4 Die dritte Schuld der Deutschen
Reflexionsgespräch
Über Nähe, Vertrauen und die Sehnsucht nach Führung — Über Streß, Verwestlichung und neue Unterwerfung — Über das plötzliche Ende des seelischen Aufbruchs im Osten und die Schwierigkeit, sich mit sich selbst zu vereinigen — Über die gescheiterten Revolutionäre von 1968 und 1989 — Über die Scham, ein West-Auto zu fahren, und die Verlockungen des Wohlstandes — Über die Verschiebung der Feindbilder und die Wiederkehr der NS-Vergangenheit — Über die Angst vor dem Frieden und die Ohnmacht in der Politik — Über den sexuellen Leistungsdruck und den Erfolg esoterischer Sekten in Ostdeutschland
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Maaz: Wenn wir darüber reflektieren, welche Themen wir in unseren Zwiegesprächen berührt oder ausgelassen haben und was dabei in uns vorgegangen ist, fällt mir als erstes die Frage nach unserer eigenen Beziehung ein. Wie sind eigentlich — vielleicht ist diese Frage typisch für einen Bürger aus der ehemaligen DDR — die «Machtverhältnisse» zwischen uns? Ich erlebe dich in unseren Zwiegesprächen als führend. Die Initiative kam von dir, die Idee, daraus ein Buch zu machen, halte ich für typisch westlich, ebenso die Art und Weise, wie wir dabei vom Verlag unterstützt und gemanagt werden. Ich staune, was alles möglich ist. Ich bin fasziniert davon — und auch geängstigt. Ich fühle mich geehrt — fürchte aber auch, verbraucht zu werden.
Zugleich mache ich die Erfahrung, daß ich mich ganz gerne von dir führen lasse. Deine Art läßt mich das als angenehm empfinden. Dies ist für mich etwas ganz und gar Besonderes, denn ich bin wirklich «allergisch» gegen Führung.
Meine Ablehnung und meine Empörung gegen bornierte und verlogene «Obrigkeit» sitzt tief. Ich empfinde ihr gegenüber oft einen regelrechten Haß und Ekel, was auf frühe Erfahrungen aus meiner Kindheit verweist. Wenn ich mich jetzt deiner Führung ganz gut überlassen kann, spüre ich auch eine tiefe, offensichtlich nie erfüllte Sehnsucht, so geführt zu werden, daß es gut für mich ist. Ich bin diesem Gefühl gegenüber ganz mißtrauisch, weil ich angefüllt bin mit solchen Erfahrungen — wie ich unter dem Druck, ich solle die Erwartungen anderer erfüllen, ich solle «der Sonnenschein» und für die Bedürfnisse anderer tüchtig sein, zur Unterwerfung verführt werden sollte.
Ich habe sehr darunter gelitten, daß ich mich nie so verstanden empfand, wie ich es gebraucht hätte. Dies ist zwischen uns beiden anders. Es gefällt mir, daß ich mich zurücklehnen und zuschauen kann, wie du manches arrangierst — aber was ich im Moment als positiv empfinde, halte ich in den Beziehungen zwischen Ost- und Westdeutschen für ein Problem. Ich denke, daß wir uns zu schnell und zu leicht unterwerfen und die Westdeutschen offensichtlich auch großen Wert auf ihre dominante Rolle legen. Daß sie jetzt von vielen bei uns als neuer Machthaber empfunden werden, ist nur die logische Folge davon. Im Grunde sind die alten Rollen noch eskaliert: Die Wessis spielen sich auf, und wir kuschen erneut vor den Starken. Etwas von dieser Unterwerfung ist auch zwischen uns, aber ich empfinde es erstmals als ganz wohltuend. Ein ungestilltes Bedürfnis regt sich in mir — und vielleicht geht es ja vielen Menschen im Osten so.
Moeller: Die Grundlage unserer Beziehung ist also Vertrauen.
Maaz: Ich glaube ja.
Moeller: Was mich sehr beeindruckt hat, als wir den Text unserer ersten Gespräche durchgingen, war diese große Nähe. Stichwort: Du wirst mir «zu dicht». Wir haben ja im Zwiegespräch gesagt, das sei ein Zeichen dafür, daß sich sehr viel zwischen uns tut. Was uns in diesem Augenblick nicht bewußt wurde, war unser innerer Druck, uns menschlich zu vereinigen. Er steht letztendlich hinter dieser zunächst zu großen Nähe, die sich dann ja zu einem besonderen Zeitpunkt in der Entwicklung unserer Beziehung aufgelöst hat.
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Neu ist für mich aber diese Führungssituation, die ich gar nicht bemerkte. Ich habe mich nicht als Führender erlebt, wenn ich jetzt auch gespürt habe, daß sich für dich eine große Sehnsucht erfüllt, auf eine freundliche Weise geführt zu werden. Ich glaube, daß eine tiefergehende menschliche Beziehung zwischen uns beiden entstanden ist. Diese Erfüllung verborgener Sehnsüchte, wie sie zwischen uns möglich wurde — wenn du willst, auch auf dem Hintergrund einer sublimierten gleichgeschlechtlichen Sympathie —, ist so stark, daß sie zu dieser Nähe ebenfalls beigetragen hat. Dieses « Zu-dicht-Sein » könnte sich nach Art einer Kollusion, eines unbewußten Zusammenspiels zwischen uns beiden, hergestellt haben. Ich erlebte, das wird mir zu dicht, weil diese Sehnsucht bei dir hochkam und sich mir unbewußt vermittelte oder mich anregte.
Maaz: Mir wird jetzt auch meine Situation nach der «Wende» deutlicher. Im Grunde genommen war ich vorher ständig zur Zurückhaltung genötigt und zur Enge verdonnert. Ich war in diesem Staatssystem nicht beliebt und bei den Mächtigen nicht anerkannt. Ich habe mir meine Anerkennung immer mühsam erarbeiten müssen und damit das fortgeführt, was ich bei den Eltern bereits von früh auf lernen mußte. Mit der «Wende» bin ich nach außen expandiert: Ich habe in kurzer Zeit dreizehn Länder bereist, halte überall Vorträge, lerne viele Leute und Möglichkeiten kennen. Ich habe viel an Bedeutung gewonnen. Ich habe mich mit einem Buch herausgewagt und erfahre großes Interesse, viel Zustimmung, auch Ablehnung — das alles ist ungewohnt und verwirrend. Ich fühle mich geehrt, ich empfinde Stolz und Genugtuung und zugleich auch Angst, daß ich mich verführen lasse, aus meiner inneren Bedürftigkeit heraus Dinge zu tun, durch die ich mich auf neue Art und Weise von mir entferne. Mir fällt auf, daß ich mich zu häufig in Streßsituationen bringe, daß ich mit der Fülle der Möglichkeiten und Angebote schlecht umgehen kann und nicht genug für mich und meine Beziehungen sorge. Im alten System hatte ich mir — mühsam genug — bereits mehr inneren Freiraum erarbeitet. Dieser droht mir jetzt wieder zu entgleiten.
Moeller: Der Erfolg ist wie eine « Plombe » für die seelische Lücke, den inneren Mangel.
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Maaz: Er ist ein Ersatz. Die schwierigen inneren Prozesse vernachlässige ich und zerstreue mich statt dessen nach außen. Ich verkaufe mich wegen der verlockenden Aufwertung und der äußeren Vielfalt. Ich denke, diese Anerkennung bin ich auch wert, und doch will ich es nicht recht glauben. Es fällt mir schwer, die unterschiedlichen Interessen, die auf mich gerichtet sind, nach ihrem Echtheitsgrad zu unterscheiden. Die Vermarktung von Gedanken, Gefühlen und Erfahrungen ist mir sehr fremd, und ich bringe die persönlichen und geschäftlichen Interessen noch häufig durcheinander. Ich werde mit den eigenen neurotischen Gehemmtheiten und Bedürfnissen aus der Vergangenheit konfrontiert — zugleich bin ich aber schon Opfer und Gewinner der neuen Lebensart. Weder die alte Enge noch die jetzige allzu große Weite befriedigen mich. Beide Lebensformen hindern mich daran, mich selbst zu finden oder bei mir zu bleiben.
Moeller: Du erlebst also eine «Verwestlichung», so wie wir sie in den Zwiegesprächen beschrieben haben. Im Westen wie im Osten leiden wir beide an ein und derselben Grundproblematik, allerdings in unterschiedlichen Gewändern und anderen Erscheinungsformen. Daran zeigt sich, daß wir sowohl für den Westen wie für den Osten als Psychotherapeuten, als Psychoanalytiker ganz und gar atypisch sind. Uns fehlt unter anderem die brisante Aggressivität, die zur Zeit die Beziehung zwischen Ost und West prägt. Bei uns kommt dieser Zorn gar nicht erst auf, weil wir uns zu sehr mögen und weil wir einen gemeinsamen Nenner in der psychoanalytisch orientierten Psychotherapie einschließlich unserer Selbsterfahrung haben.
Maaz: Ich finde die Beziehung zu dir und unsere Zusammenarbeit deshalb so sympathisch, weil es uns gelingt, bei uns beiden Grundprobleme zu finden, die uns verbinden — die wir aber unterschiedlich abgewehrt und kompensiert haben. Obwohl du aus einer anderen Welt kommst, empfinde ich Sympathie, weil wir uns verstehen und eine gemeinsame Wellenlänge finden, auf der wir schwingen können. Das ist ein Privileg, für das ich dankbar bin.
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Ich sage das auch, weil mich Zorn und Enttäuschung packt, wenn ich miterleben muß, wie Menschen sich nicht verstehen wollen, wie Menschliches aus Markt- und Profitgründen mißachtet wird. Der Stalinismus war schlimm. Aber die Enttäuschung und der Zwang zu einem neuen bösen Spiel ist schlimmer. Denn die neue Unterwerfung funktioniert erfolgreicher, die Folgen sind tragischer und zwischen alle Beziehungen schiebt sich unaufhaltsam das Geld. Dieser Konflikt ist nicht nur einer zwischen Ost- und Westmenschen. Die Trennlinie zwischen Geld- und Machtbeziehungen auf der einen und emotional offenen Kontakten auf der anderen Seite verläuft ebenso zwischen den Menschen im Osten wie zwischen den Menschen im Westen. Auf beiden Seiten gibt es Menschen, mit denen ich größte Schwierigkeiten habe, mich zu «vereinigen». Im günstigsten Fall kann ich sie verstehen, aber das löscht nicht meine Affekte, die von Abneigung bis Haß reichen.
Moeller: Da bin ich derselben Meinung. Ich möchte aber meine Überlegung noch zu Ende führen: Wir beide sind zwar atypisch, trotzdem aber symptomatisch. Niemand wird sagen können, wir seien zwei ungewöhnliche, am Rande der Gesellschaft stehende Figuren, die fürs Ganze in keiner Weise typisch sind. Im Gegenteil: wir sind sehr typisch fürs Ganze, wenn auch in unserer besonderen Fassung als Psychotherapeuten.
Maaz: Mit Hilfe unserer psychotherapeutischen Möglichkeiten — zuhören, sich einfühlen, sich gegenseitig akzeptieren und verstehen wollen — sind wir in unseren Zwiegesprächen bald vom «Sie» zum « Du» gekommen. In dieser Verständigung und Annäherung sind wir bestimmt nicht repräsentativ für die Ost-West-Beziehungen. Obwohl es auch zwischen uns mitunter Verteidigungs- und Erklärungsversuche gab, also Abwehrformen, die unsere innerste Betroffenheit abmildern sollten, haben wir die aggressiven Affekte vermieden, die jetzt in Deutschland immer stärker auftreten. Und im Unterschied zu vielen Ostdeutschen bin ich dadurch privilegiert, daß ich Arbeit habe und Anerkennung finde. Ich möchte deshalb durch unsere Annäherung den berechtigten Zorn, der bei vielen im Osten herrscht, und die vielen Schwierigkeiten, sich zu verstehen, nicht vergessen oder ausblenden.
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Gegenwärtig wachsen bei uns die sozialen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten so rasant, daß ich schon nicht mehr typisch für den « Osten » bin. Was meine Wünsche und Sehnsüchte betrifft, meine Bedürftigkeit und meine Schwierigkeiten, darin sehe ich mich allerdings durchaus als prototypisch an. An unserem Annäherungsprozeß halte ich für so wichtig, daß wir uns Traurigkeit und Schmerzliches zumindest eingestanden, wenn auch nicht durchlebt haben.
Moeller: Wollen wir das gleich konkret aufgreifen? Ich finde, dies wurde besonders sichtbar, als du meine Trauer gedeutet hast. Ich erlebte eine unerwartete Trauer, als ich in den Osten fuhr, und du sagtest sinngemäß: Das ist doch die Trauer, die du aus dem Westen reinschleppst; du siehst sie drüben nur nicht. Ich hielt deine Antwort mehr oder weniger für eine Deutung und meinte, wir sollten sie einmal so stehenlassen, anders kämen wir beide an diesem Punkt nicht weiter. Dann aber erkannte ich, daß ich tatsächlich auch in meinem eigenen Leben ein Gefühl der Trauer erlebte. So habe ich deine Deutung indirekt wiederaufgenommen.
Maaz: Ich konnte auf diese Weise auch deine Kritik an uns besser annehmen. Im Grunde genommen sehe ich das ja genauso, aber es schmerzt mich eben doch, wenn es mir von außen vorgeworfen wird. Ich fühle mich persönlich angegriffen und gehe in Verteidigungsstellung. Indem wir unser beider Abwehr an dieser Stelle aufweichen konnten, haben wir uns...
Moeller:.. .gefunden, sind sozusagen einen ersten Schritt gegangen auf dem Weg zur menschlichen Vereinigung. Das erscheint mir als ein ganz besonderes, schönes und sichtbares Beispiel dafür, welche Chancen ein solches Zwiegespräch eröffnet: langsam schmilzt die Abwehr, und plötzlich begegnen wir uns offener.
Maaz: Um die Abwehr aufzugeben, müssen wir zunächst unsere Angst vermindern können — dann können wir uns näherkommen.
Moeller: Ich denke, auch die Angst vor uns selbst. Die menschliche Vereinigung zwischen Ost und West setzt im Grunde voraus, sich mit sich selbst zu vereinigen. Das dürfte der Pferdefuß sein. Denn es ist nicht einfach, die eigene Abwehrschranke zu überwinden — wegen der eigenen inneren Angst. Die menschliche Vereinigung ist so gesehen fast eine Art Therapie, eine innere seelische Entwicklung. Denn jede Psychotherapie ist ein seelischer Entwicklungsweg.
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Maaz: In letzter Zeit kommt mir öfters der Gedanke — und in unserem Gespräch gibt es ebenfalls mehrere Indizien dafür —, daß wir, im Osten wie im Westen, nicht wirklich ganz waren. Wir waren gespalten, hatten auf beiden Seiten etwas von uns abgespalten. Aus unserer beruflichen Arbeit kennen wir das ja, aber mir geht es jetzt ganz allgemein um das Ost-West-Verhältnis. Wir haben uns gegenseitig gebraucht und benutzt, um unsere innere Not zu beschwichtigen: Wir haben euch die Größe und Freiheit angedichtet, die wir nicht leben konnten — und für euch verkörpern wir die Enge und Armut, die ihr bei euch nicht wahrnehmen wollt. Der Blick nach außen soll von den inneren Zuständen ablenken.
Wenn wir uns wirklich näherkommen wollen, müssen wir die Abspaltungen zurücknehmen und den anderen aus der Projektion entlassen. Dann wären wir viel stärker mit uns selbst konfrontiert. Ich stehe jetzt meiner innersten Unsicherheit und meinem Minderwertigkeitsgefühl auf neue Art gegenüber. In der DDR war es nicht schwer, das repressive System dafür verantwortlich zu machen, aber jetzt bin ich «befreit», lebe im «Westen», erfahre Wertschätzung — und bin doch nicht zufriedener. Ich stehe wieder einem schmerzlichen Erkenntnis- und Gefühlsprozeß gegenüber, den ich nicht noch einmal auf die alte Weise ausagieren will.
Moeller: Für mich war das Empfinden in dem kleinen Klinikzimmer in Halle wesentlich — daß ich plötzlich bei mir selber bleiben konnte und nicht mehr den übermäßigen Reizen von draußen ausgesetzt war. Mir ist aufgefallen, daß du ein ähnliches Gefühl hattest, als du aus dem Westen zurückkamst. Auch meine Trauer kann man mit Recht am Osten festmachen. Sie entstand angesichts von vierzig Jahren ungelebten Lebens. Als ich das wahrnahm, habe ich auf einmal entdeckt, daß es mir im Westen genauso geht. Das Erlebnis, daß sich mit der Wiedervereinigung eine Wunde schließt, wird zum Zeichen einer Selbstheilung — wenn man sich so wie wir in den Zwiegesprächen wirklich auf den Weg macht, sich menschlich zu verhalten.
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Maaz: Die Fülle des Westens ist es also, die dir die Möglichkeit nimmt, bei dir zu bleiben.
Moeller: Ich kann schwer einen konkreten Ort dafür finden. Praktisch ist es ja eine Selbstvermeidung. Das Leben an sich ist voll von verführerischen Angeboten. Durch dich sehe ich mich aber aus einem anderen Blickwinkel. Die große Fülle, die schließlich zum Terror wird, ist mir erst durch deine Schilderung bewußt geworden. Aus der Perspektive des Ostdeutschen, so wie du sie geschildert hast, ist mir plötzlich meine Situation besonders klar geworden. Ich erkenne mich in dem ostdeutschen Spiegel, obwohl sich dort, oder besser: weil sich dort meine Situation immer etwas anders darstellt. Ich erkenne mich also in dir.
Maaz: Auf den Vorwurf, bei uns herrscht nur noch Verfall, habe ich mit dem Satz reagiert: «Das ist ja starker Tobak.» Ich denke jetzt, mit diesen Zuständen zeigen wir euch eure eigenen Schattenseiten, sozusagen das Kellerloch, das ihr in euren herausgeputzten Häusern nicht mehr zur Kenntnis nehmen wollt. Und wenn wir für euch diesen Zweck nicht mehr erfüllen, müßt ihr selber wieder diese Seite bei euch entdecken. — Aber angesichts des momentanen wirtschaftlichen Desasters werden wir uns wohl noch lange als Splitter im Auge des anderen eignen.
Moeller: Am Beispiel meiner Trauer wird das sehr deutlich. Ich entdecke, daß ich auch im Westen nicht wirklich leben kann. Aber die Westdeutschen haben eine hervorragende Abwehrmöglichkeit: Sie müssen nicht — dafür brauchten sie Selbstoffenheit — in ihren eigenen Keller sehen, sondern können immer nach Osten zeigen und sagen: Seht mal, wie vergiftet der Boden dort ist! Seht mal, wie elend und schlimm dort alles ist! Und es stimmt ja sogar. Aber damit ist wieder die Gelegenheit zur Projektion gegeben. Wenn man sich wirklich menschlich vereinigt, kann man diese Projektion aufheben. Vielleicht ziehen es die Westdeutschen aber vor, sich menschlich nicht zu vereinigen, weil sie eben dadurch die Projektion beibehalten können.
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Maaz: Deshalb ist ja meinem Buch «Psychogramm der DDR» der Vorwurf gemacht worden, ich hätte mit meiner kritischen Sicht der DDR-Bürger bestimmten Leuten im Westen nur Vorwände geliefert, auf uns abzulenken und sich so überheblich aufzuführen. Das Buch hätte gleichsam eine Erklärung und Entschuldigung für die Notwendigkeit der arroganten Belehrungen, der «Abwicklung» alter Strukturen geliefert. Die Westdeutschen konnten nun doppelt selbstgewiß auftrumpfen: Wir müßten endlich richtig arbeiten lernen und schnell die westliche Lebensart übernehmen — dann werde es uns schon bald besser gehen.
Moeller: Die Grundproblematik, die wir langsam herausgearbeitet haben, ist, daß die Schwierigkeit oder Unmöglichkeit, zu sich selbst zu kommen, oder — anders gesagt — die Abwehr, sich selbst zu begegnen, ein gemeinsamer deutscher Nenner ist — auch wenn er sich in einem unterschiedlichen Gewand zeigt. In den Zwiegesprächen liegt eine große Chance: Gerade weil ich meine Problematik in dir in einem anderen Gewande sehe, kann ich plötzlich meine eigene entdecken. Ich vergleiche; lasse mich auf etwas anderes ein; fange an nachzudenken, wie es denn von mir aus gesehen bei dir aussieht; und indem ich deine Situation nachfühle, entdecke ich plötzlich mein eigenes Problem — denn im Zwiegespräch wird dasselbe Problem auch bei mir aktualisiert. Vielleicht sollten wir die unterschiedliche Ausgestaltung unseres gemeinsamen Grundproblems — daß wir zu wenig zu uns kommen — als eine Schwäche in der Selbstbeziehung bezeichnen. Und vielleicht ist diese typisch deutsch.
Maaz: Unser vergleichbares Grundproblem, die Beziehungsschwäche zu uns selbst — also das innere Mangelsyndrom — versuchen wir auf vollkommen entgegengesetzte Weise zu kompensieren. Die Pole, zu denen wir jeweils ausgerichtet sind, heißen Mangel und Fülle, und beides ist irgendwie...
Moeller: ... eine Form von Terror.
Maaz: Genauso wie die Macht des Parteiapparates und die Macht der Freizeit- und Konsumindustrie, die Repression bei uns und die Zerstreuung bei euch.
Moeller: Auf der einen Seite kam es zu einem Gefühlsstau, auf der anderen zur Gefühlsentleerung.
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Maaz: Ja, die Gefühle dürfen sich entweder nicht zeigen und ausdrücken oder sie verflüchtigen sich in zahllose, aber letztlich nichtssagende Möglichkeiten, die zwar interessant sein können, aber nicht an Tiefe gewinnen. Hinzu kommt: Bei uns haben sich Beziehungen vor allem als Beziehung gegen etwas konstituiert, sie sind zustande gekommen durch Protest — gegen das System, gegen die Obrigkeit und gegen den Mangel. Bei euch dagegen...
Moeller: ... herrscht ein funktionales Nebeneinander von Beziehungen. Die Funktionalität kennzeichnet aber in beiden Fällen die Beziehungen der Deutschen untereinander.
Maaz: Der Vereinigungsprozeß, so wie er bisher abläuft, wird bei uns von vielen als neue kränkende Verletzung erlebt, weil wir weder in unseren Beziehungen uns dadurch wirklich näher gekommen sind, noch haben wir unsere bisherige Entfremdung vermindern können. Lediglich im Herbst 1989 gab es diese herrliche Aufbruchsstimmung, die die Möglichkeit bot, besser zu uns selbst zu finden durch Auseinandersetzung, Offenheit und emotionale Entladungen — doch diese ist sehr schnell wieder verlorengegangen. Die ehrliche Beziehung zu uns selbst, die wir so nötig hätten und die wir uns letztlich auch ersehnen, ist uns nicht gelungen, und ich mache den Westlern den Vorwurf, daß sie uns das auch nicht gelassen haben.
Mit ihrer Art sich einzumischen, uns retten zu wollen, haben sie eben auch ihren Anteil dazu beigetragen, daß uns das nicht gelingt.
Moeller: Wir haben dazu beigetragen - das könnte ich akzeptieren. Nicht mehr akzeptieren könnte ich, daß wir sie euch nicht gelassen hätten. Das wäre eine einseitige Schuldzuschreibung. Ich meine aber, an einer Beziehungsform wirken immer beide mit. Ich hatte im Herbst 1989 die große Hoffnung, hier, in der DDR, vollzöge sich wirklich die erste deutsche und dazu noch friedliche Revolution. Das wäre ein Zeichen gewesen für die Stärke der Selbstbeziehung. Aber es ist dann anders gekommen...
Maaz: Ich hatte mit dieser «Revolution» dieselben Hoffnungen. Doch inzwischen bin ich der Ansicht, wir hatten keine Revolution, nur einen Machtwechsel. Die Autoritäten und die Bürokratien sind ausgewechselt worden, aber die Beziehungsstörungen untereinander und zu sich selbst sind nicht besser geworden — eher noch sind neue Verletzungen und Belastungen hinzugekommen.
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Moeller: Auch der Anlaß, auf die Straße zu gehen, der Anlaß, der schließlich zu der Revolution führte, war, glaube ich, anders, als wir ihn uns vorstellten.
Maaz: Der Umbruch war auf keinen Fall von einer primär politischen Motivation getragen. Das System kollabierte vielmehr und als es in den letzten Atemzügen lag, haben auch wir unseren Protest auf die Straße getragen. Eine politisch gezielte Haltung lag nicht dahinter, auch den Begriff «Heldentum» kann ich dafür bis auf ganz wenige Ausnahmen nicht gelten lassen.
Moeller: Was war es aber dann für eine Haltung, die die Menschen auf die Straße brachte?
Maaz: Es waren unsere aufgestauten Gefühle, unsere Aggressivität, auch die Genugtuung, dieses verhaßte System endlich beerdigen zu können, wieder etwas von unserer Würde zurückzugewinnen, aus unseren Mauselöchern herauszukriechen.
Ich habe im Westen öfter gehört, daß manche die Hoffnung hatten, wir würden nun die erste erfolgreiche Revolution auf deutschem Boden zustande bringen. Zunächst war das natürlich sehr ehrenvoll für uns — wir haben es gerne gehört, und wir waren kurze Zeit stolz, aber das ist längst vorbei. Jetzt fange ich an nachzufragen, woher bei euch eigentlich dieser Wunsch und diese Sehnsucht nach einer erfolgreichen Revolution kommt.
Moeller: Ich war—wie wir sehen ganz zu Unrecht — stolz auf euch als Deutsche: Das sind endlich Deutsche, die zustande bringen, was wir im ganzen Zeitraum der Geschichte nie geschafft haben. Unsere Nation hat sich doch niemals selbst gefunden. Das spiegelt auf gesellschaftlicher Ebene die Selbstbeziehungsschwäche wider. Sie ist gleichsam von oben diktiert worden. Wir haben nie eine Französische Revolution erlebt.
Maaz: Und was ist mit eurer 68er Revolution?
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Moeller: Die 68er Zeit ist tatsächlich eine Wende. Aber ich sehe sie nicht als eine Revolution an. Erstens hatte sie längst nicht dieses Ausmaß, diese Stärke, zweitens umfaßte sie nicht Gesamtdeutschland, sondern war nur auf Westdeutschland beschränkt. Aber sie brachte, wie ich finde, einen deutlichen Bewußtseinswandel zustande. Sie ist für mich die Wende von der alten, eher autoritativen, zu einer viel großzügigeren, offeneren, dialogfähigeren Lebensform. Sie ist für mich selbstverständlich auch ein Symptom der Nachkriegsgeneration, also Ausdruck und nicht nur Auslöser des Bewußtseinswandels.
Maaz: Gerade eine solche Revolution wünschte ich mir sehr bald bei uns, denn die 89er kann ich als solche nicht ansehen. Was nach wie vor fehlt, ist eine breite Liberalisierung...
Moeller: .... innere Liberalisierung ...
Maaz: .... ein Abbau der autoritären Strukturen in allen Bereichen der Gesellschaft, den ich nirgendwo erkennen kann. Aber ich frage mich, ob in der enttäuschten Hoffnung über uns nicht eine Menge Enttäuschung über eure 68er Bewegung enthalten ist? Ob nicht auch diese « Revolution » an entscheidender Stelle steckengeblieben ist ? Obwohl ihr insgesamt eine wesentlich liberalere und demokratischere Entwicklung genommen habt, sind doch viele Einflüsse auf die Menschen und auf das Zusammenleben bei euch mit unseren Verhältnissen durchaus vergleichbar. Vielleicht habt ihr euch zufriedengegeben oder geben müssen mit dem Gefühl, eine wesentliche Wende in eurem System vollbracht zu haben — doch das ist im Grunde ein Selbstbetrug, denn von da ab ist die menschliche Entfremdung nur noch geschickter verpackt und verborgen worden.
Moeller: Es kann durchaus sein, daß die nicht eingelösten Hoffnungen der 68er Zeit auf die 89er Revolution projiziert wurden. Wir dachten ja beide, diese sei auch ein innerer Ruf nach Erlösung gewesen. Es scheint mir ein typisch deutsches Schicksal, daß beide Revolutionen versandet und verrieselt sind in einem großen Attraktivitätspanorama. Jetzt habt ihr wirklich alles, die D-Mark, die neuen Autos, die Kühlschränke, den ganzen verführerischen Konsum. Und genau das war ja fast zum Karikaturbild der 68er geworden, als die wilden Rebellen plötzlich in Werbeagenturen saßen und als Kaufleute oder anderswie Etablierte aufgesogen schienen.
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Die Erlösung des Inneren hat nicht stattgefunden. Damals — so habe ich es jedenfalls erlebt — war der Ruf der 68er, daß man wirklich zu sich selbst kommen könnte, daß man politische Strukturen schaffen sollte, in denen viel mehr Beziehungsreichtum möglich wäre, beispielsweise in der Form der Mitbestimmung. Einiges haben diese Jahre ja auch bewirkt. In den Universitäten entstanden Strukturen, die ein Mitspracherecht unterschiedlicher Gruppierungen vorsehen. Doch insgesamt ist das nur ein ganz schmales, fast dürftiges Ergebnis des ursprünglichen Entwurfes.
Maaz: Ich verstehe allmählich, weshalb die Politiker, die Wirtschaftsleute, aber auch der Großteil der Menschen den Vereinigungsprozeß von westlicher Seite so angetrieben haben - vielleicht aus Abwehr der Sehnsüchte, die 1968 zum Konflikt führten, aber nicht wirklich zur Lösung und Vollendung gebracht wurden. 1989 sind diese erneut aktiviert worden, und das hat viele Wünsche und Hoffnungen, aber auch Ängste mobilisiert. Als die Hoffnungen dann enttäuscht wurden oder enttäuscht zu werden schienen, sind die Ängste übermächtig geworden. Von da ab gab es nur noch eine Tendenz, uns möglichst schnell an euer System anzugliedern, damit die alten schmerzlichen Fragen ja nicht wieder aufs neue aufgeworfen werden.
Moeller: Bei dieser Nachbetrachtung der Zwiegespräche erlebe ich ein neues Moment: ich koste sie aus. Ich genieße besonders, wie die Kleistsche «Vorfertigung der Gedanken beim Reden» abläuft, wie wir wirklich zu gemeinsamen Erkenntnissen kommen und wie sich auch gefühlsmäßig unsere Vereinigung vollzieht. Daß wir im zweiten Zwiegespräch unseren gemeinsamen Nenner auf den Begriff « Entselbstung » gebracht haben, erscheint mir als ein Meilenstein in diesem Prozeß. Wichtig an dieser Nachbetrachtung ist auch, daß wir noch einmal den Gesprächsverlauf reflektieren, wobei uns neue Zusammenhänge aufgehen und wir unsere Ausführungen ergänzen. Ich denke mir also, durch diese Art, mit den Zwiegesprächen umzugehen, erweitert sich noch einmal unser Bewußtsein, vertieft sich der menschliche Vereinigungsprozeß.
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Maaz: Ich kann das bestätigen. Unsere Zwiegespräche sind für mich befreiend und angenehm. Ich spüre allerdings auch eine innere Spannung und Ambivalenz: Einerseits kritisiere ich ziemlich heftig die Art und Weise des Vereinigungsprozesses und die westliche Lebensart; auf der anderen Seite genieße ich auch die Vorzüge des Westens. Ich gehe gerne zum Italiener essen, ich fahre ein neues Auto, es ist einfach ein Vergnügen und natürlich verführerisch, wie ich hier behandelt und aufgewertet werde. Ich hatte mich mit der DDR wenig identifiziert, lebte in deutlicher innerer Distanz zu diesem System, und dennoch fällt es mir jetzt schwer, die «Verwestlichung» anzunehmen — jedenfalls dort, wo mir etwas aufgedrängt wird, und das geschieht leider im Moment sehr reichlich und gebieterisch. Ich fühle mich sogar schuldig, dies alles mitzumachen, denn es ist wie Verrat an den eigenen Idealen. Am deutlichsten spüre ich das mit dem neuen Auto. Ich schämte mich seinetwegen zu Hause etwas und würde es am liebsten verstecken, denn es ist der offenkundigste Widerspruch zu meiner veröffentlichten Meinung. Jeder kann sehen: Ich bin den Verlockungen verfallen, die ich so sehr kritisiere.
Moeller: Darf ich einen Einwand machen ? Ich denke mir, das ist eben diese zwiespältige und allzu menschliche Entwicklung, die uns alle betrifft. Du wirst von den Verführungen des Westens ergriffen, und während du sie dir wie einen Glitzermantel umlegst, packen dich gleichzeitig die Schuldgefühle. Du bist plötzlich vorangekommen und spürst in dir, was ich die Glücksangst nenne. Die Schuldgefühle wegen des Privilegs und die Angst vor dem Neid der anderen gehören unter anderem dazu. Beinahe meint man, man verrate damit die eigene Heimat. Ihr habt alle in einer gemeinsamen Welt gelebt, die dieses System herstellte - und jetzt kommt plötzlich dieser...
Maaz: ...«Bruch» würde ich am ehesten dazu sagen. Es gibt massenhaft Identitätsbrüche. Wir hatten uns doch alle irgendwie eingerichtet in unserem System. Natürlich kann und muß man das Verhalten jedes einzelnen unterschiedlich bewerten — es reicht von strafrechtlich zu verantwortenden Handlungen über moralische Verfehlung bis hin zu einfacher menschlicher Schwäche.
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Daß kriminelle Machthaber und Gesinnungslumpen durch die «Wende» entwurzelt wurden, erfüllt mich ja noch mit einer gewissen Genugtuung, aber die Oppositionellen haben keinen besonderen Grund zur Freude, denn sie haben nichts wirklich dazugewonnen. Sie haben ihre aus der Gegenposition gewonnene Identität verloren, aber keine positive Konzeption für das Neue gefunden. Mir selber geht es jedenfalls so. Die Nötigung zu neuen Entscheidungen und Haltungen, die Vielzahl der Angebote läßt mich manchmal schon wie ein richtiger Westler herumirren, von Termin zu Termin hasten und mehr denn je von meinem Innersten entfernen. Der «Stalinismus» hat nicht vermocht, was der Westen offenbar mit Leichtigkeit bei mir schafft.
Zugleich spüre ich eine deutliche Enttäuschung über den ganzen Freiheitsbetrug. Der letzte Regierungschef der DDR, Lothar de Maiziere, sprach einmal davon, daß wir endlich «die Freiheit erkämpft» hätten - so simpel sah dies unser erster freigewählter Ministerpräsident mit der gutbürgerlichen Bildung. «Freiheit» wird bei so einer Formulierung als ein Haben-Wert und nicht als eine Seins-Kategorie verstanden. Und selbst diese Freiheit als erkämpfbarer «Besitz» entpuppt sich als bloße Freiheit der Auswahl aus einem Überangebot und nicht als echte Gestaltungsfreiheit. So mischt sich in die Freude über neue Möglichkeiten die bittere Enttäuschung über die neuen Zwänge, die wir wie eh und je zu übernehmen haben. Ich gewinne keine reifere Identität durch aktive Mitgestaltung, sondern bin erneut genötigt, den Untertanen, jetzt den « gehobeneren Untertanen » darzustellen. Auch unsere Politiker sehe ich in keiner besseren Situation.
Moeller: Die Vereinigung bedeutet — oberflächlich gesehen — zunächst einen riesigen Gewinn durch das sogenannte bessere System. In gewisser Weise ist es ja auch das bessere. Es ruft aber auch zwiespältige Gefühle wach. Du begegnest ihm schon sehr ambivalent, weil auch du die « Entleerung », also die Verführung und Oberflächlichkeit, wahrnimmst. Sie ist nicht alles, aber sie steckt im System drin. Zudem mußt du auch noch deine alte Identität ablegen, die alte Heimat verlassen.
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Das verlangt von dir eine enorme seelische Veränderung, eine große innere Arbeit. Ich frage mich: Haben wir überhaupt Zeit, uns menschlich zu vereinigen? Vor allem ihr, die ihr jetzt den alltäglichen Aufbau leisten müßt und die äußere Umformung eures Lebens erlebt — aber auch wir mit unserem Streß und Tempo von Konsum und Leistung?
Maaz: Der dringliche Neuaufbau, die Sachzwänge unserer Realität lassen uns für die Auseinandersetzung mit uns selbst keine Zeit — so scheint es und so wird es begründet. Ich sehe darin einen Abwehrvorgang, daß wir uns die Zeit gar nicht nehmen wollen für innere Veränderungen, für gegenseitiges Verstehen und für eine echte Annäherung, die Veränderungen mit seelischen Aufbrüchen auf beiden Seiten voraussetzen würde. Die Angst, die von einem solchen Prozeß ausgelöst wird, findet schnell nationale Erklärungen, weshalb alles so und nicht anders und vor allem so schnell gehen mußte. Die reale Entwicklung zeigt mir jedenfalls immer deutlicher, wie sehr die Politik riskante und falsche Weichenstellungen vorgenommen hat und nun nachträglich in Erklärungszwang gerät.
Moeller: Die politische und nationale Vereinigung, die Vereinigung der Menschen in Ost und West bedeutet, daß man sich mit sich selbst vereinigt - davor aber steht eine dicke Wand.
Maaz: Die Entfremdung oder auch Entselbstung haben wir in unseren Gesprächen ja als gemeinsames Problem herausgearbeitet. Bei uns geschah diese mehr durch den repressiven Kontroll- und Unterdrückungsapparat, bei euch mehr durch die alles regulierende Kraft des Geldes — im Ergebnis gibt es aber auf beiden Seiten eine starke seelische Entfremdung. Der tiefere Grund dafür könnte unsere gemeinsame deutsche Vergangenheit sein mit der enormen Last der Schuld, denn die seelische Entfremdung kann auch die Funktion haben, Schmerz, Trauer und Schuld nicht fühlen zu müssen.
Moeller: Die Lähmung entsteht durch ein nicht verarbeitetes inneres Problem, in diesem Fall durch unsere Unfähigkeit, die Schuld und ihre realen Umstände zu akzeptieren. Ich glaube, das spielt mit Sicherheit eine große Rolle. Denn in dem Augenblick, in dem Deutschland vereint ist, wird es genau auf jene Zeit zurückgeführt, in der wir noch nicht gespalten waren: die Nazi-Zeit. Wir geraten über diese historische und seelische Assoziation direkt in das Nazi-Deutschland. Dieses ist unsere gemeinsame Vergangenheit, die durch die Einheit wachgerufen wurde.
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Maaz: Mit der Vereinigung ging sofort die Diskussion über die «deutschen Ostgebiete» los. Der aufkommende Nationalismus hat für mich vor allem die Funktion der Schuldabwehr.
Die Ähnlichkeit der gestörten psychischen Strukturen, der « stalinistischen » wie der « faschistischen », war mir bei meiner Arbeit als unerträgliche Hypothek aufgefallen. Aber was passiert jetzt? Wir unterwerfen uns erneut. Mir fällt ein Beispiel aus unseren eigenen Reihen ein, also von uns Psychotherapeuten, die es ja eigentlich von Berufs wegen besser wissen müßten. Wir hatten vor kurzem eine Sitzung unter Kollegen, in der es um die schwierigen, aber auch wichtigen Fragen unserer beruflichen Zukunft ging. Jetzt müssen wir uns mit den westlichen Auflagen auseinandersetzen und den neuen Herren nachweisen, was unsere Arbeit taugt und wie gut wir ausgebildet sind. Die Gefahr ist groß, daß wir auch auf diesem Gebiet unsere Identität verkaufen. Damit bleiben wir natürlich...
Moeller: ... in der alten Lähmung befangen.
Maaz: Ja. Wir haben es schwer, wertvolle Spezifika unserer Arbeit zu bewahren und gegen das « bewährte » System des Westens zu verteidigen. Mühsam verborgene Rivalitäten und Neid brechen durch im Kampf um die neuen «Fleischtöpfe». Aber noch etwas anderes spielt eine Rolle: Natürlich hatten wir auch unter uns Stasi-Mitarbeiter und SED-Genossen, die entsprechenden Einfluß auf die Entwicklung der Psychotherapie in der ehemaligen DDR ausübten und sicher viel menschliche Schweinereien zu verantworten haben. Dieses Thema haben wir aber bisher peinlich vermieden. Mein Vorschlag, wir sollten uns diesem Problem auch stellen, wurde hinweggefegt mit dem Argument, wir hätten jetzt wirklich andere Sorgen und Probleme — nämlich unsere eigene Existenz zu sichern. Dies ist zwar auch wahr, doch wenn selbst die Psychotherapeuten keine Aufarbeitung ihrer Vergangenheit wollen, obwohl sie täglich an der Vergangenheitsbewältigung der Patienten arbeiten - wie wenig ist dann erst der Rest der Gesellschaft dazu bereit.
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Moeller: Genau das ist für mich ein Beispiel für die dritte Schuld.
Maaz: An dieser Stelle fällt mir aber auch der unerträgliche und durch nichts zu rechtfertigende Krieg am Golf ein, wo uns — scheinbar kaum beteiligt - eine tiefe Schuld eingeholt hat.
Moeller: Meinst du das fatale deutsche Doppelgesicht? Auf der einen Seite sind wir ein Deutschland, das auf dem Hintergrund der eigenen Geschichte, der großen Niederlagen, der eigenen Verbrechen und des eigenen Leidens nie mehr Krieg möchte, auf der anderen Seite wiederholt sich die verdrängte Vergangenheit, indem wir durch die Embargo-Kriminalität kräftig daran mitwirkten, einen zweiten Hitler zu errichten — diesmal nicht innerhalb unserer Nation, sondern außerhalb.
Maaz: Es findet eine Verschiebung der Feindbilder statt. Ich empfinde die ganze Ost-West-Verständigung, weder die zwischen Amerika und der Sowjetunion noch die in Deutschland, als eine echte Annäherung und Verständigung. Es scheint nur so. Die Auflösung des Ost-West-Konfliktes ist für mich nicht das Ergebnis einer gereiften Politik, sondern Folge des wirtschaftlichen Zusammenbruchs, weil eine der beiden Seiten den krankhaften und militanten Wettbewerb nicht mehr durchhielt. Allerdings gibt es keinen wirklichen Sieger, sondern das Elend des Ostens wird auf den Westen zurückschlagen. Wir haben zwar die wechselseitigen Feindbilder und Projektionen verloren, doch ohne die krankhaften Mechanismen in unseren Seelen und unserem Zusammenleben wirklich aufzulösen. Ein Symptom dessen ist die nach wie vor vorhandene Hochrüstung, die keine moralische Skrupel kennt und sich selbst mit krimineller Energie behauptet.
Der militante Urgrund unserer Zivilisation, der Aggressionsstau muß sich also neue Feinde suchen, und da kam der ebenso kranke Hussein mit seinem verbrecherischen Handeln gerade recht. In dem Moment, in dem Frieden und menschliche Nähe möglich wären, entsteht soviel Angst davor, daß sofort ein neues Elend und Unglück herbeiagiert werden muß.
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Diesen Vorgang habe ich schon tausendfach bestätigt gefunden: Vor nichts hat der Mensch mehr Angst als vor Liebe und Frieden, denn das würde ihn an sein tiefstes Kindheitsdefizit erinnern und statt Freude zunächst existentielle Ängste und heftigen Schmerz auslösen. Also bleiben die vorhandenen abnormen Strukturen lieber unberührt, doch dann muß ein neuer Konflikt her. Der Ost-West-Konflikt wird deshalb jetzt durch den Nord-Süd-Konflikt abgelöst und überholt. Wir im Osten haben kapituliert und flehen um die «Erlösung» durch westliche Lebensart, der neue « Erzfeind » ist der fundamentalistische Islam.
Moeller: Wir sollten dieses Thema hier nicht weiter vertiefen. Wir kämen in das ungeheuer komplexe und widersprüchliche Gebiet von Friedensfähigkeit und Kriegsbereitschaft hinein. Daß der große Ost-West-Konflikt ausfällt, ist in meinen Augen vor allem ein Problem für die USA. Die deutsche Regierung vertritt in der neuen Epoche dagegen keine klare, den anderen Nationen im Dialog vermittelte Position — weder hinsichtlich einer entschlossenen Bündnisbereitschaft noch hinsichtlich einer energischen Friedenspolitik. Das sehe ich als deutsches Problem, als spezifischen Immobilismus.
Ich denke, daß der Golfkrieg für uns vor allem die Funktion hatte, uns im unselig rechten Moment die mühsamen Seiten der Vereinigung zu ersparen. Der menschliche Vereinigungsprozeß wurde dadurch unterbrochen, daß der Golfkrieg die seelischen Energien auf sich zog.
Maaz: Diese unklare, zweideutige Haltung Deutschlands weist auf eine unbewältigte Schuld hin. Und auf die makaberste Weise — man denke an das Giftgas — verrät sich die alte in der neuen Schuld. Wir sind deshalb nicht wirklich friedensfähig, weil wir die Folgen unserer seelischen Deformierungen nicht bewältigt haben. Im Zusammenhang mit dem Golfkrieg konnte ich bei vielen Menschen nicht nur Angst, sondern auch eine gewisse Sensationslüsternheit beobachten. Diese war auch in den Medien deutlich spürbar. Wann kracht es denn endlich ? Dem Verbrecher Hussein muß es endlich ordentlich besorgt werden! In solchen Gefühlen drückt sich unsere eigene unbewältigte Aggressivität aus. Wir können die Gewalt vor
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dem Fernseher — scheinbar sublimiert und «technisch sauber» — ausleben. Eben haben wir uns noch unserer «Gewaltfreiheit» und unserer «friedlichen Revolution» gerühmt — Augenblicke später kommt, praktisch durchs Hintertürchen, der wahre Charakter unseres Seelenlebens zum Ausdruck.
Wir wollen unseren berechtigten Zorn gegenüber den Verursachern unserer seelischen Kränkungen und Demütigungen durch Erziehung und ein repressives Staatssystem nicht wahrhaben — deshalb rufen wir euch im Westen: Kommt und erlöst uns, bringt uns die Freiheit, seid bitte unsere besseren «Eltern». Aber ihr erweist euch ebenfalls nicht als die gewünschten Eltern - könnt ihr ja auch gar nicht — sondern ihr bringt uns eine Lebenswirklichkeit, die unsere alten Erfahrungen bedient und unsere unverheilten Wunden wieder aufreißt. Wir erfahren neue Unterdrückung und autoritäre Belehrung.
Moeller: Den Begriff «Unterdrückung» würden vielleicht viele nicht verstehen. Ich glaube aber, jedem leuchtet unmittelbar ein, daß euch eure gerade aufkeimende eigene Identität wieder genommen wird. Ihr habt wieder Eltern, die als wirklich gute Eltern erhofft wurden, die ja auch viele Geschenke brachten, denen es aber nicht gelang, den Kindern die Entwicklung einer eigenen Identität zu überlassen.
Maaz: Für uns ist das um so schlimmer, weil wir im Herbst 1989 erstmals ein wenig zu einem Aufbruch fähig waren. Wir hatten die Hoffnung auf wirkliche Selbstbestimmung, auf seelische und politische Nachreife, die in diesem System, bei diesen « Eltern » — nennen wir es mal so — einfach nicht möglich war. Denn sie haben die Selbstbestimmung - bei Todesstrafe - nicht erlaubt. Im Herbst 1989 witterten wir auf einmal eine Chance und schnupperten Morgenwind — doch plötzlich ist das alles wieder verloren und damit die Verletzung doppelt schlimm.
Moeller: ... und der Zorn, die Aggressivität ...
Maaz: Diese müssen jetzt wieder irgendwohin abgelenkt und «abgeführt» werden. Die wachsende Radikalität und Gewalt sind nur die ersten Symptome eines riesigen gesellschaftlichen «Geschwürs», das seinen Nährboden in Kränkung, Demütigung und Entfremdung findet.
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Moeller: Die Unfähigkeit, mit den eigenen Aggressionen und Destruktivitäten umzugehen, steht auch in Verbindung zur Erotik, mit ihrer manifesten «Dreifaltigkeit» von Sanftheitskult, technokratischer Liebe und Pornographie. Diese sanfte, oft esoterische Huldigung der Liebe trägt eine große Schwäche in sich, eben die Unfähigkeit, mit der eigenen Aggressivität umzugehen. Sie wird ausgeblendet und verdrängt. Dadurch wird die Liebe zum Kitsch. Im Porno dagegen schlägt eine ebenso unreife Aggressionsform ganz platt und fast gewalttätig durch, während in der technokratischen Liebe die nicht integrierten aggressiven Momente fast im autistischen Sinne durch Technik abgewehrt werden. Alle drei sind Spielarten der Schwierigkeit bis Unfähigkeit, mit den eigenen aggressiven Bestrebungen umzugehen, sie in die Liebe zu integrieren und sie konstruktiv — im Sinne von Durchsetzungsfähigkeit, Lebendigkeit und Tatkraft — umzusetzen.
Maaz: Da bin ich aber gespannt, wie wir ehemaligen DDR-Bürger das verkraften werden. Zunächst geht es mir wie vielen anderen, daß wir erst einmal neugierig sind, die Vielgestaltigkeit der Erotik und Sexualität so direkt und offen kennenzulernen. Die kulturelle Pflege sexueller Lust war bei uns herabgesunken auf eine pseudowissenschaftliche Sachlichkeit bei gleichzeitigem Mief spießiger Prüderie. Über die Pornos und Sexshops werden wir aber mit einer Sexualität konfrontiert, die vom Leistungsverhalten, von Aggressivität und Technik geprägt wird. Die differenzierte und oft komplizierte emotionale Beziehung, in die Sex eingebettet ist, bleibt ausgeblendet — wie in allen anderen Lebensbereichen der Industriegesellschaften auch. Wir werden also mit einer Sexualität konfrontiert, die der Wirklichkeit nicht entspricht und von natürlichen Prozessen weit entfernt ist. Gerade das könnte unsere Unsicherheiten und Spaltungen verstärken, denn durch den Wettbewerb wird im Westen alles so auf die Spitze getrieben, daß sich das Durchschnittlich-Normale als ewig minderwertig vorkommen muß. Der Mensch wird von allen Seiten auf eine Scheinwelt getrimmt und von der süchtigen Profitspirale bis zu irgendeinem Kollaps angetrieben.
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Den «Sanftheitskult» habe ich auch bei uns inzwischen schon kennengelernt. Er hat in einigen «christlichen» Kreisen überlebt, doch jetzt wird er vor allem aus dem Westen hereingebracht in Form von «Therapieangeboten», «Workshops», Esoterik und neuen Sekten. Diese versprechen inneres Wachstum, Selbstfindung, Befreiung und ähnliches, aber vermeiden Konfrontation und notwendige kritische Auseinandersetzungen oder wissen sie zu verhindern. Die wirklichen Schwierigkeiten werden dabei durch eine Pseudo-Nähe und unechte Zuneigung zugedeckt.
Die Leiter solcher Veranstaltungen spielen sich als die «besseren Eltern» auf und sind damit auch eine Weile erfolgreich, denn sie nutzen geschickt die bei vielen Menschen vorhandenen Abhängigkeiten und riesigen inneren Defizite für ihren Geldbeutel oder ihr eigenes neurotisches Geltungsbedürfnis aus. Viele von uns werden aus ihrer inneren Bedürftigkeit heraus solchen Angeboten zum Opfer fallen — mit der illusionären Hoffnung, sie könnten für ihre frühen enttäuschenden Erfahrungen heute noch entschädigt werden. Dies ist eine neue Droge, die den bitteren Schmerz, die schlummernde Angst und die aufgestaute Wut gewinnträchtig verschleiern und dämpfen möchte. Das Angebot, Angst, Wut und Schmerz zuzulassen und zu fühlen, um allmählich vom zwanghaften Ausagieren freizukommen, erscheint im Vergleich dazu natürlich wenig attraktiv.
Moeller: Was beim dritten Zwiegespräch zuerst auffällt: wir duzen uns. Nach meinen Erfahrungen mit Zwiegesprächen ist das keine besondere Erscheinung, sondern ein gleichsam natürliches Ergebnis. Obwohl unsere Zwiegespräche nicht unmittelbar und nicht ganz persönlich waren, sondern ein vorgegebenes Thema hatten, kam gefühlsmäßig viel zwischen uns in Bewegung. Wir bekamen an diesem Tag eine solche Nähe zueinander, es wurden so viele und so unterschiedliche persönliche Seiten unseres Lebens angesprochen, daß sich unser «Du » — nach meinem Empfinden — wie von selbst ergab.
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Maaz: Ich bin auch zufrieden mit dem «Du». Unsere Gespräche haben emotional etwas in Bewegung gebracht zwischen uns. Wir haben zentrale Fragen unseres Lebens berührt, vor allem die Not der Entfremdung; in unserem letzten Zwiegespräch haben wir lange über Frauen und die Arbeit gesprochen — zwei Themen, die uns beiden viel bedeuten. Wir haben festgestellt, daß der Sinn der Arbeit in beiden Systemen — Ost und West — vielfach verlorengeht und daß uns beide die bestehenden Mann-Frau-Beziehungen beschäftigen, daß wir unglücklich sind über das, was bei euch und bei uns unter dem Stichwort «Frauenemanzipation» stattfindet.
Auf mich selber bezogen muß ich feststellen, daß mir meine Tätigkeit zwar viel bedeutet und mir Identität verleiht; aber ich arbeite zuviel, und meine Wünsche nach Entspannung und emotionaler Intimität kommen einfach zu kurz. Was bedeutet das? Äußere Zwänge sind zwar eine Erklärung, aber keine Entschuldigung, weil ich die Dosis für «Pflichten» und «Vergnügungen» in weiten Bereichen selbst bestimmen kann. Ich glaube, das Hauptproblem ist mit dem Begriff der «Emanzipation» benannt. Die Frauenbewegung hat mich mit der Frage konfrontiert: Was ist eigentlich eine «richtige Frau», und da war ich sofort bei der Gegenfrage: Und was ist ein «richtiger Mann»?
Das eine ist nicht ohne das andere zu haben — ein Mann wird durch eine Frau erst richtig Mann wie auch andersherum. Es geht also darum, eine Beziehung zueinander zu entwickeln bei innerer Unabhängigkeit, daß man sich nicht gegenseitig mißbraucht, indem man im anderen den Vater oder die Mutter sucht oder bestraft. Dieses entscheidende Kriterium der «emanzipierten Beziehung» ist wohl angesichts unser aller «Altlasten» sehr schwer zu erreichen. Ich habe meine Schwierigkeiten damit, und zu zweit ist es meist doppelt schwer, aber wenn es mal gelingt, auch doppelt schön. Die Emanzipationsbewegung sehe ich dagegen als eine tragische Entfernung voneinander, als ein Gegen- statt ein Miteinander.
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Moeller: Zwiegespräche zwischen Mann und Frau helfen sehr, dieses Problem zu lösen. In meinem Privatleben tue ich das auch. Mich hat überrascht, daß die Frauenemanzipation bei uns beiden — also bei zwei Männern — einen relativ breiten Raum eingenommen hat. Ich denke, dahinter liegt eine Sehnsucht, wie wir, Mann und Frau gemeinsam, in unserem gesellschaftlichen Leben eine Rollenverteilung realisieren können, die uns noch eine wirklich lebendige Beziehung erlaubt.
An einer anderen Stelle unseres Gesprächs haben wir beobachtet, wie wir uns vor einer eigenen Schuld gedrückt hatten. Es ging um Umweltverschmutzung, und ich antwortete dir, ihr hättet es unter Umständen schlimmer getrieben als wir, nachdem du darauf hingewiesen hattest, was wir im Westen mit der Umwelt anrichten. Das erschien mir als Projektion. Ich habe gekontert. Erst dann konnten wir die kleine Kontroverse auflösen und ein Stück unserer eigenen Schuld annehmen. Ich entdeckte, daß die Ellbogengesellschaft Ursache dieser Umweltverschmutzung ist. Das ist ein Beispiel, wie es einem im Zwiegespräch zuerst gelingt, Projektionen zurückzunehmen — das ist kaum zu vermeiden, weil jeder sich einfühlbar macht — und dann nach und nach zu einer wirklichen Annäherung zu kommen.
Maaz: Dieses Beispiel zeigt deutlich, wie wir beide in Schuld verstrickt sind. Ich meine nicht nur die deutsche Vergangenheit, sondern eine aktuelle Schuld, denn gegenüber der Umwelt sind wir erneut Mittäter. Wir haben das Wort der dritten Schuld der Deutschen geprägt, die mit dem Vereinigungsprozeß entsteht, wenn wir unsere innere Problematik nicht erkennen und aufarbeiten. Die Umweltverschmutzung, an der wir alle kräftig mitarbeiten, ist der äußere Ausdruck unserer Innenweltverschmutzung. Dafür spricht auch, daß die Vereinigung vor allem als wirtschaftliches Problem verstanden wird — aber wo bleiben die Menschen?
Moeller: Ich beziehe diese dritte Schuld aber nicht auf die Umweltverschmutzung, sondern auf das Stasi-Problem. Allerdings verkopple ich in meiner westlichen Perspektive — das mag für dich in deiner östlichen Perspektive in bezug auf den Westen ähnlich sein — das System der alten DDR direkt mit dieser grauenhaften Umweltvernichtung. Für mich ist das sozusagen ein psychisches und politisches Konglomerat.
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Maaz: Da regt sich sofort Widerstand in mir — wir geraten schon wieder in die Gefahr zu projizieren —, denn ich will vor allem die expansive Produktivität des westlichen Marktes für die Umweltzerstörung verantwortlich machen.
Moeller: Genau darauf wollte ich hinaus. Wir haben sicherlich noch unsere Projektionsverzerrungen, finden aber schon eine gemeinsame Ebene in der Erkenntnis, daß wir uns darin in nichts nachstehen.
Maaz: Das bringt mich zu der Frage, welchen Sinn unser Gespräch eigentlich hatte. Es war schön, sich zu verständigen. Unsere Annäherung, die gegenseitige Bereicherung an Erkenntnis und Erfahrung ist sinnvoll gelebtes Leben. Und wir sind uns auch einig, daß wir aus unseren Zwiegesprächen ein Buch machen wollen, daß wir also über uns hinaus auch andere ansprechen wollen. Welchen Sinn könnte das für andere haben? Wir sind jetzt gerade zu einer wichtigen Erkenntnis für uns gekommen — daß wir weiterhin in Schuld verstrickt sind, aber dies führt offensichtlich bei uns noch nicht dazu, daß wir unsere Lebenseinstellung überprüfen, uns für Veränderungen entscheiden, vielleicht gar zu politischen Aktionen kommen. Für uns ist das ein großer Widerspruch.
Moeller: Das kann ich gut nachfühlen. Ich habe mir aber zunächst nicht so hohe Ziele mit dieser gemeinsamen Arbeit gesetzt. Wir haben versucht, ein Angebot für eine wirkliche menschliche Vereinigung lebendig darzustellen. Ich sehe es nicht auch noch als meine Aufgabe an, diesen Beitrag anderen gewissermaßen aufzunötigen. Ich denke, es soll ein Angebot bleiben. Jeder ist aufgerufen, diese Möglichkeit privat, gemeinschaftlich mit anderen oder als Initiative einer Organisation zu ergreifen oder zu lassen.
Maaz: Das sehe ich auch so, und doch plagt mich das Bedürfnis nach politischer Wirksamkeit. Ich habe den Wunsch, sinnvolle Veränderungen unseres Zusammenlebens mitzubewirken und auszugestalten. Dieser Wunsch ist in der Vergangenheit bei mir bestimmt zu kurz gekommen, und vielleicht kann ich auch nicht die Ohnmacht ertragen, die mich angesichts der Umweltzerstörung und des Golfkrieges spürbar erfaßt und auch eine innere Ohnmacht, die Unfähigkeit, die Selbstentfremdung wirksam zu überwinden, aktiviert.
Moeller: Vielleicht habe ich auch eine konkrete Hoffnung für uns. Ich habe mich in den letzten beiden Jahrzehnten sehr für die Selbsthilfegruppenbewegung in Deutschland eingesetzt und habe erlebt, wie sie wuchs und sich verbreitet hat. Sie hat sich wirklich im Sinne der grass-roots-associations eigenständig entwickelt, wenn auch zum Teil mit politischer Unterstützung. Es ist etwas daraus geworden, was aus dem Leben des Landes nicht mehr wegzudenken ist. Und Zwiegespräche sind die Tätigkeitsform der denkbar kleinsten Selbsthilfegruppe — warum soll es damit nicht ähnlich gehen?
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