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Die Schmach des verlorenen Lebens

Drittes Zwiegespräch  

 

Über die Proleten-Kultur des Ostens und die Arbeitssüchtigen des Westens  —  über den Fetisch­charakter der D-Mark und das Geld als wirksamstes aller Entfremdungsinstrumente  —  über die Sehnsucht nach Autoritäten im Osten und den Konservativismus der Nachkriegszeit im Westen  —  über das neue Sicherheitsbedürfnis im Osten und den Zusammenhang zwischen politischer Einstellung und Persönlichkeitsstruktur im Westen  —  über Apparatschiks, Gefühlsstau und Fremdenhaß und die West-Ost-Transfusion neuer Autoritäten  —  über die gebrochene nationale Identität der Deutschen und den inneren Faschismus  —  über Schuld, Vergebung und die Voraus­setzungen für Versöhnung 

 

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Moeller: Zu den wichtigsten Werten der westlichen Gesellschaft zählt die Leistung. Welchen seelischen Stellenwert hatte die Arbeit bei euch, welche Grundhaltung nahm man ihr gegenüber ein, und gibt es zwischen dem Berufsleben im Osten und im Westen wesentliche Differenzen?

Maaz: Ich beginne vielleicht bei dem zunehmenden Problem der Arbeitslosigkeit bei uns. Sie ist für viele Menschen eine Tragödie, eine Schmach. Es trifft zwar zu, daß manch einer — wie im Westen — seine Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit noch als eine Art Urlaub versteht, in dem er endlich mal das tun kann, wozu er sonst keine Zeit hatte. Wenn ich mit den Betroffenen aber intensiver darüber spreche, habe ich oft das Gefühl, daß dieses Nicht-Ernstnehmen nur eine Abwehrreaktion ist, um das Entwürdigende und Diffamierende der Situation nicht an sich herankommen zu lassen.

Und wenn man länger miteinander spricht, kommen auch Tränen der Verzweiflung und Enttäuschung, denn die meisten schämen sich einfach, ohne Arbeit zu sein.

Arbeit wurde bei uns sehr positiv bewertet. Sie gab Sinn und das Gefühl, etwas wert zu sein. Besonders die Arbeiter in den Betrieben und die Handwerker kannten ihre eigene Bedeutung. Hinzu kam der Arbeitskult, der mit der Ideologie von der Arbeiter- und Bauernmacht zusammenhing. Arbeit wurde heroisiert, eine ganze Kunstrichtung — der «sozialistische Realismus» — lebte davon. Den Arbeitenden wurde suggeriert, daß sie die Privilegierten seien («Alles zum Wohle des Volkes!»). Sie wurden durch Wettbewerbe, Prämien, Urkunden und sonstige Auszeichnungen «geehrt». Und diese Propaganda hatte durchaus Wirkung. 

Die Mischung aus Lüge, Manipulation und wirklicher Wertschätzung hat jedenfalls vielen einfachen Menschen geholfen, sich von der Misere ihres Alltags mit Hilfe der Arbeit abzulenken. Sie hat zugleich — sosehr ich die Würdigung der Arbeit befürworte — zu einer kleinbürgerlichen Alltagskultur geführt, zu einem für unser System typischen Proleten-Niveau im negativsten Sinne.

Arbeit war bei uns aber auch ein Mittel des Protestes: Man leistete passiven Widerstand durch Schlendrian und Schludrian, durch Gleichgültigkeit und kleine Diebstähle am «Volkseigentum», durch Plaudern und Einkaufen während der Arbeitszeit. Dieser Verlust an Arbeitsproduktivität hat das System ökonomisch letztendlich zu Fall gebracht. Er hatte aber auch äußere Gründe, denn bestimmte Waren gab es einfach nur ganz selten. Zum Beispiel Bananen. Wir werden ja sowieso als «Bananenfresser» bezeichnet, eine Metapher für unsere Geilheit auf Mangelware. Wenn es wirklich mal welche gab, dann waren sie höchstens eine Stunde zu haben, und wer Bananen kaufen wollte, mußte just zu dieser Stunde einkaufen gehen, denn sonst bekam er keine mehr. So verließ mancher einfach seinen Arbeitsplatz und ging einholen, was auch meistens toleriert wurde. Es herrschte einfach eine laxere Einstellung zur Arbeit. Alles wurde nicht so tierisch ernst genommen.

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Wir hatten zwar eine großtönende Leistungsideologie, aber das Leistungsprinzip wurde nie wirklich durch­gesetzt, weil einfach der Anreiz fehlte. Für wen oder was sollte denn gearbeitet werden? Mehrarbeit brachte auch nicht viel mehr Lohn ein, und für mehr Geld war nicht unbedingt mehr zu kaufen. Die innere Distanz zum politischen System hat dann das übrige getan, die Arbeit «gemütlich» anzugehen. Bestraft wurde das auch kaum, jedenfalls nicht wirksam, da Entlassungen nach dem Arbeitsgesetz so gut wie unmöglich waren.

Schwieriger war es für die sogenannten «Geistesarbeiter», deren Arbeitsprodukt nicht so greifbar war und die die Linie der Partei aufzubereiten oder durchzusetzen hatten. Sie gerieten oft in die Mühlen des Interessenkonfliktes zwischen Obrigkeit und Untertanen und mußten sich sehr wohl fragen: Was mache ich da eigentlich, wem dient das?

 

MoellerAn wen denkst du bei dem Begriff «Geistesarbeiter»?

Maaz:  Ich denke vor allem an die Wissenschaftler, Techniker, Lehrer und Künstler, die die marxistisch-leninistische Doktrin auszugestalten hatten oft genug furchtbar einengend, verlogen oder einfach nur peinlich. So war Kunst vor allem «Staatskunst». Wer etwas anderes wollte, setzte sich der Gefahr der Verfolgung und Ausgrenzung aus. Oder er bekam einfach keine Aufträge mehr und hatte Mühe, wirtschaftlich zu überleben.

Moeller: Und wie war es für diejenigen, die für das System waren? Die gab's doch auch, oder nicht?

 

Maaz: Natürlich gab es die auch. Aus psychotherapeutischer Perspektive waren dies diejenigen Menschen, die der Illusion nachgingen, sie könnten sich durch Leistung und Anstrengung «Liebe» verdienen. Sie waren bestrebt, den Mangel an Zuwendung und Bestätigung über die Leistungsstrecke zu kompensieren — der Leistungssport war bei uns die abnormste Blüte dieser Fehlhaltung. Diese Menschen haben viel gearbeitet und sich für das System abgerackert, um Anerkennung zu bekommen. Faktisch wurde ihre innere Bedürftigkeit ausgebeutet. Das System behauptete zwar, es hätte die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen abgeschafft, doch es beutete gerade die Schicht der Funktionäre, Abteilungsleiter und Meister auf psychologische Weise gnadenlos aus.

Aus innerer Not verzehrten sich diese für das System und wurden folgerichtig auch häufiger in der zweiten Lebenshälfte psychosomatisch krank.

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Moeller: Ich könnte versuchen, das westdeutsche Bild dagegenzuhalten. Wir gelten zwar als eine fleißige Nation — und daran muß auch etwas sein —, aber in der Einstellung zur Arbeit hat im Westen ein dramatischer Wandel stattgefunden. Viele Untersuchungen zeigen, daß die frühere Auffassung, Beruf und Arbeit seien eine Berufung, die man mit ganzer Seele annimmt, abgelöst wurde durch eine Haltung, die in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten noch als unmögliche «amerikanische» Auffassung des Berufes galt: die Arbeit als «Job» und nicht mehr als ein und alles. Diese Haltung scheint sich in Westdeutschland mehr und mehr durchzusetzen.

Es könnte sein, daß auch die 68er Revolution, die zwar de facto wenig bewirkt hat, die aber doch als Symptom des Bewußt­seinswandels in Deutschland gelten kann, mit ihrer Aufklärungsarbeit, Arbeit sei nur etwas Funktionales und diene nicht wirklich der Selbstintegration, erreicht hat, daß die Arbeit heute als eine Form des Leistungsdrucks angesehen wird. Hinter diesem Druck steht natürlich die ganze selbstentfremdende Konkurrenz der Konsumwelt. Und die Freizeit ist ja auch wirklich attraktiver geworden als die Arbeit, es gibt immer etwas zu erleben. Hinzu kommt der starke Strukturwandel der Wirtschaft, der auch zu einer ständigen Neuorientierung im Beruf führt. Einige sagen schon, es sei abzusehen, daß jeder Mensch in Zukunft während seines Lebens mehrere Berufe ausüben und mehrere Ausbildungen durchlaufen muß. Die Entwicklung der Wirtschaft und die von den Arbeitenden geforderte Mobilität machen also eine lebenslängliche Bindung und Identifizierung mit dem Beruf gar nicht mehr möglich. Der Beruf als Lebensaufgabe wandelte sich zum Job durch Konsum, Wirtschaftswandel und die Erkenntnis, daß Funktionalität im Leben nicht alles sein kann.

Andererseits hat die Arbeit für mich nichtsdestotrotz eine fatale seelische Funktion als Ablenkung von sich selbst und von den inneren Konflikten. In meinen Augen tut sich hier auch im Zuge der Emanzipation eine ganz verteufelte Falle auf, denn die Emanzipationsbewegung versucht ja in Deutschland mit Recht, die Minderbewertung der Frau aufzuheben und der Frau ein gesellschaftliches Leben zu verschaffen, das dem des Mannes gleichrangig ist.

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Als erstes Ziel gilt die Gleichbezahlung der Berufe. Eine Frau soll genausoviel Geld bekommen wie ein Mann, wenn sie die gleiche Arbeit leistet, was noch längst nicht durchgesetzt ist. Das Streben der Emanzipation geht letztendlich dahin, daß die Frau ebenso berufstätig ist wie der Mann. Das bringt sie aber in Konflikt mit ihrem eigenen Frau- und möglichen Muttersein. Sie muß gleichzeitig für die Kinder wie für den Beruf dasein. Wenn sie aber beides will, ist sie im Beruf automatisch abgewertet. Das geht gar nicht anders.

Ich habe das kürzlich in meiner Abteilung an der Universität miterlebt: Wenn eine Frau ein Kind bekommt, muß sie mindestens während des ersten Erziehungsjahres ersetzt werden. Das ist praktisch gar nicht möglich. Eine Abteilung wie die der Medizinischen Psychologie, die ich am Universitätsklinikum leite, kann sich das unter Umständen noch gerade eben leisten. Wir können Ersatzpersonen einstellen, aber diese sind alle nicht so eingespielt und ausgebildet. Daß die werdende Mutter, die im Beruf ausfällt, nicht zu ersetzen ist, macht genau die wirtschaftliche Minderung der Frau aus.

Ein Betrieb, der in starkem Maße leistungs- und konkurrenzorientiert ist, kann sich einen einjährigen Ausfall einer Frau kaum leisten, zumal wenn sie höher qualifiziert ist. Die ganze Arbeitswelt muß im Grunde neu durchdacht werden hinsichtlich des menschlichen Zusammenlebens. Wir müssen ganz neue «Lebens­erfindungen» machen. Die Arbeit muß sich am Leben der Menschen orientieren und nicht primär an dem Profit der einzelnen Firma. Doch der Profit der Firma ist auch wichtig — das ist das Dilemma. Die Frau landet dadurch in einer Falle. Zugunsten ihrer langersehnten gesellschaftlichen Anerkennung strebt sie entsetzlicherweise gerade eine funktionale, technokratisierende und gleichsam lebensberaubende Tätigkeit an.

Das bedeutet, ihre Anerkennung wird über den Beruf, über die Leistung erlangt und nicht über die Zuneigung in menschlichen Beziehungen. Es hat einfach einen hohen Stellenwert für eine Frau, das habe ich x-mal in meinen Paargruppen erlebt, wenn sie einen Beruf hat.

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Eine gesellschaftliche Anerkennung wie die durch das Geld und die berufliche Tätigkeit ist offensichtlich mit Haus- und Kinderarbeit nicht zu erlangen. Dieser Zustand wäre vielleicht zu ändern, wenn Elternarbeit genauso bezahlt würde wie Berufsarbeit. Dann erstreckte sich aber die finanzielle Dimension bis in das intime Privatleben hinein — vielleicht geht es nicht anders. Ich denke zum Beispiel an eine Frau, die sich innerhalb der Paargruppe so weit selber fand, daß sie ihr Abitur nachmachte, eine Spezialausbildung absolvierte und einen guten Arbeitsplatz fand. In diesem Job einer amerikanischen Firma steigt sie jetzt Stufe um Stufe höher und erkennt in der Gruppe, wie sie dabei zunehmend ihr Leben verliert. Sie hat die gesellschaftliche Anerkennung im gleichen Maße gewonnen, wie sie ihre Lebendigkeit und ihr Selbst verloren hat. Das betrachte ich als eine große Schwierigkeit im Berufsleben der Bundesrepublik, habe aber das Gefühl, daß diese Problematik überhaupt noch nicht richtig diskutiert wird. Nur bei Gerichtsverhandlungen wird die Hausarbeit ganz anders bewertet. Ein einfacher Arbeiter könnte danach seine eigene Frau überhaupt nicht bezahlen. Eine Mutter zweier Kinder, die einen Haushalt führt, müßte heute brutto etwa DM 3000 bekommen — das steht aber natürlich vollkommen außer Reichweite.

Die Probleme, die ihr hattet, haben wir gar nicht. Zwar gibt es auch bei uns neurotisierende Arbeits­verhältnisse oder inhumane Jobs, gegen die sich die Leute zur Wehr setzen, doch bestimmt Protest gegen irgend etwas in keiner Weise den Arbeitsprozeß. Bestimmend ist vielmehr die berufliche Aktivität selbst, denn der Beruf ist mehr mit mir verbunden als ich mit mir selbst das ist der Punkt. Der Beruf wirkt wie ein Suchtmittel. «Workaholics» heißen die Arbeitssüchtigen bei uns. Die gibt es bei euch wohl nicht...

 

Maaz: Arbeitssüchtige habe ich auch schon kennengelernt. Aber das ist wohl nicht vergleichbar mit euren Verhältnissen. Interessant ist, was du über die Frauenproblematik gesagt hast. Was du als Entwicklung im Westen beschreibst, ist meiner Meinung nach eine Fehlhaltung, die es in der DDR von Anfang an gab — ein totales Mißverständnis der Emanzipation.

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Es wurde bei uns nie ernsthaft darüber nachgedacht, was Weiblichkeit und Mütterlichkeit sein könnten, sondern Frauenemanzipation wurde praktisch mit Berufstätigkeit gleichgesetzt. Die Frau sollte endlich auch ihren « Mann » stehen in der Arbeitswelt. So wurden bei uns Frauen Traktoristinnen, Kranführerinnen, Baggerfahrerinnen, Maurerin — häufiger übrigens als Direktorin! Die schwerwiegenden Folgen dieses einseitigen Verständnisses des Frauenproblems und damit des Geschlechterproblems — die Vernachlässigung der Beziehung zu den Kindern und in der Partnerschaft — wurden übersehen. Es war auch kein Thema, inwieweit Männerideale überhaupt anstrebenswerte Ziele seien.

Genausowenig war die Frage, was Männlichkeit und Vaterschaft bedeuten, Gegenstand ernsthafter Erörterungen. Mir graut es vor den sogenannten «emanzipierten» Frauen, die lediglich eine Männer-Imago angenommen haben und dazu eine sehr zweifelhafte, die Werte hochhalten wie Leistung, Stärke, Erfolg oder Dominanz. Die «Emanzen» als das Abbild falscher Männlichkeit und voller tragisch-verlogenem Stolz, daß «man(n)» den Beruf und die Kindererziehung « unter einen Hut» hat bringen können, daß «man(n)» beides erfolgreich «gemeistert» hatte. Die armen Kinder! Und was für eine groteske Partnerschaft, denn die Männer gaben dann oft das passende Bild des «Hausmann-Tölpels» statt des «Hausfrau-Hascherls» ab.

 

Moeller: Vielleicht ist das ja der Beitrag des Ostens für den Westen: Was wir anstreben, war bei euch alles schon da — und es war trotzdem nicht das Paradies. Wichtig erscheint mir auch die Konkurrenz zwischen Beruf und Beziehung. Ich erlebe das in meinem eigenen Leben. Ich arbeite, meine Partnerin arbeitet — doch beide Zeiten sind nicht deckungsgleich. Wir können uns schon aufgrund der äußeren Umstände viel zuwenig Zeit füreinander freihalten, auch wenn wir noch so entschlossen dazu sind. Dabei habe ich noch einen Beruf ohne fixierte Arbeitszeiten, weil ich als Professor meine Dienstzeiten selber festlegen kann. Ich bin also höchst privilegiert. Trotzdem haben wir zuwenig Zeit für unsere Beziehung. Der Beruf wirkt auch zeitlich gesehen viel tiefer ins persönliche Leben hinein, als es den reinen Arbeitsstunden entspricht.

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Ganz abgesehen vom Engagement für die jeweilige berufliche Tätigkeit, die im Westen vielleicht wegen des stärkeren offenen Konkurrenzkampfes so hoch ist. Man identifiziert sich oftmals in starkem Maße mit seinem Beruf, so daß er empfindlich in die persönlichen Beziehungen hineinwirkt. Man ist dann auch jenseits der Arbeitszeit mit beruflichen Dingen beschäftigt. Das färbt natürlich die ganze Beziehung ein und drückt sie gewissermaßen an die Wand.

 

Maaz: Zeitprobleme in der Partnerschaft kenne ich fast nur von Schichtarbeitern. Sonst gab es so etwas bei uns eigentlich nicht. Für die Freizeit wurde nicht viel Attraktives geboten und Mehrarbeit kaum honoriert, so daß man stärker aufeinander angewiesen war. Man saß öfters zusammen, auch im Freundeskreis, man machte kleine Ausflüge und Spaziergänge, man sah gemeinsam fern.

Was die Beziehung zwischen Arbeit und Geld anbetrifft, sehe ich deutliche Unterschiede zwischen beiden Systemen. Die DDR ist ja vor allem aus wirtschaftlichen Gründen kollabiert. Es gab keinen hinreichenden Anreiz, die Arbeit so zu machen, daß sie im Vergleich zum Westen effektiv ist. Wir haben ja im Grunde genommen nicht schlecht gelebt, keiner hat gehungert — nur im Vergleich mit dem Überfluß im Westen haben wir uns arm gefühlt. Die D-Mark bekam auf diese Weise einen Fetischcharakter. Und ganz offensichtlich ist die Honorierung der Arbeit durch eine harte Währung sehr effektiv. Sie fördert das Konkurrenz­verhalten. Je mehr ich verdiene, desto mehr kann ich mir leisten — je mehr ich mir leiste, desto mehr muß ich verdienen. Es entsteht eine Spirale, die bei uns nicht funktionierte. Erst jetzt setzt das bei uns plötzlich rasant ein.

Im medizinischen Sektor erlebe ich das als besonders deprimierend. Wir hatten seit Jahren eine Auseinander­setzung zwischen biologisch-naturwissenschaftlich orientierter und psychosozialer Medizin. Durch unser Engagement konnten wir — auch gegen die staatliche und akademische Haltung — viele Kollegen davon überzeugen, welch große Bedeutung psychosoziales Denken und Handeln in der Medizin hat. Jetzt muß sich auf einmal überall alles « rechnen ». Das ist die neue Richtschnur, auch in der Medizin.

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Die Ärzte, die sich niederlassen wollen oder dazu gedrängt werden, stellen fest, daß sie wirtschaftlich nur überleben können, wenn sie organisch-technische Medizin betreiben: viel Labor, viel Gerät, viele Untersuchungen — das bringt Geld. Wenn sie dagegen Gespräche führen, können sie wirtschaftlich nicht überleben, so daß alles, was wir mühsam erreicht haben, mit einem Handstreich verlorenzugehen droht.

Mit der Verordnung von Medikamenten ist es noch schlimmer. Nicht nur, daß es wenig Zeit braucht zu rezeptieren, also mehr Geld bringt, je schneller man rezeptiert, sondern die Pharmakonzerne ködern die Kollegen regelrecht mit Einladungen zu Seminaren in schöne Urlaubsgegenden, mit Geschenken und Gewinnbeteiligung bei der Verschreibung von Medikamenten. Das Geld schafft es in kürzester Zeit, Einstellungen und Haltungen zu verändern. Dies ist nicht nur ein moralisches Problem, sondern ein solches Verhalten ist offensichtlich notwendig, um in einer eigenen Praxis überleben zu können. Der Patient bekommt in Zukunft also noch mehr Technik, Medikamente und immer weniger Arzt — das Geld führt also dazu, Beziehungen einzuschränken und die menschliche Seite zu vernachlässigen. Es wird zu einem Manipulationsinstrument, das wesentlich effektiver ist als alle früheren Druckmittel bei uns.

 

Moeller Diese spezielle Situation der Medizin ist für mich ein Symbol für die Rolle des Geldes insgesamt. Die von mir erwähnte Frau, die durch die Paargruppe eine glänzende emanzipatorische Entwicklung erlebte, hat — ebenfalls dank der Paargruppe — zugleich deutlich wahrgenommen, wie sie sich dabei selbst verlor. Deshalb ist sie immer wieder im Zweifel, ob sie weitermachen soll. Sie sagt, sie werde wahnsinnig verführt. Sie wird zur Assistentin oder Oberassistentin befördert, und die Stufen ihres Aufstiegs werden mit Gold ausgelegt. Die Höhe des Gehaltes spielt für die Firma eine zweitrangige Rolle, doch wird die Frau mit diesem Geld auch «entselbstet». Das Geld hat ja nicht nur die Funktion, sich etwas leisten zu können, darum geht es der Betreffenden gar nicht — das Geld ist vielmehr der Träger der gesellschaftlichen Anerkennung, also jener Liebeszuwendung, die einem im Grunde fehlt. Die Frau lebt zwar in einer nach meinem Empfinden genügend guten Beziehung, doch sie braucht dieses Geld aus seelischen Gründen.

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Was den Gegensatz zwischen psychosozialer und technischer Medizin betrifft, ein Standardthema in meinen Vorlesungen, so versuchen die Mediziner in Westdeutschland, allmählich umzudenken. Sie haben beispielsweise erkannt, daß die Gebührenordnung der Krankenkassen die technische Medizin hoch belohnte und — wie du sagtest die psychosoziale kaum förderte. Nun versucht man, die Kluft zumindest abzuschwächen, indem man die Gesprächszeiten zwischen Ärzten und Patienten höher vergütet und die Bewertung der technischen Medizin dadurch relativ abschwächt. Doch ist das bisher nur eine winzige Veränderung. Einen Herzinfarkt sieht man heute immer noch als eine rein somatische Erkrankung an, und die vielen Apparate müssen einfach eingesetzt werden; eine vernünftige psychosoziale Prophylaxe bleibt aus, obwohl sie längst machbar wäre. Die psychosoziale Medizin wird nämlich auf beiden Seiten, auf Seiten der Ärzte und auf Seiten der Patienten, nicht sehr geschätzt. Man könnte sich doch freuen, daß man die Krankheiten endlich so behandeln kann, wie sie wirklich behandelt werden müßten. Aber die Patienten wollen die psychosoziale Medizin gar nicht, weil sie sich plötzlich selbst begegnen würden. Und die meisten Ärzte, die eben auch nur Menschen sind, wollen sie ebensowenig.

In meinen Augen verstärkt sich die «Entselbstung» wie eine Spirale: Das Selbst ist aus der eigenen und der nationalen Entwicklungs­geschichte heraus belastet. Man nimmt deshalb gern von ihm Abstand, indem man viel arbeitet; oder viel konsumiert; oder viel Massenmedien hört; oder indem man einen Partner wählt, um den man sich zentrieren kann; oder indem Mütter sich auf ihre Kinder werfen, um von sich selber abzulenken. Wenn man sich aber vom eigenen Selbst auf diese Weise entfernt, bleibt es brach liegen und gerät noch mehr in Verfall. Dadurch wird die innere Lage noch schlimmer. Dann ist man noch mehr gezwungen, sich den vielfältigen Formen der Sucht zuzuwenden, und stürzt sich noch mehr in die Verführungen.

 

Maaz: Was Parteidisziplin und Repression eines totalitären Systems nur mühsam erreicht haben, schafft das Geld mit Leichtigkeit. Das Geld scheint ein wirksameres Entfremdungs-, Entselbstungs- und Unterdrückungsinstrument zu sein als eine politische Diktatur.

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Moeller: Genauso ist es. Ihr kommt aus einer Welt der neurotischen Hemmung durch ein malignes Über-Ich, ein malignes Gewissen. Ihr habt eine Neurose entwickelt, die im wesentlichen aus Hemmung besteht. Jetzt kommt ihr in eine Welt, in der ihr statt einer Neurose eine Perversion entwickeln müßt. Die Perversion ist ja dadurch gekennzeichnet, daß ihr Symptom Befriedigung verschafft. Und genau das ist beim Geld der Fall. Man kann eine Perversion deswegen auch so schwer behandeln. Und auch wir beide werden doch mit diesen ernsten Zwiegesprächen im Nu durch Leute leichteren Sinnes vom Tisch geblasen, die sagen, wir gehen heute abend schön essen, und damit ist unser Leben gelaufen. Oder wie es in der alternativen Szene manchmal heißt: Wir beschließen, ab heute ein problemabstinentes Leben zu führen.

 

Maaz: Im Westen leidet man also weniger, als wir mit unserer Gehemmtheit und Depressivität gelitten haben. Aber — und das gehört ja zur Perversion in der Regel dazu — man macht andere leiden.

Moeller: Ja, das dürfte noch hinzukommen.

Maaz:  Ich denke zum Beispiel an die Umwelt, die «neue Armut», die Arbeitslosigkeit und die Dritte Welt. Der Reichtum auf der einen Seite verstärkt das Elend auf der anderen Seite; die Befriedigung von heute schafft ernste Probleme in der Zukunft.

 

Moeller: Mit der Umwelt habt ihr es allerdings wahrscheinlich noch schlimmer getrieben als wir. Der Vorwurf mit der Dritten Welt stimmt jedoch. Leute, die ein bißchen Verstand haben, wissen, daß unser Reichtum auf der Ausbeutung der Dritten Welt beruht. Aber ist da der Osten besser gewesen? Ich kann das nicht beurteilen, weil ich die politischen Zusammenhänge nicht übersehe.

Ich denke mir, andere leiden machen — was zur Perversion gehört — findet sich im Begriff Ellenbogen­gesell­schaft wieder. Doch ist diese gar nicht mehr so deutlich aufzuzeigen. Denn Leiden wäre ja wieder ein Hemmschuh, ein Aha-Erlebnis. Die Leute würden sich plötzlich sagen, wenn ich andere leiden mache, kriege ich Schuldgefühle — und das will ich auch nicht.

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Es geht deshalb viel raffinierter zu. Man macht eben nicht andere in wesentlicher Weise leiden, sondern saugt an den vielfältigen Zerstreuungen. Es gibt ein riesiges Zerstreuungsangebot, und es kann durchaus sein, daß die Leute eines Tages sagen: Was wollen wir denn überhaupt mit diesem Selbst? Mir fällt dazu ein Beispiel ein: Ein Mann wird von seiner Frau regelrecht zu mir in die Praxis geschleppt. Er hat einen hochkarätigen und spannenden Job, und beide meinen, ihre Beziehung sei nicht befriedigend genug, sie wollen sie entwickeln. Nach einiger Zeit in der Paargruppe ist der Mann soweit, daß er nicht mehr jeden Abend um 22.30 Uhr nach Hause kommt, sondern schon um 20.30 Uhr.

Nun sitzen sie vor ihrem Kamin, das Feuer brennt, aber der Mann denkt: Ich sitze vor diesem flackernden Feuer, doch was soll ich hier? Könnte ich nicht in dieser Zeit brennend wichtige Aufgaben in meinem Job erledigen? Was sitze ich hier untätig herum, was habe ich hier zu suchen? Auch die Seligkeit seiner Frau hilft nichts, er empfindet in sich selbst nur Leere. Und es hat sehr, sehr lange gedauert, bis er begriff, daß er sich einfach verloren hatte. Schließlich hat er seinen hochbezahlten Job aufgegeben und Medizin studiert. Er hat im Alter von über 40 Jahren angefangen, alles zu verändern.

 

MaazAllmählich begreife ich die merkwürdige Reaktion von uns Ostdeutschen auf die «Wende»: Wir sind geprägt von der permanenten Behinderung unserer Selbstentfaltung. Die vielfach gesetzten Hemmungen haben eine tiefe Selbstunsicherheit verursacht und einen inneren Halt unmöglich gemacht. Je weniger wir als Individuen akzeptiert waren, je weniger wir in unserem Fühlen und Denken bestätigt wurden und von der Fülle der Lebensmöglichkeiten ausprobieren konnten — je weniger innere Erfahrungen wir also machen konnten —, desto mehr sind wir nun von äußeren Autoritäten abhängig, die Halt und Orientierung geben. Deshalb haben wir uns nach der «Wende» auf den Westen gestürzt mit dem flehentlichen Ruf: « Kommt doch endlich, übernehmt uns, führt uns, saniert uns, bringt unseren Saustall endlich in Ordnung. Bringt uns euer Heil!» Unsere Entfremdung soll nun mehr mit wirksameren

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Mitteln nur symptomatisch behandelt werden. Wenn es nicht so ernst wäre, könnte ich fast darüber lachen, daß zum Beispiel viele Menschen bei uns glauben, West-Medikamente seien besser als unsere — obwohl sie die gleiche chemische Zusammensetzung oder pharmakologische Wirkung haben. Im Moment werden ja sogar West-Eier oder West-Milch unseren Produkten — auch wenn diese billiger sind — vorgezogen. Was soll man von so einem Volk halten?

 

Moeller:  Es findet sozusagen ein Austausch der seelischen Abwehrmittel statt.

Maaz: Unsere Mittel haben nicht mehr ausgereicht. Jetzt sollen bessere « Drogen » ran, die noch mehr high und noch schneller süchtig machen.

 

Moeller: Statt einer bitteren Pille nehmt ihr nun eine süße — so möchte ich sagen -, um euch selbst zu betäuben. 
      Hinzu kommen noch ganz andere Schwierigkeiten. Das Berufsleben ist sehr unübersichtlich geworden. Das erschüttert mich, weil ich selber die Berufswahl als eine große Qual erlebt habe. Zum Teil lag das daran, daß ich eigentlich alles hätte machen können, mir stand eine gewisse Breite zur Verfügung. Zum Teil aber war sie verursacht durch meine Neigung, künstlerisch tätig zu werden. Diese brotlosen Künste galten jedoch in einer Kaufmannsfamilie soviel wie die Pest. Wenn ich heute sehe, welche Vielfalt und Verwirrung im Berufssektor herrschen, dann entspricht das genau der Überfülle in den Regalen, die du angesprochen hast. Ich habe mir mal eine Liste aller Berufe in Form eines dicken Buches zur Hand genommen. Darin standen Berufe, von denen ich im Leben noch nie etwas gehört hatte. Dadurch wird es unglaublich schwierig, sich überhaupt zu entscheiden.

Darüber hinaus wird das Angebot an Berufen, die junge Menschen heute noch wählen können, um sich selber lebendig zu fühlen, also Berufe, die mit Menschen zu tun haben, immer kleiner. Ingenieur und technische Fachkraft kann man dagegen sofort werden. Allerdings ist man in solchen Berufen oftmals sehr viel weniger mit sich selbst zusammen. Man hat also heute gar keine Chance mehr, wirklich das zu wählen, was man möchte, weil sich die wirtschaftlichen Zwänge in eine vollkommen andere Richtung entwickeln. Vielleicht ist damit nur eine frühere Luxussituation vorüber. Nach meiner Meinung trägt das aber auch dazu bei, daß der Beruf zunehmend zum Job wird. Man sagt einfach: Gut, ich mach das halt, aber mein Herz hängt nicht daran.

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Maaz: Heißt das, daß die Vielzahl der Möglichkeiten und die wirtschaftlichen Zwänge häufig dazu führen, daß man sich auch falsch entscheidet? Daß man nicht den Beruf wählt, der zur inneren Befreiung und Befriedigung hätte führen können, sondern eher zum Gegenteil ?

 

Moeller: Ja, das meine ich. Es kommt noch hinzu, daß bereits bei der Berufswahl vorausgesetzt wird, daß man eine gewisse innere Identität besitzt. Man sollte wissen, was man eigentlich möchte. Das ist aber in den schwierigen seelischen Zeiten der Adoleszenz oft gar nicht gegeben. Darüber hinaus muß man eine gewisse Klarheit über das Angebot haben — wer hat diese aber noch? Man braucht ja ein ganzes Jahr, um allein alle diese Berufe einmal durchzugehen.

 

Maaz: Bei uns war dies auf eine andere Art und Weise ganz ähnlich — andere Mechanismen, aber vergleichbare Folgen. Bei uns wurden die jungen Menschen eher genötigt, bestimmte Berufe zu ergreifen. Sie wurden « gelenkt» nach Planvorgaben. Und wer nicht gleich einsichtig war, dessen « richtiges Bewußtsein » wurde angezweifelt und so unter eine moralisierende Nötigung gestellt. So haben viele bei uns einen Beruf erlernen müssen, den sie nie gewollt haben. Auch der letzte Rest an individuellen Wünschen wurde auf diese Weise mißachtet und die Einengung durch einen ungeliebten Beruf vollendet. Oberstes Gebot war, das Individuum solle seine Interessen zugunsten des Kollektivs, der Gesellschaft zurückstellen. Wem das gut gelang, der wurde als gereifte Persönlichkeit belobigt und dem wurde versichert, daß er Glück und Erfolg erwarten könne.

Durch unser Gespräch wird mir erst jetzt richtig deutlich, daß es zwar äußerlich sehr viele Unterschiede zwischen beiden Systemen gegeben hat, diese aber in den zentralen inneren Wirkungen durchaus vergleichbar sind: Auf der einen Seite die Fülle, die terrorisiert und Beziehungen entleert, auf der anderen Seite der Mangel, der zermürbt, bedrückt und die Menschen fehlleitet. Beides sind polare Gegensätze, die in den Wirkungen auf die Seele und die menschlichen Beziehungen aber vergleichbare Effekte haben.

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Moeller: Ja, das sehe ich auch so. Ich möchte noch auf einen Unterschied kommen, den ich nun1 wirklich deutlich zu sehen meine — auch auf die Gefahr hin, daß wir wieder etwas Gemeinsames entdecken. Eine Umfrage, die zum erstenmal Ost- und Westdeutsche umfaßte*, ergab, daß wir uns in vieler Hinsicht sehr ähneln, in mancher Hinsicht aber deutlich unterscheiden. Ein wichtiger Unterschied bestand darin, daß die Ostdeutschen sehr viel mehr für Sicherheit und Ordnung eintraten als die Westdeutschen. Diese Differenz hat mich sehr verblüfft. Warum ist das Sicherheitsbedürfnis in deinen Augen im Osten so stark?

 

Maaz: Da habe ich keine Schwierigkeiten, das zu verstehen. Von klein auf wurde bei uns Eigenständigkeit nicht nur nicht gefördert, sondern unterdrückt und Anpassung erzwungen. Individualität war verpönt. Der Befehl lautete: «Du hast dich ein- und unterzuordnen! Deine Meinung gilt nicht, du hast unsere zu übernehmen!» Das führte zu einer großen Selbstunsicherheit. Am Ende wußte keiner mehr, was er wirklich will und wer er wirklich ist. Das Ergebnis war todsicher Abhängigkeit. Die innere Unsicherheit sollte einfach durch äußere Sicherheit ersetzt werden. Disziplin und Ordnung waren von daher höchste Tugenden. Und der Sicherheitsapparat konnte auch deshalb so auswuchern, weil bei vielen Menschen ein ausgeprägtes unbewußtes Sicherheitsbedürfnis vorhanden war, um die eigene Ich-Schwäche zu verbergen. Viele von uns können schlecht bei sich selbst sein und fordern deshalb von anderen Führung, Lenkung, Schutz und Geborgenheit.

Sehr deutlich konnte man das nach der Grenzöffnung erleben. Mit der äußeren Befreiung konnten sehr viele gar nichts anfangen, und sie reagierten mit Angst. Sie wurden in eine äußere Freiheit gestoßen, die sie innerlich gar nicht leben und ausfüllen konnten.

 

*  Deutschland 2000, in: Süddeutsche Zeitung - Magazin vom 19.1.1991.

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Je weiter der äußere Rahmen ist, desto mehr muß man ja selbst bestimmen, was man will und wer man ist. Und das haben wir nicht gelernt, ja letztlich war es sogar bei Strafe verboten. Das damit verbundene Elend, die erfahrene Einengung und den Verlust an Lebensmöglichkeit und -qualität müßten wir jetzt eigentlich als schmerzlich und traurig empfinden — oder aber wir versuchen, rasch neue Autoritäten zu bekommen, die uns wieder Sicherheit und Geborgenheit geben und uns sagen, wo es langgeht. Auf diese Weise ersparen wir uns Bewegung im Sinne von belastender Bewegtheit, allerdings erneut auf Kosten unserer eigenen Lebendigkeit. In die allgemeinärztlichen Sprechstunden, so hörte ich von Kollegen, kommen in letzter Zeit auffällig viele Patienten mit Krankheitssymptomen im Bewegungsapparat; darin drückt sich in meinen Augen auch der Konflikt zwischen der neuen äußeren Bewegungsfreiheit, ja -nötigung und der alten inneren Gelähmtheit aus. Ich erinnere den Ausspruch eines jungen Mannes, der für viele ähnliche Empfindungen steht: «Ich bin plötzlich grenzenlos, das macht mir angst. Mit dieser Mauer hatte ich mich eingerichtet, kannte genau meine Möglichkeiten und Grenzen. Jetzt verliere ich dieses Korsett — und wer bin ich dann noch?»

 

Moeller:  Ich habe noch zwei andere Erklärungen für das unterschiedliche Sicherheitsbedürfnis. Zum einen bringt die Vereinigung mit sich, daß sich die ostdeutsche Identität stärker ändert als die westdeutsche. Westdeutschland wird vermutlich versuchen, daß sich gar nichts verändert. Die Leute wollen nach Möglichkeit ihren Stiefel weitermachen und sich nicht weiter irritieren lassen. Für euch bedeutet das in jedem Falle einen Heimatverlust, auch wenn diese Heimat gräßlich war. Wenn man so plötzlich in ein ganz neues Lebensfeld freigesetzt wird, werden jedoch die Ängste sehr groß und dementsprechend die Neigung, sich an irgend etwas festzuhalten. Sicherheit und Ordnung wären demnach zum Teil die Wiederholung der alten Heimat, zum Teil aber auch eine Antwort auf das aktuelle neue Ausgesetztsein.

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Außerdem könnte ich mir vorstellen, daß das Gefühl der Bedrohung durch Unordnung, Aufruhr, Skinheads und Rechtsextremismus nicht nur dadurch ausgelöst wird, daß es hier und da wirklich rechtsextreme Elemente gibt — sozialpsychologisch gesehen als Ausdruck der unterdrückten Wut —, sondern daß diese in der Phantasie der Ostdeutschen auch stärker erlebt und sozusagen erhöht wird. Anders gesagt: daß sich die Menschen durch den Ruf nach einer ordnenden Hand gewissermaßen vor ihren eigenen Aggressionen — eben der unterdrückten Wut — schützen möchten.

 

Maaz:  Das teile ich sofort. Zu den neurotischen Ängsten — Angst vor der Freiheit, Angst vor der Veränderung —, die Folge der erzwungenen Gehemmtheiten sind, kommen jetzt reale Ängste, wirkliche Enttäuschung und berechtigte Empörung hinzu. Die totale Umstellung unseres Lebens führt für viele zu einer existentiellen Bedrohung. Die großartigen politischen Versprechungen erweisen sich als Irrtum oder als Lüge im Dienste neuer Machtinteressen. Wir werden wieder auf die Zukunft vertröstet, doch damit hatte der Sozialismus uns auch schon vier Jahrzehnte hingehalten. Und die Empörung wächst mit der Art und Weise, wie wir politisch, ökonomisch und letztlich auch menschlich okkupiert und erneut mit den alten Tricks unterworfen werden, daß dies nur zu unserem Besten geschehe. So argumentierten schon unsere Eltern und erst recht die ehemaligen Funktionäre. Auf die alten Demütigungen, Kränkungen und Einengungen werden neue gesetzt, und bei allem sollen wir auch noch optimistisch sein. Das seien nur die Schwierigkeiten der Übergangszeit, hatte schon die Politbürokratie behauptet. Also, zur alten Wut kommt die neue hinzu. Aber aggressiv zu sein war immer extrem verpönt bei uns und sollten wir etwa den großzügigen Rettern, die uns mit Milliarden vollpumpen, jetzt noch undankbaren Protest entgegenschleudern? Nein, nein, wir sind gut erzogen, brav und angepaßt, und das soll auch so bleiben. Wir wollen doch die «erste erfolgreiche friedliche Revolution auf deutschem Boden» nicht beflecken.

Ich kann mir solch bittere Ironie nicht verkneifen und empfinde dabei bereits wieder Angst, ob ich damit nicht zu weit gehe. Auch das halte ich für typisch: Wir durften nie offen und ehrlich protestieren oder unsere Wut zeigen; wir durften uns weder abgrenzen

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noch «nein» sagen — dies galt als politisch subversiv und staatsgefährdend oder zumindest als ungehorsam und aufsässig. In Schülerbeurteilungen konnte man mitunter lesen: «... hat mit seiner eigenwilligen Meinung Schwierigkeiten, sich ins Kollektiv einzuordnen !» Also, eine gesunde Form von Aggressivität als Ausdruck von entsprechenden Gefühlen, als eine Form des Herangehens an Dinge und Personen, des Sichabgrenzens und Eigenständigkeit-Entwickeins war uns nicht vergönnt. Kein Wunder also, daß ein solcher Gefühlsstau einen idealen Nährboden bildet für Fremdenhaß, Radikalismus und Gewalt. Je stärker die Wut tief im Innern empfunden wird, desto mehr wächst auch der Ruf nach einer starken ordnenden Macht.

 

Moeller: Ich meine, es war euch nicht nur nicht möglich, aggressive Gefühle zu äußern, mit ihnen umzugehen und sie auch reifen zu lassen; vielmehr gibt es auch etwas, das im Osten, wenn auch auf andere Weise, ganz ähnlich war wie im Westen. In beiden Systemen sind die Menschen durch eine Entselbstung gegangen, durch eine Lebensentwicklung, in der sie nicht wirklich zu sich kommen konnten. Vielleicht ist das die tiefste Enttäuschung, die man im Leben erfahren kann. Und diese Enttäuschung muß eine große Wut hervorrufen — die Enttäuschungswut, nicht wirklich zum Leben gekommen zu sein. Ich müßte sie eigentlich auch im Westen finden, doch ist sie mir im Augenblick nicht besonders gegenwärtig.

 

Maaz: Deshalb wurde bei uns ja die «Gewaltfreiheit» so beschworen. Dies wäre gar nicht nötig gewesen, wenn die Menschen nicht voller berechtigtem Zorn gewesen wären. Die Schmach der Unterdrückung und Einengung, des letztlich verlorenen Lebens, verursacht unweigerlich abgrundtiefen Haß. Dieser Haß mußte mit großem moralischem Aufwand gezügelt werden. Unsere Friedfertigkeit erfuhr von allen Seiten höchste Anerkennung, und wir waren auch tatsächlich stolz darauf. Aber die Tragik dabei war, daß Wut und Haß weitgehend verborgen blieben.

 

Moeller: Natürlich gibt es auch in Westdeutschland ein Aufbrechen von Destruktivität auf den Straßen, von Kriminalität, die mir angst und bange macht. Diese nimmt wirklich amerikanische Verhältnisse an.

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Ich habe gerade in letzter Zeit scheußliche Erlebnisse gehabt: wie sich zwei Türken auf einem S-Bahnsteig in Hamburg zu Blutmatsch geschlagen haben. Das ist mir sehr nahe gegangen. Es bestand für niemanden eine Chance einzugreifen, teils aus Angst, teils aus einer Unmöglichkeit heraus zu verstehen, was eigentlich vor sich gegangen war, teils aus der Plötzlichkeit heraus. Und ich weiß von einer Bekannten, deren Sohn auf offener Straße von Skinheads zusammengeschlagen wurde. Ereignisse, die mich wirklich sehr erschrecken, weniger, was meine eigene Person betrifft, mehr wegen der Kinder. Ich habe jetzt schon öfter gehört, daß Kinder von der Schule kamen und zusammengeschlagen wurden. Da kommt etwas Ungewohntes auf uns zu, und ich glaube, es wird so weit kommen, daß wir wahrscheinlich die Hoffnung und den Anspruch auf eine friedvolle Gesellschaft aufgeben müssen. Diese Vorstellung läßt sich nicht mehr realisieren wegen der seelischen Verkrümmungen, die in dieser Nation mehr und mehr zutage treten.

 

Maaz: Diese Gewalt zeigt sich jetzt auch bei uns und nimmt mit erschreckender Schnelligkeit zu. Sie war schon immer vorhanden, nur wurde sie durch den Polizei- und Sicherheitsapparat unter Kontrolle gebracht. Jetzt fällt dieser Knüppel weg. Der äußere Führungs- und Orientierungsverlust und die neue kritische Lage provozieren Angst, und die angestaute Aggressivität, die in den Menschen schon lange schmort, bricht sich Bahn. Da ich im Moment keine Ansätze sehe, wie wir unsere seelischen Verbiegungen aufarbeiten könnten, werden sich die destruktiven Folgen wohl noch verstärken. Indem wir uns so schnell auf die neuen Hoffnungen stürzen, wollen wir unsere eigenen Störungen übersehen und ihnen entgehen. Das kann jedoch nicht gutgehen. Wir hatten das schon einmal in der DDR, als der Faschismus durch den Sozialismus überwunden werden sollte — was dabei herauskam, wissen wir inzwischen.

 

Moeller: Was uns im Grunde fehlt, ist ein jährlicher «Bericht zur psychosozialen Lage der Nation». Wir haben zwar einen «Bericht zur Lage der Nation», doch der behandelt im wesentlichen nur das Wirtschaftsleben. Die entsprechenden Fachleute müßten sich zusammentun, um einen Bericht zum Leben der Nation zu erstellen — dann könnten wir sehen, wo die wirklichen Kosten dieser Glanz- und Gloriagesellschaft liegen.

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Maaz: Die Reaktion auf mein «Psychogramm der DDR» findet im Westen merkwürdigerweise mehr Interesse als im Osten — was mir eigentlich gar nicht recht ist. Da es vor allem um unsere Situation geht, kann sich der Westler bequem zurücklehnen und sagen: « Seht mal, so ist das. So sind die da drüben. Wir sind fein raus. Wir müssen denen jetzt das richtige Leben beibringen!» Aber ich muß ehrlicherweise sagen, daß ich auch häufig gesagt bekam: « Das ist ja im Westen auch nicht anders!»

 

Moeller: Ja, natürlich.

Maaz:  Deshalb wünschte ich mir, daß Analysen auch von westlicher Seite kommen, Beschreibungen der psychosozialen Situation dort — damit wir schneller erfahren und begreifen können, daß es im Westen, obwohl äußerlich alles so hervorragend ist, doch ein beträchtliches Maß psychosozialer Not gibt.

 

Moeller: Ich bin seit einigen Jahren dabei, mit dem Buch «Männermatriarchat» — ähnlich wie du es für Ostdeutschland tatest — eine Art Psychogramm des seelischen Lebens in den Industrienationen zu entwerfen. Wenn die Frage lautet, wozu ich acht Jahrzehnte auf dieser Welt bin, wenn es also um den inneren Kern des Lebendigseins geht, wird man sich auch hier nicht als glücklich bezeichnen können. Zwar haben wir, was die äußeren Lebensbedingungen betrifft, eine der privilegiertesten Situationen in der Welt — die Schweiz und die Bundesrepublik sollen die Nationen sein, in denen man am günstigsten lebt, wenn man die Verdienstmöglichkeit, die geringe Inflation, den Lebensstandard und die soziale Absicherung bedenkt. Aber was die inneren Lebensbedingungen betrifft, scheint es mir weniger gut auszusehen.

Ich würde an dieser Stelle gerne noch übergehen auf die unterschiedliche Einstellung zu den politischen Autoritäten in beiden Systemen, auf die politische Haltung, das politische Handeln und die Informationschancen. Darin könnten die größten Unterschiede liegen, denn ihr habt ein ganz anderes Regime gehabt als wir.

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Maaz:  Es gab bei uns auf der einen Seite den «Apparat» — also die Funktionäre der Partei, des Staates, des Sicherheitsapparates, alle, die zur Macht gehörten und die mit dem System aus Überzeugung oder aus Karrieregründen verbunden waren. Diese Leute waren in der Regel auch politisch einseitig orientiert. Sie waren praktisch indoktriniert und bestrebt, alle Vorgänge in ihre Weltsicht zu pressen, umzudeuten und Nicht-Kompatibles einfach auszublenden. Das ergab mitunter groteske, bornierte und auch fanatische Haltungen und Ansichten. Diese sogenannten «Apparatschiks» bekamen regelmäßig «Rotlichtbestrahlung», das heißt, sie wurden propagandistisch geschult und auf die Dogmen der Partei eingeschworen. Zu ihren Pflichten gehörte, daß jedweder Kontakt nach dem Westen, selbst wenn es Familienangehörige waren, abgebrochen wurde und keinerlei Informationsquellen aus dem «kapitalistischen Ausland» benutzt wurden. Tatsächlich haben sich die meisten an diese absolute Abschottung gehalten, schon um keine inneren Konflikte und Zweifel aufkommen zu lassen. 

Aus der verordneten Kontaktsperre und geistigen Einseitigkeit wurde eine «freiwillige» Selbstbeschränk­ung. Mir offenbarte einmal ein hochrangiger Funktionär, daß er während seines Studiums in Moskau bei einem wissenschaftlichen Seminar mit westdeutschen Kollegen zusammentraf — in diesem Fall war er verpflichtet, das Seminar sofort zu verlassen. In der Regel wurde jedoch schon vorher dafür gesorgt, daß solche Begegnungen überhaupt nicht passieren konnten. 

Wenn ich nur an das Affentheater denke, das veranstaltet wurde, wenn wir zu unseren Fachtagungen mal Westkollegen einladen wollten. Für Bundesdeutsche war die Erlaubnis sowieso schon schwieriger zu bekommen als für andere Westeuropäer, aber jeder Gast wurde eigens vorher sicherheitsdienstlich durchgecheckt. Man erforschte, was er irgendwo und irgendwann mal über die DDR oder den Sozialismus geäußert hatte, und wenn seine Ungefährlichkeit beziehungsweise seine Loyalität zu unserem System nicht erwiesen war, kam er als Gast überhaupt nicht in Frage. Zudem war das bürokratische Procedere so erschwert, daß selbst diese wissenschaftlichen Kontakte kaum zu realisieren waren. Erst in den letzten Jahren wurde das ein wenig lockerer gehandhabt.

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Neben den Systemtreuen gab es auf der anderen Seite die große Zahl derjenigen, die innerlich in Distanz zur DDR lebten, obwohl sie nach außen hin unauffällige Mitläufer sein konnten. Typisch für sie war, daß sie sich innerlich überwiegend oder gar ausschließlich auf den Westen orientierten und sich über Rundfunk und Fernsehen regelmäßig die Informationen von drüben holten. Das führte zu grotesken Spaltungen: Tagsüber und nach außen hin lebten sie im Osten, abends und im privaten Bereich führten sie über das « einzige Guckfenster» — den Fernseher — ein Westleben aus der Konserve. Die westdeutschen Minister waren namentlich besser bekannt als unsere Politiker, ebenso alle sonstige Prominenz. Bei einem Fußballspiel zwischen der DDR und der Bundesrepublik waren viele von uns auf Seiten der Westdeutschen — als Ausdruck unserer gespaltenen Identität, einer heimlichen Protesthaltung oder auch nur, weil wir die propagandistische Ausnutzung der sportlichen DDR-Siege nicht mehr ertragen konnten. Die Stimmen mancher hysterischer Sportreporter, die mit jeder Goldmedaille die Überlegenheit des Sozialismus feierten und Staat und Partei dafür Dank heuchelten, waren für manch einen wirklich wie ein «Kotzmittel».

Insgesamt bestand aber in der DDR ein großes Interesse an politischen Vorgängen — immer verbunden mit der stillen Hoffnung, einen Schimmer solcher Veränderungen und Entwicklungen mitzubekommen, die unsere Lage verbessern könnten.

 

Moeller:  Du hast ausführlich von den Karrieristen und ihrem Gegensatz, den inneren Oppositionellen, gesprochen — die Obrigkeitsfixierung ist offensichtlich permanent durch das System induziert worden. Entweder war man in Totalanpassung dafür, oder man war in strenger Abgrenzung dagegen. Aber auch in der Abgrenzung dagegen war man wieder fixiert auf die Obrigkeit.

 

Maaz: Das ist richtig. Wir waren abhängig oder «gegenabhängig». Zwischentöne waren selten, denn diese hätten für die psychische Verarbeitung die schwierigste Situation bedeutet. Man hätte in ständiger innerer Auseinandersetzung leben müssen. Anpassung oder stiller Rückzug waren dagegen viel einfacher. Auch deshalb hat es an der Basis keine politische Arbeit gegeben mit Meinungsaustausch, kritischer Auseinandersetzung und Streit.

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Eine solche lebendige politische Aktivität wäre bereits als staatsfeindlich eingestuft und unterbunden worden. Allein wenn man sich regelmäßig mit Freunden oder Kollegen traf und über irgend etwas diskutierte, geriet man in Gefahr, als staatsfeindliche Gruppe diffamiert und verfolgt zu werden. Nicht mal über Karl Marx hätte man aus privater Initiative heraus einfach reden und streiten dürfen — dies war nur gestattet, wenn es eine staatliche Organisation veranstaltete, und dann waren alle Statements sorgfältig vorbereitet, zensiert und kontrolliert.

Auch in den ehemaligen «Blockparteien» gab es keine eigenständige politische Arbeit. Sie dienten der SED als Befehlsempfänger und Vollzugseinheiten für solche Menschen, die aufgrund ihrer Herkunft, ihrer sozialen Position oder ihres christlichen Glaubens nicht zur Arbeiter-und-Bauern-Partei paßten. Moralisch gesehen, halte ich die «Blockparteien» für unanständiger als die SED, weil sie die rote Indoktrinierung noch mit einer schwarzen, nationalen oder liberalen Maske kaschierten. Sie besaßen nicht einmal die Ehrlichkeit, sich offen zur Macht zu bekennen, sondern gaben das heuchlerische Feigenblatt für scheinbar demokratische Verhältnisse ab. Die schnelle Vereinigung mit den entsprechenden Westparteien ist für mich vor diesem Hintergrund völlig unverständlich und läßt bei mir erhebliche Zweifel an der demokratischen Redlichkeit dieser Parteien aufkommen. Das Rezept möchte ich kennen, wie Gesinnungslumpen in wenigen Tagen zu Demokraten umgewandelt werden können.

 

Moeller:  Im Grunde ist es nur zu einer Autoritätentransfusion gekommen — vom zusammengebrochenen SED-Regime zur D-Mark in Gestalt der CDU.

 

Maaz: Genau das habe ich als besonders deprimierend erlebt — unsere Unfähigkeit, unsere eigenen Angelegenheiten selber in Ordnung zu bringen. Die meisten von uns haben ja die neuen Autoritäten herbeigerufen: «Kommt und rettet uns. Erlöst uns von unserem Übel. Bringt uns den Wohlstand, und bringt vor allem endlich unseren Saustall in Ordnung.» 

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Wir selbst waren dazu offensichtlich nicht in der Lage, und wir hatten auch keine eigenen Autoritäten, denen wir das zugetraut hätten. Eine alternative politische Elite gab es nicht, denn diese war durch die totale Kontrolle und Unterdrückung verhindert oder aber durch Ausbürgerung vertrieben worden. Und die wenigen Intellektuellen, die Künstler und die Pfarrer, die Ansehen im Lande genossen, waren für politische Führungs­funktionen einfach zu schwach. Hätten wir einen wirklichen Selbstreinigungsprozeß durchgemacht, wären wir außerdem alle mit unserer Mittäterschaft und Schuld konfrontiert worden. Dann ist es doch leichter, wir bleiben Untertanen und suchen uns neue Herren!

 

Moeller: Könnte für diese Entwicklung nicht auch das enorme wechselseitige Mißtrauen eine Rolle gespielt haben, das eure Solidarität immer unterminiert haben muß? Der Nachbar könnte ja bei der Stasi sein. Ihr konntet bei dem Versuch einer inneren Demokratisierung keine Autoritäten finden, weil alle Autoritäten diskreditiert waren, und ihr konntet auch euresgleichen nicht zur Autorität machen, weil euch das Mißtrauen zu sehr in den Knochen saß.

 

Maaz: Nein, das glaube ich weniger. Nicht unser Mißtrauen hat uns geschadet, sondern unser falsches Vertrauen. Bei den ersten freien Wahlen haben wir — zugespitzt formuliert — praktisch ja die Stasi gewählt. Viele, die durch diese freien demokratischen Wahlen an die Macht gekommen sind, waren vorher Stasi-Mitarbeiter. Dies wirft auch ein schlechtes Licht auf das Procedere demokratischer Wahlen, wenn man zwar « frei» wählen kann, aber die Kandidaten gezinkt oder sonstwie verdorben sind. Demokratie ist ein Prozeß, der in den Seelen der Menschen erst durch ihre Beziehungen reifen muß. Wir dagegen haben im Moment nur ein demokratisches Gehabe angenommen und verbergen darunter unsere Autoritätssucht. Wir wollen lieber geführt, ja verführt werden, nur um bei größerer Eigenständigkeit nicht unser eingeengtes Leben wahrnehmen zu müssen.

Die Verhältnisse in unserem System haben es keinem erlaubt, sich wirklich zu profilieren. Und unsere ersten basisdemokratischen Versuche während der «Wende» sind auch deshalb kläglich gescheitert, weil wir «Gleichgestellten» das ganz natürliche Rivalisieren und Auseinandersetzen nicht gelernt hatten und als Reaktion auf die autoritären Strukturen jede neue, aber notwendige Struktur ablehnten.

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Mit der Parole der «Basisdemokratie» wurden auch gesunde und notwendige Profilierungswünsche abgewehrt, weil der Autoritätshaß bei den meisten von uns so tief sitzt. Wir hatten einfach nicht die Chance, menschlich und damit auch politisch zu reifen. Persönlichkeiten mit Charisma brauchen Kompetenz und Echtheit, frei von neurotischer Gehemmtheit und Verlogenheit, damit sie politische Inhalte glaubhaft und überzeugend herüberbringen können und ihre Integrität gespürt wird. Solche Führer hatten wir nicht. Damit war und ist das Feld frei für eine neue Demagogie.

Wir sind es auch nicht gewohnt, zwischen der Autorität durch Macht und der durch Kompetenz zu unterscheiden. Bei uns hatte die Partei immer recht, auch wenn sie log; die Mitteilungen aus Rundfunk, Presse und Fernsehen enthielten stets nur die offizielle, staatstragende und damit einzig «wahre» Meinung, so daß wir kaum über Erfahrungen mit der Pluralität von Ansichten und der relativen Kompetenz von Experten verfügen. Wir halten es oftmals kaum aus, wenn verschiedene und womöglich gegensätzliche Meinungen nebeneinander bestehen, und der Gedanke, daß Mächtige nicht nur inkompetent, sondern auch dumm und seelisch krank sein könnten, ist vielen unvorstellbar.

 

Moeller: Es ist entsetzlich und faszinierend zugleich, zu sehen, wie sich die Entselbstung politisch ausgewirkt hat. Denn sie hat letztendlich dazu geführt, daß ihr die innere Demokratisierung nicht selber zustande gebracht habt. Aber noch einmal zur Stasi: Habt ihr sie deshalb gewählt, weil die Angstanpassung immer noch wirksam war? Wahrscheinlich überfordert es die Menschen, in so kurzer Zeit eine so rapide Entwicklung mitzumachen. Ich hoffe deswegen, daß die innere Demokratisierung auf lange Sicht doch beginnt, obwohl ihr dann in den Wirtschaftsaufbau, womöglich sogar in das Wirtschaftswunder eingebunden seid. Eure ganze Energie wird dann vermutlich aufgezehrt durch die industrielle und nicht durch die seelische Orientierung.

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Was den Westen betrifft, so idealisieren wir vielleicht auch etwas unser politisches Verhalten. Nach dem Zusammenbruch des Naziregimes, nach dem Hitler-Verlust hat es ja anfangs eine sehr lange Zeit gegeben, in der Westdeutschland sich eine Uralt-Autorität wählte, deren Kindheit noch im Kaiserreich lag — nämlich Adenauer. Politisch war er eine starke Führerfigur, demokratisch zwar, aber eine Autorität mit großen Schattenseiten. 

Damals wurde die Chance vertan, das Hitler-Regime seelisch und politisch zu verarbeiten. Ralph Giordano hat das in seinem Buch * präzisiert. Wir haben nicht nur die erste Schuld, Mitwirkende an den Naziverbrechen gewesen zu sein, sondern auch die zweite Schuld, unsere Vergangenheit nicht richtig aufgearbeitet zu haben. 

Kein Nazirichter wurde beispielsweise wirklich verurteilt, vielmehr gelangten sie zum Teil wieder in höchste Positionen. Der nationalsozialistisch schwer belastete Globke kann dabei als Paradebeispiel dienen — Adenauer machte ihn zum Kanzlerberater. Es war damals eine Regierungsperiode mit starker Autoritätsfixierung, durch und durch konservativ, wie es nach Krisen häufig passiert. Angst produziert ein konservatives politisches Verhalten. Man will das Alte konservieren, bewahren. Der berühmte Slogan «Keine Experimente» war paradigmatisch für eine Zeit, in der man eigentlich hätte experimentieren können und sollen.

Heute scheint es wieder sehr ähnlich abzulaufen. Man könnte eine Fülle von Parallelen finden zwischen dem, was in der Nachkriegszeit im Westen geschah, und dem, was heute im Osten geschieht. In ihrem Buch «Die Unfähigkeit zu trauern» machen Alexander und Margarethe Mitscherlich beispielsweise auf die «Blitzwende » aufmerksam. Viele Leute waren in Null Komma nichts im neuen System große Demokraten, nachdem sie kurz zuvor noch Nazischergen gewesen waren. Eine solche Blitzwende kann man heute bei Stasileuten ganz ähnlich beobachten. Ein Wiederholungsphänomen beginnt sich abzuzeichnen, und es sieht sehr danach aus, als ob wir uns eine dritte Schuld einhandeln.

 

*  Ralph Giordano: Die zweite Schuld, Hamburg 1987, München 1990.

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MaazDer Vergleich mit uns, daß Angst konservatives Verhalten verstärkt, ist sicher richtig. Auch hier gab es den Slogan: «Keine sozialistischen Experimente mehr!» Und daß die CDU so häufig gewählt wurde, lag nicht an den politischen Überzeugungen, sondern geschah vor allem aus der Angst und Verunsicherung heraus — die West-CDU schien den Menschen damals am besten Sicherheit und schnellen Wohlstand zu verheißen. Den Wahlergebnissen zufolge müßte etwa knapp jeder zweite CDU gewählt haben; wir haben uns hinterher den Spaß gemacht und öfters herumgefragt — nicht repräsentativ, das meine ich mehr anekdotisch —, doch von den Befragten wollte es keiner gewesen sein. 

Es spricht deshalb viel dafür, daß die Menschen mehr aus unterschwelligen psychologischen Gründen als aus einer politischen Haltung heraus CDU gewählt haben. Der Vorsitzende der Ost-CDU, Lothar de Maiziere, hatte ja ganz deutlich erklärt, er sehe nur eine politische Aufgabe für sein Amt, die DDR so «schnell wie nötig und so gut wie möglich» — ich hoffe, daß ich das Zitat richtig erinnere — in die Vereinigung hineinzuführen. Das heißt, daß er sich selbst nicht mehr Autorität zugetraut hat, als die verliehene Macht so schnell wie möglich wieder loszuwerden.

Die Unsicherheit und Schuld des Volkes war damit vorbildhaft ins Bild gesetzt, und es war klar, daß es keine wirkliche Aufarbeitung, kein ernstes Nachdenken geben sollte. Es ging einzig und allein darum, uns so gut wie möglich hinüberzuretten und «mit neuem Optimismus voran» unsere Vergangenheit zu vergessen. Welche irrationalen Kräfte dabei am Werk waren, wird deutlich, wenn ich bedenke, wie sich eines der wichtigsten Argumente für die schnelle Vereinigung, die Massenflucht zu stoppen, selbst ad absurdum geführt hat. Was wir heute erleben, ist die Desertion eines ganzen Volkes.

Obwohl wir durch die Vereinigung gleichsam alle in den Westen geflohen sind, wächst die innerdeutsche Übersiedler- und Pendlerwelle von Ost nach West immer weiter an, weil jeder auf der verbissenen Suche ist, im Wohlstand doch noch Trost zu finden. Für die soziale Krise, in die wir immer tiefer hineinschlittern, sehe ich drei Schuldige: die alte Mißwirtschaft der SED, unser eigenes verblendetes, selbstschädigendes Konsumverhalten — als das äußere Symptom einer inneren Not — und die totale Fehleinschätzung der Situation durch die westdeutschen Politiker, die ihrerseits aus Machtinteressen und psychischer Abwehr zur kritischen Wahrheit gar nicht mehr in der Lage sind. Ein gemeinsamer, beide Seiten verändernder Weg wurde nie ernsthaft ins Auge gefaßt, und die dritte Schuld der Deutschen scheint damit schon wieder geschehen zu sein.

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MoellerDaß die politische Orientierung konservativ wird in dem Augenblick, in dem Krisen vorherrschen, ist weithin bekannt. Aber die konservative Orientierung hängt nicht nur mit der äußeren Krise zusammen, sondern auch mit einem Zustand innerer Krisen. Das bedeutet: Menschen, die besonders stark unter inneren Krisen und Konflikten leiden und einen großen Abwehrpanzer dagegen aufrichten, wählen in der Regel konservativ. Wir haben einmal in einer Erhebung einen deutlichen Zusammenhang zwischen Krankheitsauffassungen, Behandlungserwartungen, Arbeitsverhalten und politischen Einstellungen feststellen können.

Wer beispielsweise der Auffassung ist, daß sein Leiden, das ihn zum Psychotherapeuten führt, primär somatisch verursacht ist, etwa durch ein verstecktes körperliches Leiden, das man nur noch nicht gefunden hat, wer also die Psychogenese, das heißt die seelischen Bedingungen seiner inneren Störung abwehrt, verleugnet und damit nichts zu tun haben will, wer also somatisiert, verhält sich auch politisch konservativ. Diese Leute erwarten als Behandlung eine strikte autoritäre Führung und Reglementierung. Sie wollen immer zum Chefarzt und genau gesagt bekommen, was sie zu tun haben. Die anderen hingegen, die offener sind und das Empfinden haben, ihre Behandlung läge eher in einem freien Dialog, um zu erkennen, was mit einem los ist, verhalten sich auch politisch nicht konservativ. Die Konservativen zeigen zumeist auch ein glänzendes Arbeitsverhalten, das allerdings stark abgekoppelt von der eigenen emotionalen Lage ist. Mit anderen Worten: Ich vermute, daß die Wahl einer linken oder rechten Partei einem seelischen Symptom gleichkommt. Wer rechts wählt, versucht eine deutlichere Abgrenzung, eine stärkere Abwehrschranke nach innen aufzubauen, während die, die eher links wählen, auch sich selbst zumindest zur Debatte stellen.

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Die Auseinandersetzung mit sich selbst ist aber die Voraussetzung für die innere, die innerseelische Demokratisierung des einzelnen. Hinzu kommen sicherlich noch weitere Momente. Die Linken haben beispielsweise häufiger Probleme mit ihren Eltern, vor allem mit dem Vater, vermutlich aufgrund der offeneren Auseinandersetzung. Sie sind aus diesem Grunde auch nicht so autoritätsfixiert. Die ganze Familiendynamik schlägt sich, wenn man so will, am Ende im Wahlverhalten nieder, so daß eine raffinierte Partei nur in der ihr dienlichen Weise für die ersten sechs Lebensjahre der Menschen sorgen müßte, um später gewählt zu werden. Vielleicht ist es aber ganz gut, daß diese Befunde so wenig bekannt sind.

 

Maaz: Auf den ersten Blick erscheint es paradox, daß das, was das SED-Regime in den ersten Lebens­jahren in den Menschen bei uns angerichtet hat, die Unterdrückung der Gefühle und die Abpanzerung der Innenwelt, nun in der Folge dazu führt, daß hier überwiegend konservativ gewählt wird. Oberflächlich handelt es sich um eine Anti-Reaktion, und doch folgt sie dem gleichen Muster: Zur Autoritätsabhängigkeit genötigt, werden diejenigen gewählt, die stark sind und mehr Unterwerfung garantieren, damit niemand sein eigener Führer werden muß. Und die Karrieristen unseres Systems mit ihren typischen Charakterstrukturen verstehen sich glänzend mit den Karrieristen eures Systems; sie lassen sich tatsächlich «blitzwenden» und beliebig austauschen. Ich fürchte aber, daß die unbewältigte innere Problematik bei krisenhaften Zuspitzungen nach immer größeren und stärkeren Führern rufen lassen könnte, um den weiter anwachsenden Gefühlsstau in Schach halten zu können.

 

Moeller: Ja, so wie in der Nachkriegszeit bei den Westdeutschen, als eindeutig die konservativen Regierungen überwogen. Auch die Zeit der sozialdemokratischen Regierungen war teilweise geprägt durch eine eher rechte Politik. Auf der anderen Seite könnte ich mir auch gut vorstellen, konservativ zu wählen, wenn ich über Jahrzehnte eine scheußliche Variante des linken Spektrums als Regierung vor mir hatte. In dem Augenblick, in dem ich zum erstenmal frei wählen kann, wähle ich konservativ als Protest gegen das Regime, von dem ich einfach die Nase voll habe.

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Mit eine Rolle bei den letzten Bundestagswahlen spielte aber auch das spezielle Anliegen des vielleicht zu differenziert argumentierenden Lafontaine; sicherlich wollte er mit dem Aufschub der Vereinigung dem politischen Wachstum Zeit und auch den Ostdeutschen eine Chance für die innere Demokratisierung geben, doch hat er meines Erachtens zu wenig berücksichtigt, daß man als Angehöriger eines solchen Regimes sehr unter Druck stand und jeder sich sagen mußte: Wenn ich jetzt noch warte, geht mir womöglich diese einmalige Chance wieder verloren. Ich denke mir, eine solche Angst hätte ich wohl auch empfunden. Jetzt oder nie — nach diesem Motto hätte es mich wohl auch gedrängt, sofort zuzupacken. 

Zweitens — und ich glaube, diese emotionale Ebene konnte Lafontaine zu wenig realisieren — brachte die Wiedervereinigung auch ein solches Glücksgefühl mit sich, daß man diese seelische Entlastung auch möglichst schnell genießen wollte. Da hat das Herz den Kopf überrollt. Das ist mein Empfinden. Nach dem Wiedervereinigungsrausch und nach dem Entsetzen, was da alles an Dunklem auf mich zukommen könnte, ist für mich das entscheidende Gefühl gewesen, daß uns in dem Augenblick, in dem wir wieder ein Deutschland sind, zugleich die große Chance gegeben ist, die immer wieder verdrängte Vergangenheit aufzuarbeiten. Denn was uns im Westen wie im Osten vereint, ist die Nazivergangenheit.

Tatsächlich beginnt stellenweise bei uns im Westen in dieser Zeit eine Bewegung zur Aufarbeitung der Nazivergangenheit. Im Medizinstudium fahren wir zum Beispiel zu den Konzentrationslagern, um das Problem der Euthanasie aufzuarbeiten. In der Psychoanalyse hat man sich schon früher dazu durchgerungen, sich der Vergangenheit zu stellen. Es scheint sich da ganz langsam etwas seelisch zu öffnen. Ich meine, das hängt wohl sehr damit zusammen, daß die Frauen und Männer der ersten Schuld, die noch unmittelbar das Naziregime mitgeformt haben, ausgestorben sind. Jetzt ist die zweite Generation dran. Und doch möchte auch heute keiner gern an diese Zeit erinnert werden. Auch scheint mir die Art der Aufarbeitung teilweise sehr klischeehaft zu sein. Es nützt nichts, daß ich durch ein Konzentrationslager gehe...

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Maaz: Damit haben wir genügend schlechte Erfahrungen gemacht bei uns. Jede Schulklasse wurde durch ein Konzentrations­lager geschickt — gebracht hat es überhaupt nichts. Um mein Buch zu schreiben, war gerade die bittere Erkenntnis ein starkes Motiv, daß politische und ökonomische Veränderungen, wie sie nach 1945 bei uns eingeleitet wurden, und ein verordneter Antifaschismus noch überhaupt nichts darüber aussagen, was wirklich in den Menschen und in ihrem Zusammenleben los ist. Faschismus hat etwas mit innerseelischen Strukturen, mit dem Charakter zu tun. Und bei uns schlummert hinter der Fassade von Tüchtigkeit, Höflichkeit und vor allem von Disziplin und Ordnung unverändert und massenhaft ein gewaltiges Aggressionspotential mit viel Angst, das jederzeit bereit ist, wieder auszubrechen, wenn es möglich wird oder bei Krisen und der dann zugespitzten Angst und Not. Anzeichen dafür lassen sich jetzt schon genügend beobachten. Die Aufarbeitung der Vergangenheit ist weder durch Propaganda noch durch ein Grundgesetz, noch durch intellektuelles Verstehen möglich, sondern nur, wenn jeder seine faschistischen Strukturen bei sich selber erkennt und offenlegt, was an innerem Faschismus vorhanden ist.

Moeller:  Ich meine, mit innerem Faschismus ist primär die eigene narzißtische Störung gemeint, die durch eine panische Ohnmacht charakterisiert ist...

 

Maaz:  ... und durch tiefe Kränkung, die Wut staut und Schmerzen verursacht. Um dies nicht erleben und erleiden zu müssen, sucht man nach Opfern, die für schuldig erklärt werden können. Sündenböcke und Feindbilder sind für mich immer Ausdruck der eigenen seelischen Not, und diese findet leicht irgendeinen kleinen Makel am Nachbarn, mit dem die Ablehnung scheinbar plausibel gemacht wird. Auch der Golfkrieg ist ein Beispiel dafür, wie sich zwei unversöhnliche Parteien gegenüberstehen, die beide für sich das Recht in Anspruch nehmen und aus ihrer jeweiligen Perspektive glaubhafte Gründe gegen den anderen anführen können — so unlösbar, daß Krieg entsteht, mit neuem unerträglichem Leiden und der Bedrohung der ganzen Welt.

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Man kann sich nur ausmalen, welche seelischen Kräfte im Verborgenen der Menschen walten, daß sie sich auf diese Weise gegenseitig den Tod bringen — Todesängste und mörderische Impulse, die sie selber nicht wahrnehmen können und auch nicht wahrhaben wollen. Solche existentiell-bedrohlichen Gefühle weisen stets auf sehr frühe lebensgeschichtliche Erfahrungen hin, wenn schon geringe Versagungen einen Kampf um Leben und Tod bedeuten können. Um sich von solchen tiefen Kränkungen und Verletzungen zu entlasten, erklären die Menschen andere für schuldig.

 

Moeller:  Unter dem gewaltigen Schulddruck unterliegt man leicht der Versuchung, mit besonderem Nachdruck zu zeigen, welche Greuel auch anderswo in der Welt geschehen: der Genozid an den Kurden, das Ausrotten des armenischen Volkes oder der sowjetische Gulag... Aber typisch deutsch ist meines Erachtens die Industrialisierung des Massenmordes, die gesellschaftliche Perfektion und die emotionale Abkoppelung des Schreckens, diese merkwürdig hochorganisierte, bürokratische Form des Tötens und der Brutalität, die schlimmer ist als «bloßer» Sadismus.

 

Maaz:  Diese Form von potenziertem Sadismus ist nur möglich, weil eine Großzahl der Menschen von ihrem eigenen Erleben abgeschnitten ist. Sie fühlen nicht mehr, was sie tun. Nur so war es möglich, daß jemand den ganzen Tag im KZ töten konnte und abends nach Hause kam und «liebevoll» zu seinen Kindern war oder aufopfernd seine Haustiere pflegte. Die Voraussetzung dafür ist die totale Abspaltung des bösen Tuns vom Gefühl. Auch die «Zuneigung» zu Tieren oder Kindern ist bei einer solchen Disposition nicht wirklich echt, sondern gehört zur Elternpflicht, die wie das Töten auf Befehl auftragsgemäß erfüllt wird. Es gab dieses Phänomen in einer anderen Variante auch in der DDR als Massenerscheinung. Die toten und stinkenden Flüsse, die verpestete Luft, die einfallenden Häuser, die verlogene und verdorbene Moral der führenden Partei — dies alles haben wir zwar wahrgenommen, aber nicht mehr gefühlt. Wir haben unsere Angst, unsere Empörung und unsere schuldige Beteiligung verdrängt, so wie wir es von früh auf gelernt hatten. Das ist für mich Faschismus — das Abtrennen des Handelns vom emotionalen Erleben, also das Abtöten der Gefühle.

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Moeller:  Psychoanalytisch gesehen erinnert das an die Abwehrmethode der Isolierung, bei der seelische Vorstellung und Affekt voneinander getrennt werden. Diese Form der Abwehr gehört in den Bereich des analen Charakters, der maßgeblich die preußischen Werte wie Sauberkeit, Pünktlichkeit oder Ordentlichkeit prägte. Solche analen Momente charakterisieren Deutschland mit Sicherheit auch als ganze Nation. Aber sie reichen nach meiner Meinung nicht zur Erklärung aus. Ich denke mir, daß hier etwas viel Fundamentaleres geschieht, nämlich ein Splitting, bei dem eine bestimmte Seite der Person mit einer anderen Seite der Person einfach nicht mehr in Berührung kommt.

Ich sehe das als eine tiefe narzißtische Störung an, die sich natürlich nicht erst zur Hitler-Zeit herausgebildet hat. Sie war schon vorher angelegt und hat unter anderem sicherlich etwas damit zu tun, daß wir nie eine einheitliche Nation aus uns selbst heraus geschaffen haben — wie etwa die Franzosen in der Französischen Revolution. Wir sind immer ein Vielvölkerstaat gewesen — beginnend beim Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation —, der erst spät durch Bismarck, also von oben, zu einem Nationalstaat geformt wurde. Unmittelbar darauf, im Kaiserreich, begann bereits der Größenwahn auf dem Hintergrund der latenten Ohnmachtsgefühle der Deutschen. Er mündete in den Ersten Weltkrieg, auf den die Kränkung der Niederlage folgte. Die brüchige nationale Identität und die tiefe Weltwirtschaftskrise ließen diese grundlegende narzißtische Störung in die Nazi-Katastrophe münden. Nur so wurde es möglich, daß die Juden nicht nur unser Feindbild waren, sondern daß wir sie tatsächlich maschinell vernichteten.

 

Maaz:   Aber die Frage ist, woher stammt diese frühe narzißtische Störung. Was die Verhältnisse in der DDR anbetrifft, sehe ich als Ursache vor allem das Trennungstrauma an — die schwere Deprivation durch die Trennung von Mutter und Kind schon bei der Geburt, die fortgeführt wurde durch die Kinderkrippen und die permanente emotionale Nicht-Annahme und Nicht-Bestätigung. Ich bin in der Therapie bei vielen Menschen auf schwerste Verlassenheitsängste gestoßen — aber ist dies nur ein deutsches Phänomen?

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Moeller: Mich bewegt diese Frage im Rahmen eines Buchprojektes «Narzißtische Störung deutscher Nation». Die wichtigste Annahme lautet, daß diese unselige seelische Grundlage nur langfristig historisch abzuleiten ist. Wir bleiben zu sehr stehen bei der singulären, individuellen Lebensgeschichte, die sich zum nationalen Phänomen türmt — beispielsweise die frühe Separation. Eine einzige Generation reicht nicht aus, um dieses Verhalten der Deutschen zu erklären, sondern es ist in einem längeren historischen Zeitraum angewachsen. Nach meinem Dafürhalten ist das preußische Element, das uns alle infiltriert hat, wesentlich. Aber auch das erklärt nicht alles. Man müßte versuchen, sehr sorgfältig nachzuvollziehen, wie der Wandel der seelischen Entwicklungsbedingungen in Deutschland über einige Jahrhunderte verlaufen ist, zumindest ab Mitte des 18. Jahrhunderts.

Eine zentrale Rolle spielen meiner Meinung nach auch die plötzliche und schnelle Industrialisierung in der Kaiserzeit sowie die spezifische Neigung der Deutschen, sich an Funktionen zu binden — weil sie vor sich selber Angst haben und um wenigstens durch Leistung Anerkennung zu bekommen. In meinen Augen bildete letztendlich ein besonderes frühkindliches, familiendynamisches Klima den Nährboden dieser gesellschaftlichen Entwicklung bis Auschwitz. Vielleicht wurde die funktionale Leistung schon lange an die Stelle von Liebe gesetzt. Aber warum sich das gerade in unserer Nation so entwickelt hat, ist mir noch ein Geheimnis. Ich denke mir, auf die wirkliche Trauerarbeit kommt man erst, wenn man wenigstens einmal akzeptiert, daß und wie etwas geschehen ist. Wie man aber am Beispiel Westdeutschlands sieht, wird auch von sehr reflexionsbereiten Intellektuellen immer wieder versucht, unsere Schande zu relativieren. Mit anderen Worten: Wir nehmen die Schuld noch gar nicht auf uns und sagen damit soviel wie, wir hätten in dieser Zeit nicht gelebt. Auf diese Weise können wir aber erneut keine Identität bilden.

 

Maaz: Das Argument, daß faschistische Tendenzen überall in der Welt vorkommen und keineswegs typisch deutsch sind, empfinde ich als Abwehrversuch, um der eigenen Betroffenheit zu entkommen. Auch in der ehemaligen DDR sind wir — wie nach dem Dritten Reich — wieder einmal nur ein Volk von Opfern — selbst SED-Genossen nehmen das für sich in Anspruch.

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Und das Auffällige daran ist, daß wir in dieser Haltung gerade von westdeutscher Seite stark unterstützt werden. Die ersten Rufe nach einer Generalamnestie kamen bezeichnenderweise von westlichen Politikern — noch bevor überhaupt angefangen worden war, Schuld zu erkennen oder Schuldige zu benennen.

 

Moeller: Auch ich habe den Verdacht, daß dieser Ruf nach Generalamnestie auch aus dem Westen darauf beruht, die eigene Schuld nicht zugeben zu können. Genauso war das Verfahren in der Nachkriegszeit. Unter der ersten Bundesregierung haben ja, von Adenauer bis zu den Gerichten, alle mitgewirkt, daß für zahllose Naziverbrecher indirekt eine Art Generalamnestie zustande kam. Ganz offiziell profitierten auch SS-Leute von einem Gesetz zur Fürsorge, zur Regelung und zur Wiedereinstellung ins Beamtentum. Das eben nennt Ralph Giordano die zweite Schuld der Deutschen. Wir haben nicht dafür gesorgt, daß Verbrecher, die wirklich Verantwortung trugen, bestraft wurden. Vielmehr haben wir sie in unserem sogenannten «Volkskörper» — das sage ich jetzt mit einem gewissen Zynismus — wieder aufgenommen. Jetzt wiederholt sich das in Deutschland.

 

Maaz:  Das Theater um die Stasi-Akten macht dies exemplarisch deutlich. Den meisten wäre es am liebsten, sie würden einfach verschwinden — Schwamm darüber und auf ein neues im alten Spiel. Das Gerede von der Notwendigkeit der Vergebung und Versöhnung, die «Sorge», man dürfe die Akten nicht herausgeben, weil dadurch der innere Frieden zerstört würde, diese ganzen «Argumente» für einen sogenannten Schlußstrich unter die Vergangenheit erscheinen mir sehr heuchlerisch. Vergebung und Versöhnung können nach meiner Erfahrung erst nach Schuldbekenntnis und Sühne kommen. Zum anderen geben gerade die Stasi-Akten ein ziemlich genaues Bild von den vielfach unvorstellbar gestörten und verlogenen Beziehungen in unserem Volk. Selbst gefälschte Akten sind noch ein Ausdruck dieser Verhältnisse, die die unsrigen waren und so lange bleiben werden, bis wir uns der Wahrheit gestellt haben. Ich lasse nur solche Überlegungen gelten, die ernsthaft über

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das Tempo und die Dosis der notwendigen Offenlegung reflektieren, aber die Vernichtung dieser Akten würde nur der Verleugnung und der Fortführung des Übels dienen. Erst wenn wir bereit sind, unsere eigenen faschistischen oder stalinistischen Strukturen zu erkennen, jeder ganz für sich persönlich, dann könnten wir von einer Vergangenheitsbewältigung sprechen. Ich verstehe jetzt, weshalb das auch der Westteil unseres Landes genausowenig will wie wir selbst: Es wäre eine Bedrohung für alle und eine Erinnerung an unsere gemeinsame unbewältigte Vergangenheit.

 

Moeller: Das leuchtet mir sofort ein. Ihr sagt jetzt schnell «Schwamm drüber», weil ihr diese Vergangenheit noch selber in den Knochen habt. Es gibt aber auch die Gefahr, daß man mit starren Augen auf die Aufarbeitung der DDR-Geschichte blickt, um damit — gewissermaßen als kleineres Übel — der schwereren Last der...

 

Maaz:  ... der Gesamtdeutschen... 

 

Moeller:  ... ja, der Gesamtdeutschen zu entgehen. Dadurch, daß wir wieder Gesamtdeutschland geworden sind, sind wir auch auf die gesamtdeutsche Schuld zurückgeworfen — das muß in jedem von uns als Grundgefühl vorgehen. Ich denke mir, daß die jetzige dritte Generation die erste ist, die so viel Abstand von den damaligen Ereignissen hat, daß sie unter Umständen die Angst, die Scham und die Schuldgefühle auf sich nehmen kann. Vielleicht war der Pegel von Angst und Schuld angesichts dieses Grauens einfach zu hoch für die meisten der ersten Generation. Ich war damals noch ein Kind. Ich kann nicht sagen, wie ich mich im Naziregime verhalten hätte, wenn ich als Älterer in diese Welt hineingewachsen wäre. Nur eine sehr differenzierte, subtile Aufarbeitung kann beantworten, wie es überhaupt dazu kommen konnte, daß wir so handelten. Jetzt haben wir für diesen Prozeß die angemessene, die gesamtdeutsche Plattform.

Vielleicht am Ende noch eine Grundfrage, die wir bisher vernachlässigt haben: Warum wollen wir beide uns eigentlich vereinigen? Welchen Grund gibt es überhaupt dafür, die menschliche Vereinigung zu wollen? Es gibt ja auch einen deutlichen Widerstand dagegen, wir haben ihn selbst benannt: Ihr sagt, laßt uns zufrieden, und wir sagen, wir wollen von euch nichts wissen. Auch darüber muß man nachdenken.

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Maaz: Zunächst zu deinem ersten Gedanken: Durch die Spaltung Deutschlands hatten wir die zweifelhafte Gnade, unsere eigene Schuld durch gegenseitige Projektionen abwehren zu können. Statt innerer Schulderkenntnis erlaubten uns die Feindbilder des « Kalten Krieges » neue äußere Schuldzuweisungen — von West nach Ost und von Ost nach West. Diese Möglichkeit geht jetzt zu Ende. Die offiziellen Feindbilder sind zusammengebrochen, aber nicht die inneren — jene Strukturen, die wir beschrieben haben. Diese brauchen weiterhin die Abreaktion über Sündenböcke, um nicht die eigene Sünde zu fühlen.

Deshalb haben sich längst wieder neue Feindbilder aufgebaut: die Ossis, die erst mal richtig arbeiten lernen müßten — und die Wessis, die uns nur dominieren und «über den Nippel» ziehen wollen. Das aber ist für mich ein wesentlicher Grund, das persönliche Gespräch, die Verständigung zu suchen. Was mir mit dir gelungen ist, tut mir gut. Wir verständigen uns, indem wir von uns selber sprechen. Wenngleich wir noch nicht sehr persönlich geworden sind, haben wir uns doch über unsere sozialen Erfahrungen und politischen Haltungen ausgetauscht.

Es gefällt mir, wenn du mir zuhörst und bemüht bist, mich zu verstehen. Ich fühle mich nicht belehrt oder mit meinen Erfahrungen abgewiesen. Und ich höre dir umgekehrt mit Interesse zu. Keiner von uns will recht haben, sondern wir bemühen uns, die uns beide berührenden Themen mit unseren unterschiedlichen Erfahrungen zu belegen. Ich erfahre Neues und kann mich selber entfalten. Und die Erfahrung, daß du an meiner Meinung und an mir interessiert bist, hilft mir, mich nicht nur als Gescheiterter zu empfinden, als bedauernswerter Ossi, der so furchtbar ärmlich und eingeengt hat leben müssen. Trotz deutlicher Unterschiede gibt es innerlich auch viele Ähnlichkeiten zwischen uns, was sicher nicht zuletzt mit unserem Beruf zu tun hat, durch den wir auf das Zuhören und Verstehen eingestellt sind. Aber genau diese Eigenschaften sind entscheidend für die Bereitschaft, sich zu

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öffnen und ehrlicher zu werden. Als DDR-Bürger bin ich zweifellos schuldig geworden durch Mittun, durch Dulden und durch Schweigen, und mir hilft dabei wenig, daß andere noch schuldiger sind als ich. Aber du nimmst mich mit meiner Vergangenheit ernst, versuchst, sie zu verstehen — das tut mir einfach gut.

 

Moeller: Das höre ich gern. Ich empfinde jetzt ein neues Glück, die Zwiegespräche entwickelt zu haben, weil es mir ohne diese Zwiegespräche gar nicht möglich gewesen wäre, mich so eng mit anderen Menschen verbunden zu fühlen. Auch dieses Gespräch habe ich so erlebt. Wir duzen uns inzwischen sogar, was ein Zeichen dafür ist, daß sich in uns seelisch noch sehr viel mehr ereignet hat, als die bloßen Worte es ausdrücken. Aber ich frage mich noch einmal: Weshalb bin ich überhaupt an der menschlichen Vereinigung interessiert? Aufweiche Weise bin ich denn mit einem Friesen vereinigt? Oder mit einem Bayern?

Was soll das heißen — mit Ostdeutschland menschlich vereinigt zu sein? Ihr habt eure Bundesländer, wir haben unsere Bundesländer, und wir werden so weiterleben wie bisher — eine so trockene, realistische Auffassung ist auch in mir zu finden. Und doch habe ich den deutlichen Wunsch, mich zu vereinigen. Ich glaube, es ist mein tiefer, seelischer Wunsch, nach der politischen und zusätzlich zur hoffentlich bald kommenden wirtschaftlichen Vereinigung, also nach der äußeren Vereinigung auch die innere Vereinigung zu vollziehen. Als wäre das für mich eine innere Aufgabe. Was ich spontan im Wiedervereinigungsrausch der ersten Wochen als Schließen einer Wunde erlebt habe — so kommt es mir vor —, möchte ich durch eigene seelische Arbeit vollziehen. Es gibt auch eine ganz direkte Neugier in mir; ich bin einfach neugierig, zu hören, wie es denn hier in diesem Verlies gewesen ist. Darüber hinaus gibt es aber deutlich davon unterschieden einen seelischen Sog — als wenn ich den Weg zur Heimat wiederfände. Das muß ich einmal in dieser fast kitschig anmutenden Weise sagen.

Das bedeutet für mich auch eine Art von Schuldabtragen. Wir sind so lange voneinander getrennt gewesen. Ich habe noch die Zeit erlebt — obwohl ich sie als Kind im Kopf natürlich gar nicht richtig miterlebte —, in der es kein gespaltenes Deutschsein gab.

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Ich kann deswegen diese Teilung nicht akzeptieren. Ich möchte sie einfach nicht. Ich möchte mich identifizieren, mich einfühlen können. Ich möchte sozusagen die andere Seite miterleben können — sosehr diesem Wunsch natürlich auch Grenzen gesetzt sind.

 

Maaz: Was meint denn eigentlich der Begriff «menschliche Vereinigung»? Ich denke dabei zunächst an sexuelle Vereinigung, an eine enge Freundschaft — und wir sind uns ja tatsächlich freundschaftlich nahegekommen. Ist es nicht so, daß jeder von uns im anderen gerade solche Seiten von sich selbst erkennt, die er bisher mehr oder weniger abgewehrt hat? An dir gefällt mir zum Beispiel die ausgeprägte Individualität, der liebenswerte Eigensinn, und natürlich die angenehme Weltgewandtheit. Um meine eigene Individualität aber ringe ich in diesem System von Anfang an, und der immer wieder gehemmte Wunsch zu expandieren ist wohl ein wesentlicher Grund so mancher Symptome und Konflikte, die ich durchgemacht habe. Im Kontakt mit dir empfinde ich beide Problembereiche meiner Person als vermindert, weil du mich in meinem konstruktiven Eigensinn und in meinem Expansionswunsch bestätigst.

 

Moeller: Vielleicht paßt es jetzt, wenn ich noch einmal skizziere, wie ich das Verhältnis zwischen BRD und DDR plötzlich mit dem klassischen Verhältnis eines bundesrepublikanischen Paares in Zusammenhang brachte. Die Frau gilt darin im wesentlichen als zwanghaft und depressiv — beinahe wie das Selbstbild eines klinisch kranken Menschen. Der Mann hingegen scheint vor glänzender Gesundheit zu strotzen und zeigt eine hohe Neigung zu konkurrieren — im Prinzip ein Herzinfarkt-Mensch, der von seelischen Dingen nicht viel wissen will. Die Frau erscheint als Kranke, weil sie leidensfähiger ist und unbewußt sehr viel deutlicher wahrnimmt, was in der Beziehung vorgeht.

 

Maaz:  Sie lebt etwas, was er nicht leben kann, und er entwickelt statt dessen einen Herzinfarkt...

 

Moeller:  ... Ja, doch beide repräsentieren jeweils eine andere Seite ein und derselben gemeinsamen Grundangst. Der Mann erscheint gesünder, obwohl er kränker ist, wie die Frau kränker

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scheint, obwohl sie gesünder ist — das kann man direkt auf das Verhältnis zwischen BRD und DDR übertragen. In allen Beschreibungen — vor allem in deinem Psychogramm der DDR, in dem du die Polaritäten beginnend bei arm und reich zusammenstelltest — läßt sich eine Kollusion, ein unbewußtes Zusammenspiel zwischen DDR und BRD erkennen. Diese Kollusion spiegelt sich exakt in dem klassischen deutschen Paar wider. Auf unserer Seite war die seelische Lage eher hypomanisch unbesorgt, auf eurer Seite eher depressiv. Insofern ist es richtig, wenn du sagst, eine Motivation, eine Sehnsucht von mir sei es, mich zu einem ganzeren Menschen, also zu einem ganzeren Deutschen, zu machen, indem ich zu dir komme und ich mich mit dir in ein Zwiegespräch begebe.

 

Maaz: Und wer bin ich für dich? Welchen Teil von dir, den du bisher halt nicht leben konntest, verkörpere ich für dich?

 

Moeller: Als Gewinn erscheint mir, daß ich meine unter meiner eigenen Verdrehung verlorene Menschlichkeit hier in einer anderen Verdrehung wiederentdecke. Ich entdecke einerseits, alles ist hier mehr auf dem Boden, das äußere Leben ist reduzierter, nicht so abgehoben, so daß ich mich plötzlich intensiver fühlen kann. Wenn ich aus dem Fenster blicke, lenkt mich kein flirrender Glanz von mir selber ab. Ich bleibe bei mir, und das ist mir ein sehr angenehmes Gefühl. Gleichzeitig stoße ich aber durch deine Gespräche auf viel Entsetzliches, was ich mir so intensiv habe gar nicht vorstellen können. Ich sehe dabei gleichsam eine andere Variante meiner selbst — eine auch verdrehte, vor allem aber andere Variante. Durch den Vergleich zwischen dir und mir entdecke ich sozusagen den gemeinsamen Nenner der verschütteten Menschlichkeit. Das ist vielleicht meine wichtigste Motivation.

 

Maaz: Was das Menschliche anbetrifft, habe ich genauso die Sehnsucht, offener und letztlich einfacher leben zu können, als es uns abverlangt wird, und ich sehe, wie auch ich leider noch viel zuviel mitspiele. Das Gespräch zwischen uns hilft mir aber zugleich, mein Minderwertigkeitsgefühl etwas zu vergessen. Ich fühle mich durchaus von vielen Menschen geschätzt und auch in meiner Arbeit sehr bestätigt, doch Kritik wirkt mitunter wie ein schmerzlicher Stachel, der in alte Wunden sticht.

Letztlich sind diese verursacht durch die tiefe Verletzung, von den Eltern, in der Erziehung und in diesem Gesellschaftssystem nie so angenommen und verstanden worden zu sein, wie ich es gebraucht hätte. Gegen diese kindliche Kränkung hilft auch beruflicher Erfolg nichts, er kann nur ablenken und kompensieren. Aber in dem Gespräch mit dir fühle ich mich auf einmal angenommen und verstanden und spüre mit Wehmut, wie sehr ich das auch früher gebraucht hätte. Dieses Gefühl wiederum, empfinde ich als heilend.

Moeller: Ich erlebe uns plötzlich als eine Solidargemeinschaft. Wir haben eine gemeinsame Not: die Entselbstung. Diese symbolisiert sich beispielhaft darin, daß wir als Staaten sowohl im Westen wie im Osten führend sind im Mangel an Kindern. Für mich ist das wirklich ein Symptom dieser absterbenden Lebendigkeit, eine Parallele zur Beziehungsschwäche. Gemeinsam haben wir eine größere Chance, uns über den Verlust unseres Lebens und unseres Selbstes Gedanken zu machen — und auch Konsequenzen daraus zu ziehen —, weil wir uns jetzt in zwei Varianten sehen können. Ich kann mich aus meinem eigenen Selbst herausbewegen, indem ich mich mit dir identifiziere, und entdecke dadurch plötzlich bei mir etwas, das tief verborgen im Hintergrund lag. Ich nehme an, daß es dir auch so geht. Wir entdecken unser ganzes Selbst erst durch das Entdecken der unterschiedlichen Verkrümmungen.

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