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1. Mütterlichkeit und Väterlichkeit

 

 

 

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1-Szöllösi) Herr Maaz, Sie haben in Ihrem Buch <Der Lilith-Komplex> die Störungen der Mütterlichkeit in unserer Gesellschaft thematisiert. Wenn man sich aber heute umschaut, dann würde doch keiner von solchen "Störungen" reden, im Gegenteil: Frauen, die Mütter werden wollen, stehen immer auf der guten Seite, während die, die sich dazu bekennen, für ein Kind keine Verantwortung übernehmen zu können, in Ungnade geraten. Von den allzu mütterlich Gesinnten ihres Geschlechts werden sie als "Anti-Frauen" oder "Rabenmütter" beschimpft. 

Auch gibt es viele Publikationen - von Frauen verfasst -, die genau gegen diese neu entflammte "Mütterlichkeit" zu Felde ziehen: Bücher wie Barbara Bierachs <Das dämliche Geschlecht>, wo es bezeichnenderweise heißt: "Der schlimmste Feind der beruflich ambitionierten Mutter ist die Hausfrau"; das Buch von Karin Deckenbach <Die Mutterglück-Falle>, wo es heißt: "In keinem anderen Land wird das Kindswohl so antiquiert auf die Allgegenwart der Mutter reduziert." - Oder Artikel wie <Haben wir die Emanzipation verspielt?> von Heike Faller oder der Artikel <Im Land der Muttis> von Susanne Mayer oder der Artikel <Mütter der Nation>. Alle 2006 in der <ZEIT> erschienen.

Warum sprechen Sie von "Störungen" der Mütterlichkeit gerade in einem Land, wo "Mütterlichkeit" so hoch geschätzt wird, dass selbst Frauen sich damit nicht mehr wohlfühlen?

 

Maaz: Es wird so viel über solche Konflikte geschrieben, weil es in unserer Gesellschaft so schwer ist, Mutter-Sein und Berufstätigkeit gut zusammen­zubringen. Das ist in erster Linie ein sozialpolitisches Problem, das tat­säch­lich viele Konflikte und Ungerechtigkeiten produziert. 

Aber mir geht es um die "Mütterlichkeit" als eine Haltung und Einstellung zwischen Menschen und natürlich auch ganz speziell zu Kindern. Mit "Mütterlichkeit" meine ich einen innerseelischen Zustand, der über die Qualität zwischen­menschlicher Beziehungen entscheidet.

Ich spreche aus meiner Praxiserfahrung und meiner tiefenpsychologisch-analytischen Perspektive von einer Störung der Mütterlichkeit: Seit vielen Jahren kommen in unsere psychosomatische Klinik Menschen mit Leidens­zuständen, die sich in den meisten Fällen als Resultat einer falschen, verlogenen oder mangelhaften Mütter­lichkeit eingestellt haben. Störungen an Mütterlichkeit in der frühen Entwicklungsgeschichte des Menschen sind eine häufige und wesentliche Ursache für viele Befindlichkeiten, Krisen, Beziehungsstörungen und Erkrankungen im Erwachsenenalter. Wir sind fast alle irgendwie davon betroffen. 

Weil uns dieses Thema Angst macht und weh tut, verdrängen wir gerne unsere Erinnerungen und Erfahrungen. Das wachsende Interesse am Thema Mutter, Kinder und Beruf — Eva Herman hat mit ihrem Buch <Das Eva-Prinzip> die Verleugnungen in Frage gestellt — macht uns aufmerksam auf ungelöste Konflikte.   ( wikipedia  Eva_Herman *1958 )  

Allerdings besteht die Gefahr, über die äußeren Probleme heftig zu streiten, um damit die Mütterlichkeit als inneres Thema weiterhin zu verbergen. Wir müssen uns mit diesem Thema auseinander setzen und es endlich wagen, offen und aufrichtig darüber zu kommunizieren. Wir leben in einer Gesellschaft, wo echte Mütterlichkeit sehr selten geworden ist.

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2) Warum aber nennen Sie im Buch <Lilith-Komplex>, das was uns fehlt, sei Mütter­lich­keit? Wo doch dieser Begriff viele Frauen irritiert und zum Protest auffordert?

Den Begriff Mütterlichkeit habe ich gewählt, weil er am besten grundlegende Bedürfnisse des Menschseins erfasst. Denn was ich unter Mütterlichkeit verstehe, ist die Fähigkeit und Bereitschaft, dem anderen zuzuhören — das klingt zwar sehr einfach, aber jemandem wirklich zuhören zu können, ist nichts Selbst­verständliches. Es gibt tatsächlich viele Menschen, die hemmungslos auf ihre Mitmenschen einreden können, doch nur selten sind sie imstande, ein offenes Ohr für die Nöte, Sorgen, Leiden oder auch Freuden eines anderen zu haben. 

Jemandem zuzuhören, ohne sich selbst dauernd zur Geltung bringen zu wollen, ist eine seltene Fähigkeit, die wir in uns schulen müssen. Den anderen kommen zu lassen und ihn verstehen zu wollen, das ist für mich "mütterlich". Und zu diesem Zuhören gehört dann auch noch die Fähigkeit, nicht nur das hören zu wollen, was einem passt, oder alles so aufzufassen, dass es einem gerade noch recht ist, sondern auch das hören zu wollen, was einem nicht passt und vielleicht entsetzt oder erschüttert. 

Sich mitteilen zu können, ohne sich verstellen zu müssen oder sich und anderen etwas vormachen zu wollen und so verstanden zu werden, wie man wirklich fühlt und denkt, das hat für die Zufriedenheit und den Selbstwert eines Menschen höchste Bedeutung; und ist leider nicht selbstverständlich. 

 

Ja, zuhören können bedeutet: verstehen, was mit dem anderen los ist, versuchen, sich dem einfühlend zu nähern, was der andere denkt und fühlt, sich bemühen, das, was er mitteilt, nachzuvollziehen. Das Gegenteil wäre, den anderen dauernd zu unterbrechen, ihn mit "klugen" Ratschlägen zu belehren, ihn zu kritisieren und zurechtzuweisen, ja sogar zu moralisieren, bevor man überhaupt verstanden hat, worum es dem anderen geht. 

Mütterlichkeit bedeutet auch, die Gefühle eines Menschen akzeptieren und verstehen zu können. Nicht allein das Rationale gelten zu lassen, sondern auch die emotionalen Botschaften zu erfassen und damit in einen tieferen Kontakt zu kommen. Zwischenmenschliche Beziehungen werden wesentlich von Gefühlen getragen. 

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Dazu gehört: den anderen, so wie er ist, gewähren zu lassen, ihn nicht von vornherein zu bewerten und zu belehren, sondern aufzumerken und zu denken: "Aha, so ist das für ihn! Das möchte ich verstehen lernen!" Das ist für mich mütterlich. Väterlich wäre in diesem Zusammenhang der eher rationale Hinweis: "Du musst dies oder jenes machen, wenn du dies oder jenes erreichen willst."

Was ich also — wenn ich es nun zusammenfassen möchte — unter Mütterlichkeit verstehe, sind folgende Eigen­schaften: zuhören, verstehen, gewähren lassen, sich einfühlen, akzeptieren, jemanden unterstützen, helfen, beschützen und versorgen.

 

Ja, das ist ganz klar. All diese Eigenschaften sind menschliche Eigenschaften, die auch jeder Mann haben kann, ja vielmehr sogar: Es sind Eigenschaften, die als allgemeine Werte in jeder Gesellschaft gelten könnten. Mütterlichkeit in einer Gesellschaft entscheidet über die Qualität der Politik und der Sozialsysteme. 

Eine autoritäre Gesellschaft verzichtet fast vollständig auf Mütterlichkeit. Die Folgen kennen wir: Diktatur, Verfolgung Andersdenkender, Bespitzelung, Denunziation, Unrecht, Gewalt, Krieg. 

Eine demokratische Gesellschaft basiert auf Mütterlichkeit: die Bürger mitreden und mitentscheiden zu lassen, auf sie hören, sie verstehen wollen, Meinungsfreiheit, Wahlmöglichkeit, soziale Absicherung, Rechtsstaatlichkeit — alles basiert auf mütterlichen Werten.

Kapitalistische Wirtschaftsformen haben eine starke antimütterliche Tendenz. Solange die Politik das Kapital kontrollieren und zügeln kann, bleibt Mütterlichkeit z.B. in Form einer sozialen Marktwirtschaft gewahrt. Wenn dies nicht mehr gelingt — und das geschieht zunehmend —, wird der mütterlich-soziale Zusammenhalt einer Gesellschaft zerstört. So wird Demokratie allmählich ausgehöhlt. 

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Wenn wirtschaftliche Interessen über menschliche Bedürfnisse dominieren und die Politik das nicht mehr ausreichend zugeben und korrigieren kann, wird das "Mütterliche" in der Gesellschaft — das Versorgende, Sichernde, Ausgleichende, Harmonisierende — immer stärker verdrängt. Die Nöte und Bedürfnisse der Menschen werden immer weniger gehört und verstanden, stattdessen werden sie mit verlogenen Verheißungen und Versprechungen suggestiv manipuliert und durch Existenzangst immer mehr eingeschüchtert

 

Sich mütterlich zu verhalten, ist zwar etwas allgemein Menschliches. Aber in meiner Arbeit beziehe ich es - natürlich! - auch individuell auf die Beziehung zwischen Mutter und Kind. Dabei steht die Frage im Vordergrund: Wie verhält sich eine Frau ihrem Kind gegenüber? 

Es geht dabei immer um eine konkrete Person, so dass die Frage persönlich gestellt werden kann: Wie behandelt diese eine Frau ihr Kind? Ist sie eine Mutter, die ihr Kind verstehen will, die zuhören kann, die es gut versorgt und bestätigt? Oder ist sie eine, die ihr Kind nach eigenen Interessen und Bedürfnissen manipuliert, kontrolliert und dirigiert; die seine vielfältigen Bedürfnisse nicht ausreichend erkennt und befriedigt, die seine Gefühle nicht akzeptiert oder es zu früh allein lässt?

Es gibt einen grundlegenden Unterschied im Menschenbild: Ist der Mensch von Grund auf böse oder schlecht? Muss er folglich zum Guten erzogen werden? Oder ist der Mensch ein offenes System, abhängig von inneren und äußeren Einflüssen, deren Art und Qualität über seine Entwicklung entscheiden? 

Damit unterscheidet sich auch die Einstellung zum Menschsein: Ist der Mensch ein zu erziehendes Objekt — dann gibt es immer auch Mächtige, die glauben zu wissen, was für Menschen gut oder schlecht, richtig oder falsch ist — oder ist der Mensch von Anfang an ein beteiligtes Subjekt in Beziehungen — dann stehen die Beziehungspersonen und die sozialen Verhältnisse auf dem Prüfstand, welche Entwicklungsbedingungen sie Kindern ermöglichen.

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Das Christentum mit seiner Erbsündenlehre und die klassische Psychoanalyse mit der Trieblehre haben stark zu der Vorstellung beigetragen, dass der Mensch dazu erzogen werden müsste, gut zu sein. Die moderne Säuglingsforschung und die Theorien der humanistischen Psychologie und der Beziehungs­dynamik haben uns gezeigt, wie sehr Menschen durch frühe Beziehungs­erfahrungen dauerhaft geprägt werden.

Vor allem die Säuglings- und Kleinkindforschung macht den Subjektcharakter des Kindes deutlich: Das Kind beeinflusst von Anfang an seine Umwelt, vor allem seine Mutter, und bestimmt die Beziehungen mit. Für die Entwicklung des Kindes ist es also von großer Bedeutung, ob es in einem Subjekt-Objekt-Verhältnis aufwächst, in dem Eltern und Erwachsene immer besser wissen, was für das Kind gut ist und wie es sein soll oder ob es durch ein Subjekt-Subjekt-Verhältnis in seiner Einmaligkeit gewürdigt ist und Eltern hat, die es nach seinen Möglichkeiten begleiten und sich dabei selbst mit entwickeln und beeinflussen lassen.

Daher die Frage: Sind die Eltern in der Lage, ihr Kind verstehen zu wollen, können sie einfühlsam herantreten und sagen: "Du bist unser Kind, wie bist du denn? Wir wollen dich entdecken, wir wollen deine Möglichkeiten finden, wir wollen auch deine Grenzen sehen und akzeptieren lernen!", statt durch jede Geste oder Tat, durch jedes Wort oder jeden Satz den Anspruch auszudrücken: "Du bist unser Kind und du musst so sein, wie wir uns das vorstellen und wünschen!" — Ein mütterlicher Bezug ist: sich auf das fremde Wesen, den Neuankömmling einzulassen, und ihn willkommen zu heißen; ohne ihm von Anfang an Auflagen zu machen und ihn für Abweichungen von den Erwartungen zu bestrafen. 

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So begründet sich eine Subjekt-Subjekt-Beziehung zwischen Erwachsenem und Kind aus einer mütterlichen Einstellung, die wahrnimmt, sich einfühlt, versteht, unterstützt und auch hilfreich begrenzt. 

Die Ergebnisse der Bindungsforschung sichern die Erkenntnis, dass die Beziehungs­erfahrungen in den drei ersten Lebensjahren für die Persönlichkeits­entwicklung des Menschen von einer ganz entscheidenden Bedeutung sind.

Die Frage lautet also: "Bin ich von Anfang an jemand, der so, wie er ist und werden kann, akzeptiert wird oder nicht?" die Beantwortung dieser Frage begründet die Basis für alles, was wir dann später mit Vertrauen, Hoffnung, Identität verbinden. 

Wer eine prinzipielle Annahme und Bestätigung — ohne Bedingungen erfüllen zu müssen — nicht erfährt, der wird später ein Mensch sein, der dauernd vorsichtig abtasten und abspüren muss, wie er sein soll, wie er sich denn zu verhalten hat, um zu gefallen und angenommen zu sein, der also stets bemüht bleibt, die Wünsche und Vorstellungen der anderen zu erfüllen. Er kann sich nicht zu einem unabhängigen, authentischen Menschen entwickeln, weil er sich immer wieder selbst ausbremst. Und das tut er, weil man ihm in der frühen Kindheit immer das Gefühl gegeben hat, er sei nicht "gut genug", er könnte alles "sehr viel besser" machen, er sollte sich anstrengen und "noch tüchtiger, noch lieber, noch perfekter" sein. Ein solcher Mensch lebt unter dem unglücklichen Druck: "Ich bin - nur - geliebt und berechtigt, wenn ich die an mich gerichteten Erwartungen erfülle." 

Die damit verbundenen Anstrengungen zerstören die Lebensfreude und selbst Lob und Anerkennung zerrinnen schnell im Stress der unendlichen Bemühungen im Glauben, man könnte sich Liebe doch noch verdienen.

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Ja, es bleibt ihm für sein ganzes Leben diese Unsicherheit in der Identität — er wird nie Vertrauen zu sich selbst fassen können und immer an sich zweifeln müssen. Der Zweifel wird für ihn schon fast so etwas wie eine Existenzberechtigung: Da ich nicht gut genug bin, muss ich mich ständig bemühen und anstrengen, um "würdig" zu sein und existieren zu dürfen. 

Von daher betone ich die Bedeutung der Mütterlichkeit so sehr: Ohne zuverlässige mütterliche Bestätigung kann das Individuum nicht reifen. 

Aber auch die Reife einer Gesellschaft kann man danach beurteilen, wie mütterliche Werte gelten. Wie ist das soziale Zusammenleben: feindselig-konkurrierend oder solidarisch-gemeinschaftlich? Wie geht man in einer Gesellschaft mit Andersdenkenden, mit Außenseitern, mit Fremden um? Wie sind so genannte "Randgruppen" integriert? Herrschen Feindbilder, werden Schuldige und Sündenböcke gebraucht oder dominiert eine Suche und Einsicht in eigene Fehler und Schwächen mit der Überzeugung systemischer Wirkungen? 

An jedem Konflikt sind immer alle Seiten beteiligt. Die Welt kann nicht in gut oder böse geteilt werden. Schon allein jeder einzelne Mensch ist gleichermaßen gut und böse.

 

Autoritäre Forderungen wären keine gute Väterlichkeit. Mit dem zitierten Satz habe ich auf die väterliche Funktion hinweisen wollen, rationale und sachliche Argumente und Zusammenhänge zu reflektieren und zu berücksichtigen, sie ist also anders als das mütterliche Einfühlen und Verstehen. Lassen Sie uns über die Unterschiede des Mütterlichen und Väterlichen sprechen: 

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Wenn ich über <Mütter­lich­keit> Vorträge halte, bekomme ich häufig den Vorwurf zu hören: "Wieder sind Mütter und Frauen an allem Schuld. Wo bleiben denn die Väter?" Das wird oft ziemlich feindselig vorgetragen, und man spürt die persönliche Betroffenheit und den Wunsch, unangenehme Erfahrungen abzuwehren. Verwunderlich dabei ist, dass häufig die Selbstverständlichkeit, dass Männer und Frauen verschieden sind, nicht akzeptiert werden will. So sollen Väter die gleichen Pflichten wie Mütter bekommen oder Frauen wollen so werden wie Macho-Männer. Mitunter werden nicht einmal die gegebenen biologischen Unterschiede anerkannt. 

Aber Schwanger­schaft, Geburt oder das Stillen kann kein Mann übernehmen. Dass dieses Vorrecht den Frauen so wenig gilt, ja sogar häufig als Last empfunden und als soziale Ungerechtigkeit erfahren wird, das weist uns auf erhebliche individuelle wie gesellschaftliche Mütterlichkeits­störungen hin.

Ich bin in den therapeutischen Analysen zu der Erkenntnis gekommen, dass eine selbst erlittene schlechte Mütterlichkeit das eigene Vermögen, Mutter zu sein, stark beeinträchtigt. Was dann aber nicht wahrgenommen werden will, weil die Erinnerung zu schmerzhaft wäre. So wird die eigene Not mit der Mütter­lichkeit gerne in einen Vorwurf an die Väter umgewandelt oder in einer mütterlichkeits­feindlichen Ideologie gegen die Wünsche und Bedürfnisse der Kinder ausgetragen. 

Dann wird Emanzipation in den Mittelpunkt gestellt. Das Recht der Frau auf Selbstverwirklichung und berufliche Karriere wird einseitig hervorgehoben. Und dass ein Leben ohne Kinder eben auch sehr schön sei. Oder dass man ohne größere Probleme beides — Beruf und Kinder — erfüllen könne. Und dass es sowieso gut sei oder nicht schaden könne, die Kinder fremd betreuen zu lassen. 

Und wenn in einer Gesellschaft Frauen real benachteiligt sind, dann können solche aus der eigenen Not geborenen Meinungen schnell im Emanzipations- und Geschlechter­kampf ausgetragen werden, nur um nicht an die erlittenen Mütterlichkeits­defizite erinnert zu werden.

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Wir dürfen nicht vergessen, dass die Einstellung der Mutter zu ihrem Kind, ihr Mangel an Liebe, ihre ungenügende Anwesenheit für das Kind eine lebens­bedrohliche Bedeutung haben. Es müsste uns heute allen klar sein — nicht zuletzt durch die Säuglingsforschung —, wie groß der Einfluss von Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit auf die Entwicklung eines Kindes ist: Wir gehen heute davon aus, dass ungefähr 50% von dem, was den Menschen später in seiner Persönlichkeit ausmacht, durch Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit geprägt wird. 

Und das kann kein Mann übernehmen und ersetzen — das muss man sich immer wieder in jeder Diskussion vor Augen halten. Denn statt diesen simplen Tatbestand zu vergegen­wärtigen, wird alles getan, um ihn zu vergessen oder zu verleugnen. 

Aber jetzt möchte ich gerne zum Aspekt der Väterlichkeit übergehen, nach dem Sie gefragt haben: 

Natürlich kann ein Vater die Frau, wenn sie ein Kind bekommt, unterstützen und zwar in jeder Hinsicht: Er kann ihr Arbeit abnehmen, er kann sie sozial absichern, er kann ihr liebevoll zugetan sein, alles mit ihr teilen und an ihrem Leben partizipieren. Das ist alles wünschenswert, dass der Partner sich, wenn ein Kind unterwegs und dann da ist, nicht schlagartig ändert und verschließt, sondern innerlich für seine Partnerin empfänglich und offen bleibt. 

Nur in der Praxis sieht es bei vielen Paaren dann doch eher so aus, dass mit dem ersten Kind plötzlich auch Probleme auftauchen, weil in dieser neuen Situation zum Beispiel der Vater auf das Kind eifersüchtig wird. Erst jetzt wird deutlich, dass der Mann in seiner Partnerin nicht nur eine Frau gesehen hat, sondern immer auch mütterliche Betreuung von ihr erwartet und empfangen hat; und die geht jetzt natürlich verloren, weil die zur Mutter gewordene Frau ihre ganze Mütterlichkeit dem Baby zuteil werden lässt. Sie ist dann für eine Weile plötzlich weniger Partnerin und mehr Mutter fürs Kind und fällt sogar manchmal als Sexualpartnerin aus.

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Da kommen viele Männer in die Krise, denn es wird ihnen klar, dass Partnerschaft im Angesicht der Mutterschaft der Frau neu konstituiert werden muss, dass jetzt keine Zweier­beziehung mehr besteht, sondern eine Dreierbeziehung gestaltet werden muss. Das ist auch eine Herausforderung für den Mann, sich selbst weiterzuentwickeln, reifer zu werden, eben Vater zu sein und sich dessen bewusst zu sein, für ein Kind sorgen zu müssen. Dann werden ihm häufig die eigenen unerfüllten Bedürfnisse bewusst, die er verstehen und emotional verarbeiten sollte, um keine Eifersucht auf das Kind zu entwickeln, der Partnerin enttäuschte Vorwürfe zu machen oder ganz und gar wegzulaufen. Ein reifer Mann wird natürlich seine Frau unterstützen und sich stolz und interessiert seinem Kind zuwenden. Dann gelingt in aller Regel auch eine konstruktive Arbeitsteilung zwischen Mutter und Vater unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Rollen und Funktionen. 

Väterlichkeit und Mütterlichkeit sind nicht weiter reduzierbare oder relativierbare unterschiedliche Funktionen, auch wenn es väterliche Mütter und mütterliche Väter gibt. Eine alleinerziehende Mutter oder ein alleinerziehender Vater müssen beide Funktionen — Mütterlichkeit und Väterlichkeit — übernehmen, wenn sie ihrem Kind gerecht werden wollen. Das ist natürlich besonders schwer und führt zu vielfachen Fehlern, Konflikten und Einseitigkeiten.

Die wichtigste Aufgabe des Vaters besteht darin, dem Kind zu helfen, von der Mutter loszukommen. Er macht dem Kind deutlich, dass es neben der dyadischen Beziehung noch eine andere, verlockende Lebensform gibt: die Triade. Indem der Vater die Mutter-Kind-Beziehung trianguliert, eröffnet er die soziale Dimension der Gemeinschaft, das Leben in der Gruppe.

Die Mutter vermittelt die Grunderfahrungen von Selbstsicherheit, Bestätigung, Identität, Vertrauen. Auf dieser Grundlage kann der Vater dem Kind Ablösung, Eigenständigkeit, Verantwortlichkeit, Pflicht, Aufgaben und Arbeit zumuten, vermitteln und befördern.

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Die gute Mutter vermittelt dem Kind — vor allem durch ihre innere Einstellung zum Kind und weniger durch ihr Tun oder Sagen —: "Du bist mein Kind, du bist mir willkommen! Ich mag dich, ich freue mich, dass du lebst und du bist in Ordnung so, wie du bist." Ein Kind, das diese Erfahrung machen darf, hat für sein ganzes Leben eine sichere Basis und wird alle Schwierigkeiten bewältigen können. Dieses Kind weiß, dass es lebensberechtigt ist, ohne erst bestimmte Leistungen erbringen zu müssen. Es fühlt sich beheimatet und wo immer es als Erwachsener leben wird, kann es vertrauen, hoffen und glauben. 

Der Vater repräsentiert den anderen Pol des Lebens: das Freiheitsgefühl, die Lust an der Eigenständigkeit, die Arbeits- und Gestaltungs­freude, die Kreativität und die Abenteuerlust. Der Vater vermittelt dem Kind: "Komm mit mir! Ich zeige dir die Welt, sodass du deinen Platz und deine Möglichkeiten finden kannst."

Irgendwo, in einer kleinen italienischen Ortschaft, habe ich in einer Kirche ein phantastisches Bild der Heiligen Familie gesehen und zwar in einer Konstellation, die man ganz selten sieht: Maria mit dem Jesus-Kind, Josef steht daneben und der Maler hat genau den Augenblick eingefangen und dargestellt, in dem sich das Kind von der Mutter wegdreht und zum Vater hin strebt und der Vater da ist, um es entgegenzunehmen. Genau das ist es, was ich meine, wenn ich von Väterlichkeit spreche: Der Vater muss da sein und das Kind in die Welt führen. Eine Männer-Gruppe, mit der ich seit Jahren arbeite, fand die Formel: <Von der Mutter zum Vater zum Ich in der Welt!>

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Jetzt sind wir bei einem Thema, das häufig Missverständnisse auslöst. Mütterlichkeit und Väterlichkeit sind nicht reduzierbare und austauschbare psycho­soziale Funktionen, die nur teilweise an das Geschlecht gebunden sind. Natürlich kann also auch eine Frau "väterliche" Arbeit leisten, da sie über die zu vermittelnden Eigenschaften und Fähigkeiten, wie z.B. Selbstständigkeit, Gestaltungskraft, Kreativität natürlich auch verfügt. Aber z.B. mütterlich bezogene Abhängigkeit und väterlich bezogene Autonomie können nur sehr schwer zur gleichen Zeit von derselben Person vermittelt werden. 

Aber bleiben wir doch bei der konkreten Situation einer Elternschaft, dann ist es zweifelsohne so, dass das Kind Eigenschaften wie Bindung und Sicherheit, Schutz und Wärme, Ver- und Besorgtsein mit der Mutter verbindet, weil diese von der Mutter schon während der Schwangerschaft und Geburt vermittelt werden — da ist eine Verbundenheit auf eine ganz natürliche Weise gegeben, von der sich das Kind erst allmählich entfernen kann. Und diese Symbiose kann nicht beliebig ersetzt werden. 

Natürlich kann die Mutter das Kind einer Amme geben oder in die Kinderkrippe, aber auch diese Tatsache ändert nichts an dem Faktum: Das Kind hat die Mutter gerochen und geschmeckt, es kennt ihren Herzschlag, ihre Reaktionen — es ist also leicht zu verstehen, dass die Trennung zwischen Mutter und Kind fürs Kind immer verletzend und traumatisierend ist, wenn sie zu abrupt oder zu früh geschieht. Wenn sich das Kind allerdings allmählich von der Mutter entfernen kann und dabei von einer dritten Person — idealerweise vom Vater — unterstützt wird, kann es die Fähigkeit zur Abhängigkeit und Verbundenheit und die Fähigkeit zur Selbstständigkeit und zum Alleinsein erlernen und je nach Anforderung leben.

Abschließend betone ich noch mal, dass Mütterlichkeit und Väterlichkeit nicht an ein Geschlecht gebunden sind. Aber die vom Kind erlebte konkrete Mütterlichkeit während Schwangerschaft, Geburt und der Stillphase und die erlebte Väterlichkeit in der Rolle des Dritten hinterlassen ihre prägenden Wirkungen und können nicht beliebig ausgetauscht oder ersetzt werden. Im Weiteren werden sich Mutter und Vater die mütterlichen und väterlichen Aufgaben und Funktionen teilen können, ohne allerdings das Prinzip Mütterlichkeit und Väterlichkeit auflösen zu können.

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Eine alleinerziehende Mutter kann diese Rolle der dritten Person auch erfüllen, aber es ist sehr viel schwieriger, weil sie immer die Rollen wechseln muss und das kriegt niemand so leicht hin — einerseits Geborgenheit zu bieten und andererseits zu Selbstständigkeit und Autonomie bewegen und anstiften zu müssen. Deshalb wird es in so einer Situation fürs Kind schwerer sein, die beiden unterschiedlichen Anforderungen herauszufinden, ohne sie dauernd miteinander zu verwechseln oder auf einen Lebenspol fixiert zu bleiben.

 

Das ist schwer vorstellbar, denn meist hat eine Frau, die gut mütterlich zu sein vermag, einen Mann an ihrer Seite, der gut väterlich ist — solche Frauen leben meist nicht allein. Nehmen wir aber an, der Vater ist gestorben, und es gibt eine Tochter, zu der die Mutter gut mütterlich ist, dann ist diese Tochter durch diese gute Mütterlichkeit mit gutem Selbstwert, mit einer sicheren Identität, auch einer guten weiblichen Identität ausgestattet. Sie weiß, weil sie das von der Mutter vermittelt bekommen hat, wer sie ist und dass sie in Ordnung ist, sie fühlt sich akzeptiert und geliebt. 

Aber jetzt muss sie in die Welt hinaus und davon wird sie eine gute Mutter auch nicht abhalten wollen: "Jetzt bist du alt genug, jetzt musst du die Welt kennen lernen!" Sie kommt zuerst in den Kindergarten, in die Schule, ins Internat, sie wird die eine oder andere Reise machen usw. Die Mutter muss nun dafür sorgen, dass dieser Weg in die Welt gut gelingt — dass es also vielleicht einen anderen Menschen gibt, der dem Kind das Väterliche eröffnet. Das kann ein Freund der Mutter sein, ein guter Lehrer oder eine andere Autorität, die väterlich ist und die die Aufgaben der Väterlichkeit übernimmt, also die Auseinandersetzung mit Aufgaben, Zielen, Verantwortung, Pflichten und Strukturen vermittelt.

Natürlich kann die Mutter diese Funktion auch übernehmen, aber der ständige Rollenwechsel ist sehr viel schwieriger für die Mutter und verwirrender für das Kind — es ist immer leichter, wenn die beiden Prinzipien, Mütterlichkeit und Väterlichkeit, von zwei unterschiedlichen Personen verkörpert werden.

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Nennen sie es doch einfach ..... — mütterlich und väterlich! Das sind Urfunktionen des Lebens. Man muss für diese Funktion weder verheiratet sein, noch Kinder haben. Wir können sie auch a und b oder x und y nennen, das ändert aber nichts an der Tatsache, dass es Lebensprinzipien sind, die erst in ihrem Zusammenhalt, mit ihrem Spannungsbogen und polaren Gegensätzen das menschliche Leben konstituieren. Ohne Annahme, Bejahung und Versorgung stirbt das Neugeborene, und ohne Eigenständigkeit, Gestaltung und Verantwortlichkeit sind Selbstverwirklichung und soziale Integration nicht möglich. Das hat natürlich immer etwas mit der realen Mutter und dem realen Vater zu tun. Aber die damit verbundenen Lebens­funktionen verkörpern einen höheren Zusammen­hang.

 

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Ja, richtig! Der Vater beginnt seine Beziehung zum Kind mit einer mütterlichen Einstellung: "Ich bin für dich da — egal, wie du bist, komm zu mir! Ich möchte dich kennenlernen." Und was er vor allem dem Kind mütterlich vermittelt, ist, dass er es in seiner Trennungsnot versteht: "Ich verstehe, dass es dir schwer fällt, dich von der Mutter, aus dieser geborgenen Welt, abzulösen, aber es gibt auch etwas anderes, was ebenso gut und schön ist. Und das möchte ich dir zu erschließen helfen!" 

Idealerweise lernt das heranwachsende Kind dann beides: Es ist schön, gesichert, geborgen und angenommen zu sein. Das ist eine wichtige Basis, um später als Erwachsener vertrauen und sich auch mal jemand anderem überlassen zu können. 

Eine gute Partnerschaft lebt von diesen Fähigkeiten. Aber es ist ebenso wichtig, den eigenen Lebensweg zu finden, eigene Ziele und Projekte; sich selbst etwas zuzutrauen und Lebensaufgaben zu finden, an denen man wachsen und reifen kann. Das menschliche Leben vollzieht sich in polarer Dynamik: zwischen Abhängigkeit und Eigenständigkeit, zwischen Gemeinschaft und Alleinsein, zwischen Egoismus und Altruismus, zwischen Geben und Nehmen, Aktivität und Passivität usw. Die gegensätzlichen Pole sind von Geburt an vorgegeben. Sie bedürfen aber der Lehre, der Übung und der Erfahrung vor allem in der jeweiligen Abstimmung der polaren Eigenschaften im realen Lebensvollzug. Mutter und Vater könnten die Idealbesetzung sein, die Lehrer und Vermittler der Polarität.

 

Ja, ich nenne diese Väterlichkeitsstörung "Vaterflucht". In einem guten Zusammenspiel von Mutter und Vater lässt die Mutter das Kind frei und der Vater begleitet es in "die Welt". Diese notwendige Ablösung und Individualisierung des Kindes gelingt schlecht, wenn die Mutter nicht loslässt und der Vater seine Unterstützung verweigert.

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Wenn die Mutter ihre Aufgabe gut erfüllt hat und das Kind sich sicher angenommen, geliebt und bestätigt weiß, wird es von sich aus die Welt erfahren und ganz selbstverständlich die Mutter verlassen wollen. Und auf dem Weg ins eigene Leben gibt es viele Fragen, Unkenntnisse und Risiken, wo Vaters Hilfe unentbehrlich ist. Eine alleinerziehende Mutter wird gut daran tun, für ihr Kind auch männlich-väterliche Einflüsse und Erfahrungen zu organisieren. Eine Kinderkrippe sollte dem Kind erspart bleiben und die Mutter die ersten drei Jahre zuverlässig — um der sicheren Bindungs- und Bestätigungserfahrung willen — zur Verfügung stehen. Die Bedeutung des Vaters wächst mit der Entwicklung des Kindes, und ab dem 3. Lebensjahr braucht das Kind auch den Kindergarten zu vielfachen sozialen Begegnungen, idealerweise auch mit Kindergärtnern.

 

Mütterlich und väterlich sind wie bereits gesagt zwei Grundprinzipien des sozialen Lebens und entwicklungspsychologisch nicht beliebig ersetz- oder austauschbar. Das Mütterliche konstituiert sich sehr nachhaltig durch Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit — also Schutz, Fürsorge, Versorgung, Anwesenheit, die Vermittlung von Annahme, Liebe, Respekt — und auch schon von Anfang an das notwendige Freilassen, das sich im Geburtsvorgang manifestiert. 

Erst allmählich können diese mütterlichen Funktionen von anderen Personen übernommen werden — also auch vom Vater. Es ist die Frage, wann und wie eine Trennung von Funktion und Person erfolgt. Wenn sie sehr früh und sehr abrupt geschieht, wird das Kind schon traumatisiert und es bedarf besonderer, heilender Zuwendung. Dabei spielt für die Überwindung von Ängsten und Verletzungen die emotionale Verarbeitung (etwa durch Trauer, Schmerz, Empörung) immer eine große Rolle.

Ein Kind braucht Mütterliches und Väterliches — von welcher Person oder Institution die Zuwendung, das Interesse und die Herausforderungen kommen, wird immer unwichtiger, je älter das Kind wird.

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Ich bin aus meiner therapeutischen Praxis heraus heute überzeugt davon, dass die allermeisten psychischen Störungen und Erkrankungen auf Frühstörungen, also auf Mütterlichkeitsstörungen, zurückgehen. Deshalb halte ich es ja für so wichtig, dass mütterliche Werte die Gesellschaft und das menschliche Zusammenleben bestimmen sollten und natürlich die Mütter und Familien so unterstützt werden, dass auch die konkrete Mutter ihre Aufgabe gut erfüllen kann.

Aber natürlich gibt es ein Leben lang Belastungen, Konflikte, Ungerechtigkeiten und mögliche seelische Trauma­t­isierungen. Dabei ist eindeutig, dass Menschen mit einer guten Basis aus früher guter Bestätigung und liebevoller Annahme alle späteren Belastungen besser bewältigen als Menschen, die frühe Defizite und Verletzungen erleiden mussten. Mit dieser Vergangenheit bleiben Menschen sehr viel labiler, empfindlicher, leichter kränkbar und unsicherer. 

Aber nicht nur, dass selbst bei geringen Belastungen heftige Reaktionen auftreten können, weil die schon vorhandenen frühen Wunden wieder aktiviert werden, nein, wir finden immer wieder Menschen, die sich reale Konflikte schaffen, schlechte Behandlung provozieren, damit sie endlich einen vor sich und anderen erklärbaren Grund vorweisen können für ihren schlechten seelischen Zustand. Dann soll das gegenwärtige reale Leid das Frühstörungsleid vergessen lassen und übertünchen. 

Ein späteres Trauma wird häufig zur Erklärung allen Leides herangeführt — und häufiger sind Männer die späteren Täter, die sich dann besonders eignen, die erlittenen Mütterlichkeits­defizite zu verbergen. Das spielt manchmal auch bei sexuellem Missbrauch durch den Vater / Stiefvater / Onkel an der Tochter eine Rolle, dass mit dem kriminellen Delikt die frühe Beziehungsstörung übersehen wird. Für den Erfolg einer Traumatherapie wäre es aber sehr wichtig, auch die Frühstörungsfolgen entsprechend therapeutisch bearbeiten zu können.

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Aus meiner eigenen Lebensgeschichte kann ich ein Beispiel für die Ursachenverschiebung erzählen: 

Meine Familie wurde 1945 aus dem Sudetenland vertrieben und musste nach Sachsen umsiedeln. Aus meiner Kindheit erinnere ich, dass viele Lebensprobleme meiner Eltern mit dem Vertreibungstrauma erklärt wurden. Das wurde für mich immer unverständlicher, und ich weiß noch, wie ich als Pubertierender heftig gestritten und meine Meinung aufrecht gehalten habe, dass es doch jetzt Familienkonflikte gibt, die nicht mehr mit der Vertreibung erklärt werden können. Dabei wäre es z.B. um Ehekonflikte meiner Eltern aus ihren Enttäuschungen aneinander gegangen, die zu klären gewesen wären, aber mit dem Vertreibungsunglück der Familie einfach nur wegerklärt wurden. Damals habe ich zum ersten Mal hautnah erfahren, wie ein sekundäres Trauma (Vertreibung) ein primäres Leid (frühkindliche Lebensverhältnisse) verbergen soll. 

Die Beziehungskonflikte meiner Eltern — das habe ich nach und nach verstanden — hatten viel mehr mit ihrem Leben vor der Vertreibung zu tun, mit Entwicklungs­konflikten und Charakterzügen, die sie nicht wahrhaben wollten. So wie es meinen Eltern nicht möglich war, ihre ganz persönlichen Schwierigkeiten hinter dem Vertriebenenschicksal zu sehen, so waren sie auch nicht bereit, die primäre Schuld für die Vertreibung bei den Deutschen zu erkennen, die ganz Europa mit einem furchtbaren Krieg überzogen hatten. 

Erst später — als Psychotherapeut — begann ich zu verstehen, dass diese Verleugnung deutscher Schuld im engen Zusammenhang mit der Verleugnung der Frühstörungsgeschichte steht. So wie die individuelle Leugnung frühen Unglücks und der Beziehungsdefizite im Dienste des Mutterschutzes steht, so stand das Vertriebenen­schicksal meiner Eltern im Dienste des Schuld-Schutzes, irgendeine innere Beteiligung am Nationalsozialismus erkennen zu müssen.

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In der Familie hatte ich damals keine Chancen, wirklich verstanden zu werden. Ich brauchte Literatur und Dritte — also "väterliche" Unterstützung —, um aus dem verlogenen "mütterlichen" Feld der Familie allmählich herauszufinden. Damals war mein Vater also im vergiftenden "Mütterlichen" befangen und hat seine Vaterfunktion, meine Ablösung aus der Mutterbindung und eben auch aus einer verlogenen mütterlichen Ideologie zu unterstützen, nicht wahrgenommen. Rassenwahn mit der Anmaßung vom besseren Menschen kann nur bei umfassenden narzisstischen Defiziten greifen und eine Befreiung von pathologischer Ideologie bedarf der Bewältigung der individuellen narzisstischen Schwäche verursacht durch Muttermangel.

 

Ein Mensch, der keine oder kaum eine Frühstörung hat, wird eine spätere Traumatisierung angemessen überwinden können. Was allerdings "angemessen" ist, lässt sich nicht festlegen, das ist von Mensch zu Mensch verschieden und natürlich abhängig vom Ausmaß des Traumas. Aber es ist zu erwarten, dass ein Unglücksfall, nach einiger Zeit — Tagen bis Monaten — verarbeitet sein kann.

Im Falle von Vertreibung wäre eine gesunde Reaktion etwa folgende: Es ist traurig und bitter, was wir miterleben mussten, und es gibt auch eigene — deutsche — Schuld daran und die Vertreiber haben sich auch schuldig gemacht —, aber jetzt haben wir eine neue Heimat, wir leben hier und sind bemüht, das Beste daraus zu machen. 

So kann man aus der Vergangenheit Lehren ziehen, um die Gegenwart und Zukunft besser zu gestalten und um bei Krisen nicht die Umstände verantwortlich zu machen, zum Beispiel: "Weil ich die Heimat verloren habe, kann ich nicht mehr glücklich werden!" Man würde Schwierigkeiten des Lebens immer auch als selbst mitverschuldet verstehen.

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Bezogen auf den Heimatverlust wäre auch die Frage notwendig, wie denn die innere Beheimatung gelungen ist: wie es um das "Mutterland" bestellt ist, das man in sich trägt. Ein Mensch, der wenig frühgestört ist, geht mit Unglücksfällen anders um. Er verzichtet auf Schuldzuweisungen, bemüht sich, Zusammen­hänge und eigene Fehler zu verstehen, engagiert sich für sinnvolle Verbesserungen und macht vor allem Gegenvorschläge, bringt Alternativen ins Gespräch und sucht nach aktiven Auswegen. 

Der Frühgestörte dagegen zieht sich im Belastungsfall zurück, resigniert, wird krank oder reagiert unangemessen heftig mit Streit und Gewalt. Auch Revolutionäre oder gar Terroristen treten anfangs meist mit ernstzunehmenden kritischen Ideen an, wenn aber zugrunde liegende seelische Verletzungen nicht erkannt werden, werden sie bald zu kriminellen Tätern. Das war in Deutschland z.B. auch 1968 mit der nachfolgenden Entwicklung der RAF zu beobachten.

Kritik zu üben ist sehr wichtig und notwendig. Aber wie kann man es wirklich besser machen, das ist die entscheidende Frage. Frühgestörte machen Revolution und errichten ein neues Gewaltsystem.

 

Der Gesündere liebt sein Leben, versteht sich in sozialer Bezogenheit und Verantwortung, engagiert sich für sinnvolle Veränderungen und Entwicklungen, kritisiert mutig, leidet an seiner Hilflosigkeit und Schwäche und würde noch heute sein Apfelbäumchen pflanzen, auch wenn er wüsste, dass die Welt morgen untergeht.

Als Therapeut kann ich nur einzelnen Menschen und mir selbst helfen. Und natürlich stimmt es auch, dass selbst die kleinste Veränderung Auswirkungen auf das Große und Ganze hat. Das wird man aber nur in seltenen Augenblicken wahrnehmen können. Aber solange ein Gesellschaftssystem von den Frühstörungen profitiert — in der westlichen Welt vor allem durch die Illusion einer Wachstumsidee mit einer äußeren Wohlstandsverheißung, die von der innerseelischen Not wirkungsvoll ablenkt —, bleibe ich pessimistisch.  

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Und dennoch halte ich Vorträge, schreibe Bücher, gebe Interviews — das sind meine Möglichkeiten, Verantwortung zu übernehmen. Ich hätte nach 1989 in die Politik gehen können, aber ich habe sehr schnell miterlebt, wie man dann wieder in "Parteidisziplin" genommen wird, und dass Machtkalkül mehr bedeutet als die Wahrheit. Also bin ich bei meinen (Schuster-) "Leisten" geblieben. Neben meiner therapeutischen Arbeit engagiere ich mich zunehmend für präventive Aufgaben, z.B. Paarberatung, Elternschule, Gefühlskunde — also für die Chancen, den Kindern bessere Voraussetzungen für ihr Leben zu ermöglichen und Frühstörungen zu vermeiden.

 

Genau, das ist es — ich würde mich in diesem Zusammenhang sofort für das Einführen von Schulkleidung einsetzen. Und ich könnte das auch begründen, es wäre nicht nur ein launisches Verbot: Es ginge in dem Fall darum, falsche Konkurrenz zu vermeiden und deutlich zu machen, dass übertriebene Äußerlichkeiten etwas mit Frühbedürftigkeit zu tun haben, dass man eine innere Unsicherheit durch äußere Markenwaren versucht zu kompensieren. Darauf könnte man in Gefühlskunde aufmerksam machen, aber vor allem vermitteln, dass Gefühle ganz wichtige Kommunikationsmittel sind und der Gesund­erhaltung dienen. Es müsste vor allem gelehrt werden, wie man Gefühle entwickelt und ausdrückt und wann man sie aber auch beherrschen und kontrollieren muss.

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Ja, das wäre bestimmt so. Daran wird deutlich, in welchem Umfang wir Abhängige - Süchtige - des Marktes geworden sind. Und schon lange nicht mehr ist der Markt auf die wirklichen Bedürfnisse der Menschen ausgerichtet .

 

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Die aktuelle Familienpolitik der Bundesregierung — z.B. mehr Krippenplätze zu schaffen — halte ich für den falschen Weg. 

Die wirtschaftliche Not und die Entwicklungsrechte für Frauen werden über das Wohl des Kindes gestellt — das ist eine schlechte, kinderfeindliche Einstellung, die sich auch über vermehrte Erkrankungen, Verhaltensstörungen und Fehlentwicklungen der Kinder oder späteren Erwachsenen — ganz abgesehen von den Schuldgefühlen vieler Mütter mit den Auswirkungen auf ihre Arbeitsleistungen oder auf ihre Einstellung zum Kind — negativ auswirken wird. 

Die propagierte Wahlfreiheit für Mütter wird erst dann glaubhaft und gerecht, wenn Mütterlichkeit als wesentlicher Wert in der Gesellschaft gewürdigt wird, wenn Mütter finanziell für ihre Betreuungsarbeit so ausgestattet werden, dass sie gut und gerne bei ihrem Kind bleiben können und wenn der Wiedereinstieg ins Berufsleben gesetzlich gefördert wird.

Wenn "Vater Staat" es nur unterstützt, dass Kinder in die Krippe abgeschoben werden können, werden die Mütterlichkeitsstörungen an die nächste Generation weitergegeben und das Versagen der Väterlichkeit ideologisch und ökonomisch chronifiziert, also chronisch auftreten. Kinder aus der Kinderkrippe garantieren spätere Abhängigkeit, Süchtigkeit und bei Bedarf auch Militanz, damit werden politische und ökonomische Machtstrukturen verfestigt.

Ich will Ihre Aussage noch mal hervorheben, dass selbst kritische Frauen konzedieren,* dass es eine gewisse Zeit gibt, wo die Mutter wesentlich für das Kind und nicht ohne Weiteres zu ersetzen ist.   (* zugestehen; einen Anspruch anerkennen)

Natürlich ist die Mutter prinzipiell zu ersetzen, ja sogar von Geburt an, denn schließlich gibt es auch heute noch Todesfälle bei der Geburt. Da muss dann jemand einspringen und die Mutter wirklich in jeder Hinsicht ersetzen, aber fürs Kind ist dieses Trennungserlebnis immer traumatisch, wenn es zu früh geschehen muss. 

Die Entwicklungspsychologen gehen davon aus, dass eine Loslösung, die vom Kind nicht traumatisch empfunden wird, ungefähr drei Jahre dauert. 

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Das heißt, innerhalb von drei Jahren ist das Kind bei einer guten mütterlichen Zuwendung so sicher, selbstbewusst und stabil, dass es jetzt von sich aus signalisiert, von der Mutter weg zu wollen: Es strebt von der Mutter weg und hin zum Vater und zur Welt. Es will das "Andere" auch erfahren und hat keine Ängste, neue Erfahrungen zu machen, weil es eine sichernde Basis von Selbstbewusstsein hat. Es kann ohne wesentliche Ängste in die Vaterwelt hinaus­gehen, denn es trägt die Mütterlichkeit als Mitgift in sich selbst.

Aber auf den Streit, wie lange denn nun ein Kind braucht, um von der Mutter gern und gut wegzukommen — ob ein Jahr, zwei oder drei Jahre — darauf mag ich mich gar nicht einlassen. Die entwicklungs­psychologischen Daten sind uns allen bekannt und da heißt es, dass das Kind im Durchschnitt drei Jahre braucht, um ein gutes Bindungs- und Selbstwertgefühl entwickelt zu haben — dies ist eine Frage der seelischen und hirnphysiologischen Entwicklung jedes Einzelnen. 

Viel wichtiger ist für mich in der therapeutischen Arbeit, dem nachzugehen und nachzuspüren, wie die innere Einstellung der Mutter zum Kind ist bzw. war. Eine Frau, die mütterlich im genannten Sinne zu ihrem Kind ist und das auch wirklich von Herzen ist, das heißt: nicht künstlich und aufgesetzt agiert, nicht ehrgeizig bemüht ist, perfekt zu sein, sondern die natürlich und authentisch ist, also auch ihre Grenzen übermitteln kann und mit ihrem Kind liebevoll umgeht, sich einzufühlen vermag und für es wirklich da ist, so eine Frau kann — davon bin ich aus meiner therapeutischen Erfahrung überzeugt, auch ihr Kind früher loslassen. 

Ein Kind, das wirkliche liebevolle Zuwendung erfahren hat, wird sich auch schneller von der Mutter ablösen können und wollen. Dann muss sich die Mutter auch nicht übermäßig lange um das Kind kümmern. Wenn aber eine Frau diese liebevolle Einstellung zu ihrem Kind nicht zur Verfügung hat, bleibt das Kind in der Bedürftigkeit und Sehnsucht stecken und wird sich nicht entwickeln und ablösen wollen. Und wenn die Mutter das Kind für ihre Bedürfnisse missbraucht, dann kann ihre Anwesenheit für das Kind schädlicher werden als eine zu frühe Trennung durch eine Krippenbetreuung.

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Ich kenne aus meiner Arbeit viele Fälle, bei denen wir herausfanden, dass sie eine wirklich schlimme Kind­heit hatten, wo es also offenkundig war, dass sie nicht gewollt waren, zu früh allein gelassen oder lieblos behandelt worden waren. 

Aber wir mussten mitunter einräumen, dass diese Menschen <klarer> dran waren, weil sie akzeptiert hatten: "Okay, das ist mein Schicksal, es ist zwar traurig, aber ich muss damit zurechtkommen!", als Menschen, die Jahre lang von ihrer Mutter behütet worden waren, wo es jedoch vom Herzen her nicht wirklich gestimmt hatte. 

Diese Menschen haben es sehr viel schwerer zu erkennen, dass sie Opfer einer falschen Mütterlichkeit waren, d.h. einer Mütterlichkeit, bei der es nicht um sie ging, um ihre Entwicklung und Entfaltung, sondern um die Stabilisierung und Bestätigung der Mutter. Das Kind sollte dann für die Mutter da sein und nicht andersherum.

Eine Frau kann sich als Mutter aufopfern - dafür viel Anerkennung erhalten -, aber das Kind spürt keine Liebe, es fühlt sich nicht verstanden. Denn es muss ja die Mutter und ihre Bedürfnisse verstehen und möglichst befriedigen. So kann unter dem Deckmantel bester Mütterlichkeit das Kind eingeschüchtert, abgerichtet und seiner selbst entfremdet werden.

Wenn man diese Zusammenhänge also etwas differenzierter betrachtet, wird der Streit darüber, wie lang denn eine Mutter zu Hause bleiben muss, ab wann sie das Kind in die Krippe geben kann, überflüssig. Denn ausschlaggebend ist vor allem die eine Frage: Wie steht die Mutter wirklich innerlich zu ihrem Kind? Diese Frage müsste sich jede Frau aufrichtig stellen und ehrlich beantworten. Das ist das Entscheidende: Ist ihre Liebe echt? Kann sie für ihr Kind da sein und es begleiten? Oder gibt sie (nur) vor, das Kind zu lieben und stürzt sich in endlose Liebesbeteuerungen und aufopfernde Gesten und (miss-)braucht damit das Kind für ihre eigenen Zwecke?

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Wenn's innerlich nicht stimmt, kann sie nicht "gut mütterlich" sein, obwohl sie alles für ihr Kind tut und sogar eigene Interessen aufgibt. Sie wird dann vom Kind Dankbarkeit erwarten und in ihrer Mutterschaft ihre eigenen Schwächen, Grenzen und Ängste verbergen wollen, die sie in ihrem Leben als Frau und in ihrer sozialen Bedeutung und Entwicklung hat.

 

Ja, so eine Art "Elternführerschein" wäre sinnvoll. Mir ist natürlich sehr wohl bewusst, dass es sich keine Gesellschaft leisten kann, Erlaubnis, Befehl oder Verbot fürs Kinderkriegen zu erteilen. Aber Eltern auf das "Abenteuer Kind" vorzubereiten, das wäre durchaus zu empfehlen. Was wissen die Eltern über Kinder, womit rechnen sie, was berücksichtigen sie, wie müssen sie mit ihrem Kind umgehen, um es zu verstehen und zu fördern — darüber gibt es tatsächlich so viel Unkenntnis und so viele Täuschungen und wirre Vorstellungen, dass die Idee eines "Führerscheins" wirklich gut wäre. 

Es gibt nämlich so vieles, was man bereits im Vorfeld einer Schwangerschaft vermitteln kann, worauf man sich einstellen kann — oder es gegebenenfalls auch lassen kann, wenn man spürt, es führt zur Überforderung. Man kann vieles über Kinderbetreuung lernen, zur Art und Weise, wie sich Kinder entwickeln, zu den Veränderungen in der Partnerschaft, die ein Kind nolens volens verursacht, auf die man sich vorbereiten kann. ( wiktionary  nolens_volens notgedrungen; wohl oder übel ) 

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Aber der andere Aspekt ist auch sehr wichtig — der in Ihrer Frage durchschimmert — und der sich auch in anderen Fragen zeigt, die Sie mir stellen: Mir scheint, Sie haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass wir einmal in idealen Zuständen leben könnten. Dass irgendwann <alles gut> sein wird. 

Diese Hoffnung habe ich nicht mehr! Anfangs war ich auch mit dieser Vorstellung angetreten, aber ich bin in einer anderen Welt gelandet — und diese Welt ist die reale. Ich muss es leider offen gestehen, dass ich der Meinung bin: Es wird nicht gut! Wir müssen uns damit abfinden, dass es Begrenzungen und Beschädigungen gibt; dass es zum Beispiel — bezogen auf unser Diskussionsthema — Grenzen in der Mütterlichkeit und Väterlichkeit gibt.

Deshalb ist jeder Mensch besser beraten, sich aufrichtig zu spiegeln und festzustellen: "Ich bin keine ideale Mutter! Ich bin kein idealer Vater! Ich habe da meine Behinderung und Begrenzung." Sich das einzugestehen und zuzulassen, ist — nicht nur für die Eltern selbst, sondern auch für die Kinder — besser, als dauernd von sich selbst zu erwarten: "Aber ich muss jetzt, wo ich Mutter geworden bin, unbedingt eine ideale Mutter werden!" Oder entsprechend ein idealer Vater.

Man erwartet da etwas von sich, was niemals zu erreichen ist. Und diese meine Einstellung resultiert aus meiner Erfahrung, nämlich es schlicht und ergreifend: Wir alle haben unsere Begrenzungen und es kann gar keine ideale Situation geben. Letzteres wäre eine utopische Vorstellung.

Wenn man davon ausgeht, dass wir alle unsere Begrenzungen haben, dann gibt es zwei Möglichkeiten, damit umzugehen. 

Die eine ist — so zu tun, als sei es nicht so und sich selbst einzureden, man mache schon alles richtig, schließlich sei man redlich bemüht, "perfekt" zu werden, das wäre also die Verleugnung des eigenen Schattens und der Defizite, was dann in der Folge dazu führt, dass man dem Kind den schwarzen Peter hinüber schiebt, es für jedes Missgeschick verantwortlich macht und es von früh an mit Schuldgefühlen belastet. Solche Menschen — es ist leider die Mehrheit der Bevölkerung — hört man dann nicht selten ihren Kindern sagen: "Du musst nur schön brav das tun, was ich dir sage, dann haben wir keine Probleme!"

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Die andere Möglichkeit, mit der Begrenzung umzugehen, ist sie sich einzugestehen und die Realität entsprechend zu bedauern. Doch das können die meisten nicht einfach so — viele brauchen erst mal eine Psychotherapie. Denn sie verstehen nicht, weshalb sie mit einigem nicht zurechtkommen und sagen sich: "Ich leide darunter, ich kriege das nicht besser hin, ich sehe, dass ich mich da schuldig mache und das ist nicht angenehm für mich. Ich brauche Hilfe!" Solche Menschen kommen dann zu uns und wir können ihnen Wesentliches nahe bringen, wir können sie zum Beispiel darin unterstützen, ihre Behinderung oder Begrenzung zu betrauern. Trauerarbeit — das ist es, und nicht Menschen unter Druck setzen und sagen: "Nun streng dich mal ein bisschen an! Du musst schließlich eine gute Mutter (guter Vater) werden! Auf geht's!" 

In dem Bemühen, ideal werden zu wollen, kann der Einzelne sich nur unglücklich machen und er landet dann bei dem Muster: "Ich mache das Beste und strenge mich an. Aber du (gemeint ist das Kind) — du bist Schuld, dass es mit uns nicht klappt!" Dabei wäre es allzu menschlich und für alle entlastend, einfach nur aufrichtig zu sagen: "Es ist schade, aber ich kann's nicht besser. Das ist traurig!" 

Und darum geht es mir in meiner Arbeit, dass ich Menschen helfe, mit ihrer Begrenzung aufrichtig umzugehen. Ich möchte mit ihnen Mittel und Wege finden, ihre Grenzen auch den anderen mitzuteilen — dem Partner oder dem heranwachsenden Kind: "Tut mir Leid, mein Kind. Ich bin momentan so sehr mit mir selbst beschäftigt, dass ich mich jetzt nicht auf dich einstellen kann." Was man auch immer als Grund dafür anführt (dass man keine offenen Ohren hat):  Wichtig ist eine ehrliche Mitteilung. 

Wir können doch auch nicht verhindern, dass das Leben zu Ende geht, dass wir sterben oder Menschen verlieren, dass Beziehungen scheitern, dass man Ziele nicht erreicht. Wir machen doch ständig Erfahrungen, die nicht so sind, wie wir sie gerne hätten.

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Wir haben eine Kultur akzeptiert, die uns zum Erfolg, zum Sieg, zum Ideal drängt. Weil wir das Schmerzen und Trauern nicht mehr zulassen wollen. Jede therapeutische Gefühlsarbeit — Menschen zu helfen, ihre Gefühle ausdrücken zu können — lehrt uns, dass es bereits nach 20 Minuten selbst bei größtem Leid eine spürbare Entlastung gibt, wenn man richtig weinen oder toben konnte.

Die meisten Menschen wissen aber nicht mehr, zwischen echten Gefühlen, die immer nur kurze Zeit zur Entäußerung brauchen, und aufgesetzten Gefühlen, die eine Wirkung auf andere haben sollen und die unendlich eingesetzt werden können, zu unterscheiden. Wir hätten eine andere Welt, wenn wir unsere Gefühle wertschätzen und angemessen ausdrücken könnten. Und dies auch unseren Kinder lehren würden.

 

Das Bewusstsein, dass Gefühle für die menschliche Entwicklung und Gesundheit von größter Wichtigkeit sind. Gefühle sind Kommunikations­mittel, um andere zu erreichen und zu erweichen, ungestillte Bedürfnisse zu befriedigen. Gefühle dienen der Spannungsabfuhr. So kann man auch über den Gefühls­ausdruck von Wut, Schmerz und Trauer, ohne dass man eine reale Veränderung erreicht, den Stress von Ungerechtigkeit, Mangel und Verletzung abführen und lange Zeit trotz allem halbwegs gesund bleiben

Gefühle werden vor allem auch körperlich zum Ausdruck gebracht, ein voller Gefühlsausdruck umfasst den ganzen Körper. So sind z.B. beim Weinen zuerst die Augen durch stärkere Durchblutung gereizt, dann fließen Tränen, dann bebt und zittert das Gesicht, der Mund, dann entsteht ein Schluchzen, dann bebt der Brustkorb, zittert der Bauch, bewegt sich das Becken, greifen die Arme aus, zittern die Beine.

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Der volle Gefühlsausdruck muss gelernt werden, wie sprechen und laufen. Für die Gefühle braucht es geschützte Orte und Zeiten. Man kann nicht überall und immer seine Gefühle loslassen. So muss man also auch lernen, Gefühle zurückzuhalten, zu kontrollieren und bei geeigneter Gelegenheit wieder zu aktivieren, um sie zum Ausdruck zu bringen. Es gibt Körperhaltungen und Übungen, um den Gefühlsausdruck zu aktivieren. Es gibt eine hilfreiche Begleitung: Ermutigung, Bejahung, Berührung, Halten, Massieren, Widerstand geben, um Gefühle zu entwickeln. Sie sehen, es gibt genug Stoff, um ein Unterrichtsfach zu füllen.

Wir wissen auch, dass ein "Gefühlsstau" eine wesentliche Ursache für viele Beschwerden und Erkrankungen werden kann. In der Medizin und Psycho­therapie müssen also körperliche Beschwerden, Funktionsstörungen, psychische Symptome wieder in die ihnen zugrunde liegenden Gefühle zurück­verwandelt werden, um sie zu heilen. Psychosomatische Erkrankungen sind immer auch Gefühlserkrankungen.

 

Es gibt mehrere psychodynamische Hypothesen für Essstörungen, immer aber spielen Mütterlichkeits- und Väter­lichkeitsstörungen dabei eine wichtige Rolle. 

Bei einer Anorexie (Magersucht) spielen häufig schwerwiegende Entwicklungskonflikte eine Rolle, die sich um die Themen: Weiblichkeit, Entwicklung, Kontrolle und Macht ranken. Unbewusster Hass auf die Mutter trägt dazu bei, auf keinen Fall wie die Mutter werden zu wollen. Die Magersucht beginnt meistens in der Pubertät, also in einer Entwicklungszeit des Mädchens zur Frau. Deshalb kann auch ein gestörtes Vater-Tochter-Verhältnis die Anorexie mitbedingen: entweder wenn der Vater die weibliche Entwicklung abwertet und verhöhnt oder sexuell übergriffige Anspielungen macht oder gar entsprechende Handlungen vollzieht. So entwickelt sich durch den schlechten Einfluss der Eltern eine Aversion gegen die erwachsene weibliche Sexualität, die über Nahrungsverweigerung ausgetragen wird. Damit ist häufig auch ein Gefühl der Kontrolle und Macht verbunden, das man über den Körper und damit über Triebe und Bedürfnisse erlangt und zugleich wird Abgrenzung gegenüber der Macht der Eltern erreicht, die sich jetzt um die mitunter sogar lebensbedrohlich erkrankte Tochter kümmern müssen.

Bei der Bulimie (Fress-Kotz-Sucht) bricht mit den Fressattacken eine Gier durch, die verständlich wird, wenn man von den dahinter verborgenen Beziehungs­defiziten und dem Liebes­mangel Kenntnis bekommt. So wird gegen eine vorhandene Verlust- und Verlassenheitsangst gegessen, die berechtigte Wut wird über die Nahrung gegen sich selbst gerichtet und dann entstehen natürlich Unwohlsein, Ekel und Schuldgefühle mit dem Wunsch, das eigene Fehlverhalten durch Erbrechen wieder zu korrigieren. Die Bulimie hat also viel mit Muttermangel und Muttervergiftung zu tun: Mangelnde Liebe wird durch Essen ersetzt und eine verlogene Zuwendung der Mutter (Essen statt Liebe) wird re-inszeniert und im Bemühen, sich zu entgiften, herausgekotzt.

Wir sehen also, dass Essstörungen in aller Regel Folge von elterlichem Fehlverhalten und unterdrückten Gefühlen sind. 

Dass sich in der Gesellschaft dann auch ein Idealbild übertriebener Schlankheit entfaltet, halte ich einerseits für die Projektion der unerfüllten Sehnsüchte auf die Mode und das Schönheits­ideal, das rückwirkend dann auch wieder zum Argument gemacht wird, um abzunehmen und einem Diät-Wahn zu verfallen, um nicht die Beziehungstragödie mit den Eltern wahrnehmen zu müssen.

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Maaz, Szöllösi, 2007