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7. Satire und politischer Witz

* (d-2009) 
Vergleiche im Dokumentarfilm "Totgelacht" (2004)
 bei Pankowbuch

 

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Jedwede Tyrannei hat noch stets die Satire auf den Plan gerufen — als Antwort der denkenden und ihrer inneren Würde noch nicht beraubten Menschen auf die nackte Gewalt. In den furchtbaren Jahren der Stalindiktatur trat die Satire in der damals einzig möglichen Form auf: als Witze, die von Mund zu Mund gingen. 

Inmitten von Finsternis und Barbarei zeigten allein diese knappen geistreichen Witze und Anekdoten gleich aufsprühenden Fünkchen an, daß noch nicht alles tot war, daß es dort in der Finsternis noch Leben gab. Andrej Sinjawskij hat es gut und treffend gesagt: 

»Nur noch der Witz hat in der letzten Zeit jene einzigartige, spontane Vitalität bewahrt, die der Kunst eigen ist, er bedeutet etwas Größeres als Redefreiheit. Wie sehr man ihn auch unterdrücken mag (für ihn gab es seinerzeit fünf oder zehn Jahre — <für die Zunge!>), er gewinnt durch diese Repressionen nur noch mehr an Kraft, aber nicht an Bosheit, sondern an Humor und Überzeugungskraft. Die Witze strahlen im Verlaufe der dreißigjährigen Nacht bis zum heutigen Tag wie Sterne in der nächtlichen Finsternis. Außerdem drang aus dem tiefsten Rußland das Häftlingslied noch zu uns ... 

Zwei Genres der russischen Folklore erlebten im zwanzigsten Jahrhundert — unter den ausweglosesten Bedingungen — eine Blüte und erfüllten gewissermaßen (als man davon noch nicht einmal zu träumen wagte) die Mission des Samisdat, der doch nicht nur die bloße Tatsache der Publikation mit Hilfe der Schreibmaschine, sondern — was wichtiger ist — die Idee der Kontinuität, der Tradition und der Entwicklung enthält, wenn nämlich einer etwas sagt, es niederschreibt und ein anderer dies aufgreift und fortsetzt. 

Die Zukunft der russischen Literatur, wenn ihr eine beschieden sein sollte, ist mit Witzen aufgepäppelt worden, so wie Puschkin mit den Märchen seiner Amme aufgezogen wurde. Der Witz demonstriert in reinster Form das Wunder der Kunst, ihm ist die Barbarei und Wut der Diktatoren nur förderlich.«1

Auch heute, da der Samisdat zur vollen Entfaltung gekommen ist, ist die Lebenskraft des Witzes nicht zu bändigen. Nur die Themen haben sich geändert. Früher erzählte man sich Witze über Stalin, über die Kolchosen, über Verhaftungen und Erschießungen (es gab sogar einen Witz über Witze: In die Gefängniszelle kommt ein Neuer. »Wofür bist du hier?« wird er von den anderen gefragt. »Für 'nen Witz.«»Ach nee! Was für einen denn? Erzähl mal!« Der Neue erzählt ihn — und kriegt einen neuen Prozeß und eine zusätzliche Strafe aufgebrummt); heute hört man Witze über Chruschtschow, über Breschnew, über den »wachsenden Wohlstand«, den Kommunismus, den Marxismus — und besonders viele Witze über Lenin, zu denen laufend neue hinzukommen und die schon einen ganzen Zyklus von »Leniniana« bilden.

Ich kann es mir an dieser Stelle nicht versagen, ein paar dieser Witze wiederzuerzählen.

 

Würde man alle diese Witze sammeln, so ergäbe das etliche umfangreiche Bände, und in diesen Büchern könnten wir jedes nur irgend bedeutsame Ereignis, jede Erscheinung des sowjetischen Lebens deutlich und treffend widergespiegelt und kommentiert finden, es wäre die zuverlässigste Geschichte und die erschöpfendste Darstellung des Sowjetstaats. Nikolaj Olin hat einige — leider bei weitem nicht die besten — zusammengestellt: zuerst in dem Büchlein »Goworit Radio Jerewan« (Hier spricht Radio Eriwan; München, Logos-Verlag 1970), später in »Radio Jerewan prodolshajet goworit i natschinajet pokasyvat« (Radio Eriwan fährt fort zu sprechen und beginnt auszusagen). 

Ungleich aufschlußreicher ist die Sammlung »Nedoswolennyj smech« (Unerlaubtes Lachen) von Emil Dreizer (Band 1) und A. Lif (Band 2; Los Angeles, Almanach 1978).

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Einige Samisdat-Autoren bearbeiten diese Formen der künstlerischen Äußerung des Volkes und schreiben nach Motiven dieser Witze kurze Erzählungen. So entstanden zum Beispiel die beiden Erzählungen von N. Karagushin in der Untergrundzeitschrift »Feniks-66«: »Stalinskaja ulybka« (Stalins Lächeln) — wie Stalin die Frau seines persönlichen Sekretärs Poskrjobyschew verhaften ließ und ihm eine neue verschaffte — und »Stalinskoje obajanije« (Stalins Charme) — wie Stalin bei einem Empfang im Kreml eine junge Ballettänzerin bezauberte. 

Solche Geschichten über Stalin, von denen es eine Menge gibt, werden alle für wahr und verbürgt ausgegeben, doch wie weit sie tatsächlich glaubwürdig sind, ist natürlich nicht festzustellen. Wenn man sich im übrigen die Festschrift zu Stalins sechzigstem Geburtstag aus dem Jahre 1940 ansieht, insbesondere die beiden Geschichten des besagten Poskrjobyschew und des Komponisten A. Aleksandrow, die tatsächlich wie eine Witzanekdote wirken (nicht umsonst ist dies Buch heute eine höchstbegehrte Rarität), so klingen alle die Geschichten durchaus möglich und wahrscheinlich.

Eine ganze Zeitlang zirkulierten im Samisdat eine Reihe ausgesprochen scharfzüngiger geistreicher Vierzeiler, die von vielen für anonymes Volksgut gehalten wurden. Doch bald nachdem Freunde eine Sammlung dieser Verse mit dem Titel »Dazibao« unter dem Pseudonym Igor Garik herausgaben (Jerusalem 1978), wurde ihr Autor, Igor Guberman, vom KGB enttarnt und aufgrund einer fabrizierten Anklage zu fünf Jahren Lager verurteilt. Seine aphoristisch-treffsicheren satirischen Gedichte verspotten das sozialistische System, den Marxismus und die Sitten der sowjetischen Gesellschaft. Man möchte sie am liebsten alle zitieren, aber wir müssen uns auf die beiden bekanntesten beschränken.

»Ich sehe unsern Staat als Standbild: 
Ein Bronzeherrscher, mit nichts angetan, 
Und unterm Feigenblatt verborgen 
Ein riesengroßes Sicherheitsorgan.«

»Pawlik Morosows* produktiver Stamm 
Gebiert fortzeugend seine lieben Kleinen: 
Ringsum mein ganzer Jahrgang zeigt sich an —
Einer alle, und alle einen.«

* Pawlik Morosow war ein Bauernsohn, der seinen eigenen Vater wegen Kollaboration mit den Kulaken denunzierte und von der sowjetischen Propaganda als Held gefeiert wurde. Anm. d. Übers.

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Und aus dem Gefängnis erreichen uns schon wieder neue Vierzeiler von Garik-Guberman:

»Der Knast bereichert ungemein 
Mit Spielen uns und Pantomimen; 
Bloß schränkt er auch empfindlich ein 
Die Chance, sich ihrer zu bedienen.«

Dem Witz nahe steht das Genre der satirischen Parodie. So fand zum Beispiel der Roman des orthodoxen, stalinistischen Schriftstellers Wsewolod Kotschetow »Tschego she ty chotschesch?« (Was willst du denn?; 1969) eine höchst geistvolle Parodie durch den bekannten Literaturkritiker Sinowij Papernyj: »Tschego she on kotschet?« (Was will er denn?*). Diese Parodie hatte großen Erfolg in Rußland, ja sie wurde ein wahrer Samisdat-Bestseller und brachte ihrem Autor den Parteiausschluß ein. 

In seinem skandalösen Roman hatte Kotschetow die oppositionelle Intelligenz in der Sowjetunion als ein Pack von Abtrünnigen, Verrätern und Halunken gezeichnet und sogar den italienischen Kommunisten Vittorio Strada (im Roman Spada), der lange Jahre in Moskau lebte, als Renegaten und Verräter am wahren Marxismus-Leninismus dargestellt. Indem er den öden Schablonenstil Kotschetows geistreich parodiert, gibt Papernyj dieses erbärmliche und verlogene Buch, das »royalistischer als der König« ist, schonungslos der Lächerlichkeit preis. Es gibt noch eine zweite Samisdat-Parodie auf Kotschetows Roman: »Tschego she ty chochotschesch?« (Was lachst du denn?); sie wird S. S. Smirnow zugeschrieben, da sie mit dessen Nachnamen gezeichnet ist — aber höchstwahrscheinlich sollte das nur zur Irreführung dienen.

Nicht weniger Erfolg hatten auch die parodistischen Pamphlete von Wladimir Gussarow, vor allem das Pamphlet »W saschtschitu Faddeja Wenediktowitscha Bulgarina« (Zur Verteidigung F. W. Bulgarins), in dem die Argumente und die Mentalität der sowjetischen Orthodoxen und Hüter der Staatsinteressen parodiert werden.

Hierher gehört auch das Pamphlet »Krepostnaja sawissimost« (Leibeigene Abhängigkeit) von Sugrobow — über das neue Gesetz, nach dem die sowjetische Regierung ein enormes Lösegeld von Personen nimmt, die aus der Sowjetunion emigrieren wollen.

* Das letzte Wort ist verballhornt und enthält zugleich eine Anspielung auf die Herkunft von Kotschetows Nachnamen (»kotschet« bedeutet Hahn). Anm. d. Übers.

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Voll feiner, kluger Ironie ist E. Korinas Erzählung »Strukturalisty« (Die Strukturalisten), die von dem kümmerlichen und deprimierend unproduktiven Leben der akademischen Intelligenz in der Sowjetunion berichtet. Die kleinlichen Intrigen, die absurden Debatten und der Hickhack um irgendwelche läppischen Artikel, der Kampf der Strukturalisten gegen die Antistrukturalisten, der das ganze Leben dieser »Männer der Wissenschaft« ausfüllt — all das ist letzten Endes leer und nutzlos, denn ob eine Arbeit gedruckt wird oder nicht, wird sowieso nicht von ihnen entschieden, sondern von der obersten Parteiinstanz, der das gesamte Leben und die gesamte Arbeit der wissenschaftlichen Intelligenz unterworfen sind. Es ist vielleicht weniger Satire, was diese Erzählung kennzeichnet, als eine sanfte Ironie.

Unbarmherzigen Sarkasmus offenbart demgegenüber das satirische Stück »Mutnoje pjatno« (Der trübe Fleck). Seine Autorin ist, wie es im Vorwort heißt, die alte Bolschewikin Ninel Jewlampijewna Skufejtschik, die ihr ganzes Leben dem Aufbau des Kommunismus in unserem Land hingegeben hat, als Pensionärin in hohem Alter zu einer Reise an den Amur aufbrach und auf dieser Reise verschollen ist. Die Wasser des Amur jedoch warfen ihre Aktenmappe auf der chinesischen Seite ans Ufer, und unter den aufgeweichten Schriftstücken befand sich auch das Manuskript jenes »Dramas mit Chor und Apotheose«, das dem Leser hiermit vorgelegt wird. Die übrigen Manuskripte verharren noch im Stadium der Entzifferung. 

Die handelnden Personen des Stücks: Kliment (Klim) Onufrijewitsch, ein verdienter Schriftsteller auf seinem verdienten Urlaub; Pjotr Pawlowitsch, ein bedeutender sowjetischer Ingenieur, der sich von der Arbeit ohne Unterbrechung erholt; Giacomo Sverelli, ein Amerikaner italienischer Abstammung; Ljonja Reschetnikow, Doktor der Physik und Mathematik (tritt nicht auf); ein sprechender Kanarienvogel und ein Chor aus vierundzwanzig Männern in Zivil. Klim Onufrijewitsch und Pjotr Pawlowitsch wollen (jeder in eigennütziger Absicht) von dem supergeheimen Physiker Ljonja Reschetnikow die Pläne für einen »Neoplasma-Antrieb« stehlen, der von staatswichtiger Bedeutung ist. 

Der Physiker Ljonja ist so geheim und wird von den vierundzwanzig KGBlern in Zivil derart bewacht, daß er nicht nur nicht auf der Bühne zu sehen ist, sondern daß sogar bei einem amourösen Beisammensein mit Klim Onufrijewitschs Frau (im

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Dunkeln), kaum daß Ljonja das erste Wort gesprochen hat, die KGB-Choristen ein Störgerät einschalten und Ljonjas Stimme von Sirenengeheul übertönt wird — denn sogar seine Stimme ist geheim und darf nicht gehört werden. 

Am Schluß werden alle handelnden Personen von den KGBlern verhaftet und zur Erschießung verurteilt (der sprechende Kanarienvogel speziell wegen Zionismus, wegen Fäkalsprache und dafür, daß er »zuviel weiß«). Giocomo Svirello aber entpuppt sich nicht als westlicher Spion, sondern als agent provocateur des KGB. Das sehr lebendig geschriebene Stück ist voller Dynamik und gibt die Mentalität des Polizeistaats und die Geheimpolizei selbst unverhohlen der Lächerlichkeit preis.

Großen Erfolg hatte auch das satirische Werk »Nikolaj Nikolajewitsch. Mini-Roman«. Sein Verfasser ist in Moskauer Literatenkreisen bekannt, muß hier jedoch aus verständlichen Gründen ungenannt bleiben; im Samisdat zirkuliert sein Werk als anonym. In einem langen Monolog erzählt der Held, Nikolaj Nikolajewitsch, einem imaginären Zechgenossen von seinem Leben. Die Sprache ist äußerst bildhaft und farbenfroh, angereichert mit gut russischen saftigen Obszönitäten und Mutterflüchen; der Autor demonstriert uns, daß er mit dem Jargon der heutigen russischen Arbeiter gründlich vertraut ist. 

Nikolaj Nikolajewitsch erzählt, wie er seinerzeit während des Kampfs gegen die »antimarxistische Pseudowissenschaft« der Genetik als Spender im Genetischen Institut arbeitete: Er stellte sein Sperma für medizinische Versuche zur Verfügung. Der Pogrom gegen die Genetiker, die Demagogie, die sich als Wissenschaft gerierte, und der politische Kampf werden in einer derart ungewöhnlichen Verkürzung dargestellt — indem die ganze Politik als Schweinerei und Obszönität abgehandelt und auf das Niveau der Pornografie verwiesen wird — und mit einem derart geistvollen und scharfen Sarkasmus lächerlich gemacht, daß man schon völlig unempfindlich in künstlerischen Dingen sein muß, um diese schockierenden Unanständigkeiten nicht als ein kühnes und originelles Stilmittel anzuerkennen. Und darin unterscheidet sich der »Mini-Roman« von anderen Untergrundproduktionen des porno-satirischen Genres (wie zum Beispiel »Oktobrianas Abenteuer«), die schon nicht mehr als Literatur anzusprechen sind.

Über große komödiantische Begabung verfügt ohne Zweifel auch der Autor einer weiteren anonymen Satire: »Smuta nowejschego wremeni, ili Udiwitelnyje pochoshdenija Wani Tschmotanowa« (Die Wirren der neuesten Zeit oder Die erstaunlichen Abenteuer des Wanja Tschmotanow).

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Der Held der Erzählung, Wanja Tschmotanow, der erstaunliche Ähnlichkeit mit Lenin besitzt, ja fast sein Doppelgänger sein könnte, hat die Bäckereifach­schule absolviert und arbeitet in einer Brotfabrik. Um seine dürftige materielle Lage aufzubessern, schmuggelt er regelmäßig unter seiner Kleidung Hefe aus dem Werk und verkauft sie. 

»Warmer Hefeduft umgab Wanja, doch die vom Selbstgebrannten benebelten Pförtner (sie brannten ihn an Ort und Stelle in ihrem Kabäuschen auf einem umgebauten Elektroofen Marke <Wundertäter>) spürten nichts von dem Aroma des an ihnen vorbeigetragenen Produkts. Eines Tages ging der >Wundertäter< kaputt. Die Pförtner standen nüchtern und böse da, und Wanjas naive Bereicherung fand ihr Ende.«2)

Wanja wird verurteilt und kommt ins Lager. Dort absolviert er »seine Universitäten« und wird nach der Entlassung professioneller Dieb. Eines Tages mischt er sich unter die Provinzler, die vor dem Leninmausoleum Schlange stehen, um ihnen die Taschen zu befingern, und gerät dabei aus Versehen selbst mit ins Mausoleum hinein. Drinnen packt ihn plötzlich eine blendende Idee: Man müßte Lenins Kopf stehlen und ins Ausland verkaufen. Am nächsten Tag versteckt sich Wanja, versehen unter anderem mit einer chirurgischen Säge, im Mausoleum und macht sich nachts daran, den Diebstahl auszuführen. Aber zu seinem größten Erstaunen benötigt er die Säge überhaupt nicht: Der Kopf fällt bei der ersten Berührung vom Rumpf ab, der sich als ein mit gestoßenem Kork vollgestopfter Sack entpuppt; der Schädel Lenins, leicht geschminkt, mit eingesetzten Holzaugen und Ohren aus Wellpappe, ist als Verkaufsobjekt offenkundig ungeeignet. 

Als das Malheur entdeckt wird, gerät der Kreml in helle Aufregung, die Regierung tagt die ganze Nacht; eilends wird der Schauspieler Robert Kriwokorytow herbeordert, der schon des öfteren Lenin dargestellt hat, und angewiesen, sich, bis Lenin restauriert ist, an seiner Stelle ins Mausoleum zu legen. Diesmal hat er den »ewig Lebendigen« als Toten zu verkörpern. Aber im Sarkophag liegend, kann Kriwokorytow nicht an sich halten und niest. In der Menge kommt die Kunde auf, Lenin sei wiederauferstanden. Die Nachricht verbreitet sich in Windeseile in Moskau und den anderen Städten; die Bevölkerung hofft, der wiedergekehrte Lenin werde Ordnung schaffen: die Bürokraten verjagen, die Löhne erhöhen, die Versorgung verbessern usw. Im Kreml erhebt sich Panik. Panzerdivisionen werden um die Hauptstadt zusammengezogen.  

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Unterdessen entdeckt die Menge Wanja Tschmotanow und erkennt in ihm den auferstandenen Lenin. In der Stadt Golokolamsk, wohin es Wanja nach seinem Diebstahl verschlagen hat, wird die örtliche Führungsspitze gestürzt, und Wanja übernimmt die Regierung der Stadt. Schon bald jedoch prügeln ihn die von seinem Regiment enttäuschten Bewohner davon; er wird schließlich von einem Milizionär geschnappt und landet im Kreml auf einem Wettbewerb von Lenindoppelgängern. Der getötete Wanja wird an Lenins Stelle in den Sarg gelegt, und die beruhigten Bürger können aufs neue durch das Mausoleum defilieren und mit Rührung und Hingabe die teuren Züge des »allerschlichtesten und allergenialsten Menschen« betrachten.

Das Buch ist mit einem wissenden Gespür für Massenpsychologie geschrieben, die Groteske hält sich ganz im Rahmen des Wahrscheinlichen; mit recht plastischer Überzeugungskraft wird das Tun und Treiben der Gesellschaft geschildert.

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Wenn von Satire die Rede ist, muß auch der begabte Schriftsteller und Kritiker Arkadij Belinkow genannt werden. Satirisch im engeren Sinne ist wohl nur sein Büchlein »Petschalnaja i trogatelnaja poema o wsaimootnoschenijach Skorpiona i Shaby, ili roman o gossudarstwe i obschtschestwe, nessuschtschichsja k kommunismu« (Das traurige und bewegende Märchen über die Beziehung zwischen dem Skorpion und der Kröte, oder Roman vom Staat und der Gesellschaft, die zum Kommunismus streben)3, ein an Saltykow-Schtschedrin erinnerndes satirisches Märchen, in dem die heutigen Herrscher Rußlands als Skorpione und das gehorsame, ergebene und arbeitsame Volk als Kröte auftreten. Aber auch die übrigen Bücher von Belinkow sind von Sarkasmus und von einer tiefen leidenschaftlichen Erbitterung erfüllt, von einer »genialen Streitbarkeit«, wie sie Konstantin Leontjew, auf Saltykow-Schtschedrin gemünzt, treffend genannt hat.

Arkadij Belinkows Schicksal ist so dramatisch und zugleich typisch, daß wir etwas näher darauf eingehen wollen. 1944 wird der Zweiundzwanzigjährige verhaftet, weil er einen angeblich antisowjetischen Roman verfaßt hat, und nach zweiundzwanzigmonatiger Untersuchungshaft, in der man ihn auch foltert, zum Tod durch Erschießen verurteilt (der Roman wird vernichtet). Das Todesurteil wird etwas später in Lagerhaft umgewandelt. 

Nach acht Jahren Lager macht man ihm zwei Monate vor seiner Entlassung erneut den Prozeß: wegen dreier im Lager geschriebener Bücher, die er versucht hat nach draußen zu schmuggeln (sie werden natürlich gleichfalls vernichtet), bekommt er fünfundzwanzig Jahre. 

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Im Herbst 1956 freigelassen (aber nicht rehabilitiert), beginnt Belinkow im Literaturinstitut in Moskau Vorlesungen zu halten, und 1960 erscheint — durch eine Unachtsamkeit der Zensur — in dem Moskauer Verlag »Sowetskij Pissatel« sein Buch »Jurij Tynjanow«. Dieses Zensurversehen ist durchaus erklärlich: In dem Buch steht kein Wort über die sowjetische Gesellschaft, es handelt nur von den historischen Romanen Jurij Tynjanows und von der Vergangenheit Rußlands, in der diese Romane spielen. Doch der verborgene Hintersinn des Buchs war so leicht zu entschlüsseln, daß diese literatur-wissenschaftliche Studie plötzlich eine Berühmtheit erlangte, wie sie für diese Literaturgattung nicht eben alltäglich ist. 

Von dem Erfolg ermutigt, schreibt Belinkow sein zweites Buch »Sdatscha i gibel sowetskogo intelligenta. Jurij Olescha« (Kapitulation und Untergang eines sowjetischen Intelligenzlers. Jurij Olescha«) bereits als »literaturwissenschaftlichen Roman«. Doch diesem Buch gelingt es nicht, durch das Netz der Zensur zu schlüpfen, und es geht in den Samisdat ein. Lediglich zwei kurze Auszüge mit einem lobenden Vorwort von Kornej Tschukowskij erscheinen 1968 in der fernen Provinzzeitschrift »Bajkal«, aber auf der Stelle folgen mehrere vernichtende Artikel darüber in der »Literaturnaja gaseta«, und die Veröffentlichung weiterer Auszüge wird untersagt. In seinem »literaturwissenschaftlichen Roman« verbindet Belinkow, wie Kornej Tschukowskij zutreffend bemerkte, »strenge Wissenschaftlichkeit mit blendender künstlerischer Virtuosität«. 

Das Schicksal des bemerkenswerten Schriftstellers Jurij Olescha, der es nicht vermochte, unter der totalitären Diktatur sich selber treu zu bleiben, dient Belinkow als das Beispiel, an dem er das qualvolle Leben des sowjetischen Intelligenzlers nachzeichnet — mit einer beeindruckenden Fähigkeit, sich in die Psychologie des künstlerischen Schaffens einzufühlen und zu tiefen, gültigen philosophischen Verallgemeinerungen zu gelangen. 

Belinkows Ironie erreicht hier wirklich großartige Meisterschaft; es ist nicht Groteskes, Hyperbolisches oder Sarkastisches, was dieses Buch prägt, sondern feine Ironie — sie erscheint in einer kaum wahrnehmbaren Drehung des Satzes, in einer Veränderung der Intonation, und in noch etwas anderem, das wir nicht mit Worten beschreiben, aber doch lebendig spüren können, und das eine erstaunliche, unbegreifbare Kunst verrät. 

 

1968 gelingt es Belinkow, ins Ausland zu flüchten und dabei sogar seine unveröffentlichten Manuskripte mit hinüberzubringen (der Brief an den Schrift­steller­verband, den er unmittelbar vor seiner Abreise schrieb und in Moskau zurückließ, wurde oben bereits zitiert). 

Im Westen plant er die Gründung einer Zeitschrift <Nowyj kolokol> (<Die neue Glocke>; nach dem Vorbild der Zeitschrift Alexander Herzens), aber sein Herz, von den übermensch­lichen Prüfungen bis zum äußersten belastet, versagt den Dienst, und Belinkow stirbt noch vor Erscheinen der ersten Nummer. Wir können nur die Hoffnung hegen, daß die hinterlassenen Manuskripte des Schriftstellers im Westen endlich veröffentlicht werden.

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Kurzbiografien    Belinkow, Arkadij V.  (1921-1970, 49) 

studierte Literaturwissenschaft an der Moskauer Universität. Während des Krieges Kriegsberichterstatter; wurde verwundet. 1944 wurde er verhaftet, nachdem den Sicherheitsorganen sein insgeheim zirkulierender Roman »Tschernowik tschuwstw« (Gefühle im Rohentwurf) in die Hände gefallen war. Er wurde zur Erschießung verurteilt und verbrachte zweiundsiebzig Tage in der Todeszelle. Nachdem sich Aleksej Tolstoj und Viktor Schklowskij für ihn eingesetzt hatten, wurde das Todesurteil zunächst in Gefängnisstrafe, dann in KZ-Haft umgewandelt. 

Weil er in der Haft drei weitere Werke geschrieben hatte — »Alepaulskaja elegija«, »Antifaschistskij roman« (Ein antifaschistischer Roman) und »Utopitscheskij roman« (Ein utopischer Roman) —, wurde er erneut zu weiteren fünfundzwanzig Jahren verurteilt.

Alle seine Bücher einschließlich des ersten Romans wurden vernichtet. 1956 kam Belinkow frei. Nach der Rückkehr nach Moskau hielt er Vorlesungen im Literaturinstitut, wurde aber bald auf die Denunziation eines Studenten hin entlassen. 1960 erschien sein Buch »Jurij Tynjanow«. 1961 Aufnahme in den Schriftstellerverband. 1965 erschien eine erweiterte Neuauflage von »Jurij Tynjanow«. 1968 wurden in der Zeitschrift »Bajkal« zwei Auszüge aus Belinkows neuem Buch »Sdatscha i gibel sowetskogo intelligenta - Jurij Olescha« (Kapitulation und Untergang eines sowjetischen Intellektuellen. Jurij Olescha) abgedruckt, doch die Veröffentlichung weiterer Kapitel wurde gestoppt (sie erschienen im Samisdat), und in der Presse begann eine Verleumdungskampagne gegen den Autor. 

1968 konnte Belinkow in den Westen fliehen. In den USA hielt er an der Yale-Universität und an der Universität von Indiana Vorlesungen über Solschenizyn. 1969 Aufnahme in den PEN-Club. Aus der Arbeit an einem neuen größeren Werk riß ihn der Tod (die Stalinschen Konzentrationslager hatten seine Gesundheit ruiniert).

 

Juri Malzew 1981

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