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6.  Auferstanden von den Schatten  (Malzew-1981)

 Platonow  und  Fjodorow  

   Anmerk 

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Es wurde bereits mehrfach darauf hingewiesen, daß der Samisdat nicht nur die nichtoffizielle russische Literatur von heute umfaßt. Im Samisdat kursieren auch die Bücher einiger ausländischer Autoren, die in der Sowjetunion nicht veröffentlicht wurden, so zum Beispiel Arthur Koestlers Roman <Sonnen­finsternis> oder <Die Farm der Tiere> und <1984> von George Orwell. Von <1984> gibt es sogar zwei Übersetzungen: die eine wurde in selbstloser, verborgener Arbeit - unbekannt von wem - in Moskau angefertigt, die andere stammt aus dem Ausland.

Das konnte Orwell bestimmt nicht ahnen — daß noch vor Anbruch des Jahres 1984 seine Bücher von Hand abgeschrieben und heimlich gelesen würden — von Menschen, die dafür Gefängnishaft riskieren! 

Es zirkulieren im Samisdat ebenfalls einige Bücher von Sartre, Camus, Kafka, Musil, Joyce und auch Bücher von russischen Exilschriftstellern: Vladimir Nabokov, Aleksej Remisow, Jewgenij Samjatin, Michail Ossorgin, Mark Aldanow, Fjodor Stepun, Boris Sajzew, Iwan Schmeljow; Prosa und Lyrik von Marina Zwetajewa und sogar einige in der Sowjetunion nicht veröffentlichte Werke von Iwan Bunin (Okajannyje dni [Verfluchte Tage], einige Erzählungen und die von der sowjetischen Zensur gestrichenen Abschnitte seines Romans Shisn Arsenewa [dt. Das Leben Arsenjews]). 

Auf das größte Interesse jedoch stoßen die Werke der großen russischen Schriftsteller aus den ersten Jahren nach der Revolution, die noch lebendige Verbindung mit der russischen Literatur der voraufgegangenen Epoche hatten und sie fortsetzten und weiterentwickelten: Andrej Platonow, Boris Pilnjak, Isaak Babel, Michail Soschtschenko, Ossip Mandelstam, Michail Bulgakow. 

Das Schicksal dieser Schriftsteller und ihrer Bücher ist tragisch und wundersam zugleich. Nachdem die russische Literatur Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre endgültig erstickt worden war, zahlten die einen mit dem Leben, die anderen, in den Untergrund getrieben, schrieben »für die Schublade«, ohne jede Hoffnung, ihre Bücher irgendwann einmal veröffentlicht zu sehen (oder sie verstummten ganz, wie Jurij Olescha).

Jahrzehnte gingen ins Land, die Namen dieser Dichter verschwanden sogar aus literaturwissenschaftlichen Abhandlungen, es war verboten, sie zu erwähnen, ihre Bücher waren verbrannt; eine ganze Generation wuchs heran, die niemals auch nur von ihnen gehört hatte — und auf einmal geschah das Unglaubliche: Die Gestorbenen und lebendig Begrabenen begannen wieder zum Leben zu erwachen, die verbrannten Bücher erstanden wieder aus der Asche; Manuskripte, die durch wunderbare Fügung erhalten geblieben waren (bewahrt von einigen selbstlosen Menschen, die sie unter Lebensgefahr versteckt gehalten hatten), begannen, vervielfältigt, ins Land hinaus zu strömen. 

Es geschah wirklich und wahrhaftig ein Auferstehungswunder.

Das Interesse der Leser an diesen neu entdeckten Schätzen der russischen Literatur war so groß, daß die offiziellen sowjetischen Verlage gezwungen waren, ihrerseits das eine oder andere davon zu drucken. Zum Teil, um damit den Anschein einer Liberalisierung des gesellschaftlichen Lebens in der Sowjetunion zu erwecken — und daß es sich in der Tat nur um die Illusion einer Liberalisierung handelt, zeigt die Tatsache, daß die in den letzten Jahren gedruckten Bücher von Bulgakow, Mandelstam oder Achmatowa für Sowjetbürger gar nicht zu kaufen sind — außer für einige ganz besonders zuverlässige Mitglieder des Schriftstellerverbands, aber dafür von jedem beliebigen Ausländer in einer Spezialbuchhandlung in Moskau erworben oder über die sowjetische Exportorganisation »Meshdunarodnaja kniga« aus dem Ausland bestellt werden können. 

Zum anderen Teil aber, um dadurch, daß man einige dieser Bücher allgemein zugänglich macht, die Aufmerksamkeit von anderen, gefährlicheren Büchern, die im Samisdat umlaufen, abzulenken.

So wurde mehrere Jahrzehnte nach seiner Entstehung endlich Michail Bulgakows Roman <Der Meister und Margarita> publiziert — in zensierter Form (bald zirkulierten allerdings diese Zensurstreichungen, separat zusammengestellt, im Samisdat); ungedruckt jedoch blieben seine Erzählung »Sobatschje serdze« (dt. Hundeherz) und die Stücke »Sojkina kwartira« (dt. Sojkas Wohnung), »Bagrowyj ostrow (Die Purpurinsel) »Adam i Ewa« (Adam und Eva) und »Batum«. 

Sie fanden Verbreitung im Samisdat, ebenso die Erzählungen »Djawoliada« (dt. Teufelsspuk) und »Rokowyje jajza« (dt. Das Verhängnis), die zwar in den zwanziger Jahren erschienen sind, aber heute bereits bibliophile Kostbarkeiten darstellen. Das gilt übrigens für die meisten Bücher jener Zeit, die dem heutigen sowjetischen Leser völlig unzugänglich wären, wenn es den Samisdat nicht gäbe.

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Dort findet man Anna Achmatowas verbotenes »Requiem« und ihr »Poema bes geroja« (Poem ohne Held)1, unveröffentlichte Erzählungen von Isaak Babel, Boris Pilnjak und Daniil Charms, Jewgenij Samjatins Roman »My« (dt. Wir), Michail Soschtschenkos Erzählung »Pered woschodom solnza« (Vor Sonnenaufgang), zahlreiche unveröffentlichte Gedichte von Ossip Mandelstam, Anna Achmatowa, Nikolaj Gumiljow, Boris Pasternak und Marina Zwetajewa, Andrej Platonows Erzählungen »Kotlowan« (dt. Die Baugrube) und »Juwenilnoje more« (Juvenilmeer), seine Stücke »Scharmanka« (Die Drehorgel) und »Tschetyrnadzat krasnych isbuschek« (Vierzehn rote Hütten), eine Reihe von Erzählungen und sein Roman »Tschewengur« (dt. Unterwegs nach Tschewengur), Prosa von Zwetajewa, Pasternak und Mandelstam und sogar ein Buch des »ersten proletarischen Schriftstellers«, des »Sturmvogels der Revolution«, Maxim Gorkij: die »Unzeitgemäßen Gedanken über Kultur und Revolution« (»Neswojewremennyje mysli«).

Diese Schriftsteller haben heute enormen Einfluß in Rußland; durch die intensive Lektüre ihrer Bücher versucht die Jugend die zerrissene Verbindung mit der russischen Kultur der Vergangenheit wiederherzustellen, der verlorenen Werte teilhaftig zu werden, sich wieder auf die einstmals errungene Höhe des Geistes zu erheben.  

  

 Platonow 

 

Die größte Popularität und den größten Einfluß von allen besitzt dabei wohl Andrej Platonow,2 ein Schriftsteller, dem erst heute endlich die Wert­schätzung und Anerkennung zuteil wird, die er verdient, obgleich ein bedeutender Teil seines Werks in der Sowjetunion nach wie vor nicht veröffentlicht ist, den man nur über den Samisdat kennenlernen kann. (Das Manuskript seiner Erzählung <Puteschestwije w tschelowetschestwo>, <Reise in die Menschheit> ist sogar für immer verloren).

Jeder, der zum erstenmal ein Buch von Andrej Platonow zur Hand nimmt, wird schon nach wenigen Zeilen von ratloser Verstörung ergriffen: Wer spricht hier — ein Kauz oder ein Genie? Und je weiter man sich in die Lektüre vertieft, desto mehr wächst das Erstaunen, man tritt gleichsam in eine unbekannte und mit nichts vergleichbare Welt ein; das Geheimnisvolle an diesem Schriftsteller wird immer quälender und beunruhigender. In der gesamten russischen Literatur ist es wohl nur noch Gogol, der uns als ein ebensolches, von keinem ganz gelöstes Rätsel gegenübersteht. 

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Die überragende Bedeutung Andrej Platonows (1899-1951) ist unbezweifelbar, er ist einer der größten Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts, doch sein Werk ist voller Widersprüche, und der von ihm gestaltete Mikrokosmos, die eigenartige, bizarre, abseitige Welt seiner Bücher ist von einem tiefen Geheimnis und einer rätselhaften Bedeutsamkeit erfüllt. Doch wenn Platonow für uns Russen groß und geheimnisvoll ist, ist er für Ausländer offenbar schlicht unverständlich. 

In fast allen westlichen Studien über die moderne russische Literatur werden Platonow als einem unter vielen Autoren in summarischen Darstellungen ein paar Zeilen gewidmet, während gleichzeitig unbedeutende oder sogar schlicht indiskutable Schriftsteller viele Seiten Würdigung erhalten. Lo Gatto zum Beispiel erwähnt in seiner »Geschichte der sowjetrussischen Literatur« Platonow nur beiläufig als den Autor der Chronik »Wprok« (Zum Vorteil) und einiger Erzählungen über den Krieg — des schwächsten und unbedeutendsten, was Platonow geschrieben hat.3

 

Der seltsame Eindruck entsteht zunächst durch Platonows Sprache. Es ist die ungeschliffene und regellose Sprache des Naturtalents und Autodidakten, doch bei aufmerksamer Lektüre bemerkt man, daß diese Regellosigkeit beabsichtigt und wohldurchdacht ist, daß der originelle Stil so spontan gar nicht ist, wie es zunächst scheint, sondern sorgsam herangebildet und fein bearbeitet. 

Dennoch bleibt zugleich auch die spontane Natürlichkeit und Ungezwungenheit seines Schaffens unbezweifelbar, so daß die bekannte Aufteilung der Kunst in »naiv« und verstandesmäßig, wie sie seinerzeit von den Romantikern vorgenommen wurde und in veränderter Gestalt auch in der Literaturkritik unserer Zeit eine Rolle spielt, hier widerlegt zu werden und eine Synthese dieser vermeintlich unvereinbaren Prinzipien möglich scheint. 

Hinter der farbenprächtigen folkloristischen Außenansicht läßt sich das tief verborgene wahre Ich des Autors erahnen — eines feinfühligen Psychologen und außergewöhnlichen Denkers mit einem ganzheitlichen philosophischen System, einer ausgereiften Weltanschauung und einer exakten Wertskala. 

Aus dem Grundelement des Volkstümlichen wächst bei Platonow nicht einfach ein farbenfrohes Bild der Volkssitten, sozusagen für Liebhaber exotischer Folklore, sondern es bricht plötzlich eine fremdartige, ja chimärische, zeitweise surrealistische fiebrig-phantastische Struktur von Bildern hervor — sinnlos, doch in ihrer Fremdartigkeit in sich schlüssig —, die nicht so sehr verblüffen und verwirren als vielmehr die ungewöhnliche weltan­schauliche Konzeption des Autors offenlegen soll. 

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Diese Konzeption ist allerdings nicht so einfach zu verstehen. Neben herzensfrischem Humor, einer Güte und Sanftheit, die aus der Liebe zum Leben kommt, neben ergreifender zärtlicher Zuneigung zu jedem Menschen, pantheistischer scheuer Verehrung vor jedem lebendigen Geschöpf, jedem Grashalm, jeder Pflanze, ja jedem Stein — neben all dem gibt es bei Platonow auch eine seltsame Grausamkeit, eine mitleidlose, gleichsam weltferne Ruhe und Gleichmut gegenüber Verderben und Tod. Seine Helden sind des Lebens müde, sie empfinden es oft als Last und sehnen sich fast nach dem Tod. 

Voller Widersprüche ist auch Platonows eigenes Schicksal: Er, ein Sohn der Revolution, von ganz unten, aus dem einfachsten Volk stammend, der in den Reihen der Roten Armee gekämpft, der Revolution ergeben gedient und sie besungen hatte, wurde von dieser Revolution zurückgestoßen, mußte Verfolgungen erleiden und, zum Schweigen verdammt, ausgestoßen von der Gesellschaft, ein Hungerdasein fristen. Seine Bücher verherrlichen den Kommunismus und enthalten zugleich eine bitterböse Satire auf den Kommunismus.

Die ungeschliffene Rede der Bauern, falsch und skurril, ist anfangs einfach nur belustigend. Platonow sagt an einer Stelle von seinen Figuren: »Die Menschen äußerten sich in einer rohen, selbstgemachten Sprache, die mit einem Schlag ihre inneren Gedanken bloßlegte.«

Doch diese regellose, »selbstgemachte« Sprache Platonows findet in ihrer Ausdruckskraft in der gesamten modernen Literatur nicht ihresgleichen. Die grammatischen Regeln brechend, strebt er auf dem kürzesten Weg direkt zum Ziel, mit einem einzigen knappen Strich macht er anschaulich und frisch sichtbar, wofür ein anderer lange Perioden benötigt.

Betrachtet man die Regelwidrigkeiten in Platonows Sprache genauer, so erkennt man, daß sie ihre Regelmäßigkeit besitzen. Die normalen, hergebrachten logisch-grammatischen Verknüpfungen werden zerstört, der Kürze halber zwei Begriffe zu einem verbunden, die Beziehungen der Abhängigkeit und Folge vermischt und verwirrt — und besonders häufig werden Subjekt und Objekt vertauscht (was, wie wir noch sehen werden, einen bedeutsamen philosoph­ischen Hintergrund hat):

»Man hörte das erfreute Kratzen der Nägel auf der hartnäckigen Haut.« — »Sie vernahm den schnarchenden Schlaf des Wächters.« — »Unsere Sache ist unermüdlich.« — »Ihn erfüllte jenes angstvolle Entzücken, das Kinder nachts im Wald empfinden: Ihre Angst wird halbiert durch die Erfüllung ihrer Neugier.« 

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»Die klugen Teile (der Maschine).« — »Reinliche Hände.« — »Er lachte mit einer klugen Stimme.« — »Er ging auf gehorsamen Füßen zur Vollstreckung.« — »Der Alte sprach mit unüberlegter, abwesender Stimme.« — »Das kleine Kind läuft auf ungewohnten gefahrvollen Beinen.« — »Traurig senkte er den bezwungenen Kopf.« — »Jemand klopfte laut mit bedingungsloser Hand an seine Tür.«

Das Element der Volkssprache, des Dialekts, ist der Nährboden für Platonow. Er, der Sohn eines Schlossers, der früher selbst Schlosser und Lokführer war, der keine höhere Bildung genossen hat, kennt die Volkssprache, weil sie seine erste und eigentliche Sprache war, während er sich die Hochsprache erst viel später erwarb — im Unterschied zu den meisten berufsmäßigen Schriftstellern, für die das Element der Volkssprache ein Studienobjekt ist. 

Doch wann ist in Platonows Stil das Sperrige und Unbeholfene nur rudimentäres Überbleibsel seiner Muttersprache und wann ist diese Roheit und Regellosigkeit vorsätzlich? Das ist sehr schwer auszumachen. Es ist klar, daß sich Sprache nicht einfach vorsätzlich erfinden läßt; allen Versuchen der sprachlichen Neuerer haftet etwas Künstliches, Ausgedachtes, Gezwungenes an, und wenn es Platonow gelungen ist, eine eigenständige, unverwechselbare, farbkräftige Sprache zu schaffen, so sicherlich deswegen, weil er, sich in dem angestammten Element der Volkssprache bewegend und nach anschaulichen Ausdrucksmitteln suchend, intuitiv die Redefiguren des einfachen Volkes imitiert, ohne sich womöglich selbst der Wirkungsweise dieses Vorgangs ganz bewußt zu sein.

Das Ungewöhnliche und Sonderbare ist nicht unbedingt immer gleichbedeutend mit Ausdruckskraft. Doch das Ausdrucksstarke ist stets ungewöhnlich. So ist bei Platonow in allem, was er schreibt, ständig das Prinzip der »Verfremdung« wirksam. Doch das Fremdartige und Ungewöhnliche dient nicht einfach nur der größeren Ausdruckskraft; diese Fremdartigkeit durchdringt die gesamte Struktur von Platonows Werken, und ihre Wurzeln liegen sehr tief. Sie ist nicht die exotische Spielerei der überschießenden Phantasie des Künstlers, sondern ein unabdingbarer Wesenszug des Platonowschen Mikrokosmos, seiner Weltanschauung, seiner Philosophie. Platonows ganzes Schaffen ist durch und durch philosophisch. Seine Helden philosophieren, suchen nach dem Sinn des Lebens. Die Suche nach Sinn ist es, die Woschtschew und Pruschewskij in der »Baugrube«, Dwanow und Serbinow in »Unterwegs nach Tschewengur« umtreibt, sie ist der Grundpfeiler dieser beiden bedeutendsten Werke Platonows. 

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Wir sehen überhaupt die Helden bei Platonow niemals im Kreise ihrer Familie, in der Geborgenheit eines Zuhause, sondern immer nur auf der Suche, in Bewegung, auf der Reise, in der freien Natur oder in irgendeiner elenden Hütte, die keine Wohnstätte, sondern nur provisorischer Unterschlupf sein kann. 

Unberaten, unbehaust, unbefriedigt werden sie ständig weiter getrieben, versinken oft in Schwermut, »das Leben als unnütz erlebend«, und für fast jeden von ihnen gilt, was in der Erzählung »Sapiski potomka« (Aufzeichnungen eines Nachfahren) von einem Bauern gesagt wird: »Er war schon ein bejahrter Mann, doch beständig mußte man ihn vom unverzüglichen Aufbruch zu einer Weltreise zurückhalten.«

Mit bewundernswerter Genauigkeit und eindringlicher psychologischer Schärfe vermag Platonow seelische Zustände und Bewegungen des Menschen zu beschreiben. Bei genauerer Betrachtung sehen wir jedoch, daß diese psychologische Gestaltungsweise entindividualisierend und entpersönlichend, gleichsam philosophisch verallgemeinernd ist; Platonow zeigt uns nicht die Psychologie eines konkreten einzelnen Menschen, sondern die menschliche Psychologie als solche, eher eine psychische Grundsituation als eine individuelle psychische Erfahrung, eher so etwas wie den Typus des Menschen als einen konkreten Charakter. 

Diese verbreiterte Ebene, diese Verallgemeinerung entspricht der langsamen, bedächtig-epischen Erzählweise Platonows, und dieser epische Grundzug resultiert wiederum aus seiner ganz eigenen Philosophie, seiner Auffassung von der menschlichen Gesellschaft, vom Individuum und seinem Ort in der Welt, in der Natur und in der Gesellschaft, seinem Zusammenhang mit dem Kosmos. Die psychologischen Skizzen sind exakt, doch sie treffen fast auf jeden Menschen in einer bestimmten Situation zu: »Serbinow saß da und gab sich jenem kurzen Glück des Lebens hin, das man nicht ausnutzen kann — es nimmt beständig ab.« »Jenem Glück« — das unterstreicht, daß dies eine verbreitete, allgemeine Empfindung ist, die nicht allein Serbinow zugehört. Hier wird eine Aussage über die menschliche Seele als solche, über die unterschiedlichen Seelenbewegungen gemacht. »Der alte Mann neben ihm [man erfährt gar nicht, wer er ist, es ist einfach ein Alter in einem Nachtquartier — J. M.] schlief zwar, aber sein altes Gehirn arbeitete auch im Schlaf weiter.« Ebenso heißt es über das Alter allgemein: »Im Haus roch es nach der Sauberkeit eines ausgedörrten Alters, das nicht mehr schwitzt und die Dinge nicht mehr durch die Spuren des erregten Körpers befleckt.«

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Das gleiche gilt für die ausführlicheren Porträts bei Platonow. Sie sind stets verallgemeinernd, nicht individualisierend, und dennoch ausdrucksstark und anschaulich. Auch sie stehen in der Regel in einem philosophischen Rahmen, sind Anlaß für reflektierende Betrachtung.

Voller Anthropomorphismen ist die Schilderung der unbelebten Natur — der Pflanzen, der Erde, des Wassers, ja selbst der Steine. Das ganze Weltall ist dem Menschen nah, bildet ein Ganzes, und in diesem Ganzen ist das Oberste und Wichtigste der Mensch. »Die Blumen glichen den traurigen Augen von Kindern vor dem Sterben: Sie wußten, schweißige Bauersfrauen würden sie abreißen.« »Wäre nicht das Unkraut und das brüderlich genügsame Gras, so ähnlich den unglücklichen Menschen, dann wäre die Steppe unzumutbar.« »Die Sonne beleuchtete mit individueller Aufmerksamkeit den mageren Rücken des Japaners.« »Kopjonkin griff ins Wasser und dachte: Auch das Wasser strömt immer weiter, dahin, wo es ihm gutgeht.« - »Wir sind aus demselben Stoff, ich und der Stern, dachte Jakow Titytsch.«

Das Weltgefühl Platonows ist schwerlich auf Anhieb zu erschließen, und um so schwieriger, wenn man nicht mit der Philosophie N. F. Fjodorows* (1828-1903) vertraut ist, einer Philosophie, die ebenso außergewöhnlich und absonderlich ist wie Platonows Werke und von der alle seine Bücher geprägt sind. 

  

   Fjodorow    

 

Fjodorow hat schon vor hundert Jahren über Probleme nachgedacht, die erst heute weltweite Aktualität erlangt haben, wie die Ökologie, das Bevölkerungs­wachstum, die Eroberung des Weltraums usw.  

In seiner <Philosophie der gemeinsamen Tat> versuchte er eine Antwort auf die Frage zu geben, wie man das Leben besser machen und umgestalten könnte, wie die Feindseligkeit unter den Menschen, wie überhaupt alle Leiden der menschlichen Existenz abgeschafft werden könnten. 

Er war der Überzeugung, daß sich dazu nicht in erster Linie die Beziehungen der Menschen untereinander ändern müßten, sondern das Verhältnis der Menschen zur Natur und der Natur zum Menschen, wobei er unter Natur nicht nur die Umwelt, sondern auch die Instinkte und das Unbewußte im Menschen selbst verstand. 

Fjodorow wandte sich gegen ein passives Verhältnis zur Natur, gegen den blinden Fatalismus des modernen Menschen. »Die gemeinsame Tat« der ganzen Menschheit — so nannte er die von ihm geforderte aktive Tätigkeit aller mit dem Ziel, allen Menschen ein gesundes und glückliches Leben zu sichern, den Hunger, die Krankheiten, die Unzulänglichkeiten des menschlichen Organismus, das Altwerden, zuletzt sogar den Tod abzuschaffen. Erst wenn dieses Ziel erreicht sei, wären die Ursachen für Bosheit und Feindschaft unter den Menschen beseitigt, erst dann könne sich ein natürliches Fundament der Moral und der Brüderlichkeit unter den Menschen festigen.

* (d-2014)  wikipedia  Nikolai Fjodorow  1829-1903    N.Fjodorow bei detopia 

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Fjodorow bestritt jede Möglichkeit, das menschliche Leben durch eine wie auch immer geartete Umgestaltung der Gesellschaft glücklich zu machen, weil die Wurzeln des Übels für ihn viel tiefer liegen — nämlich in der Natur selbst, in dem unerkannten und unbewußten Wesen der Natur.

Die Menschheit — eine im ganzen Kosmos einzigartige Erscheinung — soll dem höchsten Schöpfer selbst gleich werden und die ganze Welt neu machen, jeder einzelne Mensch soll nicht für sich selbst und soll auch nicht für andere leben (Altruismus), sondern für alle (Brüderlichkeit); nur die freiwillige Vereinigung aller Menschen zur gemeinsamen Tat vermag diese titanische Aufgabe zu bewältigen. Die Menschheit muß den Tod überwinden, und sie muß darüber hinaus ihre Pflicht gegenüber den Toten erfüllen und sie wieder zum Leben erwecken — doch diese Wiedererweckung soll sich nicht als ein Wunder vollziehen, sondern als das natürliche Resultat der menschlichen Erkenntnis, der Überwindung der blinden, todbringenden Gewalt der Natur. 

Der Mensch muß lernen, alle Moleküle und Atome zu lenken, um das Zerstreute zu sammeln, das Zerlegte zusammenzufügen, also auch im Körper der Vorfahren. Die Moral muß auf die gesamte Natur ausgedehnt werden. Die Toten wiederzuerwecken — das bedeutet, die Geschichte aufzuheben, die Evolution, den Fortschritt, den Prozeß des Werdens und Vergehens, denn alle Geschichte bis auf den heutigen Tag ist gegenseitige Vernichtung. Die Erde, die so viele Generationen verschlungen hat, wird, gelenkt von dem Wissen und der erkennenden Liebe ihrer Kinder, nach und nach alle wieder hergeben, die sie zu sich genommen hat. Und dann wird der Mensch, nachdem er die Materie und die in ihr verborgenen Kräfte erkannt, seinen Körper umgeformt, die Toten auferweckt hat, beginnen, die Planeten und Sterne zu bevölkern, die dann nicht mehr, wie heute noch, seelenlos, kalt und feindlich aus unergründlicher Ferne auf uns herabblicken werden.

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Wenn für Dostojewskij das erste und Wichtigste das menschliche Leiden ist, die Unmöglichkeit, sich mit einer Welt zu versöhnen, in der Unschuldige leiden müssen, so ist es für Platonow wie für Fjodorow unmöglich, sich mit einer Welt abzufinden, in der man sterben muß; sie weigern sich, den Tod und die blinde Sinnlosigkeit des Daseins hinzunehmen. 

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Die tiefe Schwermut und Trauer des Menschen in dieser zerrütteten Welt (»Ich wäre besser als Mücke geboren: ihr Leben ist schnell verflossen, dachte Woschtschew«) wird von Platonow mit wunderbarer Kraft wiedergegeben; man spürt sie in der Atmosphäre seiner Bücher, in dem schleppenden, gedanken­verlorenen Rhythmus seiner Prosa, in der Handlungsarmut. Eine zielstrebig entwickelte Handlung schafft nur die Illusion, das menschliche Dasein habe einen Zweck, verleiht ihr einen künstlichen Sinn, während die ereignislose, nur schwach strukturierte, rein kontemplative Betrachtung der Erscheinungs­form des menschlichen Lebens dessen wahres Wesen — nämlich seine tödliche Sinnlosigkeit — deutlich zu machen vermag.

»Die traurige Ödnis des ganzen Lebens«, »das niederschlagende Gefühl der Vergeblichkeit« läßt viele Gestalten bei Platonow zu Pessimisten werden; beim Anblick dieser zerrütteten, »wie für ein kurzes spöttisches Spiel gemachten« Welt, »die in ihrem Dunkel die Wahrheit allen Daseins verborgen hat«, verzweifeln sie und sehnen sich nach dem Tod, oder sie »lassen das Leben bloß aus Mitleid mit ihm über sich ergehen, weil es so unglücklich ist«, wie Platonow einmal treffend sagt.

Platonow ist weit davon entfernt, fertige Rezepte zur Lösung der existentiellen Probleme zu liefern, und anders als bei Fjodorow, dessen Philosophie von Optimismus und missionarischer Tatkraft durchweht ist, lassen viele Bücher Platonows nur düstere Hoffnungslosigkeit spüren. 

Woschtschew (»Die Baugrube«), für den am Schluß der Erzählung das Dasein beinahe schon seinen endlichen Sinn gefunden hat, wird aufs neue in die Verzweiflung gestürzt durch den Tod des Mädchens Nastja: »Wozu brauchte er jetzt noch den Sinn des Lebens und die Wahrheit der Weltentstehung, wenn es diesen kleinen, aufrichtigen Menschen nicht mehr gab, in dem sich diese Wahrheit in Freude und Bewegung hätte verwandeln können.« Und die Leute von Tschewengur, die in ihrer Stadt den Kommunismus aufbauen, beginnen zu zweifeln, als ein kleiner Junge stirbt: Ist das wirklich Kommunismus, was sie da haben? 

Bei Dostojewskij sind es die Tränen eines unschuldigen kleinen Kindes, die die Harmonie dieser Welt in Frage stellen, bei Platonow zeugt der Tod eines Kindes davon, daß eine Welt keinen Sinn hat und nicht hingenommen werden kann, in der der Tod und die blinden Gewalten der Natur und der menschlichen Leidenschaften regieren.

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Hier aber liegt die philosophische Begründung für die Regellosigkeit von Platonows Sprache: Mit der Brechung der grammatischen Normen wird zugleich auch die Illusion von der Sinnhaftigkeit der Welt zerstört, und das Verschmelzen verschiedenartiger Elemente, die Umschichtungen und das Vertauschen von Subjekt und Objekt machen fühlbar, wie alles in der Welt miteinander zusammenhängt, lassen uns die tief verborgene brüderliche Gemeinschaft von Mensch und Natur spüren, die in der Zukunft doch einmal sichtbar werden muß. So erklärt sich auch die Vermenschlichung von Tieren, Vögeln, Pflanzen, Erde, Wasser, Wind und Sternen. »Woschtschew nahm das welke Blatt auf (...) <Auch du hast den Sinn des Lebens nicht gekannt> dachte er teilnahmsvoll, <lieg hier, ich werde erforschen, wofür du gelebt hast und gestorben bist. Da dich niemand braucht und du sinnlos über die ganze Erde treibst, will wenigstens ich dich hüten und an dich denken.>« 

Viele solcher toten, verlorenen und nutzlosen Dinge liegen bereits in Woschtschews Sack, »in dem er alle möglichen Gegenstände und Zeugnisse von Unglück und Ruhmlosigkeit aufbewahrte«; »er sammelte jede winzige, sinnlose Kleinigkeit in der Natur, als Dokument für eine planlose Weltenschöpfung, als Beweis für die Melancholie der Lebewesen«. In diesem Zusammenhang versteht man auch die merkwürdigen Worte eines Bauern: »Ich werde unter dem gewaltigen Ahornbaum in meinem Hof liegen. Ich habe mir dort schon bei den Wurzeln eine Grube bereitet — sterbe ich, wird mein Blut als Saft den Baumstamm hinaufsteigen, hoch hinaufsteigen!« Und die auf den ersten Blick phantastische und verrückte Ankündigung des Tschewengurer Kommunisten erweist sich auf einmal voll verborgener Bedeutung: »Das Vieh werden wir demnächst auch in die Natur entlassen; das Tier ist ja beinahe ein Mensch: In jahrhundertelanger Knechtschaft ist es bloß hinter dem Menschen zurückgeblieben. Aber es möchte auch Mensch sein!« Und später sogar: »Auch die Klette will den Kommunismus.«

So erklärt sich auch das merkwürdige Verhältnis zum Sterben und zu den Toten. Wenn man an die Philosophie Fjodorows denkt, erscheint es einem gar nicht mehr barbarisch und abartig, wenn der alte Sachar Pawlowitsch (»Unterwegs nach Tschewengur«) sich vornimmt, seinen Sohn nach dessen Tod alle zehn Jahre wieder auszugraben, »um ihn zu sehen und seine Nähe zu fühlen«

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Der Ahnenkult, die Liebe zu den Toten, das Gefühl einer Schuld und Verpflichtung ihnen gegenüber zeichnen die Figuren Platonows ebenso aus wie das völlige Fehlen von Todesangst: Sie empfangen den Tod ruhig, mit mattem Gleichmut, ja oftmals bereitwillig. Beides entspringt derselben Voraussetzung: Wenn der Tod unausweichlich ist, dann ist das Leben nutzlos und ohne Sinn, dann hat es nicht die geringste Bedeutung, ob man ein wenig früher oder ein wenig später stirbt; wenn man jedoch den Tod zu besiegen vermag, so muß diese Errungenschaft den Toten ebenso wie den Lebenden zugute kommen — wobei die Gestorbenen als Unglückliche und Benachteiligte, ja sogar als Leidende aufgefaßt werden. Allenfalls als eine zeitlich begrenzte Trennung von den Menschenbrüdern kann der Tod hingenommen werden — anders ist er unerträglich. 

»Der Tod besorgte seine Arbeit mit solcher Gelassenheit, daß der Glaube an eine Auferstehung der Toten kein Irrtum sein konnte. Nicht für immer schliefen diese Menschen, sondern nur für eine lange, leere Zeit.« (<Sokrowennyj tschelowek>, <Eigenbrötler Puchow>) Manchmal wird die Liebe zu den Toten, das Gefühl der Schuld ihnen gegenüber sogar stärker als die Liebe zum Leben, erst recht, weil ein Ausweg aus dem Teufelskreis von Geburt und Tod noch nicht in Sicht ist, und so macht sich dann ein Mensch freiwillig zu den Toten auf, um ihr Schicksal zu teilen, so wie Dwanow am Schluß des Romans »Unterwegs nach Tschewengur« seinem Vater auf den Grund des Sees nachfolgt.

 

Doch nicht alle Helden Platonows handeln so; viele sind von dem Verlangen besessen, unverzüglich die ganze Welt umzugestalten, und stellen selbstlos ihr Leben ganz in den Dienst dieser Umgestaltung und des Kampfes um sie — wie Kopjonkin, der fahrende Ritter der Revolution, der auf seinem Pferd »Proletmacht«, in seine Mütze eingenäht das Bild seiner Dame Rosa Luxemburg, umherzieht und überall die Überreste der Konterrevolution zerschmettert.

Hier kommen wir zu dem zentralen Thema von Platonows Schaffen: der Revolution. Die Revolution ist für Platonow der Anbruch eines neuen Lebens, einer neuen Ära, er begreift sie nicht bloß als ein soziales und politisches Ereignis, sondern in einem weiteren, einem kosmischen Ausmaß im Geiste Fjodorows als den Beginn der gemeinsamen Tat für die ganze Menschheit, die gemeinschaftlich die Welt besser machen wird.

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Die Ungerechtigkeit der alten Gesellschaft ist bei Platonow unlösbar verbunden mit der Ungerechtigkeit der blindwütigen, seelenlosen Natur und des Todes.

»Tschagatajew wußte, daß jede Ausbeutung des Menschen mit der Entstellung und der Anpassung seiner Seele an den Tod beginnt.« Die Revolution wird als Vollendung und Abschluß der bisherigen Geschichte verstanden. Tschepurnyj, der in der Stadt Tschewengur mit einem Schlag von heute auf morgen den Kommunismus gründet, erklärt: »Jetzt ist der Weg zu Ende — die Menschen sind angekommen! (...) Die Geschichte ist bereits zu Ende, und du hast das überhaupt nicht gemerkt.« Nun bleibt nur noch eine Aufgabe zu lösen: die Auferweckung der Toten. »Puchow fand es unerläßlich, die Toten in den lebendigen Kreislauf der Natur einzubeziehen, damit nichts vergeblich geschehe und ein natürliches Gesetz sich vollziehen könne. Als seine Frau starb (...) hatte sich Puchow gegen die unverständliche Ungerechtigkeit und Widernatürlichkeit dieses Geschehens empört. Und damals hatte er geahnt, welches Ziel eine Revolution, überhaupt jedes menschliche Aufbegehren, anstrebte« (»Eigenbrötler Puchow«). Und dann kommt die Umgestaltung der Natur (»Die Klette will auch den Kommunismus«). 

 

Platonow spricht von der Revolution oft in christlichen Termini: »der Heilige Abend des Kommunismus«, »die Erlösung liegt im Kommunismus«, »der Kommunismus ist das Weltende«. Und schließlich folgt, als Erfüllung und Vollendung, die Eroberung und Besiedelung des gesamten Kosmos. »Diese Menschen«, sagt Dwanow über die Banditen (Anarchisten), »wollen die Morgenröte löschen, aber die Morgenröte ist keine Kerze, sondern der hohe Himmel, wo auf fernen, geheimen Sternen die machtvolle Zukunft der Nachfahren des Menschengeschlechts verborgen liegt. Denn das ist kein Zweifel — nach der Eroberung des Erdballs schlägt die Schicksalsstunde für das ganze Universum, und der Augenblick ist gekommen, da der Mensch das Jüngste Gericht über das All halten wird.«

In einer derart grandiosen Revolution werden die unvermeidlichen Gewalttaten und Grausamkeiten als naturnotwendige Gesetzmäßigkeit begriffen. »Auch das Gras wächst und zerstört den Boden: die Revolution ist ein Gewaltstreich und ist Naturgewalt«, sagt Dwanow. Völlig gelassen und gefühllos-gleichmütig fragt der Vater den aus dem Bürgerkrieg heimkehrenden Sohn: »Na, wie geht's den Bürgern und Kadetten? Habt ihr sie alle erschlagen oder sind noch welche übriggeblieben? (...) Fast eine ganze Klasse umzubringen, muß eine ungeheure Arbeit gewesen sein« (»Reka Potudan« [dt. Der Fluß Potudan]). Die Feinde des Sozialismus zu töten, ist auch für Kopjonkin nur eine einförmige, ermüdende Arbeit; er tötet ruhig und gleichmütig, ohne Wut oder Haß, »er tötete mit jenem gewohnheitsmäßigen umsichtigen Fleiß, mit dem eine Bauersfrau Hirse jätet.«

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Der einzelne Mensch gilt nur als bewußtes Glied der Menschenbruderschaft etwas, und um diese Brüderlichkeit zu erreichen, darf man diejenigen töten, die sich dieser lichten Zukunft entgegenstellen. »Angst vor dem Tod — das ist bourgeoise Gesinnung, individualistischer Luxus« (»Wprok«). Deshalb ist es für Platonow unter seiner Würde, sich mit einem konkreten Menschen eingehender zu beschäftigen, seine äußere Erscheinung zu beschreiben oder zu analysieren, was in seinem Inneren vor sich geht. Darin ist er ein echter Sohn seiner Zeit, seiner Revolution und auch, wenn man so will, seiner Klasse, denn diese Einstellung zum Individuum kennzeichnet nicht nur den Geist jener Epoche, sondern auch das einfache Volk.

Ein derart weites Verständnis der Revolution paßte natürlich mit den Aktionen und Theorien der sozialistischen Funktionäre nicht zusammen. Die Bolschewiki mögen Platonow etwa das gleiche erwidert haben, was sie, »verächtlich lachend«, seinem Helden Puchow antworteten, der über die wissenschaftliche Auferweckung der Toten doziert: »Du verlangst zuviel, Puchow, unsere Aufgabe ist geringer, aber wichtiger!« Damit sind wir bei einer sehr strittigen Frage: Sind Platonows Divergenzen mit der Sowjetmacht bloß ein Mißverständnis, oder kommen sie tatsächlich aus der Enttäuschung über die Revolution und aus der Abkehr von ihr?

Nachdem 1929 in der Zeitschrift »Oktjabr« seine Erzählung »Ussomniwschijsja Makar« (Makar im Zweifel) erschienen war, wurde Platonow heftig angegriffen, und nach der Veröffentlichung der Dorfchronik »Wprok« in der »Krasnaja now« 1931 bekam er praktisch völliges Publikationsverbot. Seine größten und bedeutendsten Werke, die Erzählung »Die Baugrube« und der Roman »Unterwegs nach Tschewengur«, erwiesen sich als untragbar für die offizielle sowjetische Literatur und dürfen bis heute nicht gedruckt werden. Die sowjetische Zensur sieht in ihnen eine Satire auf den Kommunismus — aber sind sie das wirklich? 

Platonow ist zwar in der Tat als ein Schriftsteller von enormer satirischer Begabung und seltenem Witz und Geist hervorgetreten; seine Erzählung »Gorod Gradow« (dt. Die Stadt Gradow) ist eine brillante Satire auf die neue herrschende Klasse der Sowjetbürokraten, die, ausgestattet mit »administrativem Instinkt«, dazu berufen sind, die bewußtlosen Massen zu lenken.

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Fast alle seine Werke enthalten grotesk-satirische Episoden und komische Situationen und Figuren. Aber war Platonow wirklich von der Revolution enttäuscht oder hat er bloß die Exzesse von Menschen, die sich unverdient als Diener der Revolution ausgaben, angeprangert und Fehler kritisiert, die bei der Durchsetzung einer Revolution vielleicht unvermeidlich sind? Auf diese Frage gibt es keine eindeutige Antwort. Platonows Werke sind polyphon und komplex, in ihnen gibt es keine Personen, die man als Platonows alter ego ansprechen könnte. Er läßt seine Figuren streiten, nach ihren Überzeugungen handeln, sich empören, einander töten, doch er selbst bleibt unsichtbar abseits.

Platonow zeichnet ein grauenhaftes Bild der Zwangskollektivierung, des Hungers und der Gewalt gegen das Volk in ihrer ganzen Absurdität und Sinnlosigkeit. Die terrorisierten, verzweifelten Bauern leben in ständiger Furcht und hassen die neuen Gewaltherrscher. Unvergeßlich bleibt die Gestalt jenes völlig eingeschüchterten Muschik (»Die Baugrube«), der nicht nur in Angst und Schrecken lebt, sondern sogar »Angst hat zu sterben«, weil er fürchtet, man werde ihm seinen Tod als konterrevolutionären Akt auslegen. Wahrlich eines Saltykow-Schtschedrin würdig ist die Schilderung des im Kolchos eingerichteten »Organisationsgehöfts« (»Die Baugrube«), eines Miniatur-KZ, wie es sie damals bereits zuhauf auf der russischen Erde gab

»Hier hielten sich (...) Mitglieder des Kollektivs auf, die sich etwas zuschulden hatten kommen lassen — die einen waren in den abstoßenden Zustand des Zweifelns geraten, die anderen hatten zur Zeit des Aufschwungs geweint und die Zaunpfähle auf ihren Höfen geküßt, die der Kollektivierung anheimfielen, die dritten irgend etwas anderes verbrochen, und schließlich befand sich auf dem Hof noch ein Greis — das war der alte Wächter von der Kachelfabrik; er war nach einem fernen Ziel unterwegs gewesen, aber hier festgehalten worden, da sein Gesichtsausdruck etwas Fremdartiges hatte.« 

Am Ende des Romans jedoch, nachdem durch eine neue Direktive von ganz oben die Übergriffe und der »Übereifer« bei der Kollektivierung für unerwünscht erklärt worden sind (eine Anspielung auf Stalins berühmten Artikel »Vor Erfolgen von Schwindel befallen«), tötet Tschiklin den Funktionär, der die Kollektivierung durchgeführt hat, und so triumphiert die Gerechtigkeit, wenn auch in eher konventioneller und abstrakter Form.

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Mit ätzendem Sarkasmus werden die gesellschaftlichen Erschütterungen dargestellt, wie sie nicht nur das Dorf, sondern auch die Städte ergriffen: die Zwangsarbeit, die sinnlosen Repressionen gegen »nichtproletarische Elemente«, die Machtgier der neuen Emporkömmlinge, ihre Intoleranz, ihre engstirnige Überzeugung von der eigenen Weisheit und Unfehlbarkeit. Es wächst der Zweifel, ob man tatsächlich das neue Leben nach einer vorgefertigten »wissenschaftlichen« Theorie mit gewaltsamen diktatorischen Mitteln aufbauen kann. Der Kolchosvorsitzende (»Wprok«) läßt im Statut des Kolchos neben der Saat- und der Erntekampagne auch die »Eßkampagne« vorsehen: »Er ahnte düster, daß das Leben nur noch schlimmer werden würde. Es wird noch so weit kommen, daß die Administration demnächst die Leute mit Löffeln füttert und sie morgens aufweckt und ihnen zuredet, den anstehenden Tag zu verbringen.«

Wenn wir Sätze lesen wie den, daß »in der Menschen-Gesellschaft alle Übel durch das Auftreten von Männern unreifen Geistes vorkommen«, oder: »Und dann kommt noch so einer und kratzt sich eine blöde Idee aus seinem verkrüppelten Kopf und fängt an, das Volk zu erledigen — nur damit alle an eine Wahrheit glauben« —, dann kommt es uns mittlerweile doch so vor, als spreche Platonow hier mit seiner eigenen Stimme. Hat er nicht in der Tat Zweifel an der Richtigkeit der Revolution bekommen? Aber dann sehen wir wieder seine sympathischsten Helden — Kopjonkin, Dwanow, Tschepurnyj, Paschinzew: Getrieben von ihrem leidenschaftlichen Verlangen nach dem neuen Leben, unzufrieden mit dem zögernden Gang der Geschichte, rufen sie in dem Provinzstädtchen Tschewengur den Kommunismus aus. 

Platonow macht sich über ihre verworrenen revolutionären Maßnahmen lustig und zeigt doch zugleich Sympathie. Er sympathisiert mit dem armen Paschinzew, der aus seinem »Revolutionsschutzgebiet« vertrieben worden ist, wo er die Revolution konservieren wollte, fühlt mit ihm, wenn er unter Tränen sagt: 

»<Erinnerst du dich an achtzehn-neunzehn? Damit ist es jetzt nichts mehr (...) Alles ist vorbei: Jetzt gibt's das Gesetz, jetzt ist ein Unterschied zwischen den Menschen aufgetaucht — als hätte irgendein Teufel die Menschen auf die Waage gehoben (...) Nimm mich — könntest du je erfahren, was hier drin atmet?> Paschinzew schlug sich an die niedrige Stirn. <Und doch, Bruder, ist hier drin Platz für die ganze Welt! Genau wie bei jedem andern. Und über mich wollen sie herrschen! Wie reimst du dir so was zusammen? Sag doch — ist das Betrug oder nicht?> <Es ist Betrug>, stimmte Kopjonkin schlichten Herzens zu.«

(Ist doch die Fjodorowsche »gemeinsame Tat« nur möglich, wenn sie wirklich gemeinsam und nicht von außen vorgeschrieben und gesteuert ist.)

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Um in Tschewengur den Kommunismus zu etablieren, treibt man sämtliche »Kleinbourgeois« auf dem Platz zusammen und erschießt sie, denn solange die »Bourgeois« noch am Leben sind, kann es ja keinen Kommunismus geben. Die grausige Szene der Erschießung ist voller Ambivalenz. Es gibt fast so etwas wie eine Zusammenarbeit zwischen den Exekutoren und den Opfern. In dieser Szene ist weder Verurteilung noch Rechtfertigung zu spüren, aus der Entfernung und abgehoben beschreibt Platonow sie wie ein Naturereignis, und es ist nicht zu erkennen, ob er all das als etwas im Klassenkampf Unvermeidliches hinnimmt oder als abnorm und unmenschlich ablehnt. Jedem steht es frei, die Szene auf seine Weise zu lesen und zu deuten. Der eigenmächtige Kommunismus der Tschewengurer wird von einer Strafexpedition liquidiert. Kopjonkin, Paschinzew und die anderen kommen im Kampf um; Dwanow aber fährt zurück in sein Heimatdorf und nimmt sich dort das Leben, indem er in denselben See geht, in dem sich einst sein Vater ertränkt hat. 

Das ist das Ende der Utopie von Tschewengur, und Platonow beschreibt es voller Trauer. Aber bedauert er es, daß die Tschewengurer einen solch unsinnigen utopischen Weg wählten, ohne die Verhältnisse zu berücksichtigen, daß sie zu ungeduldig waren und es zu eilig hatten, ins kommunistische Paradies zu gelangen — oder hält er bereits den Traum von einem glücklichen, sorglosen und konfliktfreien Leben selbst für eine Utopie? 

Hat sich Dwanow deshalb getötet, weil er nach dem gescheiterten Versuch, das neue Leben hier und sofort aufzubauen, nicht mehr weiter leben und den anderen seine Aufgabe zur Vollendung hinterlassen wollte, um selbst zu seinem im Tode »leidenden« Vater zu entschwinden? Oder aber ist seine Verzweiflung viel tiefer, universaler, hoffnungsloser? Die Wasser des Sees haben sich über seinem Kopf geschlossen und bewahren schweigend das Geheimnis.

Platonows Einfluß ist bedeutend. Sinjawskijs »Ljubimow« beispielsweise ist unbestreitbar unter dem Einfluß von »Unterwegs nach Tschewengur« entstanden, und es mag durchaus eine bewußte Assoziation an Platonows »Baugrube« sein, wenn es von dem schmachvollen Ende der Tichomirowschen Umgestaltung in der Stadt Ljubimow heißt: »Ein Bauer urinierte in aller Seelenruhe ganz offen, so daß jeder es sehen konnte, in eine Baugrube mit nicht aufgefüllten Betonfundamenten.«

Auch so verschiedenartige jüngere Schriftsteller wie Maramsin, Sokolow, Bykow, Wachtin oder Gubin lassen in ihrer Sprache den starken Einfluß Platonows spüren; man kann sagen, daß es unter den feineren, formbewußteren Autoren der jüngeren Generation überhaupt niemand gibt, der von Platonow unberührt geblieben wäre

Der Übergang von der Sprache der Klassik — vollendet in ihrer Meisterschaft und Eleganz, doch für das heutige Ohr ein wenig zu schwerfällig — zu einem geschmeidigen, mehr umgangssprachlichen Stil vollzieht sich über den Schriftsteller Platonow. 

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Juri Malzew 1981