um eine wirksame Verteidigung gegen Gaia aufzubauen? Wir brauchen vielleicht die Einschränkungen, die Rationierungen und die Dienstverpflichtungen, die im Krieg üblich waren; wir werden daher zusätzlich eine Weile unter einem Verlust von Freiheit leiden müssen. Wir werden eine kleine, dauerhaft installierte Gruppe von Strategen brauchen, die wie im Krieg unserem Feind Erde immer einen Gedanken voraus zu sein versucht und sich auf Überraschungen vorbereitet, die es mit Sicherheit geben wird.

Global leisten die Klimabehörden der Vereinten Nationen großartige Arbeit, wie das IPCC beweist. Aber wenn das Klima immer schlechter wird, werden immer mehr Länder mit Katastrophen vor Ort fertig werden müssen. In gewisser Hinsicht ist die große Party des 20. Jahrhunderts mit ihrem Luxuskonsum und ihren Kriegsspielen vorbei. Jetzt ist es an der Zeit, sauber zu machen und den Müll wegzubringen.

Meine klügsten Freunde Jane und Peter Horton, haben mich gewarnt, dass diese Metapher vom Krieg mit Gaia typisch männlich sei und Frauen vor den Kopfstoßen könnte, die nun endlich auch Macht haben und unser Handeln beeinflussen können. Ihnen ist vielleicht die Metapher von Gaia als gestrenge, aber fürsorgliche Mutter lieber. Damit haben sie möglicherweise recht, aber ich bitte sie — wie ich die Geowissenschaftler bitte, die mein Bild von der lebendigen Erde so verachten —, meine Metapher ernstlich als Möglichkeit zu betrachten, die primitiven Empfindungen des unbewussten Teils unseres Geistes zu erreichen. Die Menschheit besteht aus zwei Geschlechtern, die unterschiedlich reagieren, und vielleicht sind beide Metaphern nötig. Wir sind Gaias Familien­mitglieder und verhalten uns wie revoltierende Teenager, die intelligent sind und ein großes Potenzial zeigen, aber so gierig und egoistisch, dass sie sich selbst schaden.

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Männer wie Frauen müssen sich bewusst werden, was uns fehlt. Für die meisten von uns macht die künstliche Welt der Stadt bereits die Gesamtheit des Lebens aus, und wir glauben, es genügt zum Überleben, wenn wir uns in ihr auskennen. Doch auch in der Stadt gibt es noch Reste von Natur in den Parks und Gärten. Machen Sie das Beste daraus, denn sie werden weiter sterben und verschwinden wie das Land, das viele noch kennen und lieben. All dies ist wahrhaft kostbar.

Sollten wir die Schwelle zum irreversiblen Aufheizen bereits überschritten haben, dann müssen wir vielleicht auf die Tiefenökologen hören und uns von ihnen leiten lassen. Zu ihnen zählt der Biologe Stephan Harding, mit dem ich befreundet bin, und ich danke ihm, dass er mir die Tiefenökologie näher gebracht hat. Der kleinen Gruppe der Tiefenökologen scheint mehr als anderen grünen Vordenkern klar zu sein, welch ein großer Bewusstseinswandel nötig ist, um uns den Frieden mit Gaia, der lebendigen Erde, wiederzubringen. Wie die heiligen Männer und Frauen, die ihr gesamtes Leben zum Zeugnis ihres Glaubens machten, versuchen die Tiefenökologen, uns allen ein Beispiel zu geben, wie man mit Gaia lebt.

Nur wenige von uns können heute ihre Lebensweise genügend ändern, um darin ihre Loyalität gegenüber Gaia so zum Ausdruck zu bringen wie die Tiefen­ökologen, aber ich vermute, die bald zu erwartenden Veränderungen werden das Tempo beschleunigen; und genau wie die Zivilisation in früheren dunklen Zeiten letztlich vom Beispiel derjenigen, die an Gott glaubten, profitierte, werden wir vielleicht von jenen mutigen Tiefenökologen profitieren, die auf Gaia vertrauen. Die Klöster retteten das hart erarbeitete Wissen der griechisch-römischen Kultur über das finstere Mittelalter hinweg, und vielleicht können jene heutigen Hüter dasselbe für die Menschheit leisten.

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Trotz all unserer Anstrengungen, uns nachhaltig zurückzuziehen, werden wir vielleicht nicht mehr in der Lage sein, einen globalen Niedergang in eine chaotische, von brutalen Kriegsherren regierte Welt auf einer verwüsteten Erde zu verhindern. Wenn das passiert, sollten wir an diese kleinen Gruppen von Mönchen in Festungen wie Montserrat oder auf Inseln wie Iona und Lindisfarne denken, die überlebenswichtige Ziele verfolgten.

Nur wenige Reisende aus dem Norden würden ohne Malariaprophylaxe in die Tropen reisen oder in den Nahen Osten, ohne sich zu vergewissern, wie sich dort die kriegerischen Auseinandersetzungen entwickeln. Doch auf unsere Reise in die Zukunft sind wir im Vergleich dazu erstaunlich unvorbereitet. Wo Menschen eine lokale Gefahr gut kennen, bereiten sie sich — wie in Tokio — aufkommende Erdbeben vor. Wenn Gefahren globalen Ausmaßes drohen, ignorieren wir sie. Vulkanausbrüche wie der des Tamboura in Indonesien 1814 und der des Laki auf Island 1783 waren viel stärker als der des Pinatubo auf den Philippinen 1991 oder der des Krakatau in Indonesien 1883. Sie beeinträchtigten das Klima genug, um Hungersnöte auszulösen, obwohl die Weltbevölkerung damals nur ein Zehntel der heutigen betrug. 

Sollte einer dieser Vulkane erneut seine Macht demonstrieren, haben wir dann genügend Nahrung für die Menschenmassen von morgen? Wenn Teile der grönländischen oder der antarktischen Gletscher ins Meer rutschen, kann der Meeresspiegel auf der ganzen Welt um einen Meter steigen. Das würde Millionen von Küstenbewohnern heimatlos machen. Aus Bürgern würden plötzlich Flüchtlinge. Haben wir genug Essen und Unterkünfte, wenn Städte wie London, Kalkutta, Miami und Rotterdam unbewohnbar werden?

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Wir sind vernünftig und geraten angesichts solcher Weltuntergangsszenarien nicht gleich in Panik. Wir gehen lieber davon aus, dass so etwas zu unseren Lebzeiten nicht passieren wird. Wir nehmen die Gefahren nicht ernster als unsere Vorväter die Aussicht auf die Hölle, und der Gedanke, uns zu blamieren, erschreckt uns. Man sagt über uns, dass einige Menschen zwar gottesfürchtig seien, alle aber die sittenstrenge Nachbarin fürchten würden. 

Auch in der Wissenschaft haben wir unsere Sittenwächter, und sie strafen allzu gern jede Abweichung von dem, was ihnen als Dogma gilt, mit Verachtung. Wissenschaftler und wissenschaftliche Berater schrecken davor zurück, einzuräumen, dass sie manchmal nicht wissen, was passieren wird. Sie sind mit ihren Vorhersagen vorsichtig und wagen es nicht, Dinge anzusprechen, die unsere gewohnten Lebensweisen infrage stellen könnten. 

Aufgrund dieser Tendenz sind wir auf unerwartete und unvorhersehbare Katastrophen globalen Ausmaßes unvorbereitet — etwas wie die Entstehung des Ozonlochs, nur viel schwerwiegender, etwas, das uns in ein neues dunkles Zeitalter stürzen könnte.

Wir können uns weder gegen alle Möglichkeiten wappnen, noch unsere Lebensweise einfach so ändern, dass wir uns nicht weiter vermehren sowie die Umwelt nicht weiter verschmutzen. Diejenigen, die vom Prinzip der Vorbeugung überzeugt sind, sähen uns gern das Verbrennen fossiler Energieträger stoppen oder zumindest stark zurückfahren. Sie warnen, dass Kohlendioxid — das Nebenprodukt dieser Form von Energiegewinnung — früher oder später das Klima verändern oder sogar destabilisieren wird. 

Die meisten von uns spüren tief in ihrem Innern, dass man diesen Warnungen Beachtung schenken sollte, wissen aber nicht, was man dagegen tun soll. Die wenigsten von uns werden ihren eigenen Verbrauch an fossilen Energien zum Wärmen oder Kühlen ihrer Häuser oder zum Autofahren reduzieren. Wir ahnen, dass wir nicht warten sollten, bis es sichtbare Anzeichen für einen bösartigen Klimawandel gibt — denn dann kann es schon zu spät sein, um die von uns in Gang gesetzten Veränderungen noch rückgängig zu machen. 

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Wir sind wie ein Raucher, der sich seiner Zigarette erfreut und daran denkt, das Rauchen aufzugeben, wenn die Schädigungen greifbar werden. Am allermeisten hoffen wir auf ein angenehmes Leben in der unmittelbaren Zukunft und schieben unangenehme Gedanken an kommende Verhängnisse lieber beiseite.

Aber wir können es mit der Zukunft der zivilisierten Welt nicht genauso halten wie mit unserer persönlichen. Es ist fahrlässig, mit dem eigenen Tod so anmaßend umzugehen. Doch es ist rücksichtslos, genauso über das Ende der Zivilisation zu denken. Selbst wenn die Wahrscheinlichkeit noch für eine Zukunft spricht, die auszuhalten ist, bleibt es unklug, die Möglichkeit einer Katastrophe zu ignorieren.

 

Um die Folgen solch einer Katastrophe zu lindern, könnten wir unter anderem für die Überlebenden eine Art Anleitung schreiben, die ihnen hilft, die Zivilisation wieder aufzubauen, ohne zu viele unserer Fehler zu wiederholen. 

Ich habe lange darüber nachgedacht, dass ein passendes Geschenk für unsere Kinder und Enkel eine präzise Auflistung all dessen wäre, was wir über die Umwelt heute und in der Vergangenheit wissen. 

Sandy und ich gehen gern in Dartmoor wandern, das größtenteils eine eintönige Moorlandschaft ist. Wenn es dunkel wird und Nebel aufkommt, verläuft man sich dort leicht. In der Regel vermeiden wir das, indem wir sicherstellen, dass wir immer wissen, wo wir sind und welchen Weg wir genommen haben.

In gewisser Weise gleicht dem unsere Reise in die Zukunft. Wir können nicht ausmachen, ob vor uns ein Weg oder eine Fallgrube liegt, aber es wäre hilfreich, den Status quo zu kennen und zu wissen, wie wir dort hingekommen sind. Es würde helfen, einen in klarer und einfacher Sprache geschriebenen Leitfaden zu haben, den jeder intelligente Mensch verstehen kann.

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Ein solches Buch gibt es nicht. Was die meisten von uns über die Erde wissen, haben sie aus Büchern und Fernsehsendungen, die entweder die einseitige Sicht eines Spezialisten wiedergeben oder den Standpunkt eines talentierten Lobbyisten. Heutzutage ist die Kontroverse in Mode, nicht die Nachdenklichkeit, und wir neigen dazu, nur die Argumente der jeweiligen Interessengruppen zu hören. Selbst wenn diese wissen, dass sie unrecht haben, geben sie das niemals zu. Sie alle kämpfen für das, was ihre Mitglieder oder ihre Auftraggeber wollen, während sie behaupten, für die Menschheit zu sprechen. Das ist sehr unterhaltsam, aber welchen Nutzen hätten ihre Reden dereinst für die Überlebenden einer Überschwemmung oder Hungersnot? 

Wenn sie die schönen Worte in einem aus dem Schutt gezogenen Buch läsen, würden sie daraus erfahren, was schiefgelaufen ist und warum? Was würde ihnen das Traktat eines grünen Lobbyisten nützen, die Pressemitteilung eines multinationalen Stromerzeugers oder der Bericht eines Regierungsausschusses? Noch schlimmer wäre für unsere Überlebenden, dass die objektive Sicht der Wissenschaft so gut wie unverständlich ist. Wissenschaftliche Aufsätze und Bücher sind so undurchschaubar, dass selbst Wissenschaftler nur die ihrer eigenen Spezialdisziplin begreifen.

Ich bezweifle, dass außer jenen Spezialisten jemand mehr als ein paar der jede Woche in <Science> oder <Nature> veröffentlichten Artikel verstehen kann.

Durchstöbern Sie die Regale einer Buchhandlung oder öffentlichen Bibliothek nach einem Werk, das klipp und klar erklärt, wie es um die Erde steht und wie es dazu gekommen ist. Sie werden es nicht finden. Die Bücher dort handeln von den Dingen, die im Augenblick gerade angesagt sind. Sie sind vielleicht gut geschrieben, unterhaltsam oder informativ, aber nahezu keines geht über den aktuellen Kontext hinaus. Sie nehmen so viel als gegeben hin und vergessen, wie hart die wissenschaftlichen Erkenntnisse erworben wurden, die uns das bequeme und sichere Leben ermöglichten, dessen wir uns erfreuen. 

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Wir sind uns der einzelnen Geniestreiche, die die Zivilisation begründeten, so wenig bewusst, dass wir in unseren Bücherregalen solch extravaganten Themen wie Astrologie, Kreationismus und Homöopathie heute gleich viel Platz einräumen. Zunächst fanden wir solche Themen unterhaltsam, oder wir pflegten damit unsere Hypochondrie. Jetzt nehmen wir sie ernst und gehen damit um, als handelten sie von Tatsachen.

Stellen Sie sich die Überlebenden einer untergegangenen Zivilisation vor. Stellen Sie sich vor, wie sie versuchen, mithilfe der Informationen aus einem zerfledderten Buch über alternative Medizin mit einer Choleraepidemie fertig zu werden. Doch in den Schuttbergen wird eher ein solches Buch in lesbarem Zustand überlebt haben als eine medizinische Fachveröffentlichung.

Wir brauchen ein Buch des Wissens, das so gut geschrieben ist, dass es eine Literaturgattung eigener Art begründet. Ein Werk für alle, die sich für den Zustand der Erde und unsere eigene Lage interessieren — ein Handbuch, wie man gut lebt und wie man überlebt. Seine Qualität müsste sein, dass es das Bedürfnis nach Unterhaltung ebenso befriedigt wie das nach vertiefter Lektüre, dass es als Nachschlagewerk genauso wie als Grund­schul­buch dienen kann.

Sein Spektrum würde von einfachen Dingen wie dem Entfachen eines Feuers bis hin zu unserem Ort im Sonnensystem und im Universum reichen. Es wäre ein Leitfaden der Philosophie wie der Naturwissenschaft — es würde uns einen Blick von außen auf die Erde und auf uns selbst ermöglichen. Es würde die natürliche Auslese aller lebenden Organismen erklären und die entscheidenden Fakten der Medizin vermitteln, einschließlich des Blutkreislaufs und der Funktion der Organe. Die Entdeckung, dass Bakterien und Viren Infektionskrankheiten hervorrufen, ist relativ jungen Datums; stellen Sie sich die Folgen vor, wenn solches Wissen verloren ginge. In ihrer Zeit gab die Bibel die Richtlinien für das Verhalten und für das Gesundbleiben vor. 

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Wir brauchen ein neues Buch wie die Bibel, das aber auf wissenschaftlicher Grundlage denselben Zweck erfüllt. Es müsste Eigenschaften wie Temperatur, die Bedeutung ihrer Skalen und die Methoden ihrer Messung erklären. Es müsste das Periodensystem der Elemente auflisten. Es würde eine Darstellung der Luft, der Gesteine und der Meere enthalten. Es würde den heutigen Schulkindern zum angemessenen Verständnis unserer Zivilisation und unseres Planeten verhelfen. Und es würde das in einem Alter tun, in dem der kindliche Geist am aufnahmefähigsten ist, und ihnen Fakten liefern, die sie ihr Leben lang nicht vergessen würden. Es wäre auch das Überlebenshandbuch für unsere Nachfolger. Ein Buch, das einfach da ist, sollte es zur Katastrophe kommen. Es würde helfen, die Wissenschaft als Teil unseres kulturellen Erbes wieder aufzubauen. Was immer an der Wissenschaft falsch sein mag, sie liefert noch immer die beste Erklärung der materiellen Welt.

Man darf noch nicht einmal daran denken, solch ein Buch in Form von magnetischen oder optischen Medien zu produzieren oder überhaupt irgendwelchen Medien, die sich nur mit Computern und Elektrizität lesen lassen. In solcher Form gespeicherte Worte sind so flüchtig wie das Geschwätz des Internets und würden eine Katastrophe niemals überdauern. Nicht nur diese Speichermedien selbst sind vergänglich, zum Lesen braucht man auch noch spezifische Hard- und Software. Bei dieser Technologie ist Kurzlebigkeit die Regel. 

Moderne Medien sind für die langfristige Speicherung weniger zuverlässig als das gesprochene Wort. Sie brauchen die Unterstützung einer Hochtechnologie, die wir nicht als gegeben nehmen können. Wir benötigen ein Buch, das mit langlebiger Tinte auf haltbares Papier geschrieben ist, es muss klar, vorurteilslos, genau und auf dem neuesten Stand sein. Vor allem müssen die darin enthaltenen Informationen so verlässlich und glaubwürdig sein wie die unserer besten Nachrichtenagenturen.

Während der finsteren Zeiten unserer früheren Geschichte bewahrten die religiösen Orden in ihren Klöstern den Kern dessen, was unsere Zivilisation ausmacht. Vieles davon war in Büchern niedergeschrieben, die die Mönche pflegten und die sie als Teil ihrer Übungen lasen. Leider gibt es keine Menschen mehr, die sich dazu berufen fühlen.

Heute hat sich so ungeheuer viel Wissen angehäuft, dass keine einzelne Person es bewältigen kann. Folglich wird es aufgeteilt und in Untergebiete zergliedert. Jedes Thema wird zum Zuständigkeitsbereich eines professionellen Spezialisten. Die meisten sind auf ihrem Gebiet Experten, auf anderen aber Ignoranten — als zu Höherem berufen empfindet sich kaum jemand.

Abgesehen von vereinzelten Instituten wie dem <National Centre for Atmospheric Research>, das an einem Berghang in Colorado liegt, gibt es keine modernen Gegenstücke der Klöster. Wer würde also auf das Buch aufpassen? Ein Buch des Wissens, das mit Autorität geschrieben und so hervorragend zu lesen ist wie die Lutherbibel, braucht vielleicht keine Wächter. Es würde sich wohl das notwendige Ansehen erwerben, um in jedem Heim, in jeder Schule, in jeder Bücherei und an jedem Ort des Glaubens vorhanden zu sein. Dann hätte man es immer bei der Hand, was auch passieren mag.

Inzwischen sammeln sich in der heißtrockenen Welt Überlebende für ihre Reise zu den neuen arktischen Zivilisations­zentren; ich sehe sie in der Wüste, wenn der Morgen dämmert und die Sonne ihre brennenden Strahlen über den Horizont auf das Lager wirft. Die kühle, frische Nachtluft hält noch eine Weile vor, dann löst sie sich wie Rauch auf, und die Hitze nimmt das Zepter in die Hand. Ihr Kamel erwacht, blinzelt und erhebt sich langsam auf die Knie. Die wenigen übrig gebliebenen Stammesmitglieder sitzen auf. Das Kamel schnaubt und macht sich auf den langen, unerträglich heißen Weg zur nächsten Oase.

227-228

 

Ende

 

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John Brandenburg Mars 1999 

 

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