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2. Doktor Schiwago

 

 

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Der Roman <Doktor Schiwago> von Boris Pasternak ist mehr als ein Buch; er ist ein historisches Ereignis. Nach langen Jahrzehnten des Schweigens, in denen die russische Literatur praktisch aufgehört hatte zu existieren und nur noch in langweiligen, linientreuen Illustrationen von Parteibeschlüssen bestand, erscholl auf einmal die kühne und kraftvolle Stimme des lebendigen Rußland. 

Das hohe intellektuelle Niveau, die Intensität des geistigen Strebens, Themen und Probleme, wie sie für die große russische Literatur der Vergangen­heit bestimmend waren, die Ausdruckskraft der Sprache — alles war unerwartet an diesem Buch, das die zerstörte Verbindung zwischen den Zeiten und Generationen wiederherstellte, das über den Abgrund innerer Öde und Verwilderung hinweg eine Brücke schlug von der alten russischen Kultur zu einer neuen, die wiederauferstand und neu geboren wurde. 

Es scheint unglaublich, daß in einem einzigen Buch und in einem Menschenleben zwei so verschiedene und so unvergleichbare Welten vereinigt sein können: das alte Rußland, das alte Moskau der weiträumigen Bürgerhäuser mit ihrer Gastfreundschaft, ihrer großzügigen Aufgeschlossenheit und ihren guten festen Bräuchen, die auf jahrhundertealter geheiligter Tradition gründeten; das weihnachtliche Moskau mit fröhlichem Versteckspiel, dem geschmückten Baum, dem Glockenklang und der Herzlichkeit unter den Menschen — und zugleich das heutige, sowjetische Rußland mit seinen Gemeinschaftswohnungen (»Man nennt das jetzt <Wohnfläche>«1)) und seinen Arbeitsbüchern, den Schlangen vor den Geschäften, der »Kritik und Selbstkritik« auf den Versammlungen, mit den Resolutionen, den Verdächtigungen und der Angst — ein Leben mit vollkommen anderen Maßstäben und Formen des menschlichen Zusammenlebens.

wikipedia  Boris Pasternak      wikipedia  Doktor Schiwago  1956 fertiggeschrieben

Pasternak, erzogen und gereift noch in der alten vorrevolutionären Epoche, ein Vertreter der alten russischen Intelligenz, deren größerer und bester Teil in den Lagern umkam, sich in der Verbannung und in der Emigration verlor, hinterließ den Jungen, die damals eben erst zum Begreifen dessen erwachten, was um sie herum geschah, sein Vermächtnis: den »Doktor Schiwago«, die reife Frucht großer Erfahrung, langer Arbeit (die ersten Skizzen zu dem Roman waren bereits in den dreißiger Jahren entstanden) und vieler Jahre des Nachdenkens in — erzwungenem — Schweigen.

Über den »Doktor Schiwago« ist vieles geschrieben worden,2) und in diesem dissonanten Chor geht das Wesentliche verloren: die Bedeutung dieses Romans, die für uns Russen, die wir unser ganzes Leben im sowjetischen Rußland verbracht haben, so unmittelbar klar ist, und die dadurch bedingte eigentümliche Form dieses ungewöhnlichen Buchs — das man mit solchen Kategorien wie »traditioneller Roman«, »moderner Roman«, »Antiroman« usw. mit Sicherheit verfehlt und dessen Verständnis man am ehesten nahekommt, wenn man es mit Eugenio Montale auffaßt als »ein großes Poem, das nach allen Seiten hin offen ist und sogar für eine symbolische Interpretation Raum läßt«.3)

Die Bedeutung von Pasternaks Roman kann man nur verstehen, wenn man ihn in seinem Zusammenhang mit der sowjetischen Literatur und dem sowjetischen Leben sieht; denn das ganze Buch ist eine Absage an jene Werte (oder Pseudowerte), welche die sowjetische Literatur propagiert und das sowjetische Leben den Menschen aufzwingt, das ganze Buch ist Protest, Aufschrei, Schmerz.

Wenn wir im »Doktor Schiwago« lesen, wie völlig unschuldige Menschen wahllos auf der Straße festgenommen und unter Bewachung zum Zwangsarbeits­dienst transportiert werden (S. 260), so begreifen wir das als ein Gegen­gewicht zu dem schablonenhaften, platten Schematismus, mit dem in der sowjetischen Literatur die Revolutionsjahre als heldenhafter Kampf der Volksmassen gegen die bösen und grausamen Ausbeuter dargestellt werden.

Wenn wir davon lesen, daß die Rote Armee Dörfer, die der Sowjetmacht nicht gehorchen wollen, vom Panzerzug aus unter Artilleriebeschuß nimmt (S. 269); daß die Sowjetmacht Frauen und Greise als Geiseln nimmt und gnadenlos tötet (S. 540); daß der Bürgerkrieg das Land in eine Wüste verwandelte, wo »der Wandersmann, wenn er einem anderen Wanderer begegnete, abzuschwenken pflegte, denn einer tötete den andern, um nicht selber getötet zu werden«, wo »Fälle von Menschenfresserei vorgekommen«, die »Menschengesetze der Zivilisation aufgehoben« waren und »der Mensch die prähistorischen Träume des Höhlenzeitalters träumte« (S. 446); oder wenn wir lesen: 

»Der Fanatismus der Weißen und der Roten wetteiferte in Grausamkeiten miteinander, wobei mit immer zunehmender Kraft auf jeden Schlag ein Gegenschlag erfolgte. Vom Blutvergießen konnte einem übel werden; das Blut stieg einem bis zum Hals; die Augen schwammen in Blut« (S. 440)

 — dann läßt alles das die konventionelle Vorstellung von der Revolution zusammenbrechen, wie sie die sowjetische Literatur im Laufe der Jahrzehnte zielstrebig gepflegt hatte — zu Zeiten, wo selbst Bücher wie Babels »Reiterarmee« in den Öfen der Lubjanka verbrannt wurden. 

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Pasternak wurde vorgeworfen, daß er in die Vergangenheit strebe, daß er gegen die heldische Moral der aktiven Umgestalter der Welt auftrete. Dabei ist die Darstellung der Revolution, wie sie Pasternak gibt, durchaus nicht neu; die gleiche Sichtweise finden wir bei dem sublimen Franzosen Anatole France (»Die Götter dürsten«) ebenso wie bei dem von revolutionären Ideen verlockten Amerikaner Hemingway (»Wem die Stunde schlägt«) oder bei dem genialischen deutschen Jüngling Büchner (»Dantons Tod«) und bei vielen, vielen anderen.

 

Nachdem Pasternaks Roman im Westen veröffentlicht und dem Dichter der Nobelpreis zugesprochen worden war, begann die sowjetische Presse mit einer Hetzjagd auf Pasternak und überschüttete ihn mit einer Flut von Beschimpfungen4); aber man machte nicht einmal den Versuch, den Roman ernsthaft zu analysieren und aufzuzeigen, in welchen Punkten Pasternak unrecht habe. Konkret über die Einzelheiten in den Dialog treten kann nur, wer überzeugende und unanfechtbare Argumente in der Hand hat.

Aber die Argumente sahen so aus: »Pasternak hat den Agenten des Klassenkampfs antisowjetisches, gegen das Volk gerichtetes literarisches Material in die Hände gegeben«; »Pasternak äußert in seinem Roman unverhüllten Haß gegen das russische Volk«; »in unserem sozialistischen Land, das ergriffen ist vom Pathos des Aufbaus des lichten Kommunismus, ist so einer Unkraut«; »der Roman <Doktor Schiwago>, um den soviel Propagandalärm gemacht wird, enthüllt lediglich die maßlose Eigenliebe seines Autors bei gleichzeitiger geistiger Armseligkeit, es ist das Gewinsel eines verschreckten Kleinbürgers«; »Pasternak gehört auf den Müll«.

Der ZK-Sekretär des Komsomol Semitschastnyj nannte Pasternak vor einer großen Zuhörerschaft öffentlich ein Schwein; auf dem gleichen Niveau bewegten sich die Beiträge der sowjetischen Schriftsteller in der Debatte, die über den Roman im Schriftstellerverband geführt wurde: »Sowohl die Hauptpersonen als auch alle anderen Figuren des Romans predigen ungeniert und ohne Umschweife die Philosophie des Verrats«; »der Roman ist eine Apologie des Verrats«; »den Marxismus, dessen Ideen unser Leben bestimmen, versuchen sie [die Helden des Romans — J. M.] als Wissenschaft zu widerlegen«;

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»Pasternak hat das Manuskript dem italienischen Verleger Feltrinelli gegeben, der ein Renegat, ein Überläufer aus dem Lager des Fortschritts ins Lager des Feindes ist«; »Pasternak hat sich endgültig als Feind seines Volkes und der Literatur entlarvt«; »es muß eine Säuberungsaktion durchgeführt werden; wir alle müssen begreifen, wohin das Sympathisieren mit ästhetischen Werten führen kann, wenn diese Sympathie die Eliminierung des marxistischen Ansatzes bedeutet«; »der Roman vom Doktor Schiwago ist ein Maulvoll Spucke ins Gesicht unseres Volkes«; den Namen Pasternak auszusprechen »ist dasselbe wie ein unanständiges Geräusch in Gesellschaft«.5)  Diese Argumente der Gegner sprechen wohl beredter als jede Verteidigung dafür, auf wessen Seite die Wahrheit steht.

Pasternak bestreitet nicht die Berechtigung der Revolution, die Wahrhaftigkeit ihres leidenschaftlichen Elans; er sieht die Ungerechtigkeit der alten Gesellschaft durchaus deutlich: »Schmutz, drangvolle Enge, Bettelarmut; werktätiger Mensch zu sein — ein Schimpfwort; und erst die Frauen — wie hat man sie behandelt!« (S. 541); er weist auch daraufhin, daß die sozialistischen und marxistischen Theorien, die einen Ausweg aus dieser Ungerechtigkeit suchten, folgerichtig entstehen mußten. Schiwago äußert sich voller Begeisterung nicht nur über die ersten Tage der Februarrevolution, die »vom Himmel gefallene Freiheit«, wo alle »sich so gigantisch fühlen in ihrer Verwirrung«, »als würden sie von ihrem neuentdeckten Heldentum geradezu erdrückt« (S. 173), sondern auch über den bolschewistischen Oktoberumsturz, den er ein »kurz entschlossenes« »Aufräumen mit einer jahrhundertelangen Ungerechtigkeit« nennt und der für ihn »etwas von Puschkins unerbittlicher Klarheit« hat, »von der unverbrüchlichen Treue zur Realität, wie man sie bei Tolstoj findet« (S. 230). (Hierin weicht Pasternak sogar von der historischen Wahrheit ab, denn man braucht sich bloß ein wenig in die russischen Zeitungen jener Tage zu vertiefen, um zu erkennen, daß die gesamte gebildete Gesellschaft in Rußland den Oktoberumsturz ganz anders aufnahm: als ein zur Unzeit unternommenes, unverantwortliches und verhängnisvolles Abenteuer.) 

Doch die Logik der Revolution, sagt uns Pasternak, führt mit ihrer Gewaltsamkeit und Intoleranz leider in der Regel zu etwas vollkommen anderem, als man erreichen wollte. So wie der Mensch kein bloßes physikalisch-chemisches Aggregat ist, läßt sich auch die menschliche Gesellschaft nicht auf

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die Produktionsbeziehungen und den Klassenkampf reduzieren. Die primitive Simplifizierung des Lebens, das Bestreben, es nach vorgegebenen Schemata umzumodeln, führt nur zur Vergewaltigung des Lebens, und dafür rächt es sich an seinen Tyrannen, indem es ihre Hoffnungen enttäuscht und ihnen unvorhergesehene entsetzliche Folgen beschert. »Umgestaltung des Daseins! So können nur Menschen reden, die vielleicht allerlei in ihrem Leben gesehen haben, die aber kein einziges Mal das Leben wirklich begriffen, den Geist des Lebens, seine Seele empfunden haben. Für sie ist das Dasein nur roher Stoff, der durch nichts veredelt wird und leblos daliegt, um von ihnen bearbeitet zu werden. Das Leben aber ist in Wirklichkeit niemals wesenlose Materie. Es ist, wenn ich es Ihnen denn sagen soll, das eine sich immer aus sich selbst erneuernde und umgestaltende Prinzip, das ohne unser Dazutun wirken wird bis in alle Ewigkeit. Es ist unendlich erhaben über die Begriffe, die wir, Sie und ich, uns von ihm machen.« (S. 399)

Der ganze Roman ist erfüllt von staunendem Entzücken vor dem Leben, von Verzauberung durch seine Geheimnisse, seine Schönheit, seine unerreichbare verschlungene Vielfalt und Harmonie, das ganze Buch ist gleichsam eine poetische Hymne an das Leben. (Hier übrigens liegt der Grund dafür, daß dieses Buch, das so Tragisches und Entsetzliches zum Inhalt hat, überhaupt kein Gefühl der Ausweglosigkeit zurückläßt, sondern im Gegenteil durch seine helle, poetische Zuversicht beeindruckt.) »Niemand macht Geschichte; man kann sie nicht sehen, wie man nicht sehen kann, wie Gras wächst.« (S. 543) Und wie das bittere Fazit aus seinem tiefen Nachsinnen über unsere russische Geschichte klingen Schiwagos Worte: »Meine Haltung war durchaus revolutionär, aber heute denke ich, daß man mit Gewaltanwendung überhaupt nichts erreicht. Zum Guten muß man durch Gutes geführt werden. (S. 311)

Doch alles dies ist bloß die unwichtigste, die alleroberste Schicht von Pasternaks Buch. Der Gedanke, einen politischen Roman zu schreiben, lag ihm fern, Politik hatte immer nur Widerwillen bei ihm hervorgerufen, sie war für ihn eine läppische, eines ernsthaften Menschen unwürdige Beschäftigung. Die Bedeutung des Buchs liegt weitaus tiefer. Pasternaks Kritik, seine Ablehnung der sowjetischen Realität entspringt aus einer sehr viel wesentlicheren Tiefenschicht; es ist dieselbe wie bei den bedeutendsten russischen Philosophen der Jahrhundertwende: Nikolaj Berdjajew, Sergej Bulgakow, Semjon Frank, die in der Zeitschrift »Wechi« (Wegemarken) lange vor der Revolution mit genialer Klarsicht vorhergesagt haben, was danach mit Rußland geschah.6)

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Der Angelpunkt des Romans, der letzten Endes auch dessen ungewöhnliche Form erklärt, ist der Personalismus. Dieser Personalismus hat jedoch nichts gemein mit einem angeblichen Individualismus des einzelnen, der sich gegen den Fortschritt der Geschichte stellt, wie man Pasternak verschiedentlich vorwarf. Fjodor Stepun bemerkt zutreffend: »Vom Standpunkt Pasternaks ist der Individualist in Wahrheit ohne Seele, weil die Seele des Menschen >der Mensch in den anderen Menschen< ist. Der Individualist dagegen ist ein Mensch in sich selber. In Pasternaks Terminologie ist der Mensch in sich selber unvermeidlich ein entpersönlichter Mensch, denn das Mysterium der Persönlichkeit gewinnt seine Kraft aus dem Christentum, der Christ aber lebt in der Liebe zum Nächsten. Zur Verteidigung ihrer Interessen schließen sich die Individualisten sehr leicht zu Kollektiven zusammen; in diesen jedoch fungiert jeder einzelne nur als Duplikat jedes anderen Mitglieds des Kollektivs, und indem jeder den anderen verteidigt, verteidigt er in Wahrheit allein sich selbst... Dieser westeuropäische Individualismus ist nur die Kehrseite des bolschewistischen Kollektivismus.«7)

Pasternaks Auffassung, daß das Leben ein Opfer sei, ist mit dem Individualismus gleichfalls unvereinbar. Das Thema der Opferung, das den ganzen Roman durchzieht, erklingt am Ende auch in Schiwagos Gedichten:

»Leben ist ja auch nicht mehr 
Als ein Nu, ein Schwinden, 
Unser selbst in all'n umher 
Als ihr Angebinde.« (S. 619)

Und ganz am Schluß heißt es abermals:

»Du siehst, der Zeiten Zug ist so entzündlich 
Wie dunkles Gleichniswort, das plötzlich loht. 
Im Namen seiner Schreckensgröße find ich 
in freigewählten Qualen jetzt den Tod.« (S. 639)

Weder Schiwago noch Lara noch sonst eine der entscheidenden positiven Gestalten des Buchs haben Angst vor dem Tod, von der gewöhnlich alle Individualisten gequält werden.

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»Der Mensch in den anderen Menschen, das ist die eigentliche Seele des Menschen. Das ist es, was Sie sind. Das ist es, was Ihr Bewußtsein geatmet hat, wovon es sich ernährte, was das ganze Leben erfüllte. Ihre Seele, Ihre Unsterblichkeit, Ihr Leben in den anderen«, sagt Schiwago zu der sterbenden Anna Iwanowna. »Und nun? In den anderen haben Sie gelebt, in den anderen werden Sie auch bleiben. Und was wäre es für ein Unterschied, wenn das später Erinnerung genannt wird? Sie wären es, die eingetreten ist in den Zusammenhang, in den Zustand des Künftigen.« (S. 84) 

Und sehr charakteristisch ist das Gefühl, das Schiwago, Tonja und ihre Freunde empfinden, als sie mitten im hungernden Moskau der Revolution auf wundersame Weise ein kleines Festmahl mit einer Ente halten können: 

»Sie spürten, daß nur ein Leben, das dem der Umwelt gleicht und spurlos in ihm aufgeht, wirkliches Leben ist, daß ein abgesondertes, isoliertes Glück kein wirkliches Glück sein kann: Ente und Alkohol, die es nur ein einziges Mal in der Stadt gibt, hören plötzlich auf, Ente und Alkohol zu sein.« (S. 207)

Nein, nicht zur Verteidigung des Individualismus steht Pasternak auf, sondern zur Verteidigung der Persönlichkeit als der Trägerin der höchsten inneren Reichtümer, die dem Leben seinen Sinn geben, der Persönlichkeit als des einzigen unumstößlichen Werts, den es in unserer Welt gibt, der Persönlichkeit, in der erst die ganze Fülle des Lebens sich überhaupt eröffnet. Hier und nirgendwo anders liegt das Zentrum von Pasternaks Gegnerschaft zum sowjetischen System, das sich auf das Prinzip der Entpersönlichung gründet, wo die Menschen ihr Leben nicht um seiner selbst willen leben sollen, sondern »erklärend-illustrativ, um die Richtigkeit der höchsten Politik zu bestätigen«. 

Es ist der Antagonismus zwischen der zweidimensionalen Abstraktheit platter Theorien und der reichen Weiträumigkeit des konkreten Lebens, zwischen Unterworfen- und Gefesseltsein einerseits und Freiheit und schöpferischer Tätigkeit andererseits, zwischen der Gigantomanie historischer Aktionen und der wahren Größe der kleinen, aber guten Taten, zwischen der geradlinigen, niemals zweifelnden Klarheit des Ignoranten und der unerreichbaren, geheimnisvoll verschlungenen Vielfalt des Daseins, zwischen der Wahrheit des Lebens und der Lüge der Götzenverehrung. 

»Was aber das Verstehen des Lebens betrifft, die Philosophie des Glücks, wie sie jetzt gleichsam eingepflanzt wird, so möchte man einfach nicht glauben, daß das ernst gemeint ist, ein so lächerliches Restchen ist geblieben. Diese Deklamationen über Führer und Völker könnten uns in die alttestamentarische Zeit der viehzüchtenden Stämme und Patriarchen zurückführen ...« (S. 488)

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So hat sich die russische Revolution, sagt uns Pasternak, in paradoxer Weise als ein Rückschritt, als Regreß erwiesen; die wirkliche Revolution aber hat sich viele Jahrhunderte früher ereignet, als das Christentum entstand, als »die Macht der Zahl« endete und »die Persönlichkeit, die Predigt der Freiheit« an ihre Stelle trat, als »das einzelne menschliche Leben zur Geschichte Gottes wurde, mit seinem Gehalt des Weltalls Raum erfüllte« (S. 488).

Dieser Personalismus, der dem Buch zugrunde liegt, bestimmt auch seine gesamte Struktur. Nur aus diesem Personalismus ist zu erklären, warum die Personen so schematisiert wirken, warum ihre Monologe so lang und ihre Dialoge unsprechbar und künstlich sind; nur so wird die lose Komposition verständlich (die für das Buch als Roman betrachtet tatsächlich einen Mangel darstellt), doch ebenso auch die Überfülle der Metaphern und Vergleiche und die Inkongruenz des Stils (der »stilistische Dualismus«, wie L. Rshewskij es nennt,8 oder, mit Wilcock, der Gegensatz zwischen einem »journalistischen« und einem »Bilderstil«9 oder, mit M. Slonim, zwischen einem »lyrisch-poetischen« und einem »episch-deskriptiven« Stil 10); nur so versteht man die schicksalhaften, zufälligen Begegnungen zwischen den Personen und schließlich den letzten Teil des Buchs — die Gedichte des Jurij Schiwago.

Der »Doktor Schiwago« ist überhaupt kein Roman im traditionellen Verständnis; er ist eine Entdeckung der Welt und der Persönlichkeit durch den lyrischen Monolog, auch wenn dieser Monolog in der dritten Person gesprochen wird; er ist ein Passieren der russischen Geschichte und des russischen Lebens durch das Prisma der Wahrnehmung einer reichen und komplexen Persönlichkeit hindurch, weil nur durch die Persönlichkeit, indem sie die Wirklichkeit zu begreifen sucht, dieser Wirklichkeit ein Wert zukommt und die seelenlose Sinnlosigkeit der Fakten einen Sinn erhält (»es gibt keine Wirklichkeit, solange der Mensch ihr nichts von sich selbst eingibt«). 

Weil jedoch die Persönlichkeit nicht gleichbedeutend mit dem Individuum ist, ist Pasternaks Roman in Monologform etwas anderes als der subjektive Monolog der neueren Bekenntnisromane, der Romane in der ersten Person, ist er nicht Subjektivität im Sinne von etwas Privatem, Verschwommenem, Zweifelhaftem. Er ist Subjektivität als ontologisches Prinzip des personalistisch strukturierten Seins. Der Unterschied läßt sich mit Hilfe des Begriffs der überindividuellen »Gattungs-Subjektivität« erklären, den Pasternak in einem früheren philosophischen Essay entwickelt hat: »Von jedem sterbenden Individuum bleibt ein Anteil an Gattungs-Subjektivität, die niemals stirbt, zurück; sie war während seines Lebens in dem Menschen enthalten, und durch sie hatte er teil an der Geschichte der menschlichen Existenz.«11)

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Alles, was wir in Pasternaks Buch zu sehen bekommen, ist von innen heraus beobachtet; selbst die epischen Episoden stehen, untersucht man sie näher, durchaus nicht im Gegensatz zu der Subjektivität der lyrischen Episoden, sondern sind auf den gleichen Ton gestimmt; doch bei verändertem Charakter des Objekts ändert sich natürlich auch die Optik des betrachtenden Subjekts — Gegenstände verschiedener Größe und verschiedener Entfernung kann man nicht in der gleichen Weise betrachten. Sicherlich hätte Pasternak auf diese »objektiven« Passagen, die gleichsam aus dem monologischen Kontext herausfallen, auch verzichten können, doch dann wäre es ein zu enger, zu intimer und sublimiert-absichtsvoller Roman voll modischer Künstlichkeit und ohne Weite des Atems geworden, und das war es gerade, was Pasternak vermeiden wollte. »Immer hatte er von einer gedämpften, zurückhaltenden Originalität geträumt, die kaum sichtbar in Erscheinung tritt und sich unter dem Schleier unscheinbarer und vertrauter Wendungen verbirgt. Sein ganzes Leben lang hatte er danach gestrebt, sich diesen zurückhaltenden, nicht anmaßenden Stil anzueignen, der es dem Leser ermöglicht, den Inhalt unwillkürlich und ohne Anstrengung zu erfassen. Mit allen Kräften hatte er sich um diesen >unmerklichen< Stil bemüht...« (S. 519) 

Alles, was hier über Schiwago gesagt wird, gilt voll und ganz auch für Pasternak selbst. Man erinnere sich nur an sein Bekenntnis in der »Autobiografischen Skizze«: »Ich mag den Stil nicht, den ich bis 1940 schrieb ... Mein Gehör war damals verdorben von der ringsum herrschenden Verschnörkelung und der Zerstörung alles Hergebrachten.«12 Doch auch hier, in diesen epischen Stücken, ist das Prinzip der Subjektivität gleichbleibend gewahrt. Wenn wir lesen: »Während sie auf die Geleise hinuntersprangen, ein Stück die Bahnstrecke entlanggingen, Blumen pflückten und sich die Beine vertraten, hatten sie alle den seltsamen Eindruck, daß die Landschaft mit den Sumpfwiesen, dem breiten Fluß, dem schönen Haus ... erst durch den Aufenthalt des Zuges ins Leben gerufen worden war und vor dem Unfall gar nicht existiert hatte« (S. 23), so sehen wir, daß Pasternak der Menge gleichsam ein überindividuelles, für alle identisches Wahrnehmungssubjekt beigibt (»hatten sie alle den Eindruck«).

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Wenn wir lesen: »Als Iwan Iwanowitsch und Nikolaj Nikolaitsch an dieser Hecke entlanggingen, flogen aus dem Gebüsch in regelmäßigen Abständen Schwärme von Spatzen auf und erfüllten die Luft mit ständigem Gezwitscher und Geschilpe, wie Wasser, das in einer Röhre am Weg entlang rinnt« (S. 16), so bemerken wir, daß das Gefühl, die Wahrnehmung, von der Pasternak spricht, sehr individuell ist, aber dennoch sich auf beide Personen zugleich bezieht. Dasselbe gilt für die Wahrnehmung der Revolution: »Es ist, als würden sie von ihrem neuentdeckten Heldentum geradezu erdrückt« (S. 173). Und selbst wenn der ruhelos umhergetriebene Komarowskij sich Lara vergegenwärtigt — »Wie durchgeistigt ihre Schönheit war! Ihre Hände versetzten ihn in Staunen wie ein hoher Gedanke. In dem zarten Schatten, der sich an der Wand des Hotelzimmers abgezeichnet hatte, glaubte er das Sinnbild ihrer Reinheit zu erkennen. Das Hemd umspannte ihre Brust so einfach und fest wie ein Stück Leinen, das man auf den Stickrahmen aufzieht« (S. 58) —, so ist es ganz offensichtlich nicht Komarowskij, der schamlose Zyniker und Genußmensch, der solches wahrnimmt, sondern ein anderes, feinfühligeres und höherstehendes Subjekt. 

Oder auch dies: »Auch die ängstliche Abendsonne, die diese Szene beleuchtete, schien nichts als eine örtliche Staffage zu sein. Ihre Strahlen näherten sich nur zögernd der Unfallstelle wie eine Kuh, die ihre in der Nähe weidende Herde für einen Augenblick verläßt, um die Menschen auf der Bahnstrecke zu betrachten« (S. 23); oder dies: »Die betäubenden Wohlgerüche des Morgens schienen von jener Stelle der Erde auszuströmen, die in den feuchten Schatten eingetaucht war. Hier und da durchdrangen einzelne Sonnenstrahlen den Schatten, die den Fingern kleiner Mädchen glichen« (S. 26); oder »Aus dem Garten drangen schwere violette Schatten in das Arbeitszimmer. Es war, als wollten die alten Bäume ihre reifbedeckten Zweige, die an die Wucherungen tropfenden Stearins erinnerten, auf dem Fußboden ausbreiten« (S. 51); oder, von den Blumen um Schiwagos Sarg: »Es war nicht genug, daß jede für sich blühte und duftete. Wie im Chor verströmten sie ihren flüchtigen Balsam und beschleunigten dadurch vielleicht den Zerfall des Körpers. Allen teilten sie von ihrer duftenden Kraft mit, und es war, als ob sie eine heilige Handlung vollzögen« (S. 579) 

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— alle diese Wahrnehmungen gehören weder irgendeinem konkreten Subjekt noch einer der Gestalten des Romans noch dem Autor (denn der Autor eines Romans darf sich nicht mit seiner subjektiven Auffassung in den Gang der Ereignisse einmischen; das Hauptkennzeichen für die literarische Form des Romans ist ja gerade die Objektivität des allgegenwärtigen, allwissenden und alles sehenden Autors), sondern in allem diesen wird bei Pasternak die Subjektivität als solche behauptet, es ist die Apotheose der personalen subjektiven Wahrnehmung der Welt und der Geschichte; diese Subjektivität steht gegen die angeblich wissenschaftliche, objektive und unpersönliche Setzung unanfechtbarer Wahrheiten, die in der Sowjetunion von der obersten Spitze, von den Führern verkündet werden und für alle Sowjetmenschen verpflichtend sind. »Damals kam die Ungerechtigkeit, die Lüge ins russische Land. Das Hauptelend, die Wurzel des kommenden Bösen, war der Verlust des Glaubens an den Wert der eigenen Meinung. Man bildete sich ein, daß die Zeit, da man den Eingebungen des sittlichen Empfindens folgte, vorüber sei. Jetzt muß man sich dem Gleichschritt anpassen und sich nach den Regeln der Gemeinschaft einrichten. Die Tyrannei der Phrase nahm immer mehr zu ...« (S. 478)

Das ist auch der Grund für alle die »gleichsam« und »als wenn«, für all die Metaphern, von denen einige Kritiker so sehr irritiert waren, nach deren Auffassung Metaphern allein in der Lyrik statthaft sind.13) Mit diesem Personalismus läßt sich auch erklären, warum die Personen so blaß und so wenig plastisch wirken: Sie werden hauptsächlich von innen gezeigt, und dieses von innen kommende Licht gibt natürlich eine andere Beleuchtung als der helle Magnesiumblitz des Fotografen. Dies ist interessanterweise auch der Grund, weshalb die Nebenfiguren des Romans klarer und plastischer erscheinen: Sie werden von außen betrachtet.

Es macht betroffen, daß viele westliche Kritiker die Gestalt des Jurij Schiwago und ihr Schicksal nicht verstehen. Man sieht in ihm einen passiven, willenlosen Menschen, verschlossen in sich und seine Poesie, der aus irgendeinem Grund (aus welchem, darüber macht man sich nicht einmal die Mühe nachzudenken!) in Armut und Elend gesunken ist. Wie ahnungslos und verletzend klingt es für uns Russen, wenn z.B. I. Calvino behauptet, Schiwago lasse sich fallen, »sich allem verweigernd um seiner kristallenen inneren Reinheit willen«, und reihe sich ein in die Galerie der »étrangers«, der literarischen Helden des Westens, die es ablehnten, sich in die Gesellschaft einzugliedern — das Verhalten der westlichen étrangers sei freilich zumindest durch ihre »Grenzsituation« bedingt, während es für Schiwago überhaupt keine Rechtfertigung gebe!14)

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Ja, hat denn I. Calvino all diese Jahre auf einem anderen Planeten gelebt? Hat er denn nie davon gehört, welches Schicksal die besten Begabungen Rußlands erlitten haben? 

Weiß er denn nicht, daß Nikolaj Gumiljow, Isaak Babel, Iwan Katajew, Sergej Klytschkow und Boris Pilnjak umgebracht wurden? Daß Ossip Mandelstam, nachdem er zweimal verbannt worden war, im Konzentrationslager umkam? Daß Sergej Jessenin, Wladimir Majakowski und Marina Zwetajewa Selbstmord begingen? Daß Nikolaj Sabolozkij, Nikolaj Erdman, Nikolaj Kljujew ins Lager und in die Verbannung kamen, daß Andrej Platonow als Hausmeister arbeitete, daß Anna Achmatowa Hunger leiden mußte — und Anton Uljanowskij hungers starb? Daß Soschtschenko, Bulgakow und Pasternak ihre Bücher auch nicht veröffentlichen durften und genauso gezwungen waren, sich »in die Galerie der érangers einzureihen«; daß Iwan Bunin, Alexej Remisow und Jewgenij Samjatin ins Exil gingen? 

Diese Namen sind der Stolz der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts, und dabei sind Hunderte von weniger berühmten Schriftstellern noch nicht mit genannt. Und ebenso lange Listen lassen sich mit den Namen von Biologen, Kybernetikern und Linguisten zusammenstellen, von Philosophen, Künstlern, Ärzten, Ingenieuren usw., usw.

Nein: Das Schicksal des Jurij Schiwago ist das typische Schicksal für einen Menschen, der im Rußland jener Jahre entschlossen war, eine Persönlichkeit zu bleiben und sich der »eisernen Umklammerung« »des neuen, revolutionären Überstaats« (S. 265) zu entziehen. Allerdings ist es nicht völlig typisch: Schiwago stirbt früh und entgeht damit der Verhaftung und dem Lager, anders als seine Freunde Dudorow und Gordon und seine Geliebte Lara. Sagen denn den westlichen Lesern solche geschilderten Vorkommnisse gar nichts, wenn etwa Schiwago, kaum daß er in seinen Vorlesungen das darzulegen wagt, was er denkt, und nicht, was von oben vorgeschrieben ist, als »Idealist, Mystiker, Neoschellingianer« (S. 482) gebrandmarkt wird? Oder wenn es über Schiwagos Begräbnis heißt: »In der Hoffnung, eine Rente für die Kinder zu erhalten, und weil man fürchtete, ihnen auf irgendeine Weise in der Schule und Marina in ihrem Dienstverhältnis zu schaden, war auf alle kirchlichen Zeremonien verzichtet worden« (S. 578)? 

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Und das traurige Bekenntnis Schiwagos: »Die Mehrzahl der Menschen ist heutzutage zu dauernder, bis zum System perfektionierter Heuchelei gezwungen« (S. 567) — wird auch das nicht beachtet und nicht verstanden? So wie die Warnung des kalten Geschäftsmannes Komarowskij, der zu Schiwago sagt: »Niemand verletzt die kommunistische Manier zu leben und zu denken so augenfällig wie Sie ... Sie sind ein einziger Hohn auf diese Welt, eine Beleidigung!« (S. 496) 

Es ist aufschlußreich, sich in diesem Zusammenhang anzuschauen, was Pasternak über einen anderen Helden gesagt hat, der nach landläufiger Meinung ebenfalls keinen Willen besaß, über Hamlet: »Der <Hamlet> ist nicht ein Drama der Charakterlosigkeit, sondern ein Drama der Pflicht und der Entsagung ... >Hamlet< ist das Drama einer hohen Bestimmung, einer auferlegten selbstlosen Tat, eines anvertrauten Vermächtnisses.«15) Und ein Gedicht mit dem Titel »Hamlet« ist es auch, das den Zyklus der Gedichte des Jurij Schiwago eröffnet. 

Hamlet-Schiwago sagt dort:

»Bin allein. Ringsum nur Pharisäer. 
Leben ist kein Gang durch freies Feld.« (S. 609)

Sich selbst inmitten feindlicher entpersönlichter Gewalten, das eigene Leben nicht achtend, als Persönlichkeit bewahren, seinen Weg stolz bis zum Ende gehen und dabei Armut, Erniedrigung und Ausgestoßensein auf sich nehmen und dennoch keinen einzigen Schritt abweichen und nachgeben — ist das Willenlosigkeit und Flucht in die reine Poesie?

Doch für uns Russen hat die Poesie ja auch eine vollkommen andere Bedeutung. Wie befremdlich kommt es uns vor, wenn wir bei Wilcock, dem feinen und einfühlsamen Literaturkritiker, lesen müssen: »Daß Lyriker anfingen, Prosa zu schreiben, ist vielleicht die Folge davon, daß sämtliche lyrischen Formen, die die europäische Zivilisation bis dahin entwickelt hatte, erschöpft und unproduktiv geworden waren«16 — wo doch bei jedem von uns, den Angehörigen der russischen Intelligenz, zu Hause auf dem Tisch, so wie anderswo das Evangelium, ein Bändchen mit Gedichten von Anna Achmatowa oder Pasternak, von Ossip Mandelstam oder Marina Zwetajewa liegt: unseren Propheten des 20. Jahrhunderts, die das Bewußtsein unserer Epoche, die Quintessenz unseres Lebensgefühls verkörpern, die uns helfen, daß wir uns über das eigene Unglück erheben und Kraft zum Leben finden können, in deren Gedichte mit überwältigender Macht unser Leid eingeschrieben ist, unser russisches Schicksal und unser Schmerz, mit deren Stimme unser Gewissen spricht. Und so lange spricht, bis »zugedrückt wird der zerbrochne Mund, mit dem das Hundertmillionenvolk schreit«, wie es Anna Achmatowa von sich selber schreiben mußte.17)

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Die Poesie, die poetische Begabung ist »im letzten und weitesten Sinne die Gabe des Lebens«, sagt Pasternak. Die Gabe, in die Geheimnisse des Lebens einzudringen, die Fähigkeit, sich von seinem Atem durchströmen zu lassen, die Schönheit des Lebens, seinen Reichtum zu empfinden*, den tiefen Sinn des Daseins zu spüren, weil an dieser Tiefe die mit Schöpferkraft begabte Persönlichkeit — das größte Wunder des Lebens — Anteil hat, die Persönlichkeit, die mit den Geheimnissen des Seins unmittelbar in Berührung tritt. Die Poesie vermag uns eine tiefere Kenntnis vom Leben zu schenken als die Wissenschaft (die sich irrt und die sich durch die allmähliche Überwindung ihrer Irrtümer in ihrem engen, präzis eingegrenzten Bett vorwärtsbewegt) und als die Philosophie mit ihren Abstraktionen.

Eine solche Sichtweise hat ihre tiefen Wurzeln in der Geschichte des russischen Denkens. Diese Tradition geht auf Iwan Kirejewskij mit seiner besonderen Philosophie des ganzheitlichen Wissens, der ganzheitlichen Fassung des Daseins zurück; wir finden sie auch bei Wladimir Solowjow in seiner Kritik der abstrakten Prinzipien der westlichen Philosophie, bei Nikolaj Losskij in seiner Begründung des Intuitivismus und bei Nikolaj Berdjajew in seiner Verteidigung der Persönlichkeit und der Freiheit als grundlegende Kategorien.

»Das hatte sie damals beseligt und befreit: ihr brennendes Wissen, das nicht vom Verstand her kam und das einer dem andern einprägte — instinktiv und unmittelbar. Wieder war sie [Lara — J.M.] erfüllt von diesem dunklen, unbestimmten Wissen um den Tod und die furchtlose, gelassene Bereitwilligkeit. Es war, als hätte sie schon zwanzigmal gelebt und ebensooft Jurij Schiwago verloren, als hätte sie in ihrem Herzen so viele Erfahrungen angesammelt ...« (S.588) 

Von diesem Wissen sind auch viele Seiten in Pasternaks Roman erfüllt, die nicht in einer kühlen, rationalen Prosasprache, ja gleichsam überhaupt nicht mit Worten zu uns sprechen, sondern mit einer Art von innerer Musik, einer ganz aus der Tiefe kommenden Stimme. Viele Passagen dieses Buchs — wie Laras und Schiwagos Flucht und ihr aussichtsloses Leben in dem verfallenen Haus im härtesten Winter, Laras Abreise, das Gespräch, das Antipow-Strelnikow vor seinem Tod mit Schiwago führt, Laras langer Abschied von Schiwago — werden bestimmt im Laufe der Zeit in die Lesebücher eingehen; in der Intensität des Fühlens und Erlebens, in ihrer hohen dichterischen Kraft lassen sie sich den besten Werken der russischen Literatur der Vergangenheit zur Seite stellen. Und ganz natürlich wird dieses außergewöhnliche Buch von einem wundervoll tönenden Schlußakkord gekrönt: den großartigen Gedichten Schiwagos, voll lyrischer Schwermut, voll durchgeistigter Erregung und Musik.

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* Es ist die staunende Begeisterung über diesen Reichtum, über die verschlungene Vielfalt des Lebens, die in den vieldiskutierten, so zahlreichen und so zufälligen Begegnungen zwischen den Romanfiguren zum Ausdruck kommt. Das Aufeinanderstoßen, die Vermischung und Verflechtung ihrer Schicksale — das ist das geheimnisvolle, unerklärliche Spiel der Lebenskräfte, die Unerforschlichkeit der Wege. 

 

 

 

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Juri Malzew 1981