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5  Suche nach Form

 

 Jerofejew  

 

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Der Prozeß gegen Sinjawskij und Daniel vermochte den unaufhaltsamen Strom der Samisdatliteratur nicht einzudämmen. Im Gegenteil, er lenkte die Aufmerk­sam­keit der Weltöffentlichkeit auf die Lage der sowjetischen Schriftsteller, und diese Aufmerksamkeit gab vielen Mut. In den darauffolgenden Jahren über­schwemmte eine ganze Flut von Untergrundliteratur die sowjetische Gesellschaft. 

Eine weitere chronologische Darstellung wäre von nun an sinnlos: Zum einen läßt sich oftmals gar nicht exakt angeben, zu welchem Zeitpunkt dieses oder jenes Werk im Samisdat zu zirkulieren beginnt (die Publikation im Ausland erfolgt in der Regel mit großer Verspätung, und viele dieser Bücher werden im Westen auch überhaupt nicht veröffentlicht), zum anderen haben viele Schriftsteller Angst, ihre aufrührerischen Bücher mit ihrem richtigen Namen zu zeichnen (oft setzt ein Schriftsteller unter jedes seiner Bücher ein neues Pseudonym), und bei anonymen Werken kann sich die Klassifizierung nicht nach dem Verfasser, sondern nur nach der literarischen Beschaffenheit richten; und schließlich haben wir es mit einem lebendigen, aktuellen und, so kann man getrost behaupten, noch ganz am Anfang stehenden Prozeß zu tun. 

Viele der Samisdat-Schriftsteller sind noch jung oder haben doch auf jeden Fall noch nicht alles gezeigt, was in ihnen steckt, und daher ist es weitaus wichtiger, die allgemeinen Tendenzen zu verfolgen, die in ihrem literarischen Schaffen zum Ausdruck kommen, als sich bei den jeweiligen Besonderheiten dieses oder jenes Autors aufzuhalten.

Einer der Beweggründe, die einen Schriftsteller in den Samisdat gehen lassen, ist das Verlangen, neue Ausdrucksformen, eine neue Art der Darstellung unserer neuen, heutigen Erfahrungen zu finden. Die graue Monotonie und nichtssagende Langeweile des sozialistischen Realismus — der vorgeschriebenen Richtung für alle Kunstgattungen in der Sowjetunion — stößt den Schriftsteller ab und zwingt ihn, neue Wege zu suchen. Die einen versuchen die abgerissene Verbindung zur russischen Kunst der ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts wiederherzustellen und dort, an den lebendigen Quellen, Anregungen für eine Weiterentwicklung zu finden, andere lassen sich von den formalen Neuerungen der westlichen Kunst beeindrucken und inspirieren.

Es ist irrig zu meinen, es sei die Zensur, die der russischen Literatur das Verderben gebracht habe. Die Literatur kann unter der Zensur durchaus bestehen. Im alten Rußland herrschte die Zensur — zu manchen Zeiten war sie eher rigide, zu anderen wieder liberaler (es gab auch eine Periode der völligen Zensurfreiheit: 1906 wurde die Vorzensur aufgehoben, und die Februarrevolution von 1917 schaffte die Zensur sogar ganz ab; wieder eingeführt wurde sie nach der Machtergreifung der Bolschewiki) —, und dennoch lebte und gedieh die große russische Literatur. Die Zensur verbietet dem Schriftsteller bestimmte Dinge, nimmt ihm einige Möglichkeiten, aber davon unberührt bleibt ein weites — wenn man so will, unendliches — Feld anderer Möglichkeiten.

In der Sowjetunion gibt es in diesem landläufigen Sinne des Wortes keine Zensur, denn dort wird dem Schriftsteller nicht vorgeschrieben, was er nicht schreiben darf, sondern was er schreiben soll.  

Das Feld der Möglichkeiten schrumpft zu einem ganz, ganz schmalen Streifen zusammen, ja man kann sagen: zu einer geraden Linie, die von oben vorher festgelegt ist. Nicht die Zensur, sondern der Zwang, die von oben vorgeschriebene Lüge zu schreiben, hat der russischen Literatur den Todesstoß versetzt. Der Schriftsteller ist zum Staatsbeamten geworden, zum fügsamen Diener einer bürokratischen Organisation — des Schriftstellerverbandes —, in voller Übereinstimmung mit dem Leninschen Prinzip der Parteilichkeit der Literatur.

Das Prinzip der Parteilichkeit der Kunst führt so weit, daß sich in der Sowjetunion selbst eine Kunstgattung wie die Musik von Verboten und Verfolgung betroffen sieht. Es genügt, an die blindwütigen Angriffe auf Schostakowitsch und Prokofjew und an das Aufführungsverbot für einige ihrer Werke in der Shdanow-Ära zu erinnern oder auf die Repressionen und Verbote zu verweisen, denen Avantgardekomponisten heute unterworfen sind: F. Gerschkowitsch, A. Karamanow, T. Mansurjan, E. Denissow, S. Gubajdulina, W. Silwestrow, L. Grabowskij und andere. Dasselbe geschieht mit bildenden Künstlern: O. Rabin, E. Ruchin, Ju. Sharkich, E. Kropiwnizkij, W. Seljanin, N. Elskaja, A. Tjapuschkin, M. Odnoralow, W. Nemuchin, L. Masterkowa, W. Sitnikow, W. Pirogowa und ungezählte andere werden von der Polizei schikaniert und in jeder erdenklichen Form unter Druck gesetzt. 

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Dasselbe beim Theater: Eine Gruppe junger Schauspieler gründete in Moskau ein Untergrundtheater, das seine Vorstellungen in einer Privatwohnung gibt, und führt mit außergewöhnlichem Erfolg nicht etwa ein aufrührerisches politisches Stück, sondern eine moderne Dramatisierung der Vita des altrussischen Protopopen Awakum auf.

Das Verlangen, sich aus den tödlichen Fesseln von Vorschrift und Zwang zu befreien, treibt viele Schriftsteller, auch solche, die der Politik ganz fern stehen und rein ästhetischen Problemen auf der Spur sind, in den Untergrund.

Dabei ist solche ästhetische Suche nicht selten selbst schon eine Form des Protests; oft genug werden dem Propagandastil und dem belehrenden Fibelton der offiziellen sowjetischen Literatur mit zielstrebiger Absicht formalistische Raffinessen entgegengestellt: als eine besondere Form des »epater le bourgeois«.

Schriftsteller mit einem Gespür für Form erkennen, daß sich das heutige sowjetische Leben unmöglich mehr in der alten Weise darstellen läßt: Zu sehr haben sich das Land, der Charakter seiner Menschen, ihre Psychologie, ihre Lebensweise verändert. Die ästhetischen Prinzipien der nichtoffiziellen Schriftsteller sind dabei durchaus unterschiedlich, und ihre Formensuche führt sie in die verschiedensten Richtungen.

Im Februar 1966 trat eine Gruppe junger Dichter, Schriftsteller und bildender Künstler, die sich SMOG nannte (die vier Buchstaben stehen für »Kühnheit, Denken, Gestalt, Tiefe« oder für <Jüngste Vereinigung der Genies>), mit einem Manifest an die Öffentlichkeit.

»Wir sind wenige und sehr viele. Doch wir sind der Keim des Zukünftigen, aufgegangen auf fruchtbarem Boden. Wir, Dichter und Maler, Schriftsteller und Bildhauer, wollen die Traditionen unserer unsterblichen Kunst wieder zum Leben erwecken und weiterführen. Heute stehen wir im entschlossenen Kampf gegen alle: vom Komsomolzen bis zum Spießer, vom Tschekisten bis zum Kleinbürger, von der Unfähigkeit bis zur Ignoranz — alle sind gegen uns.«1)

Die Gruppe SMOG gab die Untergrundzeitschrift <Sfinksy>2) (Die Sphinxe) und eine Serie von kleineren Büchern und Sammelbänden mit nichtoffiziellen Autoren heraus.3) Die Traditionen der russischen Kunst, von denen die Smogisten sprachen, waren vor allem die der russischen Avantgarde der ersten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts, die Ende der zwanziger Jahre gewaltsam abgebrochen wurden. 

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Der Abscheu gegen die Ausdrucksformen der sowjetischen »soz-realistischen« Kunst verbindet sich bei diesen jungen Menschen mit dem Abscheu gegen die ganze Art und Weise des Lebens in der Sowjetunion, gegen die sowjetische Parteipropaganda, gegen Stil und Geist des öffentlichen Lebens, gegen alles Sowjetische überhaupt. Selbst Worte wie »UdSSR« oder »Leningrad« sind ihnen verhaßt; sie schreiben statt dessen »Rußland« und »Petrograd«. Flucht vor allem Sowjetischen und Banalen — das ist die Basis ihres Suchens. Und das verbindet sie mit den anderen unorthodoxen jungen Schriftstellern, die in früheren Jahren schon ihre Werke in den Untergrundzeitschriften »Sintaksis«4) und »Feniks«5) publiziert hatten.

Beispielhaft ist etwa die Erzählung »Krik daljokich murawjow« (Der Schrei der fernen Ameisen) des Smogisten Aleksandr Urussow6) (der Autor selbst nennt sie nicht Erzählung, sondern eine »Ermittlung in zwei Teilen«). Die Handlung findet sich bloß in knappen Umrissen skizziert: Zwei sind aus dem Lager geflohen, der eine ist verwundet, und der andere sieht sich gezwungen, den Freund liegenzulassen, um wenigstens sich selbst zu retten. Seine Gewissens­qualen lassen ihm keine Ruhe, obwohl er nicht anders handeln konnte und sein Verstand ihm sagt, daß er keinerlei Schuld hat. Alles ist hier nebelhaft, ungewiß, unausgesprochen, seltsam und geheimnisvoll; dem Leser bleibt weiter Spielraum für seine Schlüsse, Mutmaßungen und Interpretationen. Der Schriftsteller hofft darauf, daß der Leser sein »Mitautor« wird. Er möchte offenbar auch auf sich selbst bezogen sehen, was er von der »Erzählung eines Mannes, der eingemauert wurde« (das heißt eines wieder eingefangenen Flüchtlings), sagt:

»Die Gedanken und Gefühle, die sein Bericht hervorruft, sind unmöglich mit Worten zu beschreiben. Es ist etwas Ungeheures, von dem ein trauriges Licht ausgeht.« (S. 9)

Das oben Gesagte gilt in jeder Hinsicht auch für Mark Edwins Erzählung »Metampsichos« (Metampsychose), die in der Zeitschrift »Sfinksy« erschien. Die Form ist hier noch weniger leicht faßbar: eine Reihe impressionistisch-schattenhafter Bilder, wobei die Handlung (wenn man überhaupt von einer solchen sprechen kann) sich erst im allerletzten Absatz aufklärt:

»In der Wohnung roch es stark nach Gas, aber er war noch am Leben. (Seine Seele war in einen Fisch übergegangen. Es war ein Irrtum passiert.) Nach einem Monat entließen sie ihn aus dem Krankenhaus, und er lebte noch sechsundzwanzig Jahre.« (S. 75)

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Aus einem anderen Blickwinkel ist die Erzählung »Pritscha pro technika Grigorjewa« (Das Gleichnis vom Techniker Grigorjew) von Arkadij Usjakin geschrieben, die ebenfalls in der ersten Nummer der Zeitschrift »Sfinksy« erschien. Der Techniker Grigorjew wacht eines Morgens auf und entdeckt, daß ihm die rechte Hand fehlt (man denkt an Kafkas »Verwandlung«). Sie wird ihm, in Packpapier eingewickelt, vom Elektriker, einem kleinen Alten, gebracht. Grigorjew erschlägt den Alten, geht zur Arbeit, aber dort wissen schon alle, was passiert ist, und bestrafen ihn: Er erhält eine Rüge wegen Zuspätkommens. Die Art, wie das Grauen und die Absurdität hier inmitten der normalen Alltagswirklichkeit erscheinen, wirkt jedoch hergesucht und ohne Ernsthaftigkeit, weil der Autor nicht zu einem organischen Stil und einer angemessenen Sprache zu finden vermag. Mal schwingt er sich zu lyrischer Metaphorik empor:

»Es war früher Morgen. Und Stille herrschte (...) Jedes Ding stand gleichsam beschriftet mit seinem innersten Wesen. Und die Dinge kokettierten mit ihren Etikettchen und klimperten leise wie mit Medaillen. In der Luft zitterte das Morgenläuten (...) Und die schutzlose Stille erstarb. Still, wie es der Stille zukommt. Und alle Dinge schämten sich sogleich, daß ihnen ihr Wesen so plastisch hervorstand, und versteckten es so gut es ging (...) Und niemand bemerkte, wie das Gefühl der morgendlichen Ruhe von den Menschen schwand« (S. 60) 

— Dann wieder sinkt er zu prosaischer Deskription herab.

Sehr typisch sind die Prosaminiaturen von Wiktor Goljawkin, die in der Zeitschrift »Sintaksis« (Nr. 3) erschienen7. Oft sind es bloß wenige Zeilen, etwa die Erzählung »Udar shiwotami« (Bauchstoßen):

»Fünfundachtzig Menschen stießen ihre Bäuche mit solcher Kraft gegeneinander, daß fünfunddreißig Menschen auf der Stelle starben. Darauf stießen fünfzig Menschen ihre Bäuche mit solch ungeahnter Kraft gegeneinander, daß nur noch einer am Leben blieb. Er aß eine Gurke und ging dorthin, wo die Welt aufhört, um mit jemandem Bauch zu stoßen.« (S. 174)

Die Frivolität, die Darstellung des Absurden als normal, die Provokation gegen das allgemein Übliche — all das erinnert an die Erzählungen von Daniil Charms8, der enormen Einfluß auf die Smogisten ausgeübt hat. In demselben Geist sind auch die kurzen Erzählungen aus dem Zyklus »Tschelowek« (Der Mensch) und die Erzählungen Kusminskijs verfaßt.

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Von den jungen Schriftstellern des SMOG muß man sagen, daß sie trotz ihres glühenden Verlangens, etwas eigenes zu sagen, ihre eigene Sprache nicht gefunden haben. Wir spüren die Sehnsucht nach dieser Sprache, den Drang nach ihr, doch es ist noch nichts eigenes, Gereiftes und Fertiges zu sehen. Es sind bloß Annäherungen an das Gewollte — eine vorzeitig aufgegebene Suche.

 

In viel überzeugenderer Weise »absurd« sind die Theaterstücke von Musa Pawlowa und Andrej Amalrik. In ihrem Stück »Jahtschiki« (Die Kisten)9 verspottet Musa Pawlowa mit viel Witz und Geist die Absurdität der Bürokratie. Der Bibliotheksangestellte Belkin bekommt eines Morgens von Möbelpackern eine Anzahl rätselhafter Kisten in die Wohnung geliefert. Er versucht den Männern klarzumachen, daß ein Irrtum vorliege: Er habe die Kisten nicht bestellt; aber alle Bemühungen sind zwecklos — die Packer agieren wie Automaten und führen unbeirrt ihre Vorschriften aus. Belkins Zimmer verwandelt sich in ein Vorratslager, das nachts sogar bewacht wird. In seiner Verzweiflung will Belkin sich bei seinen Vorgesetzten beschweren, doch er muß mit Entsetzen feststellen, daß beim Chef das halbe Dienstzimmer mit genau den gleichen Kisten vollgestellt ist. Zum Schluß stellt sich heraus, daß die Kisten, die keiner vor lauter Angst überhaupt zu berühren wagte, gar nichts enthalten, leeres Verpackungsmaterial sind. 

In einem anderen Stück von M. Pawlowa, »Krylja« (Die Flügel)10, geht es darum, daß dem Notar Samoschkin auf einmal Flügel wachsen. Wegen dieser Abweichung von der Normalität sieht er sich haßerfüllten Angriffen von Nachbarn, Mitbewohnern und selbst von Straßenpassanten ausgesetzt. Schließlich schneidet seine Frau ihm, während er schläft, mit der Schere heimlich die Flügel ab. Beim Aufwachen muß Samoschkin zu seinem Kummer feststellen, daß er wieder wie alle anderen geworden ist und nicht mehr fliegen kann. Die Aussage des Stücks ist klar und einfach, das groteske Bild ist eindeutig und leicht zu entschlüsseln; ist der phantastische Ausgangspunkt einmal akzeptiert, entwickeln sich die weiteren Ereignisse logisch und konsequent, der Dialog ist völlig realistisch und läßt die surrealistische Situation real erscheinen. Deshalb sind M. Pawlowas Stücke weniger absurdes Theater als vielmehr satirische Grotesken.

Wirklich absurd sind im Gegensatz dazu die Stücke von Andrej Amalrik11, und zwar alles an ihnen: die Situation, die Dialoge, die Entwicklung der Handlung, selbst die Regieanweisungen. Die unterschwellige Bedeutung ist hier weitaus schwieriger faßbar, die Stücke sind darüber hinaus vielschichtig und bieten eine Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten, je nachdem, in welcher Tiefe man den Schnitt legt. 

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Vorherrschend ist das Alogische und Paradoxe; die Form der Stücke ist derart komplex, daß man bei keinem irgendeinen Inhalt wiedergeben könnte: Der Versuch, das Absurde nachzuerzählen, ist selbst absurd. Amalrik ist der Überzeugung, daß sich unsere heutige sowjetische Wirklichkeit unmöglich mehr mit den Mitteln des alten Realismus darstellen läßt; die Beziehungen zwischen den Menschen sind komplizierter und zugleich unmenschlicher geworden (Entfremdung), das Alltagsleben ist so von Irrationalem, Monströsem und Absurdem beherrscht, daß nur eine neue, komplexere Technik des Schreibens der Aufgabe der adäquaten Darstellung des heutigen Lebens gerecht werden kann.

Auch Amalrik ist von Charms und dessen literarischer Gruppe OBERIU beeinflußt. OBERIU12) (Vereinigung für reale Kunst) wurde 1927 gegründet; zu ihr gehörten Daniil Charms, Alexander Wwedenskij, Nikolaj Sabolozkij, Igor Bachtyrew, Boris Lewin, Konstantin Waginow und andere. Die Oberiuten begründeten dreißig Jahre vor Beckett und Ionesco das absurde Theater.

1930 wurde die OBERIU-Gruppe zerschlagen, fast alle ihre Mitglieder wurden verhaftet und ins KZ oder in die Verbannung geschickt. Von ihren Werken wurden die meisten in der Sowjetunion niemals veröffentlicht; heute zirkulieren sie im Samisdat. Durch den Samisdat machte auch Amalrik Bekanntschaft mit Charms, der ihn stark beeinflußt hat. Im Westen ist Amalrik vor allem durch seine kleine Schrift »Prossuschtschestwujet li Sowetskij Sojus do 1984 goda?« (dt. Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 erleben?)13 bekannt geworden, eine brillante soziologisch-philosophische Studie, in der er eine sehr interessante und eingehende Charakterisierung der heutigen sowjetischen Gesellschaft und eine nicht minder interessante, wenn auch umstrittene Perspektive auf die Zukunft gibt. 

Wegen dieses Buchs wurde Amalrik im Mai 1970 verhaftet und im November zu drei Jahren Lager verurteilt. Als die drei Jahre abgelaufen waren, wurde die Frist noch einmal um drei Jahre verlängert, und nur ein langer Hungerstreik Amalriks, seine Entschlossenheit zu sterben und die energischen Proteste seiner Freunde in Moskau und im Ausland zwangen die Machthaber, die Lagerhaft in eine dreijährige Verbannung nach Magadan umzuwandeln.

In seinem Schlußwort vor Gericht, das später im Samisdat verbreitet wurde und auf viele Menschen tiefen Eindruck machte, erklärte Amalrik unerschrocken:

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»Wenn Menschen für ihre Äußerungen oder Anschauungen strafrechtlich verfolgt werden, erinnert mich das an das Mittelalter mit seinen >Hexenprozessen< und seinem Index der verbotenen Bücher. Doch während man den mittelalterlichen Kampf gegen ketzerische Ideen zum Teil noch mit religiösem Fanatismus erklären kann, kommt alles, was heute geschieht, aus der Feigheit eines Regimes, für das die Verbreitung jeglicher Gedanken, jeglicher Ideen, die den bürokratischen Spitzen nicht genehm sind, eine Gefahr darstellt. Diese Leute haben erkannt, daß dem Zusammenbruch eines Regimes noch stets seine ideologische Kapitulation vorausgegangen ist. Sie reden große Töne vom ideologischen Kampf, doch in Wirklichkeit haben sie diesen Ideen lediglich die Drohung mit Strafverfolgung entgegenzusetzen. Weil sie sich ihrer ideellen Hilflosigkeit bewußt sind, klammern sie sich in ihrer Furcht an das Strafrecht, an Gefängnisse, Lager, Heilanstalten. Diese Furcht vor den Gedanken, die ich ausspreche, vor den Fakten, die ich in meinen Büchern anführe, ist es, was diese Leute zwingt, mich als Verbrecher auf die Anklagebank zu setzen.«

Amalriks Theaterstücke sind außerhalb Rußlands wenig bekannt, obwohl zwei von ihnen von kleineren Theatern in den Niederlanden und in England aufgeführt wurden: »Skaska pro belogo bytschka« (Das Märchen vom weißen Öchslein) und »Wostok — Sapad« (Ost-West). Zu erwähnen ist auch Amalriks bemerkenswerte Dramatisierung von Gogols Erzählung »Die Nase« unter dem Titel »Nos! Nos? No-s« (dt. Die Nase), in der es ihm gelang, das aufregend »Moderne« an dem alten Gogol sichtbar zu machen.

 

Das »Absurde« ist auch das Genre der Schriftstellerin A. Arbatowa (der Name ist offenbar ein Pseudonym). Der Konflikt des einzelnen mit der totalitären Gesellschaft ist das Thema ihrer Erzählungen, die oft auf einen unheimlichen, kafkaesken Ton gestimmt sind. In der Erzählung »Solnze« (Die Sonne) graben die Bewohner einer Stadt, wo es verboten ist, hinaus auf die Straße zu gehen, einen unterirdischen Gang, doch kaum ist der erste ans Tageslicht gekommen, wird er auch schon ergriffen. In der Erzählung »Bumashnyj korablik« (Das Papierschiffchen) geht es um eine Verschwörung, die ebenso absurd und unsinnig ist wie die behördliche Verfügung, gegen die sie sich richtet: das Verbot der Herstellung von Papierschiffchen. Die tollkühnen Verschwörer beginnen sie im Untergrund zu basteln.

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Ebenso absurd ist die Regel, die der Held in der Erzählung »Slutschaj s Koslowskim« (Die Sache mit Koslowskij) verletzt: die Pflicht zum gemeinschaftlichen Essen. Als er einmal zu Hause gegessen hat, muß er für seinen Antikonformismus bitter büßen. Die Absurdität des Bürokratismus wird in der Erzählung »Obrasowalas bolschaja jama« (Es entstand eine riesige Grube) sehr anschaulich gezeigt (der Briefwechsel zwischen den Mietern eines Hauses, neben dem eine Grube zuzuschütten ist, und den oberen Instanzen).

 

Einen beachtenswerten Versuch absurder Prosa stellt auch der Roman »Lestniza« (Die Treppe) von Shilinskij dar. Auf dem Heimweg gerät der Held eines Nachts, nicht mehr ganz nüchtern, in ein fremdes Haus. Eine unbekannte Frau gewährt ihm für die Nacht Obdach. Als er jedoch am Morgen versucht, die Treppe herunter und aus dem Haus zu gehen, gerät er nur wieder und wieder in dieselbe Wohnung mit derselben Frau. Nachbarn treten auf (einige Kleinbürgerporträts sind sehr gut gelungen). Tag um Tag verstreicht, die Zeit vergeht, doch der Held kommt und kommt nicht frei aus seiner ausweglosen Lage.

Absurd, mit einem Stich ins Surrealistische, sind auch die Erzählungen von Viktor Nawrozkij. Sein Kurzroman »Probushdenije ot bodrstwowanija« (Erwachen aus der Schlaflosigkeit) enthält am ehesten Anklänge an Robbe-Grillet: eine schwer erkennbare Handlung mit verwickelten Zügen, die unterschiedliche Interpretationen ermöglichen und Spielraum für Phantasie und Mutmaßungen geben.

Einen tiefen Einfluß auf die junge russische Literatur, wenn auch von ganz anderer Art als der von Charms und den anderen Oberiuten, hat Wassilij Rosanow mit seinen Werken ausgeübt (in einer Auswahl in Deutschland herausgegeben, zirkulieren sie unter der Hand in Rußland; auch Erinnerungen über Rosanow, verfaßt von seiner Tochter Tatjana Wassiljewna Rosanowa, sind im Samisdat verbreitet). In seinen Büchern »Opawschije listja« (Gefallene Blätter) und »Ujedinjonnoje« (Solitaria) nimmt uns heute der eigenwillige, elegante und erlesene Stil gefangen, die bewundernswerte Übereinstimmung zwischen dem Gedanken und der Form, in die er gekleidet ist, und die erstaunliche Freiheit und Offenherzigkeit des Ausdrucks. Das von Rosanow für Rußland begründete Genre wurde von Sinjawskij-Terz mit seinen »Gedanken hinter Gittern«14 fortgeführt und in der Folge von vielen anderen aufgegriffen.

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Besondere Erwähnung verdient dabei ein im Samisdat verbreitetes Manuskript mit dem Titel »Smech posle polunotschi« (Gelächter nach Mitternacht)15, das nur mit dem Vornamen Wassilij gezeichnet ist (vielleicht eine Anspielung auf Wassilij Rosanow; unter dem gleichen Pseudonym sind im Samisdat die »Mysterienspiele« »Tschudessa chimii« [Die Wunder der Chemie] und »Natascha i Piwowarow [Natascha und Piwowarow] sowie die zweibändigen »Sushdenija« [Meinungen] erschienen; »Wassilij« ist außerdem Herausgeber der Untergrundzeitschrift »Kostry besumija« [Scheiterhaufen des Wahnsinns]). »Smech posle polunotschi« besteht aus kurzen Notizen, die halb Tagebuch und halb Beichte sind, philosophischen Reflexionen, literarischen Genrebildchen ; Gespräche, im Autobus oder in der Straßenbahn mitangehört, werden wiedergegeben, Sujets skizziert, die sich zu einer Erzählung oder zu einem Roman ausspinnen ließen. Eine Figur ist vom Anfang bis zum Ende des Buches gegenwärtig: Es ist der Tod, mit dem der Autor Zwiegespräche führt. Die Aufzeichnungen stechen nicht durch besondere Tiefe oder Originalität des Denkens hervor, aber sie sind sehr charakteristisch und vermitteln dank ihrer Offenherzigkeit ein sehr genaues Bild von dem, was heute in einem russischen Intelligenzler vor sich geht, von der Atmosphäre, in der er lebt, den Gesprächen, die er tagtäglich mit anderen führt, den Gedanken, die ihm in den Kopf kommen und die so typisch und verbreitet sind, daß sie gleichsam in der Luft liegen. So sitzt er zum Beispiel im Parteischulungs-Seminar und denkt:

»Das Desinteresse für das innere Leben des Menschen, das die Naturwissenschaften kennzeichnet, hat sich in der Philosophie, die Wissenschaft zu sein begehrt: dem Marxismus, in Verachtung dieser inneren Welt verwandelt. In das unentwickelte Bewußtsein wurden die Samenkörner der Lüge eingepflanzt. Das Leben ist schöner geworden: man wurde nicht mehr zu überzeugen versucht — man wurde erschossen.« (S. 85)

Oder er schreibt einen Gedanken hin, der heute von vielen laut ausgesprochen wird:

»Ich fürchte nur eines: daß die Freiheit zu spät kommt, daß sie vielleicht erst erscheint, wenn die russische Nation aufgehört hat zu existieren. Was verbindet die Russen heute miteinander? Das, was früher geschaffen wurde: Ikonen, Kathedralen, Bücher. Wir sind Touristen in Rußland — nur daß unsere Reise durch die Zeit geht.« (S. 104)

Oder er betrachtet ein Lenindenkmal und sinnt:

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»Was soll man mit den zahllosen Statuen von Uljanow machen, wenn das alles einmal zu Ende ist? Sie stürzen, schleifen ... Nein, nein — man kann das Vergangene nicht ableugnen, auch das Schmachvolle nicht. (...) Man muß irgendwo ein weites Gelände ausfindig machen, und dorthin werden dann die verschiedenen Statuen gebracht: die mit ausgestreckter Hand, die bis zum Gürtel, die bis zum Knie und all die anderen; und alle diese Statuen und Büsten werden im Spalier aufgestellt (...) Es muß so etwas wie ein Friedhofspark entstehen. Die langen, sich in der Ferne verlierenden Reihen mit den Darstellungen des Götzen — mögen sie an die schändliche und geschmacklose Verblendung Rußlands gemahnen und vor einer Wiederholung bewahren.« (S. 92)

Der Autor hat einen scharfen Blick — im Buchladen: »Was können Sie mir empfehlen?« (...) »Bitte sehr: nichts, erwidert die Verkäuferin hinter dem mit Büchern vollgestapelten Ladentisch.« (S. 74)

Und ein feines Gehör — Bemerkung eines Bekannten nach der triumphalen Landung der Amerikaner auf dem Mond:

»Da hängt er über uns und begeht permanent ideologische Diversion. Er läßt sich nicht wegschaffen und nicht übertünchen.« (S. 132)

Zu demselben Genre gehören auch die »Rasdumja« (Tiefe Gedanken) von N. Grebenschtschikow16) und das anonyme Werk »Rasrosnennyje mysli« (Vereinzelte Gedanken), das eine slawophile Tendenz aufweist:

»Etliche Spaßmacher und Witzbolde sind in die Welt gekommen, die können alles verspotten. Können das Gute so darstellen, daß es lächerlich wird, etwas Gutes zu tun (.,.) Können sogar über sich selber lachen; Hauptsache, sie lachen. Wenn ich einen Menschen lachen sehe, muß ich weinen. Weine, russische Erde, weine! (...) Alles ist belacht, alles bespien (...) Wir schreien herum, wir basten hierhin und dorthin (...) Doch wann werden wir einander erkennen?«

Auch das konservativ orientierte »Dnewnik N. W.« (N. W.s Tagebuch) ist hier zu nennen:

»Reißt die Zäune ein, die die Menschen voneinander trennen, und ihr werdet auf die Stufe des Wilden sinken (...), nein, schlimmer: auf die der Canaille (...) Denn nur eine bestimmte Ordnung, die Abgeschlossenheit und Offenheit verbindet, ist menschenwürdige Kultur, der Drang jedoch, alles zu nivellieren, die Menschheit ihrer natürlichen inneren Grenzen zu berauben, bedeutet in seiner letzten Wahrheit Nihilismus, die geheime Leugnung der Welt, die Gott geschaffen hat.«

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Schließlich gehören auch die »Punktiry« (Punktierte Linien) von B. Maximow hierher, einem eigenständigen, religiös bestimmten Denker, der die heutige Situation philosophisch zu bewältigen sucht. Die Form des kurzen Aphorismus, des lakonischen Ausspruchs wirkt nicht ermüdend, weil die geschmeidige »rosanowische« Diktion mit ihrer aufrichtigen, ungekünstelten Art dem Buch den Charakter eines vertraulichen Zwiegesprächs, einer unbefangenen Unterhaltung verleiht. Maximows Hauptthemen sind: die Intelligenz im heutigen Rußland und ihre Beziehung zu ihrer Umwelt, der historische Weg Rußlands und des Westens, die Möglichkeit einer philosophischen Begründung des Humanismus in unserer absurden Welt, die europäische Zivilisation der Zukunft.

Von etwas anderem Charakter ist die Sammlung essayistischer Miniaturen von Boris Wachtin mit dem Titel »Dnewnik bes imjon i tschissel« (Tagebuch ohne Namen und Daten). Es sind Reflexionen über die Möglichkeiten der Sprache (Wachtin ist Linguist und ein bedeutender Sinologe) und über die Psychologie des Satzbaus; daneben finden sich allgemeine philosophische Reflexionen und anderes.

 

Das Genre der Prosaminiaturen scheint heute überhaupt für viele Schriftsteller recht aussichtsreich zu sein. Das altmodische, gemächliche und weitläufige Erzählen verträgt sich schlecht mit dem Geist unserer Zeit. Turgenews »Gedichte in Prosa«, die lange Zeit eine einsame Sonderstellung in der russischen Literatur eingenommen haben, finden heute aufmerksame Leser. Doch während bei Turgenew im Mittelpunkt doch immer die eigenen Gefühle und Empfindungen des Autors stehen, ist bei den heutigen russischen Samisdat-Autoren der Wunsch bestimmend, Gesehenes und Erlebtes mitzuteilen, mit lakonischem Strich Episoden zu schildern, die etwas schlagend deutlich machen und einem für immer im Gedächtnis haften bleiben. Dazu gehören etwa die mit den Initialen I. W. gezeichneten »Prostyje rasskasy« (Einfache Erzählungen). Knapp und zurückhaltend wird erzählt, wie während des Bürgerkriegs bolschewistische Soldaten die Frau eines Offiziers verhaften wollen, aber statt ihrer an ihre Freundin geraten. Diese gibt sich für die Gesuchte aus, und ruhig und furchtlos, ja freudig nimmt sie Leiden und Tod auf sich. 

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Sie ist glücklich, daß sie die Freundin mit ihren Kindern gerettet hat: »Sie hat zwei Kinder, ich habe nur eins.« (»Poloshi duschu swoju sa drugi swoja« [Du sollst dein Leben für deinen Freund geben]) Ebenso lakonisch und völlig unpathetisch berichtet die Erzählung »Bratskaja mogila« (Das Massengrab), wie in den vierziger Jahren an der Angara im Rayon Katschuga eine Gruppe von gefangenen Priestern erschossen wird. Der Befehlshaber der Wachmannschaft läßt jeden einzeln vortreten und fragt ihn: »Also zum letztenmal — gibt es einen Gott oder nicht?« Antwortete der Priester mit Ja, wurde er auf der Stelle erschossen. Alle sechzig Priester antworteten »Ja, es gibt ihn«, und alle wurden erschossen.

Das bis heute unübertroffene Beispiel für dieses Genre bleiben freilich die »Krochotnyje rasskasy« (dt. Prosaminiaturen) von Alexander Solschenizyn.17)

 

Der eigenwillige Leningrader Schriftsteller Alexander Kondratow kann als der Begründer des gleichfalls im Samisdat geübten Genres der »schwarzen« Prosa gelten. (Als Verfasser von »schwarzen« realistischen Erzählungen ist auch Sewostjanow bekannt.) Kondratows Erzählungen — wie »Tscharli ubijza« (Charly der Mörder), über einen Mann, der Polizisten umbringt und ihnen genüßlich den Bauch aufschlitzt; »Bred Nr. 17« (Fiebertraum Nr. 17), über den Weltuntergang und das Jüngste Gericht in Leningrad; »Dwadzat pjat« (Fünfundzwanzig), die eingehende Beschreibung des Besuchs zweier Soldaten bei einer Prostituierten; »Konserwy« (Konserven), über das behördliche Verbot, Konserven zu essen, und die heimlichen Konservenorgien der Bevölkerung; oder das düster-phantastische Tagebuch »Sdrawstwuj, ad (rukopis dlja kloseta)« (Guten Tag, Hölle [Manuskript fürs Klosett]) — sind ohne Zweifel als Reaktion auf die rosarote optimistische Unbeflecktheit der offiziellen sowjetischen Kunst zu verstehen. 

Die gleichen düsteren Farben herrschen auch in der phantastischen Erzählung »Bity« (Die Biten) — die deutlich den Einfluß von Samjatins Roman »Wir« spüren läßt —, einer sozialen Utopie über das finstere Reich der Biten, das zum Schluß von einem Dissidenten zerstört wird, dem Musiker Charly Crazy Rhythm. Die Assoziation Biten = Bolschewiki drängt sich mühelos auf (das Zentralorgan der Biten heißt »Istina«, das der Bolschewiki »Prawda« — beides bedeutet »Wahrheit«), und daher haben wir es hier weniger mit phantastischer Erfindung als vielmehr mit einer komprimierten allegorischen Darstellung unserer Wirklichkeit zu tun.

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Die letztgenannte Erzählung ist überdies ein Beispiel für das heute populäre Genre der Science Fiction. In den letzten Jahren ist in der russischen Literatur ein Übergang von der unterhaltsam-belehrenden zu einer ernsthafteren philosophischen Science-Fiction-Literatur feststellbar. Der Erfolg, den ausländische Schriftsteller wie Stanislaw Lem oder Ray Bradbury bei den Lesern hatten, bewegte auch eine Reihe sowjetischer Autoren, ihre Kräfte in diesem Genre zu erproben. Doch in dem Augenblick, als die Brüder Arkadij und Boris Strugazkij in ihren Science-Fiction-Erzählungen ernstere philosophische Probleme zu berühren begannen, waren ihre Bücher in der Sowjetunion auch schon nicht mehr druckbar. Es war ihnen gerade gelungen, ihre Erzählungen »Ulitka na sklone« (dt. Die Schnecke am Hang)18 und »Skaska o trojke« (dt. Das Märchen von der Troika)19, wenn auch nicht vollständig, in zwei Provinzzeitschriften unterzubringen (»Bajkal« Nr. 1 und 2/1968 und »Angara« Nr. 4 und 5/1968), aber die Nummern wurden sofort aus dem Verkehr gezogen. Beide Erzählungen wurden dann im Westen publiziert. »Skaska o trojke« berichtet davon, wie eine Gruppe prinzipienloser Mitarbeiter in dem Institut NIITSCHAWO die Macht an sich reißt und eine »Troika für Rationalisierung und Exploitation Unerklärlicher Phänomene« organisiert. In der Erzählung »Die Schnecke am Hang« wird in der Gestalt des »Waldes« eine fremdartige, unbegreifliche, doch faszinierende und uns in manchem verwandte Welt gezeigt.

Ein neueres Buch der Brüder Strugazkij, »Gadkije lebedi« (dt. Die häßlichen Schwäne)20, zirkulierte im Samisdat, gelangte in den Westen und wurde dort veröffentlicht. Es malt das düstere Bild einer heutigen Gesellschaft, die ihre Ressourcen erschöpft hat und in die Sackgasse geraten ist.

»Die Menschheit hat biologisch Bankrott gemacht, die Geburtenrate sinkt, Krebs, Schwachsinn und Neurosen breiten sich aus, die Menschen werden zu Drogenabhängigen. Sie führen sich täglich Hunderte Tonnen Alkohol, Nikotin und andere Rauschmittel zu, sie fangen mit Haschisch und Kokain an und enden beim LSD. Wir sterben einfach aus. Die ursprüngliche Natur haben wir zerstört, und die künstliche zerstört uns. Und darüber hinaus haben wir auch ideologisch Bankrott gemacht — wir haben schon alle philosophischen Systeme ausprobiert und haben sie alle diskreditiert, wir haben es mit allen denkbaren Moralsystemen versucht und sind doch genauso amoralisches Vieh geblieben, wie es die Höhlenmenschen waren.« (S. 151)

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Die einzig wahren Menschen in dieser Gesellschaft sind die Ausgestoßenen, die in einer mit Stacheldraht umzäunten Leprastation hausen und von geistiger Nahrung leben (einer von ihnen verhungert, nachdem er einige Tage ohne Bücher war). Zu diesen Ausgestoßenen machen sich die Kinder der Stadt auf, die nicht so leben wollen wie die Erwachsenen und eine neue Welt zu schaffen trachten. Am Schluß des Buchs vertreiben die Ausgestoßenen zusammen mit den Kindern die alten Bewohner aus der Stadt und bauen ein neues Leben auf; doch wie dieses Leben aussieht, ist nur unklar und verschwommen angedeutet, und welches seine Grundsätze sind, bleibt ebenfalls ungeklärt.

 

Mit geringerem Erfolg versuchte sich im Genre der philosophischen Phantastik auch Dmitrij Ewus. In seiner Erzählung »Gorod solnza« (Die Sonnenstadt)21 wird die Erde von grauenhaften achtbeinigen spinnenähnlichen Wesen erobert; nur noch drei Menschen bleiben am Leben und verschanzen sich in einem zur unzugänglichen Festung ausgebauten Haus. Am Ende kommen die Menschen aus fahrlässigem Leichtsinn um, und es triumphiert die seelenlose Grausamkeit und Gewalt.

Der intellektuellen Phantastik lassen sich auch die »Episody grjaduschtschej wojny« (Episoden aus dem kommenden Krieg) von B. Chajmowitsch (offenbar ein Pseudonym) zurechnen. Es sind eine Art moderne Apokryphen: In einem fiktiven Land der Zukunft auf einer Erde, die von Feindschaft, Haß und Zwietracht, vom Kampf aller gegen alle zerrissen ist, begeben sich in leicht abgewandelter Form die Ereignisse des Neuen Testaments. Die philosophische Satire verflicht sich hier mit psychologischer Analyse (die Motive von Judas' Verrat, Judas' Begegnung mit dem auferstandenen Christus und seine Freude beim Anblick Christi). Die rationalistische Einstellung des Autors, die ihm verwehrt, ein gläubiger Christ zu sein, verleitet ihn gleichwohl nicht zur Ironisierung des Christentums; im Gegenteil, er bedauert, daß die christlichen Ideen das Böse in der Welt nicht zu überwinden vermögen.

   

Einen beachtlichen Erfolg, den sie ihrer außergewöhnlichen Form verdankt, hatte in Rußland die im Samisdat zirkulierende Erzählung »Moskwa — Petuschki« (Moskau — Petuschki) von Wenedikt Jerofejew.12)* Es ist ein sehr interessanter Versuch surrealistischer Prosa, wobei das Verfahren der überraschenden Verzerrung der Realität, der Verschiebung der Proportionen, völlig realistisch begründet wird: Es sind nämlich die Wahrnehmungen eines Betrunkenen, seine Halluzinationen und Gespenster — was doppelt realistisch für das heutige Rußland ist, wo der Alkoholismus zu einer wahren Geißel der Gesellschaft geworden ist und bereits die Ausmaße einer nationalen Katastrophe annimmt

* (d-2009:)  Jerofejew bei detopia 

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Man kann heute fast schon von einem eigenen Genre der »Alkoholprosa« in der illegalen Literatur sprechen.

Dazu gehört zum Beispiel auch die groß angelegte, anonym erschienene Erzählung »Nikto. Dissangelije ot Marii Dementnoj«; (Niemand. Das Dysangelium der Maria Demens).23) Hier finden wir die gleiche surrealistische Atmosphäre, das umnebelte Chaos des betrunkenen Bewußtseins mit Gedächtnislücken, die durch weiße Stellen im Text dargestellt sind. Der Autor experimentiert mit unterschiedlichen Verfahren: Überblendungen und plötzlicher Einstellungswechsel wie im Film, delirierende Monologe, betrunkener »Bewußtseinsstrom«, Groteske (Grigorij Brandow, der als »Applaudierer« bei wichtigen Versammlungen tätig ist und die Höhere Claqueurschule besucht) usw. Allerdings bleibt das alles auf der Ebene des Experimentierens und Probierens stehen, ist zwar interessant, aber eben nicht mehr; dem Autor ist es noch nicht gelungen, sich einen organischen Stil zu erarbeiten, der durch den Inhalt bestimmt wäre und diesen zugleich bloßlegte. Das ernste Thema des Buchs: das furchtbare Schicksal eines sowjetischen Intelligenzlers, der sich weigert, weiter zu lügen, seine Arbeit verliert und seiner Existenz beraubt wird und unter Säufern und Prostituierten in den lichtlosen Kellern des Tagankaviertels zugrunde geht — bleibt auf diese Weise ohne überzeugende Gestaltung und wird zum bloßen Vorwand für eine amüsante Phantasmagorie und für formalistische Experimente genommen.

Doch kehren wir zurück zu Jerofejews Erzählung »Moskwa — Petuschki« und zu seinem Helden. Der fährt mit dem Zug von Moskau nach Petuschki zu seiner Geliebten, genauer gesagt: Er ist bereits am Morgen nach Petuschki gefahren, versehen mit einem Köfferchen voll Spirituosen, und jetzt sehen wir ihn schon wieder auf der Rückfahrt von Petuschki nach Moskau; draußen dämmert der Abend und nicht der Morgen, wie der benebelte Held glaubt, und er fährt und fährt immer weiter.  

Die einzelnen Kapitel der Erzählung sind die Strecken zwischen den Stationen. Die Reflexionen und Rückblicke des Helden vermengen sich mit kleinen Szenen im Zug; der Held versucht, mit Mitreisenden Kontakt zu bekommen, wieder in die Realität hineinzufinden, die sich seinem umnebelten Bewußtsein als absonderlich gebrochen darstellt.

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Je weiter die Trunkenheit des Helden fortschreitet, desto dichter werden die surrealistischen Bilder. Jerofejew besitzt einen außergewöhnlichen Humor, der fast nie (mit seltenen Ausnahmen) sich über den anderen lustig macht, sondern eine vornehme Zurückhaltung bewahrt.

Sein »Alkohol-Epos« (Jerofejew selbst nennt seine Erzählung ein Poem) spiegelt nicht nur die traurige Lebenswirklichkeit der heutigen sowjetischen Gesellschaft — wir finden hier eine ganze Philosophie, ein einleuchtendes System von Bildern und sogar eine ironische Apologie des Alkoholismus:

»Oh, wenn die ganze Welt, wenn jeder Mensch so fein still und bescheiden wäre wie ich jetzt und ebenso wenig wie ich irgendeiner Sache sicher: weder seiner selbst noch der Zuverlässigkeit seines Platzes unter der Sonne — wie schön wäre das! Keine Enthusiasmen, keine Heldentaten, keine Besessenheit — nur Zagheit ringsumher. Ich würde mit Freuden eine ganze Ewigkeit auf dieser Erde zubringen, wenn man mir zuvor ein Eckchen zeigt, wo keine Heldentaten vollbracht werden

Trinken, das bedeutet der Lüge des regierungsamtlichen Optimismus den Rücken kehren, bedeutet die Abkehr von den tagaus, tagein wiederholten Aufrufen zu neuen Heldenopfern und Stoß- und Großtaten im Namen »der lichten Zukunft — des Kommunismus«; heißt die Absage an die beschränkten und fanatischen Sowjetideologen, die sich allwissend und unfehlbar dünken. Ja, der Rausch ist gleichsam der Weg zur inneren Vervollkommnung, zur Demut und Selbstbescheidung, zur Weltentrücktheit, fast zur Heiligkeit.

»Schon nach zwei Gläsern des Cocktails <Hundemagen> wird der Mensch so durchgeistigt, daß du dich vor ihn hinstellen und ihm eine volle halbe Stunde lang aus anderthalb Metern Entfernung in die Fresse spucken kannst, und er sagt keinen Ton.«

Das Verlangen, sich zu betrinken, kommt aus einem bestimmten Wunsch heraus:

»Alles, was es überhaupt gibt, 
soll langsam und verkehrt ablaufen, 
damit der Mensch keinen Grund zum Stolz hat, 
damit er traurig und verloren sei.«

Die Trunkenheit gebiert ihrerseits eine kongeniale Existenzphilosophie: »Wenn wir schon mal auf der Welt sind, müssen wir wohl oder übel ein Weilchen leben.« Hinter der Komik und der Ironie verbirgt sich bittere Wahrheit und tiefer Ernst. Wenn hier alle Probleme des Lebens im Medium der »weißen Magie« (wie Sinjawskij den russischen Wodka genannt hat) gebrochen erscheinen, ist das nicht einfach nur ein formaler Kunstgriff, sondern ein Weg der Verweigerung, der Flucht, des Protests und selbst der Kritik (interessant ist die Parodie auf die bolschewistische Revolution, die uns in dieser Form geboten wird).

Jerofejew kommt aus dem Volke, er hat selbst auf einer solchen Kabelmontage gearbeitet, wie er sie in seiner Erzählung schildert. Er besitzt ein tiefes Gespür dafür, wie heute die einfachen russischen Arbeiter denken und fühlen, und eine gründliche Kenntnis ihres Alltags, ihrer Sprache und Psychologie. Bei Jerofejew finden wir die lebendige heutige Umgangssprache, nicht als exotische Dialogbeigabe zur Sprache des Erzählers, sondern als organisches eigenes Ausdrucksmittel, womit Jerofejew unstreitig einen bedeutenden Beitrag zur modernen russischen Literatur geleistet hat.

In seiner Nachfolge sahen viele andere Samisdat-Autoren in der sprachlichen Neuerung oder vielmehr in einem »sprachlichen Realismus« oder gar »sprachlichen Naturalismus« die angemessene Methode, die neue Atmosphäre des heutigen sowjetischen Lebens und seiner Psychologie darzustellen.

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Juri Malzew 1981