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Walerij Lewjatow24 greift in seinen Erzählungen über die unbehauste, »verlorene« junge Generation zur Charakterisierung durch die direkte Rede. Seine Helden sind Trinker, verkrachte Existenzen, Prostituierte junge Menschen ohne Ideale, ohne feste Wurzeln, mit verworrenem Bewußtsein, die beim geringsten ernsthaften Zusammenstoß mit dem Leben zerschellen und auf den Grund sinken.
Ju. Olschanskij gibt in seiner Erzählung <Kladbischtschenskij dwor> (Das Haus am Friedhof) ebenfalls ein Beispiel für lebendige Volkssprache. Die drei Helden, ein Student, ein Arbeiter und ein namenloser Säufer, die ein Zimmer bei einer alten Friedhofswärterin mieten, enthüllen ihre Gedanken und Empfindungen im inneren Monolog, was dem Autor breiten Raum für die sprachliche Charakterisierung läßt.
Hierher gehört auch die kräftige, rauhe, unverblümte Prosa von Wladimir Gubin, der realistisch das Leben des Handwerkervolks schildert und in seinem Stil die sprachliche Unbeholfenheit der ungebildeten Arbeiter imitiert. Seine Erzählung »Besdoshje do sentjabrja« (Dürre bis zum September) ist ein Glanzstück, ganz aus den kuriosesten Details und markanten Schnipseln gewoben (»Das Leben ist in keinster Weise ärmer als die Phantasie. Unentscheidende Ereignisse gibt's dort mehr als entscheidende — es wimmelt bloß so davon«).
Doch der größte und interessanteste unter den Schriftstellern, die in einer solchen Erneuerung der Sprache das wichtigste Instrument der künstlerischen Entdeckung der Welt sehen, ist zweifellos Wladimir Maramsin. Die sowjetische Sprache und der sowjetische Stil lasten wie ein Alpdruck auf ihm:
»Ich fürchte, der Einfluß des Stils — ihres Stils — ist viel, viel größer, als man glaubt (...) Ringsum unternehmen die Redaktionen, die Machthaber, das konforme Bewußtsein, die Deklassierten und Trinker am Rand der Gesellschaft millionenfache Anstrengungen, die Sprache des Lebens zu berauben.«25
Das Heil sieht Maramsin vordringlich in der Abkehr von den tödlichen Sprach- und Denkklischees des sowjetischen Stils. Auch den Verfall der heutigen Literatur sieht er in erster Linie darin, daß die Leser und die Autoren Geschmack und Gefühl für das Wort, den Satz, den Stil verloren haben, daß die Literatur sich immer mehr in »Deskription« verwandelt.
»Literatur ist zum reinsten Betrug geworden. Sie will verbergen, daß sie Literatur ist, daß sie also geschrieben wird. Sie gibt sich heuchlerisch als Aktion aus, will von selber in unseren Kopf springen, durchs Auge, und sich dort wie ein Bild der Erinnerung verkriechen. (...) Der Roman schläft und sieht sich selbst auf dem Bildschirm. Wer liest heute Buchstaben, wer sieht Wörter, wer genießt ihre grammatischen Verknüpfungen? Alle verschlingen Seiten, fressen Absätze und verwandeln sie schon zwischen den Wimpern in Kinobilder.«
Maramsin jedoch ist wirklich einer, der die Wörter und Wortverbindungen auskostet, bei ihm wird die Suche nach der größten sprachlichen Ausdruckskraft zur Leidenschaft. Mit sorgsam ausgesuchten Wörtern modelliert er seine Prosa, die einen Hang zur philosophischen Kontemplation und zur psychologischen Tiefenschau besitzt. Selbst bei der Beschreibung etwa eines Unbekannten im Bus bemüht er sich, platte »Deskription« zu vermeiden, strebt in die Breite und Tiefe:
»Sein Mund war in eiserne Zähne geschmiedet, und sein Gesicht war ein Gesicht von öffentlicher Bedeutung. Um so ein Gesicht im Gesicht zu tragen, muß man viele Jahre lang irgendwo da oben beschäftigt sein, am Futtertrog — womit beschäftigen sie sich dort? Aber wie es dann dazu kommt, daß man im Bus fährt — das ist unklar. Nach dem Rasieren hatte er sich mit Toilettenwasser aus der Parfümerie erfrischt, das nach Feuchtigkeit, Kellerasseln und nach auftauendem Gefrierfleisch roch. Mir reichen die Spötteleien und Unhöflichkeiten, sprach der Geruch mit einem drohenden Unterton. Mir reicht's, es ist Zeit, wieder an den Futtertrog zu kommen.«
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Bei seiner Suche hat Maramsin schon eine komplizierte Evolution durchgemacht, die allen Anzeichen nach noch nicht abgeschlossen ist und die bei erfolgreichem Verlauf der russischen Literatur einen wahrhaft großen Schriftsteller schenken wird. Maramsins frühe Erzählung »Istorija shenitby Iwana Petrowitscha« (dt; Die Geschichte von der Heirat des Iwan Petrowitsch; 1964)26 ist noch ganz im traditionellen realistischen Stil geschrieben, ja mit einer gewissen altmodischen Behäbigkeit. Höchstens in einigen Intonationen, die dem Ohr ungewöhnlich vorkommen, ist ein leiser Anhauch von Extravaganz zu spüren.
Deutlich extravagant ist eher die Fabel: Ein Arbeitermädchen, in Geldschwierigkeiten geraten, geht auf den Strich, nimmt einen Mann ohne Umschweife mit auf ihr Zimmer im Wohnheim, wo der Freier (Iwan Petrowitsch) sich in Anwesenheit ihrer Zimmergenossinnen mit ihr vereinigt; er trifft sich darauf noch einmal mit ihr und heiratet sie schließlich. Hier (wie auch in der Erzählung »Tschelowek, kotoryj weril w swoje osoboje nasnatschenije [Der Mann, der an seine besondere Bestimmung glaubte]) ist es das in der sowjetischen Literatur verbotene Thema der Sexualität, das die Abkehr von den Standardschablonen markiert. Die Sexualität steht unter Verbot, weil sie sich nicht in das rationalistische Bild vom Menschen als Produzenten, als Erbauer des Kommunismus fügt. Die irrationalen Leidenschaften, die auf einen ganz anderen, dunkleren, geheimnisvollen und komplizierteren Charakter des Menschen hindeuten, sind ein Element, das sich nicht berechnen und nicht kontrollieren läßt. In einer Konzeption, nach der die Gesellschaft als Gesamtheit von Produktionsbeziehungen vom Klassenkampfbeherrscht ist, findet solch ein komplexerer Mensch keinen Platz und zerstört sie deshalb. Maramsins Helden suchen nun gerade in der Sinnlichkeit die Rettung vor der Kälte eines seelenlosen genormten Lebens.
Die um die Mitte der sechziger Jahre entstandenen Erzählungen Maramsins (Zyklus »Sekrety« [Geheimnisse]) lassen den Einfluß von Charms und anderen Oberiuten spüren, während die um dieselbe Zeit geschriebene große Erzählung »Tjanitolkaj«27 (etwa: Zieh-und-stoß) deutlich Kafka imitiert:
Der Erzähler wird
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ins »Große Haus« vorgeladen und hat dort ein Gespräch mit einem Oberst des KGB, der sich um das Schicksal der russischen Literatur besorgt zeigt und entschlossen ist, dieses nunmehr selber in die Hand zu nehmen. (Diese ganze kafkaeske Fiktion war übrigens nur die Vorwegnahme der KGB-Verhöre und des anschließenden kafkaesken Prozesses, die Maramsin selbst über sich ergehen lassen mußte.)
Die Erzählung »Natschalnik« (dt. Der Natschalnik; 1963-1964) wiederum ist eine direkte Kopie von Andrej Platono w mit seinen Erzählungen »Gossudarstwennyj shitel« (Der Staatsbewohner)28 und »Ussomniwschijsja Makar« (Makar im Zweifel) — eine Kopie in Geist und Stil, Satzbau und Ausdruckstechnik:
»Kein Haar zuviel auf dem abschüssigen Haupt, schritt er innerhalb seines Anzugs weit aus und bot den Anblick eines Menschen, der sich schon seit frühester Kindheit rüstet, zu einem bedeutenden und gewichtigen Mannsbild heranzuwachsen«; »er ließ sich seinen Verstand nicht vom Leben weg auf irgendwelche speziellen unverständlichen Angelegenheiten ablenken«; »ihre Unruhe zielte ganz woandershin als bei den anderen« usw.
Platonows Einfluß hat in Maramsins gesamtem Werk seine tiefen Spuren hinterlassen. Und obgleich in den späteren Erzählungen Maramsins (so bereits in dem Zyklus »Smeschneje, tschem preshde« [Lustiger als zuvor; 1970]) und besonders in der Erzählung »Blondin obejego zweta« (Der Blonde von zweierlei Farbe; 1973) die Eigenständigkeit weitaus größer ist, bleibt die Prägung durch Platonow nach wie vor spürbar — auch hier finden wir die gleiche skurrile regelwidrige Sprache, die die Wörter nicht nach der Grammatik, sondern nach dem Sinn verbindet: das Partizip vom falschen Prädikat, das Adjektiv zum falschen Bestimmungswort, Subjekt anstelle des Objekts und umgekehrt. Doch so groß die formale Ähnlichkeit zwischen Platonows und Maramsins Stil ist, so gänzlich verschieden sind die beiden Stile nach ihrem Inhalt: Was bei Platonow seine eigene Sprache ist, das genuine Mittel, sich selbst zu äußern, der deutliche Stempel einer eigenständigen Begabung, ist bei Maramsin die parodistische Stilisierung der Sprache eines anderen, die sprachliche Charakterisierung der Figuren. Der Held in Maramsins Erzählungen hat nichts mit den Platonowschen Helden gemein, er ist eher ein Soschtschenkoscher oder genauer noch: ein im Lauf der Jahre herausgebildeter Soschtschenkoscher und Platonowscher Held zugleich, der jetzt in Gestalt des heutigen »normalen Sowjetmenschen« vor uns steht.
In einer der Erzählungen stellt der Held sich uns so vor:
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»Die Hand ist gewöhnt, ein Eisenstück zu machen, aber nicht so oft. Bin Einrichter vom Fach, aber ich hab's leidlich getroffen; ich schlafe mehr.«
Die ungefüge Sprache, die falsche, ständig danebengreifende Redeweise (die gleichwohl immer farbkräftig und anschaulich bleibt) spiegeln das Dunkel eines unentwickelten, dazu noch von der Propaganda verblödeten, betäubten und verdrehten Bewußtseins. Sehr gut wiedergegeben ist das zum Beispiel in der Erzählung »Moj otwet Gogolju« (Meine Antwort an Gogol) — den Reflexionen des Helden bei der Lektüre der Zeitung. Zu den Pogromartikeln gegen Solschenizyn hören wir seinen Kommentar:
»Ich hab da einen Artikel gelesen: Da sucht ein Nobel so einen Preis (...) Irgend so ein Langhaariger hat sich gefunden, Salashonkin (...) Der untergräbt die Grundfesten, die sich ums Verrecken nicht untergraben lassen, zusammen mit einem Andrej >Shid<*; haben sich den Faschisten verkauft (...) Ich kapier bloß die neue Richtlinie nicht: Früher wurde so ein shid der Einfachheit halber Jude genannt (...) Dieser Solonizyn ruft die spezielle Reaktion auf den Plan, direkt aus Moskau schreibt er dem shid und über die Schweden schickt er unser Betriebsgeheimnis raus (...)«
Sein Fazit nach der Lektüre ist sehr bezeichnend: »Erschießen nach dem höchsten Paragraphen, diesen Solonizyn.«
Die Klischees der sowjetischen Propaganda in Verbindung mit der analphabetischen Ignoranz des Helden zeugen die bizarrsten Wechselbälger (»die Leninordenheldenstadt«). Maramsins Ironie ist fein und subtil, sie sticht nie ins Auge, wird nirgendwo zur Karikatur, macht sich niemals über ihren Gegenstand lustig. Die , Evolution vom Platonowschen Proletarier zum heutigen Arbeiter ist gut sichtbar in der Erzählung »Ne ukradi!« (dt. Du sollst nicht stehlen), einer »Instruktion« an einen zukünftigen Sohn.
* Der Nachname des französischen Schriftstellers Andre Gide, der in den dreißiger Jahren die Sowjetunion vehement kritisierte, hat denselben Klang wie das russische Schimpfwort für Jude, »shid«. Anm. d. Übers.
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»Eine Schraubenmutter, ein Deckel, ein glänzendes Stück Eisen, ein Brett oder eine Schraube, unbewacht in der Stadt an öffentlichem Ort angebracht, gehören immer dir (...) Privatpersonen bestiehl nicht, vom Staat aber nimm immer und alles, was irgend möglich (. . .) Was immer an Material oder Gegenständen unbeaufsichtigt herumliegt, nimm es (...) Für den Staat ist es sowieso verloren, vom Wind verweht (...) Was immer du im Staatsdienst in dich reinstopfen, in dich reinschütten kannst — greif zu. Man kann es dir nie mehr wegnehmen (...) Wo Arbeit zugeteilt wird, drücke dich, wo du nur kannst. Hol stets ein Attest vom Doktor, er kann nicht umhin, dir eins auszustellen — der Organismus ist bei unserer Lebensweise stets geschädigt (...) und die Medizin lebt von unseren Groschen. Wenn du kannst, schlaf eine Minute — oder eine Stunde — oder besser einen Tag, statt ständig zu arbeiten: Das ist kein Diebstahl; die Ausbeutung deiner Arbeitskraft ist elfmal so hoch wie dein Lohn am Zahltag.«
Das Hauptkennzeichen dieser Evolution ist die totale Entfremdung von dem gesichtslosen grausamen Staat, das Mißtrauen — trotz der Verdummung durch sie — gegen die Propaganda, die Vorsicht gegenüber der Politik: Die »bedeutet höchste Gefahr — man soll sie nicht ärgern, sie schlägt mit dem großen Strafgesetz zurück.«
In der Erzählung »Blondin obejego zweta« versucht Maramsin den Zerfall des Bewußtseins im russischen Intelligenzler zu zeigen, und zwar wiederum durch die Sprache. Auch hier wieder finden wir den starken Einfluß Platonows, darüber hinaus, in der Konstruktion der Sätze, auch etwas von Andrej Belyj. Der Lakonismus wird zum äußersten getrieben, die grammatisch fehlerhafte, zerfasernde Sprache wirkt stellenweise etwas zu gewollt, aber das dient, so seltsam es klingen mag, letztlich doch, in der Platonowschen Tradition, der größeren Bildhaftigkeit und Ausdruckskraft. Der Hauptteil der Erzählung besteht aus dem Tagebuch oder besser den Aufzeichnungen des »Blonden«, eines konformistischen Künstlers, der in seiner Kunst ebensolche Mißerfolge erleidet (dafür aber lernt, wie man im offiziellen Kunstbetrieb viel Geld verdient) wie in seinem Privatleben (seine homosexuellen Neigungen bleiben ohne Erfüllung).
»Diese seltsame, verdrehte Sprache«, heißt es im Vorwort zu den Aufzeichnungen des »Blonden«, »bedeutet den Zerfall eines Bewußtseins, das wohlgemerkt im Prinzip das eines Intellektuellen ist, sich aber schon nicht mehr mit Hilfe der Logik steuern läßt (...) — was ist es?«
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Doch diese Demonstration der Zersetzung des Bewußtseins gelingt nicht. So zersetzt sich das Bewußtsein des Intelligenzlers nicht. Die Demoralisierung des sowjetischen Intelligenzlers äußert sich vor allem in der Verdummung, Verflachung, Standardisierung, in der Unterordnung unter offizielle Klischees, unter den phantasiefeindlichen Stil des Denkens und Sprechens (Maramsin hat seinen Weg ja mit der Abkehr, der Flucht vor diesem Stil begonnen); das heißt in der Verwandlung in das, was Solschenizyn »Intelligenzlerei« genannt hat (»völlige Erniedrigung, geistige Selbstvernichtung«)29.
Oder es äußert sich (am entgegengesetzten Ende) in einem elitären Zynismus, in der Gleichgültigkeit gegen alles, was über die eigene Sicherheit und das eigene Wohlergehen hinausgeht, in der unverfrorenen Behauptung, alles auf der Welt sei relativ und ohne jeden Sinn. Was wir in Maramsins Erzählung vor uns haben, ist nicht das Bewußtsein des Intelligenzlers, sondern genau so wie in den anderen Prosastücken wiederum jenes dunkle, unentwickelte Bewußtsein, das zum Licht, zum Begreifen des Erlebten drängt, das sich mit aller Macht auszusprechen sucht — und auch tatsächlich deutlichen und eigenständigen Ausdruck findet. Für ein demoralisiertes Bewußtsein hat das zu viele positive Anlagen. Maramsin hat sich von der stilistischen Raffinesse, vom ästhetischen Genuß am verbalen Farbenspiel hinreißen lassen, er wollte die selbstgestellte Aufgabe über die Sprache lösen, aber die Sprache verschlang die Aufgabe. Doch wenn man von dieser im Untertitel verkündeten und im Vorwort umrissenen Aufgabe (Nachweis des Zerfalls des russischen Bewußtseins) absieht und die Erzählung nicht nach dem zu beurteilen versucht, was sie sein sollte, sondern nach dem, was sie tatsächlich ist, dann kann man sie als einen sehr gelungenen Wurf des Autors bezeichnen. Der feine Humor, die glänzenden Aphorismen, die geistreichen Wortspiele, die expressive Kraftfülle des regellosen, aber originellen Stils machen die Erzählung zu einem Meilenstein auf dem Wege der stilistischen Erneuerung der russischen Prosa.
Eine Suche in ganz anderer Richtung und eine ganz andere Welt werden in den Werken der modernen mystischen Schriftsteller des Untergrunds, in ihrem »metaphysischen Realismus«, sichtbar. Das Forschen und Fragen auf dem Gebiet der Religion und der Philosophie nimmt, weil es verboten ist, im heutigen Rußland mitunter die seltsamsten Formen an. In Moskau, Leningrad, Tiflis und anderen großen Städten existiert ein ziemlich reger »mystischer« Untergrund. Sehr populär sind die mystischen Lehren Gurdshijews und Uspenskijs.
In den Kreisen der »Mystiker« trifft man Angehörige der Intelligenz, die leidenschaftlich von re-
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ligiösen und philosophischen Fragen erfaßt sind, man trifft Sonderlinge, Propheten, okkulte Mediziner, Hellseher, Verkünder esoterischer Lehren, Narren in Christo, Erforscher der tiefen Geheimnisse der Seele und der transzendenten Welt des Übersinnlichen usw.
Die einen sind auf sich selbst, auf die eigene spirituelle Erfahrung konzentriert, die anderen streben zu allgemeinerem Wissen, studieren Mythen, metaphysische Systeme, Probleme des Kosmos usw. Auf dem Gebiet der Literatur äußert sich all dies in der Ablehnung der realistischen Methode als zu platt und an der Oberfläche verbleibend. Als Lehrer werden Gogol, Sologub und auch Dostojewskij anerkannt. Zum Objekt der Darstellung wird entweder die esoterische Welt der »Mystiker« selbst oder die neutrale Wirklichkeit, freilich im Lichte der metaphysischen Ideen betrachtet. Die interessantesten Schriftsteller dieser Richtung sind unserer Ansicht nach Jurij Mamlejew und Arkadij Rowner.
Wie immer man zu den Werken Mamlejews stehen mag, man kann nicht leugnen, daß sie den deutlichen Stempel einer eigenständigen künstlerischen Individualität tragen. Mamlejew ist ohne Zweifel ein reifer Künstler, wenngleich für viele inakzeptabel. Er hat rund hundert Erzählungen, einen Band Gedichte, zwei Romane und mehrere philosophische Essays verfaßt. Seine Werke wurden nicht auf dem normalen Samisdatweg verbreitet, sondern die Form seines Kontakts mit dem Publikum waren Lesungen, die anfänglich in seiner Wohnung in der Jushinskij-Gasse und später in vielen verschiedenen Moskauer Wohnungen stattfanden. Es zirkulierten auch Tonbandmitschnitte dieser Lesungen. Mamlejew hatte unter den jungen Moskauer Schriftstellern viele Verehrer und auch Schüler, so daß man geradezu von einer »Mamlejew-Schule« sprechen kann.
Mamlejews Werke haben zwei Ebenen. Die eine ist die Darstellung bestimmter Seiten des heutigen russischen Lebens: der pathologische Alltag in der Gemeinschaftswohnung, psychische Zusammenbrüche, Sexualität, die Öde und Brutalität einer kümmerlichen sinnlosen Existenz. Die zweite Ebene ist die Darstellung verborgener metaphysischer Situationen; einige der Helden sind nicht einmal Menschen, sondern Monster und übermenschliche Wesen. Die Erforschung des Phänomens Mensch, sagt Mamlejew, führt in das transzendente Gebiet zu einem jenseitigen Modell des Menschen, zum »unsichtbaren Menschen«.
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In einigen Werken findet sich eher die erste Ebene entfaltet. Im wesentlichen sind das recht subtile psychologische Studien, wie zum Beispiel die Erzählung »Shenich« (Der Bräutigam): Der junge Lastwagenfahrer Wanja Gadow fährt ein junges Mädchen tot, dessen Eltern ihn gegen Kaution aus dem Gefängnis holen und adoptieren, denn nachdem er ihre Tochter einmal »angerührt« hat, ist er gleichsam mit ihr »verbunden« durch rätselhafte, tief innere Bande, durch ein »Geheimnis«; er ist gleichsam ihr »Bräutigam«. Wanja nutzt die Situation aus und wird ein kleiner Familientyrann.
Oder die Erzählung »Otnoschenija meshdu polami« (Beziehungen der Geschlechter): Ein junger Arbeiter vergewaltigt das Mädchen Njura, die jedoch schon bereit gewesen war, ihm nachzugeben, und wird, für beide unerwartet, zum Tode durch Erschießen verurteilt; gezeigt wird ihre verfahrene Beziehung, die Dumpfheit ihres Bewußteins, in dem sie fast wie im Traum leben. Diese psychologischen Erkundungen zielen zumeist auf das Geheime, Dunkle, Abseitige im Leben der Menschen (kennzeichnend dafür ist die Erzählung »Ne te otnoschenija« [Falsche Beziehungen] über das anormale absonderliche Verhältnis zwischen einem Professor und einer Studentin). Zum Objekt der Untersuchung werden entweder seltsame Außenseiter, die unter der Öde und Sinnlosigkeit des Daseins leiden und in verständnislosem Staunen vor seinen Rätseln stehen (in der Erzählung »Kogda sagoworjat?« [Wann fangen sie an zu sprechen?] studiert der Held aufmerksam die Körper von Tieren, weil er ihr »Geheimnis« erraten will:
»Weil er fühlte, daß es die Kräfte des Menschen überstieg, wirklich in das Geheimnis einzudringen, begab er sich auf absonderliche, sinnlose, dunkle Wege. Er kroch auf allen vieren [...] versuchte mit einer Kuh zu reden [...] fand Gefallen daran, sich vor einer Katze zu entleeren und so gleichsam auf ihre Stufe zu sinken«) — oder es werden Menschen gezeigt, deren Interesse auf den Tod gerichtet ist: Der Held der Erzählung »Utro« (Morgen) liebt keine Menschen, sondern Tote, liebt den Prozeß des Sterbens und die Erkenntnis dieses Prozesses; besonderes Vergnügen bereitet ihm der Tod naher Freunde oder Verwandter. Und die Ärztin Nelja in der Erzählung »Poslednij snak Spinosy« (Spinozas letztes Zeichen), die an den tagtäglichen Anblick von Schwerkranken und Sterbenden gewöhnt ist, »betrachtete die Welt als Zubehör zum Tod«; »die Vorstellung von jenem Unerreichbaren nach dem Tod hatte sie so irr gemacht in ihrem Denken, daß sie (...) anfing, das Leben selbst als etwas Inadäquates, als Rahmen für den Tod anzusehen«.
Der Tod und die Nichtexistenz gehören überhaupt zu den wichtigsten Themen in Mamlejews Schaffen.
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In anderen Werken ist dagegen eher die zweite Ebene bearbeitet: Die »metaphysische Situation« rückt in den Vordergrund. Abnorme, übernatürliche Geschöpfe tauchen auf — wie der »Schisch« (in der Erzählung »Schischi«), eine lemurenhafte, unheilige Kreatur, zugleich Mensch und Nichtmensch, mit einem Bewußtsein, das vom menschlichen grundlegend verschieden ist und jede Verständigung mit den Menschen ausschließt; oder wie der »Himmelsbewohner« in der Erzählung »Golos is nitschto« (Die Stimme aus dem Nichts), wo der Held in seinem grenzenlosen Egoismus, in seinem Drang, alles zu erreichen, auf die Unmöglichkeit prallt, das Absolute zu erreichen, und das Absolute zu hassen beginnt. In ihm bohrt und nagt es:
»Wenn ich mich irgend mit dem Absoluten messen, mich an Ihm rächen könnte!(...) Rache nehmen für alles: für meine entzündeten Augen, für die Vergeblichkeit meiner Wünsche, für meine Geistesschwäche, dafür, daß es draußen kalt ist, wenn ich das nicht will.« Schließlich kommt er zu dem Ergebnis: »Null, Null, absolut Null — das ist meine Gottheit, das ist das Ziel meiner Begierde. Im >Nichts< sind doch alle gleich: Gott, das Genie, der Mensch und der Wurm. Null — das ist meine Rache an Gott, Null — das ist meine Größe, denn wenn alles, die ganze Welt und Gott dazu, zunichte wird und sich in Nichts verwandelt — erst dann, in diesem bodenlosen Null und Nichts, stehe ich dem Absoluten von gleich zu gleich gegenüber (...) Ich brannte darauf, mich selbst ganz zu >Null< zu machen, um so nicht nur mich selbst zu töten, sondern alles, was noch in meiner Seele existierte: Gott und alles Höhere, alles Emporfliegende (...) Hysterisch erstickte ich die niedlichen Kätzchen, die mir über den Weg liefen, ebenso wie alles Schöne und Absolute in mir (...) Ich war nur von einem quälenden Drang besessen: Wie ich noch verkommener und noch widerwärtiger werden könnte.«
Er verspottet und verhöhnt die eigene Mutter, probiert alle möglichen Mittel der Selbsterniedrigung aus, bis er endlich auf einen betrunkenen, schmutzigen, verkommenen Menschen trifft, der früher zu den »Himmelsbewohnern« gehörte und freiwillig auf die tiefste Stufe des Daseins herabgestiegen ist. Der »Himmelsbewohner« erklärt ihm:
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»Das Absolute, in dem alles höhere Wissen beschlossen liegt, — wie soll ich sagen — fühlt sich öde (...) Nein, das ist das falsche Wort (...) Sagen wir einfach: Aus der Fülle seines absoluten Daseins strebt es zu seinem einzigen Gegenstück, zum absoluten Null, zum Nichts, das das Absolute als die einzige Realität außerhalb Seiner selbst zu sich heranzieht. So ist die Selbstvernichtung die einzige Form aktiven Handelns für das Absolute, aber weil der Übergang vom vollen Dasein zum Nichts selbst für den Schöpfer undenkbar ist (...), äußert sich Sein Drang nach Selbstvernichtung darin, daß Er sich auf die untersten Stufen des Geistes herabläßt (...) So erscheinen wir, die Engel, dann ihr, die Menschen, und von da ist es nicht mehr weit zu allen möglichen Läusen und Mineralien (...) Der Schöpfer hat es auch deshalb schwer, zu Seinem Ziel zu gelangen, weil jede gesonderte Stufe Seiner Schöpfung (...) im Fiebertraum ihrer Seele Sehnsucht nach Ihm empfindet und wieder aufwärts, zum Absoluten strebt (...) Der Schöpfer ist ein Selbstmörder, und diese Welt existiert allein deshalb, weil der Drang Gottes zur Selbstvernichtung ausgeglichen wird von der verzweifelten Gier der Geschöpfe — trüber Teilchen Seiner selbst — wieder empor zu gelangen, und auf diese Weise hält sich die Welt in einem relativen Gleichgewicht, die jedoch wahrhaftig keine Harmonie ist (...) Harmonie gibt es nicht und kann es nicht geben! Das Fehlen der Harmonie jedoch führt zur Krankhaftigkeit, zur Monstrosität. Daher ist die ewige Disharmonie und Zwietracht das erste Kennzeichen des Lebens, vor allem des geistigen. Das Krankhafte ist das Wesen der Welt (...) Das Krankhafte sollte für nur irgend denkende Wesen das Symbol des Glaubens sein.«
Der Himmelsbewohner weiht den Helden der Erzählung in das Geheimnis ein, wie man sich in ein niedriges Geschöpf verwandelt — je vollkommener ein Wesen sei, desto leichter könne es diesen Weg der Verwandlung zurücklegen.
»Die göttlichsten Individuen verwandeln sich daher ausgesprochen rasch in irgendwelche Stinktiere, es braucht keine drei Tage.«
Der Held begibt sich auf diesen Weg, verwandelt sich in einen Leichenwurm, lebt im Grab und wird zuletzt »zum Kot eines großen indischen Elefanten, der sich in einem hellen und lauten Zirkus vor den Menschen verbeugt«. Und ganz unerwartet endet die Erzählung mit dem Satz: »Aber ich konnte mich noch gut an das Lächeln Gottes erinnern, das auf mir ruhte.« Das läßt an eine andere Überzeugung denken, die in der Erzählung »Poslednij snak Spinosy« ausgesprochen wird: »Das Böse ist eine Illusion, in Wahrheit ist die Welt gerecht.«
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In dem Roman »Schatuny« (Die Freischweifenden) schildert Mamlejew das Untergrundleben der Moskauer Mystiker, die unbekannte Welt der Poeten, Philosophen, der unbehausten »Besprisornyje« und freischweifenden Geister. Schon einige Jahre lang arbeitet Mamlejew an einem großen Roman »Nebo nad adom« (Der Himmel über der Hölle), bestehend aus mehreren selbständigen Teilen, die nur durch die Grundkonzeption miteinander verbunden sind. Der erste Teil ist die Geschichte eines »metaphysischen Krawallmachers«, das heißt eines Gottlosen; der zweite die leicht veränderte Erzählung »Schischi«, und der dritte hat die Ankunft des Messias (Christus) im Moskau von heute zum Inhalt.
Während Mamlejews Werk in »schwarzen Mythen« wurzelt, gibt es bei Arkadij Rowner30 zwar auch einige Helden Mamlejewschen Zuschnitts, etwa in der Erzählung »Gussi-lebedi« (Gänse-Schwäne) oder in »Tschto jest istina?« (Was ist Wahrheit?), die jedoch immer mit Abscheu und Entsetzen dargestellt werden; aber im allgemeinen sind seine Helden gute, doch schwache und leidende Menschen, die auf ihrer Suche nach der Wahrheit nicht die ausgetretenen Pfade einschlagen wollen. Diese Suche nach der Wahrheit wird oft zum Hauptinhalt ihres Lebens.
In Rowners talentiert geschriebenen unkonventionellen Erzählungen erscheint die Flucht vor der trivialen Absurdität des Lebens als Ablehnung der banalen abgedroschenen traditionellen Formen des Erzählens. Seine Helden, armselige unbedeutende Menschen, fliehen aus der hoffnungslosen Ödnis, in der sie tagtäglich existieren müssen, in Träume und Phantasien — wie etwa Orljaschkin in der Erzählung »Gosti is oblasti« (Gäste aus dem Gebiet), der in Tagträumen schwebt und dafür von unheimlichen Fremdlingen aus einem transzendenten Gebiet bestraft wird — oder leben gleichsam im Halbschlaf, im ständigen Dämmerzustand — wie Kolja in der Erzählung »Durak« (Der Dummkopf) oder Porotschkin in der Erzählung »Schinel« (Der Mantel), der allerdings im Schlaf wie im Wachen von Alpträumen heimgesucht wird. Jener Alptraum, der das Leben des sowjetischen Intelligenzlers ist — ein Leben in beständiger Furcht vor Repressalien, beschattet, erpreßt, bedroht — findet sich in seiner ganzen kafkaesken Atmosphäre in der Erzählung »Kasarinskije dworiki« (Die Kasarinskij-Höfe) nachgezeichnet.
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Auch in den anderen kurzen Erzählungen gelingt es Rowner, mit sparsamen Mitteln eine Stimmung wiederzugeben, jene eigentümlich phantastische, halb trancehafte Atmosphäre, das Gefühl einer unbegreiflichen Verworrenheit des Lebens, der geheimnisvollen Unermeßlichkeit seiner Tiefen. Rowner ist ein begabter Erzähler; die bestrickende Sprache — rhythmisierte, ja musikalische Prosa — und die sorgfältig gewählten, unverbrauchten und treffenden Wörter machen den Reiz seiner Erzählungen aus, die leider nicht alle gleichermaßen gelungen sind. Oft bleibt seine Rede dunkel, sind seine Allegorien unverständlich, die Überfrachtung mit allem möglichen und unmöglichen schafft den Eindruck der Künstlichkeit und muß den unvorbereiteten Leser wie die jedes Sinnes baren Luftsprünge einer bizarren Phantasie anmuten.
In dem Roman »Obesjana na derewe« (Der Affe auf dem Baum) — der Titel ist noch nicht endgültig, da die Arbeit noch nicht abgeschlossen ist — wird wie in Mamlejews Roman das »esoterische« Leben der »Mystiker« geschildert. Der Held des Romans, ein zwanzigjähriger Jüngling, versucht zum Wesen der Dinge vorzudringen, ihre Triebfeder zu entdecken, ihr Prinzip zu begreifen, »in die Mitte vorzustoßen«. Doch er sucht etwas, das er sich selbst zusammengedacht hat, und nicht etwas, das existiert und auffindbar ist. Deshalb beginnt er in Ärger und Wut die Mystiker zu beschimpfen, dieses »esoterische Pack«. Diese Menschen, denen er sich vergeblich bemühte näherzukommen, leben unterdessen ihr wirkliches, nichtausgedachtes Leben. Gegen die Winkel und Schnörkel des menschlichen Denkens, gegen die Verirrungen einer üblen Phantasie steht die Integrität der echten inneren, spirituellen Erfahrung. In dem Roman wird — was zuvor noch niemand geleistet hat — das Leben der jugendlichen »out-casts« in der Sowjetunion gezeigt: Hippies, Drogensüchtige, Vagabunden; Menschen, die nach der Devise leben: »Wir haben ein Recht darauf, die Art unserer Hinrichtung selbst zu bestimmen.«
Einflüsse der westlichen Moderne zeigen auch die Erzählungen von D. Krymskij: Die psychologische Gestaltung ist hoch differenziert, bis ins kleinste wird die Situation erfühlt, der Augenblick wird zum Anhalten gebracht: Statik statt Dynamik.
Interessant ist das surrealistische Stück »Laertil« von dem inoffiziellen Avantgarde-Dichter Genrich Chudjakow — eine poetische Komposition (weit ausholend vom alten Athen bis zum heutigen Moskau) nach Motiven der Hamletgeschichte, in unsere Zeit versetzt.
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Manchmal ist es schwer zu begreifen, warum dieser oder jener Schriftsteller, der mit seinen anspruchslosen Produktionen gar keine akuten sozialen Probleme berührt, auf einmal nicht mehr gedruckt werden darf. So ging es z. B. Sergej Wolf mit seinen im Stile Hemingways geschriebenen Erzählungen, die er unter dem Titel »Satscharowannyje pomestja« (Verzauberte Landgüter) zusammenfaßte. In der sowjetischen Literatur figuriert Wolf lediglich als Kinderbuchautor. Kinderbücher und Übersetzungen — diese Form, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, ist heute in Rußland überaus verbreitet unter den vielen Schriftstellern, denen es verwehrt ist, ihre ernsthaften Werke zu veröffentlichen.
Nur einige seiner Erzählungen konnte Boris Wachtin, der eine eigenartige rhythmisierte Prosa im Skas-Stil* schreibt, in der Sowjetunion publizieren. Weit bekannt in Leningrader Kreisen sind seine — eine eigentümliche Trilogie bildenden — Erzählungen »Ljotschik Tjutschew ispytatel« (Testpilot Tjutschew), »Wanjka Kain« und »Abakassow« wie auch die Erzählung »Odna absoljutno stschastliwaja derewnja« (Ein absolut glückliches Dorf) und der Geschichtenzyklus »Sershant i frau« (Der Sergeant und die Deutsche). Wachtins Werke sind zumeist in einem hellen Ton gehalten (sympathische Menschen, Freude an der Natur, Liebe zur Heimat, zum Leben und zum Schicksal der Menschen); sie liefern gelungene Beispiele einer »volkstümlichen« Prosa. Was den sowjetischen Zensoren daran verdächtig sein mochte, läßt sich nur schwer vermuten. Es ist wahrscheinlich eine gewisse Nuance von Unabhängigkeit, die betonte Selbständigkeit des Urteils, der allzu persönliche, eigene Blick auf die Dinge.
Wachtin versuchte zusammen mit drei anderen Leningrader Schriftstellern — Maramsin, Gubin und Jefimow — eine eigene Schriftstellergruppe mit dem Namen »Goroshane« (Stadtbewohner) zu gründen, nach dem Vorbild der Künstlerzirkel in den zwanziger Jahren. Aus den Werken der Gruppenmitglieder wurden zwei Sammelbände erstellt, die man genehmigen lassen wollte. Aber selbst dieser unschuldige Versuch einer etwas unabhängigeren Form der Organisation von Schriftstellern schien den Machthabern zu gefährlich. Die Gruppe wurde nicht genehmigt, die Veröffentlichung ihrer Werke verboten.
* »Skas« ist ein in der russischen Literatur traditionelles Stilmittel, das einen meist aus weniger gebildeten Kreisen stammenden Erzähler durch eigenwillige, von der Sprachnorm abweichende Rede charakterisiert. Anm. d. Übers.
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Eine Hinwendung zum Skas-Stil können wir ebenfalls in dem anonymen Erzählzyklus »Tschornaja kniga« (Das schwarze Buch)31 konstatieren. Eigentlich sind das keine Erzählungen, sondern Märchen: Bestimmte Märchenhandlungen werden in die heutige Wirklichkeit transponiert; das traditionelle Thema der alten russischen Märchen — der Kampf zwischen Gut und Böse — wird in einen neuen Kontext gestellt.
Von anderer Art sind die (von Saint-Exupery inspirierten) philosophisch-romantischen, intellektuellen Märchen des Lyrikers R. Wogak, der den für dieses Genre typischen Mangel: die leblose Abstraktheit, nicht immer vermeiden kann.
Besonders zu verweilen gilt es bei den neuen Tendenzen, die sich in der letzten Zeit auf dem Gebiet des Romans herausgebildet haben.
Die Erneuerung dieses Genres verdankt die russische Literatur dem Samisdat. Hier handelte es sich zunächst einmal darum, sich die Erfahrungen und Errungenschaften des westeuropäischen Romans im zwanzigsten Jahrhundert (Joyce, Proust, Kafka, Butor, Robbe-Grillet) anzueignen und sie auf russischen Boden zu verpflanzen. So schreibt Sergej Petrow (der bekannteste seiner monumentalen Romane ist »Kalendar« [Der Kalender]) sichtlich unter dem Einfluß von Joyce: ein endloser innerer Monolog mit einer Unmenge kleinster, zuweilen äußerst scharfsinnig beobachteter Details, komplizierte Sprache, Fehlen eines fest umrissenen Handlungsgerüsts. Denselben Joyceschen Bewußtseinsstrom treffen wir in der Prosa von Viktor Kriwulin und zum Teil auch bei der interessanten Schriftstellerin /. Papernaja. Ihr Buch »Tschjito slyje sabawy« (Jemandes böse Spaße) — die Geschichte der unglücklichen Liebe zweier junger Menschen vor dem Hintergrund des freudlosen Alltags in einem abgelegenen Provinzstädtchen —wird zum größten Teil realistisch erzählt und nimmt sich insoweit fast traditionell aus, wenn nicht auf dem realistischen Hintergrund der Bewußtseinsstrom der Helden abliefe — abgehackt, nervös, hektisch, ja geradezu krankhaft.
Ebenfalls kennzeichnend für den modernen Roman ist die starke surrealistische Tendenz. Von besonderem Interesse ist in dieser Hinsicht Aleksandr Baskins Roman »Chudoshnik« (Der Künstler). Auf seinem armseligen Dachboden stirbt ein Künstler; seine Freunde tragen ihn zu Grabe, und plötzlich taucht er selbst lebendig auf seiner Beerdigung auf, aber niemand beachtet ihn. Der Künstler geht wieder nach Hause auf seinen Dachboden. Gezeigt werden abstoßende Beispiele banalen Spießertums bei den
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Nachbarn; die Erbärmlichkeit ihres Lebens; komplexbeladene, kranke und gestörte Intelligenzler; realistische Details, surrealistische Situationen. Unter anderem tritt auch die alte Pfandleiherin aus Dostojewskijs »Schuld und Sühne« auf. Der letzte Teil des Romans malt in freien Versen und mit düsteren Tönen Bilder vom heutigen Leningrad.
Surrealismus mit einer kafkaesken Note herrscht in dem anonym veröffentlichten Roman »Odinotschestwo w Moskwe« (Einsamkeit in Moskau). Der Held, der Physiker F., erwacht eines Morgens plötzlich in einer »anderen Dimension«, im Inneren einer Art »turbulenten Pilzes«. Moskau ist völlig entvölkert (so scheint es ihm); der Wissenschaftler geht als einziger Mensch allein durch die Stadt, in Begleitung eines geheimnisvollen Wesens, das ihm beigegeben ist, um ihn auf Schritt und Tritt zu beaufsichtigen, seine Handlungen, seine Gedanken und sogar sein Unterbewußtsein zu beobachten (eine symbolische Darstellung des KGB). Am Ende wird der Held, wie Kafkas Josef K., von einer unbekannten geheimen Instanz vor Gericht zitiert.
Einen beachtenswerten Versuch im Genre des neuen Romans hat Jewgenij Kuschew vorgelegt, Kuschew debütierte im Samisdat 1964 mit Gedichten. Wegen seiner Mitarbeit an der Untergrundzeitschrift »Tetradi sozialistitscheskoj demokratii« (Hefte für sozialistische Demokratie) und wegen der Teilnahme an einer Demonstration für Sinjawskij und Daniel wurde er von der Moskauer Universität, wo er studierte, relegiert und für ein halbes Jahr in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen. 1966 erschienen in der Untergrundzeitschrift »Russkoje slowo« (Russisches Wort)32 einige seiner Gedichte. 1967 wurde er zusammen mit W. Bukowskij und W. Delone wieder verhaftet und zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Im Westen erschienen in einem kleinen Band seine Gedichte und seine Erzählung »Feodal« (Der Feudalherr)33.
Doch sowohl die Gedichte als auch die Erzählung (die von der Liebe eines einfachen jungen Arbeiters zu der Tochter des Rayon-Parteisekretärs in einer Provinzstadt und von seinem Konflikt mit der örtlichen herrschenden Elite behandelt) sind unausgereifte jugendliche Versuche, was viele nicht hinderte, voreilig ein abschließendes Urteil über Kuschews schriftstellerische Begabung zu fällen. Um so angenehmer war die Überraschung, als sein jüngstes Werk »Otrywki is teksta« (Textauszüge) erschien — Auszüge, weil der vollständige Text nach Meinung des Autors nur von den Figuren des Romans selbst geschrieben werden könnte (ein Teil des Romans wurde in der Exilzeitschrift »Grani«, Nr. 91 [1974] abgedruckt).
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Der Roman enthält Bilder aus dem Leben der Moskauer Boheme: Schriftsteller, Künstler, Journalisten, »drop-outs«, vom Leben enttäuschte junge Menschen, sowjetische »zornige junge Männer«. Die Hauptfiguren des Buchs, junge Menschen ganz unterschiedlicher sozialer Herkunft — ein Student, der tiefen Abscheu vor der banalen Hohlheit, Lüge und Heuchelei ringsum empfindet, ein junger Arbeiter und ein Müßiggänger, dessen Eltern zur Elite gehören — setzen alle drei ihrem Leben selbst ein Ende. Jedes Kapitel besteht aus jeweils drei Abschnitten: »Ich«, »Du« und »Er«. Die Aufmerksamkeit, die den Details, den Dingen, der Gegenständlichkeit der Welt gewidmet wird, läßt an die Technik des »nouveau roman« denken. Doch die »Dinghaftigkeit« ist nur ein Aspekt unter mehreren. Ein anderer ist der innere Monolog, der Bewußtseinsstrom. Ganze Seiten sind in einem Atemzug ohne Punkt und Komma durchgeschrieben, wie eine Filmrolle, die mit erhöhter Geschwindigkeit abgespult wird, und vermitteln das Gefühl auswegloser Ödnis in einem sinnlosen Leben; eine Ausweglosigkeit und Sinnlosigkeit, die den überdurchschnittlich veranlagten Helden in die Verzweiflung treiben.
Andere Samisdat-Autoren setzen im Gegenteil rein russische Traditionen fort. Vieles von Michail Bulgakow hat in Thematik und Sprache der Roman »Etjud o maskach« (Studie über Masken) von M. Charitonow. Ungewöhnlich ist der Held des Buchs — ein Maskenbildner, der Masken von menschlichen Gesichtern abnimmt, sie ausstellt und sich von ihnen zum Philosophieren anregen läßt: In ihnen und durch sie versucht er das Wesen der menschlichen Natur zu entschleiern. Ungewöhnlich sind auch die Geschichten, die den übrigen Figuren widerfahren: dem abstrakt malenden Künstler Andrej, der in einer öffentlichen Toilette eine aufsehenerregende Silhouette zeichnet, woraufhin die Bedürfnisanstalt zu einem Wallfahrtsziel für ganz Moskau wird; dem Philosophen Scherstobitow, der Geduld und Stoizismus predigt (»man muß sich verborgen halten und abwarten«); dem übereifrigen Journalisten, der unter dem Einfluß des Maskenbildners beginnt, Abscheu vor seinem Beruf und so etwas wie Gewissensbisse zu empfinden.
Entfernte Reminiszenzen an Dostojewskij finden wir in Alexander Morosows Romanen »Sjostry Kosomasowy« (Die Schwestern Kosomasow) und »Tschushije pisma« (Fremde Briefe).
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Die »Tschushije pisma« sind sozusagen Dostojewskijs »Arme Leute« von heute: Es ist ebenfalls ein Briefroman, der Held ist gleichfalls ein scheuer, geduckter kleiner Mann. Nur daß der tägliche Alptraum des sowjetischen Lebens sich natürlich in keiner Weise mit der Armut von Dostojewskijs Figuren vergleichen läßt. Die entsetzlichen Lebensbedingungen, die Hölle der Gemeinschaftswohnungen, die Armut, Verhältnisse, die den kleinen Mann niederdrücken — all das wird mit der gründlichsten Ausführlichkeit geschildert, das Alltagsleben wird mit mikroskopischer Genauigkeit in seine Details zerlegt. Morosow schafft dabei etwas eigenes, Neues, eine Art Mikronaturalismus oder Supranaturalismus. Der Held, der, wie fast alle Menschen seiner Art in Rußland, nicht trinkt, sondern sich bemüht, ein nüchternes, »ordentliches« Leben zu führen, schafft und schafft es nicht, von den ewigen kleinen materiellen Sorgen Abstand zu gewinnen. Der Kampf mit der Armut und den Alltagsschwierigkeiten verzehrt alle seine Kräfte, er kann überhaupt an nichts anderes mehr denken als an Schlangestehen, an löchrige Schuhe, an das Problem, wie er an einen Mantel kommen soll, an das Anmeldeformular, an die Pension usw., usw. Morosow zeigt dieses Leben hart und nüchtern, ohne Rührseligkeit und Sentimentalität und wohl auch ohne Mitleid.
Das Thema des »kleinen Mannes« in der sowjetischen Gesellschaft wird auch in Morosows Roman »Filossof Sherebillo« (Der Philosoph Sherebillo) gestaltet. Weil er die Realität nicht aushält, imaginiert sich der simple Dorfphilosoph Sherebillo eine andere Welt, in der er dann vollkommen aufgeht.
Der bekannte und begabte Dichter Lew Chalif konnte, wenn auch nur selten, immerhin einiges in der Sowjetunion offiziell veröffentlichen. Besonders populär wurde sein Gedicht »Tscherepacha« (Die Schildkröte):
»Woraus ist dein Panzer, Schildkröte?
Fragte ich, und ich bekam zur Antwort:
Er ist aus der Angst, die ich durchlitt,
Einen festern Panzer gibt's nicht auf der Welt.«1973-1974 verfaßte Chalif zwei Romane, die nicht nur nicht zum Druck zugelassen wurden, sondern für die er im Oktober 1974 sogar aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen wurde. Sie zirkulierten bislang nur in einem kleinen Kreis von Literaten — und werden im KGB gelesen: Chalif wurde von der Miliz auf der Straße festgenommen und durchsucht, die Manuskripte, die er bei sich trug, wurden beschlagnahmt.
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Der erste Roman heißt »Moltschaliwyj pilot« (Der schweigsame Pilot) und beginnt lakonisch mit den Worten:
»Statt eines Prologs: Tower! Tower! Hier spricht Flug Nr. 75250. Die Motoren sind ausgefallen. Die Passagiere schlafen ...«
Und die ganze »Handlung« danach vollzieht sich in den wenigen Minuten des Absturzes — das heute mit Vorliebe verwendete Prinzip der Konzentration der Handlung wird hier auf die Spitze getrieben, alles konzentriert sich praktisch in einem einzigen Punkt. Das übrige (und das heißt hier der ganze eigentliche Roman) sind bloße Exkurse; die Kapitel heißen auch so: Erster Exkurs, Zweiter Exkurs usw. Sie zeichnen die Biographien der Passagiere, ihre Erinnerungen und Träume, die langen fiktiven Dialoge, die sie untereinander führen, und kurze Szenen, die sich in der Wirklichkeit ereignen. Das verunglückende Flugzeug ist ein durchsichtiges Symbol für Rußland:
»Was für ein langes Flugzeug wir haben! Vorn bei den Piloten ist es schon Morgen, aber bei uns herrscht noch Nacht!« »Die unerreichbaren KOORDINATOREN, die uns hochgeschickt haben, wollen mit uns testen, welche Höhe sie bei ihren abenteuerlichen Plänen riskieren können«; »Die Passagiere der ersten Klasse (die Privilegierten) krallen sich mit beiden Händen an den Armlehnen ihrer Sitze fest, weil sie Angst haben, ihren Platz zu verlieren. Sie haben dermaßen Angst, daß sie überhaupt nicht mehr klar denken können.«
Die Passagiere sind so gewählt, daß sie jeweils verschiedene Schichten der sowjetischen Gesellschaft repräsentieren. Leider führte das Verlangen, möglichst alle und alles einzubeziehen, zu einem gewissen leblosen Schematismus. Die Mehrzahl der Personen sind nur flüchtig und blaß skizziert, sind eher Symbole als lebendige Menschen. Sehr interessant ist Chalifs Stil; er transponiert in die Prosa die Sprache der Lyrik: Seine Prosa ist rhythmisiert, manchmal sogar gereimt, die Rede expressiv, aphoristisch, metaphorisch. Ausdruckswirkung und Dynamik versucht er auch über die Syntax zu erzielen, indem er regelwidrig Nebensätze und Gerundivwendungen als selbständige Sätze abteilt, und sogar über die visuelle Wahrnehmung — durch eine eigenwillige Anordnung des Textes auf der Buchseite.
Chalif porträtiert jemanden beispielsweise so:
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»Die Feuchtigkeiten seiner Augen vereinigten sich an der Nasenwurzel. Den erstarrten Tropfen der fallenden Nase bildend. Die Linie des Munds versperrte, ja verbot der Nase das Weiterfallen. Und hier brach sein Gesicht abrupt ab. Statt des Kinns lief der Adamsapfel auf und ab — ein flinker Bote zwischen Kopf und Körper. Zwischen der lila Stille seiner Lippen kam endlich, gespalten wie die Zunge einer Schlange, die Sprache zum Vorschein.«
Chalifs zweiter Roman heißt »Ze-De-eL« (ZDL — die Abkürzung für das Haus des Schriftstellerverbandes in Moskau). Es ist ein Pamphlet in Romanform, mit einer kurzen Geschichte der russischen Literatur in Anekdoten, mit dokumentierten Episoden und grotesken Szenen, mit zornigen Entlarvungen und angestrengten Reflexionen. Porträtiert werden die Stammkunden des ZDL — der Dichter Michail Swetlow; der Kritiker Eisberg, ein allbekannter Spitzel; S. Michalkow, der davon träumt, daß nach ihm einmal ein Ozeandampfer benannt werde; der unglückliche, dem Trünke ergebene Jurij Olescha; Jewgenij Jewtuschenko, der »um die Genehmigung ersucht, kühn zu sein««, und viele, viele andere. Die Atmosphäre im ZDL und im Schriftstellerverband ist mit unerschrockener Schonungslosigkeit geschildert: Neid und Intrigen, Karrieristen und Nichtskönner in der Übermacht, Feigheit und Lüge, Denunziation und Verrat.
Die Sprache des Romans ist wiederum überreich an Bildern, es ist ein expressiver, dynamischer, gleichsam ungestümer, ungebärdiger Stil — etwa wenn M. Swetlow charakterisiert wird:
»Ein gutmütiger Gesell mit der Peitsche in der Hand. Sogar im Aussehen irgendwie an Voltaire erinnernd. Der Halbmond des Gesichts — Nase und Kinn, die aufeinander zu laufen. Und in der Mitte der Schlitz des Mundes — eine Sparbüchse für Apercus.«
Und so sieht Ilja Ehrenburg aus:
»Er sah mich an, auffällig mit den Augen zwinkernd (...) Übermäßig feucht, schimmerten sie tot und trübe, matt überzwinkert von den unbewimperten Lidern. Als werfe er mit diesem Lidschlag das Geschaute in die faltigen Säcke unter den Augen ab. Dann setzten sich die weißlichen Pupillen wieder an seinem Gegenüber fest. Auch den Rest noch aussaugend.«
Mit seiner expressiven metaphorischen Prosa steht Chalif ohne Zweifel in der Tradition von Dichtern wie Marina Zwetajewa und Ossip Mandelstam. Die außergewöhnliche und wundervolle Prosa dieser beiden Lyriker, vor kurzem in den USA veröffentlicht, ist heute in Rußland Gold wert (ein Band kostet 100 bis 150 Rubel auf dem Schwarzmarkt); ihre Bücher werden fotokopiert und mit der Schreibmaschine abgetippt und zirkulieren auf diese Weise im Samisdat.
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Sehr interessante Prosa schreiben auch Jewgenij Schiffers, Rid Gratschew (Erzählung »Adamtschik« und andere), Inga Petkewitsch, Genrich Schef (äußerst eigenwillige Erzählungen: »Figuronschtschik«, »Mitina ogljadka« [Mitjas Vorsicht], »Moja istorija s topolem« [Die Geschichte mit der Pappel]), Oleg Grigorjew (Erzählung »Letnij den: Rasskas detjonyscha [Sommertag: Erzählung eines Tierjungen]), Walerij Cholodenko (Erzählung »Silnyj lowez pered gospodom« [Ein starker Fänger vor dem Herrn]), Igor Jefimow (intellektueller Roman »Srelischtscha« [Die Spektakel]), Boris Iwanow (Roman »Podonok« [Abschaum]), Wadim Fedossejenko, Wadim Netschajew, Boris Sergunenkow (Roman »Skotogony« [Die Viehtreiber]), Aleksej Leonow (Roman »Generalskij sad« [Der Generalsgarten] und Erzählungen über das russische Dorf), Leonard Danilzew, Igor Ig, Viktor Slawkin (extravagante Stücke »Plochaja kwartira« [Die schlechte Wohnung], »Orkestr« [Das Orchester], »Moros« [Frost]), Felix Kamow, Walerij Popow, Lapenkow (avantgardistisch-surrealistische Erzählung »Bolschaja wojenkomatskaja skaska« [Das große Kriegskommissariatsmärchen]), Viktor Kalugin und Kirill Sarnow.
Der Schluß dieses Kapitels soll dem hochbegabten Andrej Bitow gelten, einem Schriftsteller, der weit abseits von den ideologischen Schlachten unserer Zeit ganz in seiner eigenen inneren Welt lebt und sich mit Problemen psychologischer, philosophischer und ästhetischer Natur beschäftigt und der trotzdem in der offiziellen sowjetischen Literatur keinen Platz hat. Sein erstes großes und wahrhaft bedeutendes Werk, der Roman »Puschkinskij dom« (Das Puschkinhaus), wurde von allen Redaktionen abgelehnt. In der Zeitschrift »Swesda« wurde nur ein kleiner Auszug aus dem Roman abgedruckt34, hier gesäubert, dort korrigiert, also »kastriert« (so kehrt zum Beispiel Onkel Mitja, die Hauptperson dieses Romanstücks, im Original nach vielen Jahren Lagerhaft nach Leningrad zurück; in der »Swesda«-Version hat er eine ausgedehnte Dienstreise hinter sich). Danach gelang es dem Autor, noch andere kleine Auszüge aus dem Roman in der Heimat zu drucken, doch ganz ist das Buch nur in den USA veröffentlicht.
Bitows Roman ist ein Werk von außerordentlich komplexer Struktur, das über sich selbst analysierend reflektiert, sich immer wieder korrigiert und so schrittweise an Tiefe gewinnt. Es beginnt mit der Schlußszene:
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Der leblose Körper des Helden, Ljowa Odojewzew, liegt auf dem Boden im menschenleeren Puschkinhaus — ein zerschlagenes Fenster, umgestürzte Möbel, eine altertümliche Duellpistole in Ljowas Hand, eine zweite Pistole, abgefeuert, liegt etwas weiter entfernt. Dann wird erläutert, warum der Roman mit dem Ende anfängt, und es folgt ein überaus interessanter Exkurs über die Theorie des Romans und das Wesen der Literatur, eine Betrachtung über die Bedingtheit der konventionellen literarischen Formen und über die Möglichkeiten, aus dieser Bedingtheit herauszukommen. Der Autor bleibt auch weiterhin auf den Seiten des Romans anwesend, mal tritt er nach vorn, dann hält er sich wieder versteckt; er experimentiert, mischt sich in die Handlung ein, analysiert das schon Geschriebene und wägt verschiedene mögliche Varianten, nach denen sich die Handlung und die Charaktere weiter entwickeln könnten, probiert sie aus, ersetzt sie durch andere Varianten. Das schmerzliche Eingeständnis, daß die Literatur nicht ernst macht, daß ein Roman nicht das Leben, sondern ein Spiel ist, und das quälende Verlangen, aus dieser unernsten Welt der Fiktion auszubrechen und das Schreiben, dem man sein Leben opfert, zu einer wahrhaft notwendigen Aufgabe zu machen, verleihen dem Buch einen melancholischen Reiz und sogar eine gewisse Tragik. Betrachtungen über das Wesen der Literatur sind mitunter dicht in die Textur des Romans selbst hineingewoben. Ljowa erfährt nach Onkel Mitjas Tod zu seinem Erstaunen, daß dieser Erzählungen geschrieben hat, und macht sich, aufs höchste gespannt, daran, sie zu lesen.
»Wenn uns von einem guten Bekannten oder sogar Verwandten unvermutet ein beschriebenes Blatt in die Hände fällt, so haben wir das Gefühl, wir wüßten gleich viel mehr von ihm, als wir bis dahin durch den persönlichen Umgang erfahren haben. Dabei geht es nicht um irgendwelche geheimen oder eifersüchtigen Mitteilungen. Aufschlußreich wird es gerade dann, wenn in solchen Aufzeichnungen gar nichts steht, was der Neugier oder der Eifersucht interessant sein könnte. Dann schiebt sich nichts zwischen uns und den Autor, und wir erfahren noch mehr über ihn. Jene unbezähmbare Wißbegier, mit der wir so ein Blatt in die Hand nehmen, ist nichts anderes als das Verlangen, das >objektive< Geheimnis zu erfahren — das Geheimnis des Lebens >ohne uns<. Was ist es denn aber, was wir aus einem solchen Blatt erfahren, wenn nicht Klatsch? Es ist — Stil. Das >Geheimnis<, von dem wir sprechen, birgt der Stil in sich und nicht der Inhalt (>eifersüchtige Mitteilungen).
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Außerhalb der vom Autor schriftlich niedergelegten Tatsachen und Begebenheiten sind es eher seine Absichten, die sich in gelungener Prosa widergespiegelt finden; sie machen sich unabhängig vom Autor geltend, irrational, ja fast mystisch, wie eine geheimnisvolle Substanz. Wenn der Mensch nur die Feder in die Hand nimmt (...) stößt er schon mit dem Phänomen der Literatur zusammen: ob er will oder nicht — er wird sein Geheimnis preisgeben. Denn der Stil ist ein ebenso untrüglicher und einmaliger Abdruck der Seele, wie der Fingerabdruck der Paß des Verbrechers ist. Und da kommen wir zu einem Gedanken, der uns schon lange gefällt: daß es nämlich Talent überhaupt nicht gibt — es gibt nur den Menschen. So etwas wie >Talent<, bestimmbar wie Gewicht, Größe und Augenfarbe, existiert nicht, sondern es existieren Menschen: gute und schlechte, kluge und dumme, Menschen und Unmenschen. Und die Guten und Klugen sind begabt, die Schlechten und Dummen sind es nicht (...) Schreiben ist eigentlich etwas Schamloses. Den Berufsschriftsteller schützt wenigstens noch, daß er schon lange nackt geht und in seiner Schamlosigkeit schon völlig verharscht und gehärtet ist. Er hat schon so viel über sich gesagt, ausgeplaudert, preisgegeben, daß er jene überraschende Neuheit der Information über den Menschen, die eben Literatur ausmacht, gleichsam schon erheblich reduziert hat. Und wir wissen wieder überhaupt nichts von ihm. Der Mensch hat stets das Ziel, für andere unsichtbar zu sein (Schutz), und dazu gibt es nur zwei Mittel: absolute Verschlossenheit und völlige Offenheit. Das letztere macht den Schriftsteller aus. Über ihn wissen wir alles und nichts.«
Der bemerkenswerteste Teil des Buchs ist der, in dem erzählt wird, wie Ljowas Großvater, früher ein gefeierter, weltberühmter Gelehrter, aus dem Lager zurückkehrt. Voller Erregung bereitet sich Ljowa auf die Begegnung mit seinem Großvater vor, der es nach seiner Rückkehr aus dem KZ abgelehnt hat, mit Ljowas Eltern, Konformisten und Feiglingen, die den Großvater angezeigt und ausgeliefert haben, zusammen zu wohnen. Wie Ljowa sich sorgsam umkleidet, wie er um das Haus des Großvaters herumstreicht, um auf die Minute genau zur verabredeten Zeit zu erscheinen, Ljowas Erstaunen beim Anblick der ärmlichen, kahlen und schmutzigen Wohnung, und wie er dann dem Großvater selbst gegenübersteht, einem alten, erfahrenen Lagerhäftling, an den Jargon des Lagers gewöhnt, nachlässig, unwirsch und grob, der zugleich jedoch ein weiser Mann ist und Ljowa durchschaut, seinen naiven und ungeschickten Versuch erkennt, mit dem Großvater aufgrund irriger, vorgefaßter Vorstellungen eine Beziehung aufzunehmen — all das ist mit glänzender Meisterschaft geschildert.
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Diese Darstellung von Ljowas Begegnung mit dem Großvater ist mit ihrer tiefgehenden und nuancenreichen Feinzeichnung ein bewundernswertes Beispiel virtuoser Psychologie und läßt in allen ihren Merkmalen an die analytische Prosa von Proust oder Musil denken. Ljowas Beziehung zu seiner Geliebten ist eindeutig in Proustscher Manier geschildert. Etwas künstlich und gewollt wirkt leider der Schluß des Romans — das Duell mit altertümlichen Pistolen im Puschkinhaus, wo Ljowa arbeitet und Nachtdienst versieht.
Im Zentrum von Bitows Aufmerksamkeit steht immer das innere Leben des Menschen, seine Psychologie; daher sind seine Haupthelden wesentlich introspektiv:
»Der Gedanke kam ihm, dies alles sei nur ein schlimmer Traum, eine höllische Verwechslung, eine Vertauschung aller Wünsche, Gefühle, Gedanken, und wo uns — er dachte von sich selbst in der Mehrzahl — zum Bewußtsein kommt, daß wir etwas wollen, da wollen wir es auch schon nicht mehr; wir wollen es nur, solange wir noch nicht begriffen haben, was mit uns passiert. Daß der Wunsch gar kein Wunsch ist in dem Sinne, daß man von ihm erzählen, ihn wiedergeben könnte, sondern etwas ganz anderes. Daß der Wunsch auf halbem Wege verloren geht, praktisch schon beim ersten Schritt.«
Selbst bei gesellschaftlichen Phänomenen ist er geneigt, sie in erster Linie psychologisch zu verstehen:
»Das heutige Bildungssystem ist eine ernstere Sache, als ich dachte. Ich dachte einfach, es sei verlumpt und ignorant. Aber das stimmt ja nicht! Versuch es mal und bring einem Menschen bei, nicht direkt, daß er begreift, sondern daß er sich einbildet, daß er begreift und sich in seiner Umgebung zurechtfindet — das ist ein staunenswertes pädagogisches Phänomen!«
Dieser Primat des Inneren über das Äußere läßt Bitow die These aufstellen, daß nur das Innere real sei, daß, was in Wirklichkeit existiert, nicht die »Realität« sei, sondern die Vorstellung von der Realität, ihr Bild (eine Erzählung von Bitow trägt auch den Titel »Obras«: Das Bild). Und daher weiten sich Bitows Reflexionen über das Wesen der Literatur folgerichtig aus zu Reflexionen über die Möglichkeiten der Erkenntnis überhaupt. Alles erscheint schwankend, unerkannt, unenträtselt, verlockend, geheimnisvoll und unbeständig. Unbeständig sind wir selbst, unbeständig ist alles um uns herum, selbst die Vergangenheit:
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»Wie wechselhaft ist doch die Vergangenheit! Ich selbst kann mich ändern; meine Sichtweise hat sich geändert, sagt man wohl auch. Doch das sind alles bloß Nuancen, das ist nicht das Wesentliche — die Vergangenheit, unverrückbar in ihren Fakten, ist für immer erstarrt, in Posen der Unkorrigierbarkeit sind die Menschen, die mir in meinem Leben begegneten, festgebannt. Doch nein! Nicht nur die Sichtweise, die Vergangenheit selbst hat sich verändert. Ganz andere Menschen bewohnten sie (...) Mein Gott! An wie vielen Freunden, wie vielen Geliebten bin ich achtlos vorübergegangen, und jetzt schaue ich genauer hin und trete näher (...) Da ist ein Mensch, der, was mein Leben betraf, scheint's überhaupt nicht existierte. Jetzt auf einmal bedeutet er viel mehr als die, mit denen ich Jahre und Jahrzehnte zusammengelebt habe (...) Dieser Mensch bringt mich in die Zeit zurück, in der ich stehengeblieben bin, und ich erkenne dort eine Gestalt, der ich damals keine Bedeutung beimaß oder noch nicht beimessen konnte. Doch jetzt ist er klarer umrissen als damals, obgleich er schon längst nicht mehr lebt.«
Stark beeinflußt wurde Bitow von Vladimir Nabokov. Die elegante Perfektion der Sätze, das ästhetische Vergnügen an den Wörtern, das verbale Fingerspitzengefühl, die markanten Definitionen, die farbenkräftigen Adjektive, die plastische Schärfe der Beschreibungen — all das finden wir auch bei Bitow.
»Sein Blick glitt zerstreut und fahrig hin und her und war ständig darauf aus, Ljonja zuvorzukommen und nicht seine Augen treffen zu müssen, und Ljonja schien es, als zöge dieser Blick eine gewundene Spur durchs Zimmer, wie ein Eichhörnchen, ein Gummiband.« »Ein Klappbett war ganz in die Ecke gerückt, kompliziert wie ein Tausendfüßler (...) Daß es sich überhaupt aufklappen ließ, war ein kleines Wunder für sich: Aus einer Handvoll Stäbe faltete sich plötzlich ziehharmonikaartig, durchbrochen wie eine Bogenbrücke, schwankend und flackernd wie ein Scheiterhaufen, das Gestell auseinander, und darüber war an Stäbchen und Häkchen eine Kiplingsche Plane gespannt, deren liebevolle Flicken jede Witwe zu Tränen gerührt hätte.«
Doch die Bekanntschaft mit Nabokov konnte Bitow nur illegal, durch den Samisdat, machen — und damit stoßen wir ein weiteres Mal, wie schon so oft zuvor, auf ein Phänomen, das eine gesonderte Behandlung verdient und dem daher unser nächstes Kapitel gewidmet sein soll.
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