Schalamow      Grossman       Start     Weiter

 8  Wahrheitssuche

Juri Malzew 1981

 

 

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Der wichtigste Grund für die Entstehung des Samisdat ist natürlich die Tatsache, daß das Verlangen, die Wahrheit zu sagen, in der offiziellen sowjetischen Literatur nicht erfüllt werden kann — das Verlangen, verbotene Themen anzusprechen, von dem Durchlittenen zu erzählen, seine eigenen, von der offiziell verbindlichen Linie abweichenden Schlußfolgerungen darzulegen

Und unter allen verbotenen Themen ist jenes, das am stärksten aufwühlt und nicht losläßt, natürlich das Thema des Massenterrors und der Lager. Die Entdeckung dieses Themas bleibt für alle Zeiten mit dem Namen Alexander Solschenizyn verbunden, da er ihm ohne Zweifel am stärksten, eindring­lichsten und tiefsten Ausdruck verliehen hat; doch vor Solschenizyn und zugleich mit ihm haben auch andere Samisdatautoren über dieses Thema geschrieben, hauptsächlich natürlich Memoiren, mitunter aber auch künstlerische Werke, die es verdienen, hier genannt zu werden.

 

In der offiziellen Literatur tauchte das Lagerthema nur einmal kurz und flüchtig auf, noch dazu furchtsam, zaghaft und unaufrichtig behandelt. Eigentlich ist überhaupt nur ein einziges Werk erschienen, das dieses Thema offen und ehrlich dargestellt hat: die Novelle <Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch> von Solschenizyn, auf persönliche Anweisung Chruschtschows gedruckt, der sich zu diesem Zeitpunkt mit internen Gegnern in der Führungs­spitze auseinander­zusetzen hatte und diesen Kampf um die Macht unter der Losung des Antistalinismus führte. 

Alle anderen Autoren jedoch, die dieses Thema behandelten, hatten die Pflicht, nachzuweisen, daß die Lager und der Terror ausschließlich eine Folge von Stalins Irrtümern waren und daß zur gleichen Zeit, da Stalin Irrtümer beging, das ganze Volk und seine Partei (in den Lagern und in den Folterkammern des MGB) unbeirrt mit dem Aufbau des Kommunismus fortfuhren, beflügelt von hohem Enthusiasmus und von dem Glauben an die Unfehlbarkeit des Marxismus-Leninismus. 

Diese absurde These fand jedoch überhaupt keine Bestätigung, im Gegenteil, sie wurde von der erstbesten einigermaßen wahrheits­getreuen Erzählung über die tatsächlichen Geschehnisse sofort widerlegt, und deshalb war es unerwünscht, allzu sehr ins einzelne zu gehen. 


Selbst der untertänigst ergebene und ganz der politischen Konjunktur entsprechende Roman »Smertsch« (Wirbelwind) von Galina Serebrjakowa, die viele Jahre im Lager verbracht hat, um dann ihre Ergebenheit gegenüber der Partei und ihren unerschütterlichen Glauben an den Marxismus-Leninismus zu verkünden, durfte nicht veröffentlicht werden (und begann im Samisdat umzulaufen). 

Jede Erwähnung der Lager implizierte unerwünschte Betrachtungen und zog unvermeidlich eine ganze Reihe gefährlicher Fragen nach sich: Wie konnte es geschehen, daß im »Land des siegreichen Sozialismus«, wo zum ersten Male nicht mehr die »bürgerliche Pseudodemokratie« herrschte, sondern die echte Volksdemokratie verwirklicht, die Ausbeuter und das Privateigentum abgeschafft, die Macht in die Hände des Volkes gegeben worden war — daß dort Millionen völlig unschuldiger Menschen in Konzentrationslager kamen, daß bei Untersuchungs­gefangenen mittelalterliche Foltern angewandt wurden? 

Schon das Aufwerfen dieser Fragen drohte die Grundlagen des ganzen sowjetischen Systems zu untergraben, und daher wurde das Lagerthema sehr schnell ganz verboten.  Den Schriftstellern bedeutete man, die »Irrtümer« Stalins seien bereits überwunden und das Problem erschöpfend gelöst; es gebe keine Veranlassung, darauf zurückzukommen. 

    

     Schalamow   

 

Anfang der sechziger Jahre kamen im Samisdat (in drei dicken maschinengeschriebenen Bänden) die <Kolymskije rasskasy>, die <Kolymaer Erzählungen> (dt. Kolyma. Insel im Archipel), von Warlam Schalamow in Umlauf, einem Dichter und Schriftsteller, der zwanzig Jahre in den Lagern verbracht hatte.1) Es war, so kann man wohl sagen, eine Enzyklopädie des Lagerlebens. 

In den Romanen Solschenizyns ist die Aufmerksamkeit entscheidend auf das innere Leben der Häftlinge gerichtet, das Lagerthema wird eher in seinem moralischen und philosophischen Aspekt behandelt; bei Schalamow dagegen konnten die russischen Leser einen detaillierten Bericht über den normalen Alltag im Lager, eine dokumentarische Beschreibung des Lagerlebens finden, getreue Rechenschaft darüber, wie die Menschen in den sowjetischen KZ lebten, litten und starben. 

Hier erblickte der Leser sie zum erstenmal deutlich vor sich — die ausgemergelten, in zerrissene Lumpen gehüllten, verlausten sowjetischen Gefangenen, zahnlos vom Skorbut, mit blutigem Zahnfleisch, die Haut von der Pellagra abgepellt, mit schwarzen frostbeuligen Wangen, Menschen, die in Müllhaufen nach irgendwelchen eßbaren Abfällen wühlen, die ständig geprügelt werden — von den Begleitmannschaften, den Brigadieren, den Stubenältesten, den Arbeitszuteilern, den Aufsehern, und am meisten natürlich von den Kriminellen.

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Hier sah der Leser, was das Krankenrevier bedeutet, einen Ort voll Enge und Schmutz, von dem dennoch alle Häftlinge träumen, weil sie freizukommen hoffen von der unerträglichen Zwangsarbeit, die ihren Körper allmählich zu Tode zerstört. Im Krankenrevier liegen Menschen, die sich die Finger abgehackt oder sich den Fuß mit Dynamit weggesprengt haben, nur um dorthin zu gelangen (»die Kapsel direkt in den Stiefel und die Zündschnur in Kniehöhe angesteckt«) — denn die Einarmigen zwang man, den ganzen Tag lang für die Holzfäller im lockeren Tiefschnee »den Weg festzutreten«, und daraufhin gingen die Häftlinge dazu über, sich die Füße zu verstümmeln. Hier wickeln sich die Gefangenen nachts ihre Verbände ab, kratzen ihre Wunden auf und verschmieren sie mit Dreck vom Fußboden, um noch etwas länger im Krankenrevier bleiben zu können; hier liegen Menschen, die von den Aufsehern und Wach­mann­schaften mißhandelt wurden — mit zerschlagenen Nasen, mit gebrochenen Rippen, mit eingeschlagenem Schädel. 

In Schalamows Erzählungen sah der Leser, was Grausamkeit und Willkür der Lagerverwaltung bedeutet: Wer im Wald auch nur einen Schritt aus der Sicherheits­zone heraus tritt, um Beeren zu pflücken, wird sofort erschossen, oft genug ohne vorherigen Warnschuß, wie es vorgeschrieben ist; kommt ein Häftling zu spät zum Appell, wird er mit den Füßen an einen Holzfällerschlitten gebunden und über den steinigen Weg zum Arbeitsplatz geschleift; für geringfügigste Vergehen (oder einfach, weil es dem Aufseher Spaß macht) wird der Gefangene in den Eiskarzer gesteckt, der im ewigen Frost in einen Abhang gehauen ist (»dort zu übernachten reichte schon aus — man starb, erkältete sich zu Tode ... Viele Häftlinge, die in diesem Eiskarzer nur eine Nacht verbracht hatten, konnten ihrer Gesundheit für immer Ade sagen«). 

Die Gefangenen werden in ganzen Brigaden erschossen, weil sie die Normen nicht erfüllt haben — Normen, die schon ein satter gesunder junger Mann niemals imstande wäre zu schaffen; man wird erschossen »wegen Beleidigung der Begleitmannschaft«, das heißt dafür, daß man geflucht hat, als einen der Wachsoldat verprügelte; »wegen tätlichen Angriffs auf die Begleitmannschaft«, das heißt für jede unachtsame ausholende Handbewegung in der Nähe der Bewacher, usw.

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Hier, in den Erzählungen Schalamows, sah der russische Leser, was das System der Zwangsarbeit in den sowjetischen Lagern bedeutete — täglich neunzehn bis zwanzig Stunden ohne einen freien Tag, bei Frosttemperaturen von minus fünfzig Grad, unter dem Gebrüll der Wachsoldaten, unter dem Knüppel des Brigadiers. 

Schalamow vergleicht diese Arbeitsbedingungen mit der Zwangsarbeit in der Zarenzeit. Die Dekabristen hatten (nach den »Aufzeichnungen der Maria Wolkonskaja«) in Nertschinsk ein Tagespensum von drei Pud Erz pro Mann. Die Norm des sowjetischen Häftlings ist achthundert Pud. Dem muß man noch hinzufügen: In der zaristischen Katorga hingen in den Baracken keine Transparente, auf denen der Führer verkündete, daß »in unserem Land die Arbeit eine Sache der Ehre, des Ruhms, des Erfolgs und des Heldentums« geworden sei; in der zaristischen Katorga wurden die politischen Gefangenen, die versucht hatten, die Selbstherrschaft zu stürzen, nicht als »Mißgeburten« und »Lumpenpack« bezeichnet, nicht mit Hunger gefoltert, nicht gezwungen, nach der Arbeit noch »zur Umerziehung« Politunterricht über sich ergehen zu lassen, und ihre Familienangehörigen wurden nicht in die Verbannung gejagt oder sonstwie verfolgt.

Schalamow erzählt sparsam und zurückhaltend, aber in treffsicherem und klarem Ton; lebhaft stehen die Episoden dem Leser vor Augen. Wir erleben grauenhafte und fast unwirkliche Szenen: Nachts, im Licht der Scheinwerfer im Schnee, verliest ein Offizier vor den angetretenen Häftlingen die Liste derjenigen, die zur Erschießung verurteilt sind — ein Orchester spielt einen Tusch

In der Nagajew-Bucht legt der Dampfer »Kim« an, mit dreitausend erfrorenen Häftlingen an Bord; sie hatten unterwegs rebelliert, und daraufhin hatten die Aufseher sämtliche Laderäume überfluten lassen — bei vierzig Grad Frost. Die Mole wird von Truppen umzingelt, und die Entladung beginnt. Die Toten werden am Ufer hingeworfen; wer noch lebt, wird in die umliegenden Krankenhäuser geschafft. Selbst der Leiter der chirurgischen Abteilung, Kubanzew, der erst vor kurzem von der Front zurückgekehrt ist, wo er vieles Entsetzliche gesehen hat, ist von dem Anblick dieser Menschen tief erschüttert. 

Lebhaft sehen wir die Baracke im Übergangslager vor uns, die so dicht voll Menschen gestopft ist, daß man im Stehen schlafen kann; wir sehen das Lagerbad, und die Schilderung dieses Bades steht in ihrer Deutlichkeit der berühmten Szene im Bad in Dostojewskijs <Aufzeichnungen aus einem Totenhaus> nicht nach. Für immer in unser Gedächtnis eingeprägt bleibt das erschütternde Bild jenes Lagermassengrabs an einem Berghang — der Hang kam ins Rutschen und das Grab tat sich auf.  Die Toten krochen über den Abhang, Tausende im ewigen Frost erstarrter Leichen, die nicht vermodert waren in dem steinernen kalten Grab. 

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»Alles war unversehrt: die gekrallten Finger, die vereiterten Zehen — die erfrorenen Stummel, die blutig gekratzte trockene Haut und die in hungrigem Glanz leuchtenden Augen... Unversehrte Leichen, nackte Skelette, mit Haut bespannt, schmutziger, zerkratzter, von Läusen zerbissener Haut... Der Berg war entblößt und zur Szenerie eines gigantischen Schauspiels verwandelt, eines Mysterienspiels der Lager ... Der ewige Frost bewahrt und enthüllt seine Geheimnisse. Jeder einzelne unserer Nächsten, die an der Kolyma verdorben sind, jeder der Erschossenen, Totgeschlagenen, elend Verhungerten kann noch wiedererkannt werden, und sei es nach Jahrzehnten. Die Leichen warten im Gestein, im ewigen Frost.«

Beim Lesen von Schalamows Buch ziehen Tausende von Menschen vor unseren Augen vorüber: Jünglinge und Greise, gefeierte Gelehrte und unwissende Bauern, Arbeiter, die seinerzeit die Revolution gemacht haben, und ukrainische oder litauische Nationalisten, die mit der Waffe in der Hand gegen diese Revolution gekämpft haben; Soldaten und Offiziere, die im Krieg in Gefangenschaft geraten waren und dann aus den deutschen Lagern geradewegs in die sowjetischen geschaffen wurden; Prostituierte und kultivierte Frauen aus der Intelligenz, die zusammen mit ihren Männern verhaftet wurden, weil sie zur Familie eines »Volksfeinds« gehörten — eine vielgesichtige, bunte Menge von Unglücklichen, die unter die Räder jener unerbittlichen Maschinerie gekommen sind, die Staat heißt. Sie ziehen vorbei in einem schrecklichen Defilée, wie die Sünder in Dantes Hölle, Entsetzen und Mitleid erregend. 

Doch einige der Gesichter stechen hervor und bleiben im Gedächtnis: 

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Von Fluchtversuchen und von der grausamen Vergeltung, die die Wachmannschaften gegen wieder eingefangene Flüchtlinge üben, berichtet Warlamow ausführlich in der Skizze »Seljonyj prokuror« (Der grüne Staatsanwalt).

 

Gleichzeitig mit den »Kolymaer Erzählungen« zirkulierten im Samisdat Schalamows »Otscherki blatnogo mira« (Skizzen aus der Gaunerwelt), in denen er den Mythos entlarvt, die Kriminellen seien edle Räuber und Robin Hoods mit eigenem Ehrenkodex. Schalamow weist nach, daß die Gesetze der Kriminellen grausam, amoralisch und unmenschlich sind, daß diese Verbrecherwelt, die in den dreißiger, vierziger Jahren enorme Ausmaße erreicht hatte, eine Geißel der Gesellschaft ist. Die Kriminellen gaben nicht nur in den Lagern den Ton an, wo sie nach eigenem Gutdünken schalteten und walteten, sondern ihr Geist infizierte die ganze sowjetische Gesellschaft. 

 

In jener Zeit, als ungefähr zehn Prozent der gesamten erwachsenen Bevölkerung in den Konzentrationslagern saß, als es im ganzen Land praktisch keine einzige Familie gab, die nicht in irgendeiner Weise mit der Welt der Lager zu tun gehabt hätte, vergiftete diese Seuche die ganze Gesellschaft; die ganze sowjetische Gesellschaft war »kriminell geworden«. »Ich kenne viele Menschen, und nicht nur aus der Intelligenz, die sich draußen in der Freiheit gerade die Grenze zur Kriminalität zur insgeheimen Grenze ihres Verhaltens gemacht haben. Im Kampf dieser Menschen gegen das Lager trug das Lager den Sieg davon (...) Der Beispiele für Verkommenheit gibt es genug. Die moralische Grenze, die unüberschreitbare Linie ist sehr wichtig für den Gefangenen. Es ist die wichtigste Frage seines Lebens: ist er noch ein Mensch oder ist er es nicht mehr?«

Obwohl die bekanntesten und gefährlichsten Kriminellen in den Lagern der vierziger und fünfziger Jahre umkamen, hat die Unterwelt in der Sowjet­gesellschaft nach wie vor ein großes Ausmaß, diese Plage zerstört weiter die Gesundheit der Gesellschaft; nach den Schätzungen des Akademiemitglieds Sacharow sitzen heute in den sowjetischen KZ etwa zwei Millionen Häftlinge, nach anderen Schätzungen etwa vier Millionen.

Seine Beobachtungen, wie sich die Menschen unter schrecklichen und unmenschlichen Bedingungen verhalten, führen Schalamow zu pessimistischen Schlußfolgerungen. An erfahrenem Leid innerlich zu wachsen und zu erstarken, in den schrecklichen Prüfungen die Menschenwürde zu bewahren, wie wir es von Solschenizyns Helden lesen — diese Fähigkeit besitzen nach Schalamows Überzeugung nur ganz seltene, vereinzelte außergewöhnliche Menschen. 

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Die unerträglichen Bedingungen im Lager verderben die Seele des Menschen und verwandeln ihn in ein wildes Tier, sagt Schalamow. Ist die äußerste Grenze des Schreckens, der Gipfel des Leidens erreicht, stirbt alles Menschliche im Menschen. 

»Freundschaft entsteht weder in der Not noch im Unglück. Jene <schweren> Bedingungen, aus denen, glaubt man den Märchenerzählern von der schönen Literatur, mit Notwendigkeit die Freundschaft entsteht, sind einfach noch nicht schwer genug. Wo Unglück und Not jemals Freundschaft unter den Menschen entstehen und erstarken ließen, da war die Not nicht extrem, das Unglück nicht groß. Das Elend ist nicht brennend und tief genug, wenn es noch mit Freunden geteilt werden kann.« — »Wenn die letzte Grenze überschritten ist, hinter der es nichts mehr Menschliches im Menschen gibt, dann bleibt nur Unglauben, Bosheit und Lüge.« — »Das Lager war eine bedeutsame Probe auf die sittliche Kraft, auf die einfache Moral des Menschen, und neunundneunzig Prozent bestanden diese Probe nicht.« — »Die Erfahrung des Lagers ist ganz und gar negativ bis auf die letzte Faser. Der Mensch wird dort nur schlechter — es geht gar nicht anders. Im Lager gibt es vieles, was der Mensch besser nicht sehen sollte. Doch den Bodensatz des Lebens tief unten zu erblicken, ist noch nicht das schlimmste. Das schlimmste ist, wenn der Mensch beginnt, diesen Bodensatz des Lebens für immer in seiner eigenen Seele zu spüren, wenn er seine moralischen Maßstäbe aus dem Lager gewinnt.« — »Wenn er erst auf diesen Grund herabgesunken ist, denunziert der Mensch seinen Nachbarn und liefert ihn für eine Schüssel Suppe oder eine Zigarettenkippe dem Verderben aus, auf diesen Grund einmal gesunken, sieht der Mensch gleichmütig zu, wie kraftlose Greise zusammen­geschlagen werden oder wie ein Syphilitiker eine Frau vergewaltigt.«

Schalamow hat seine Zeugenpflicht erfüllt, doch es läßt ihm keine Ruhe: »Was ich gesehen habe, das sollte der Mensch nicht sehen, er sollte es nicht einmal wissen.«

 

Von derselben pessimistischen Auffassung vom Lager ist auch der bemerkenswert geschriebene Roman »Pjataja petschat« (Das fünfte Siegel) geprägt, der unter dem Pseudonym Tatarinzew zirkulierte. Wir erblicken ein apokalyptisches Bild (daher der Titel): Grauen und Elend verwandeln die Menschen in ein abstoßendes Rudel grausamer, gewissenloser, egoistischer Tiere. Dabei legt der Autor den Akzent gar nicht auf die Exzesse, auf die außergewöhnlichen Schrecken, sondern beschreibt im Gegenteil die monotone, öde, hoffnungslose Atmosphäre des grauen Lageralltags. 

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Die Frau eines der Gefangenen, die angereist kommt, um ihren Mann zu besuchen, hat sich bis dahin nach seinen Erzählungen nie wirklich vorstellen können, was das Lager eigentlich bedeutet. Am Stacheldraht stehend, der das Lager umgibt, sieht sie, wie oben aus der Baracke ein Häftling tritt, nur mit einer Unterhose bekleidet, und am hellen Tag achtlos und gleichmütig von der Treppe herab sein Wasser abschlägt. Und da versteht die Frau auf einmal, da fühlt sie, was das Lager bedeutet.

Die Hauptfiguren des Romans sind Studenten, die man wegen freimütiger Gedichte verhaftet hat. Sie treten ihre Haft voller Illusionen an, glauben mit jugendlichem Ernst an den Menschen, an die Wahrheit des Marxismus. Doch dann folgen die Jahre im Lager, Jahre der wachsenden Enttäuschung, in denen alle Illusionen verschwinden, der Charakter erstarkt, der Verstand zur Reife gelangt. Sie beobachten die Menschen um sich herum, sie denken nach, hören zu, wenn diese ganz unterschiedlichen Menschen von ihrem Leben erzählen — angefangen von denen, die noch unter Lenin in den zwanziger Jahren verhaftet wurden, bis zu denen, die erst nach dem Tode Stalins ins Lager kamen (der Strom der »Gratulanten«: Leute, die fünf Jahre bekamen, weil sie sich zu Stalins Tod beglückwünscht hatten); und so lernen sie allmählich das wirkliche Leben des Landes kennen. 

Sie gewinnen die Überzeugung, daß die Wurzel des Übels schon in den ersten grundlegenden Prinzipien des Marxismus zu suchen sei, der nach der gewaltsamen Umgestaltung der Welt trachtet und Unversöhnlichkeit gegen alle seine Gegner atmet. Sie kommen zu dem Schluß, daß die Lager nur die logische Vollendung des ganzen sowjetischen Systems sind; das ganze Land stellt für sie ein einziges gigantisches KZ dar, eingezäunt von unüber­schreitbaren Grenzen — diejenigen, die im Lager sitzen, haben bloß eine Reihe Stacheldraht mehr. »Die Freiheit ist eine große Sicherheitszone.« Einzelne Teile des Romans sind möglicherweise etwas überladen mit intellektuellen Dialogen und wirken daher etwas leblos und trocken — ein Mangel übrigens, der für intellektuelle Romane allgemein charakteristisch ist.

Großartig ist der Schlußteil des Romans: »Bunt« (Der Aufstand) — der erschütternde Bericht von einem Aufstand im Lager und von der grausamen Vergeltung, die gegen die Meuterer geübt wird: Man jagt sie auf das dünne Eis des Sees hinaus, das unter dem Gewicht bricht und alle in die Tiefe reißt.

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Aufschlußreich ist auch die anonyme Skizze »Operazija banja« (Operation Bad). Dort geht es um den Kampf gläubiger Lagerinsassinnen (der »Religiösen«) mit der Lagerverwaltung: die Aufseher wollen die Frauen nach dem Bad in Gefangenenkleidung stecken, doch diese weigern sich und müssen schließlich bei vierzig Grad Frost nackt in die Baracke zurückgehen; aber sie bleiben weiter fest.

    

  Grossmann  

 

In einer tiefen und bewegenden Weise behandelt Wassilij Grossman in seinem Roman <Wsjo tetschot> (dt. Alles fließt)2 das Lagerthema. Leider ist die ursprüngliche Fassung des Romans nicht erhalten: Das KGB beschlagnahmte das Manuskript bei einer Haussuchung in Grossmans Wohnung, ebenso wie den zweiten Teil seines Romans »Sa prawoje delo« (Für die gerechte Sache). 

Der Schriftsteller erholte sich von diesem Schlag nicht mehr und starb kurze Zeit darauf. Er hatte noch versucht, den Text seines Romans, für den er viele Jahre Arbeit verwandt hatte, aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren, doch offenbar gelang es ihm nur teilweise. In der vorliegenden Fassung ist eine gewisse Unvollkommenheit und Unvollständigkeit zu spüren, die mit der brüchigen Komposition zusammenhängt: Die einzelnen Handlungsstränge sind überhaupt nicht miteinander verbunden, einige Kapitel wirken wie zufällige Einschübe; eine als Reflexion der Hauptfigur ausgegebene philosophisch-historische Abhandlung über die russische Revolution, über Lenin und den Stalinismus ließ sich nicht organisch in den Roman einfügen, und deshalb ist es wohl auch richtig, daß der Autor diese Betrachtungen nicht in den Text zu pressen versuchte, sondern gesondert an den Schluß stellte — so wie seinerzeit Lew Tolstoj (nach erfolglosem Ausprobieren anderer Varianten) mit den geschichtsphilosophischen Kapiteln in »Krieg und Frieden« verfuhr.

Das Handlungsgerüst ist denkbar schlicht: 

Nach zwanzig Jahren Lager kommt Iwan Grigorjewitsch nach Moskau zurück. Als begabter vielversprechender junger Student war er verhaftet worden, weil er mit dem Professor für Dialektischen Materialismus debattiert hatte und gegen die Diktatur aufgetreten war. Alt geworden nach einem ganzen Leben im Lager, sucht er seinen Vetter Nikolaj Andrejewitsch auf. Doch das Wiedersehen ist für beide schwer — zu verschieden war ihr Leben, und die unvereinbaren Erfahrungen haben sie zu verschiedenen Menschen gemacht. 

wikipedia  Wassili Grossman  (1905-1964)      dnb  Person 

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Die Begegnung mit dem Vetter belastet Nikolaj Andrejewitschs Gewissen — er hat alle Säuberungen und Verhaftungswellen glücklich überlebt und hat sogar als Biologe Karriere gemacht: In denselben Jahren, da die fähigsten Gelehrten als »Weismannisten«, »Mendelianer«, »Speichellecker und Kosmopoliten« verdammt wurden und aus der biologischen Wissenschaft verschwanden. Statt Freude empfindet er bei der Begegnung mit dem Vetter Unbehagen und Fremdheit. 

Iwan Grigorjewitsch fährt nach Leningrad, der Stadt seiner Studentenjahre, und trifft auf der Straße seinen ehemaligen Kommilitonen Pinegin — den Mann, der ihn damals denunzierte. Pinegin glaubt, daß Iwan Grigorjewitsch nichts von seiner Denunziation weiß, und bietet ihm freundschaftlich seine Hilfe an; Iwan Grigorjewitsch aber »schaute ihm ohne Vorwurf, mit wacher trauriger Neugier in die Augen, und eine Sekunde (...) schien es Pinegin: Die Orden, die Datscha, die Macht, die Kraft, die schöne Frau, die erfolgreichen Söhne, die den Atomkern erforschen — alles, alles kann man hergeben, nur um diesen Blick nicht auf sich fühlen zu müssen.« 

Es folgen aufschlußreiche Betrachtungen über Denunziationen und das Spitzelwesen, ein imaginärer Prozeß gegen die Spitzel wird veranstaltet — mit Verteidigern und Anklägern. Alles dies ist natürlich viel tiefer und ernsthafter behandelt als bei Daniel (auf das Unzulängliche an seiner Darstellung des Themas haben wir oben schon hingewiesen). »Wissen Sie, daß die Kraftfelder, die unser Staat erzeugt, daß seine Trillionen Tonnen schwere Masse, daß das absolute Grauen und die absolute Ergebenheit, welche er in der Flaumfeder Mensch hervorruft, derart sind, daß jede Beschuldigung unsinnig wird, die gegen diesen schwachen, schutzlosen Menschen gerichtet ist?« fragt der Verteidiger. 

»Wissen Sie, was das abstoßendste an den Spitzeln und Denunzianten ist? Sie denken — das Schlechte in ihnen? Nein! Das furchtbarste ist das Gute in ihnen, das traurigste, daß sie voller positiver Eigenschaften, Tugenden sind. Sie sind zärtlich liebende Söhne, Väter, Ehegatten. Sie lieben die Wissenschaft, die große russische Literatur, die Musik. Einige von ihnen urteilen selbständig und kühn über die schwierigsten Erscheinungen der modernen Philosophie und Kunst (...) Gerade das ist furchtbar: Viel, viel Gutes ist in ihnen, in ihrem menschlichen Wesen. Wen soll man nun richten? (...) Alle sind schuldig (...) Aber warum ist unsere menschliche Nichtswürdigkeit so schmerzlich, so beschämend?« 

Obwohl sich der Autor nicht mit dem Verteidiger identifiziert, wird in dem Roman doch auch nicht die Frage der persönlichen Verantwortlichkeit aufgeworfen, und das Wesen der menschlichen Freiheit und des menschlichen Gewissens wird, so scheint es uns, zu sehr vereinfacht vorgestellt.

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Iwan Grigorjewitsch fährt in den Süden, läßt sich in einer kleinen Stadt nieder und erhält eine Arbeit als Schlosser in einer Invalidenwerkstatt. Er schließt Freundschaft mit Anna Sergejewna, bei der er zur Untermiete wohnt. Die Annäherung zwischen diesen beiden alternden Menschen, die beide viel durchlitten haben und einander mit Zärtlichkeit und Mitgefühl begegnen, ist leider nicht mit der Sorgfalt geschildert, die sie zweifellos verdient hätte, sondern ist eher nur flüchtig skizziert (wahrscheinlich aus den Gründen, von denen zuvor die Rede war).

In dem Städtchen, wo sich Iwan Grigorjewitsch niedergelassen hat, herrscht Korruption, Schiebung, Unterschlagung. Die Arbeiter, die mit ihrem Verdienst unmöglich eine Familie ernähren können, sind gezwungen, nachts noch illegale Heimarbeit zu leisten und ihre Produkte auf dem schwarzen Markt zu verkaufen, was Strafverfolgung nach sich zieht. All das bringt Iwan Grigorjewitsch auf den Gedanken, daß die Freiheit nicht nur die Freiheit des Wortes, der Presse und des Gewissens ist, wie er in seiner Jugend meinte, als er für jene Freiheit kämpfte und litt. »Freiheit — sie ist das gesamte Leben, von allen Menschen hier, sie ist: du hast das Recht zu säen, was du willst, Schuhe, Mäntel zu nähen, Brot zu backen aus dem, was du gesät hast — es zu verkaufen, es nicht zu verkaufen; Schlosser, Gießer, Künstler, lebe und arbeite, wie du willst, und nicht, wie dir befohlen wird.«

Das Lagerthema ist auf jeder Seite des Romans gegenwärtig, immer wieder wird das Leben dort in Erinnerung gerufen.

Unvergeßlich ist die Erzählung vom Schicksal der Mascha Ljubimowa, die »wegen Nichtanzeigen ihres Mannes« ins Lager kommt — die schwere, für eine Frau unzumutbare Arbeit, der Hunger, die Gewalt der Aufseher, und endlich die »Befreiung« (Mascha wird in einem Sarg aus dem Lager gebracht; sie ist gestorben, nachdem alle Hoffnung verloren und darauf auch ihre Widerstandskraft zerbrochen war). All das ist so schmerzlich eindringlich und mitfühlend geschrieben, daß die Anwesenheit des Autors, die anfangs aufdringlich wirkte, am Ende verständlich und verzeihlich wird und wir den Aufschrei des Entsetzens und des Mitleidens als aufrichtig erkennen.

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Der stärkste Abschnitt des Romans ist die Erzählung Anna Sergejewnas über die furchtbare Hungersnot, die 1930 durch die Zwangskollektivierung hervorgerufen wurde. Dieser erschütternde Bericht ist zugleich auch die einzige Beschreibung der Folgen der »Entkulakisierung«, die es bis heute in der russischen Literatur gibt. 

Nachdem man die »Kulaken«, das heißt die fleißigsten und kenntnisreichsten Bauern, liquidiert oder deportiert hatte (von oben wurde der Plan festgesetzt: in jedem Rayon war eine bestimmte Anzahl von »Kulaken« der Liquidierung zuzuführen), wurde nur noch viel weniger geerntet, erzählt Anna Sergejewna; aber der Staat forderte das Ablieferungssoll an Brot, sie nahmen sogar das Saatgut weg, und im Dorf begann der Hunger. Die Menschen aßen Mäuse, Ratten, Ungeziefer, Spatzen, Ameisen, Würmer, Schuhsohlen, Gras und Wurzeln. Es kamen Fälle von Kannibalismus vor, vom Hunger zum Wahnsinn getriebene Menschen kochten Leichen, töteten und aßen ihre eigenen Kinder. 

»Ich habe eine Frau gesehen, man brachte sie unter Bewachung ins Rayonszentrum — das Gesicht eines Menschen, aber die Augen eines Wolfs.« Um die Städte herum wurden Wachen postiert, um die hungrigen Bauern daran zu hindern, in die Stadt zu gelangen. Aber der eine oder andere schaffte es doch, sich durchzuschlagen, und auf den Straßen krochen die Hungernden auf allen vieren und starben auf dem Pflaster. Und das Leiden und Sterben der Kinder... »Köpfe, so schwer wie Kanonenkugeln, Hälse, dünn wie die von Störchen (...) Die Gesichter der Kinder sind alt, als hätten die Kleinen schon siebzig Jahre dieser Welt hinter sich, und gegen Frühling waren es schon keine Gesichter mehr: hier ein Vogelköpfchen mit einem Schnäbelchen, dort ein Froschmäulchen — die Lippen dünn, breitgezogen, und das da, wie ein Gründling — der Mund steht offen. Menschengesichter waren das nicht. Und die Augen, o Herr! Genosse Stalin, mein Gott, hast du diese Augen gesehen?« 

Und die sowjetische Propaganda fuhr fort, den Leuten im Westen vom glücklichen Leben im Sowjetland zu erzählen und zu versichern, die Bauernkinder äßen Hühnersuppe und Reispuffer. »Sie bringen also still und heimlich Millionen um und belügen die ganze Welt! Hühnersuppe, schreiben sie! Reispuffer! Und hier sind alle Regenwürmer aufgegessen worden!« ruft Anna Sergejewna voll Empörung aus.

In schlaflosen Nächten denkt Iwan Grigorjewitsch über die Erfahrungen seines Lebens, über all das Grauen und Leiden nach, und er versucht, einige verallgemeinernde Schlußfolgerungen zu ziehen. Dieser abschließende geschichtsphilosophische Teil des Romans ist äußerst aufschlußreich, besonders wenn man ihn in der historischen Perspektive betrachtet.

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Als Grossman seinen Roman schrieb (1955-1963), war der größere Teil der sowjetischen Intelligenz noch bestrebt, den Stalinismus als eigenständiges Phänomen zu begreifen, als eine besondere Periode, die mit Stalin begann und endete und von der vorhergehenden Periode Lenins scharf geschieden war. Die Intelligenzler verurteilten Stalin, aber versuchten Lenin noch zu retten. Doch gerade dagegen wandte sich Grossman: Die letzten Kapitel des Romans sind mit der Absicht geschrieben, Lenin seinen Nimbus zu rauben.

Unumwunden klagt Grossman Lenin an: 

Er sei ein Diktator gewesen, habe die Freiheit erstickt, die gesamte nichtkommunistische Presse unterdrückt, habe »alle revolutionären Parteien liquidiert außer der einen, die ihm die revolutionärste schien, die Konstituante liquidiert, in der alle Klassen und Parteien des nachrevolutionären Rußland vertreten waren«. Das Entscheidende daran ist natürlich nicht der Charakter Lenins; Haß und Intoleranz kennzeichneten in größerem oder geringerem Ausmaß alle Revolutionäre. Entscheidend sind nicht ihre persönlichen Züge, nicht die Züge ihres Charakters, sondern Züge, die tief in der Natur der revolutionären Gewalt selbst wurzeln, die, wenn man so will, zur Psychologie der Revolution gehören. 

»Die Herzen dieser Menschen, die die Erde mit viel Blut begossen haben, die so viel und so leidenschaftlich gehaßt haben, waren kindlich, arglos, es waren die Herzen von Fanatikern, vielleicht von Wahnsinnigen. Sie haßten um der Liebe willen.« Doch die Dialektik von Haß und Liebe, von Freiheit und Intoleranz führte dazu, daß das, was das Wesentliche schien — das Ziel, die ideale Gesellschaft —, plötzlich vom Zweitrangigen, von den Mitteln zu diesem Ziel, verschlungen wurde: der Gewalt und der unmenschlichen Intoleranz. 

»Der Staat, der ein Mittel schien, erwies sich als der Zweck. Die Menschen, die diesen Staat geschaffen hatten, dachten, daß er ein Mittel zur Verwirklichung ihrer Ideale wäre. Es stellte sich aber heraus, daß ihre Träume, Ideale dem großen, mächtigen Staat als Mittel gedient hatten. Der Staat hatte sich vom Diener in einen düsteren Selbstherrscher verwandelt.« Und die grandiosen Stalinschen Großbauten des Kommunismus, die auf den Knochen von Millionen von Häftlingen errichtet wurden, brachten nicht den Menschen, dem Volk Nutzen, sondern nur dem entsetzlichen Moloch Staat. 

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Hier wiederholt Grossman (vielleicht ohne es zu wissen) die bekannte These Kljutschewskijs, daß der Begriff des Fortschritts durchaus nicht eindeutig sei, daß Fortschritt für den Staat, industrielles Wachstum, Anwachsen der Staatsmacht einhergehen kann mit Rückschritt für die Menschen, mit einer Verschlechterung ihrer Existenzbedingungen, einem Verfall der Freiheit (»der Staat schwoll an, das Volk ging ein«); und wenn Grossman dergestalt daraufhinweist, daß »Nationen und Staaten sich im Namen der Gewalt und entgegen der Freiheit entwickeln können«, daß der Fortschritt, die Entwicklung möglicherweise »nicht das Anwachsen der Freiheit, sondern der Knechtschaft« bringt, hat er die entscheidende Frage aufgeworfen: 

War der Massenterror eine notwendige und unvermeidliche Folge des sowjetischen Systems, wie es Lenin geschaffen hatte, oder war er die »sinnlose Äußerung einer unkontrollierten und grenzenlosen Macht, die in den Händen eines einzelnen grausamen Menschen« lag? 

Grossman antwortet: Der Massenterror, das Blutvergießen waren notwendig für die Diktatur, den neuen Staat; das gewaltsame widernatürliche totalitäre System konnte sich nur halten, indem es die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit Hilfe des Massenterrors in Schach hielt, indem es jede Äußerung der Freiheit unterdrückte. »Ohne dieses Blut hätte der Staat nicht überlebt. Schließlich hat die Unfreiheit dieses Blut vergossen, um die Freiheit zu überwinden.«

Obgleich heutzutage der größere Teil der russischen Intelligenz nicht die geringste Sympathie für Lenin empfindet und inzwischen im Unterschied zu Grossman auch über sehr viel mehr Argumente gegen ihn verfügt, die auch ausführlicher begründet und dokumentiert werden, bleibt es Grossmans Verdienst, daß er der Vorkämpfer war, der viele andere nach sich zog.

Sehr umstritten ist Grossmans These, daß gerade die russische Revolution und der russische Charakter ein solches Ergebnis hervorbringen mußten, daß es an der »russischen Seele« liege, die Grossman »eine tausendjährige Sklavin« nennt, deren Wesenszüge »von der Unfreiheit hervorgebracht« seien. (»Es wird Zeit, daß die Enträtsler Rußlands begreifen — nur das tausendjährige Sklaventum hat die Mystik der russischen Seele geschaffen.«) 

Die Beobachtung aller Revolutionen, von der Großen Französischen bis zur kubanischen, zeigt, daß Grossman hier unrecht hat, und jene anderen allgemein bekannteren Züge der russischen Seele — wie die Kühnheit und Unbekümmertheit, die Weite des Herzens und des Atems, die Unbändigkeit des Lebensgenusses — lassen sich nie und nimmer auf die Knechtschaft zurückführen (überzeugende Argumente gegen Grossmans Konzeption entwickelt Arkadij Stolypin,3) der in einem Artikel nachweist, daß die Gemeinplätze über die tausendjährige Sklaverei des russischen Volkes auf Unkenntnis oder wissentlicher Vernachlässigung der elementaren Fakten der russischen Geschichte basieren).

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Im Samisdat wurde auch ein anderes Buch Grossmans bekannt. Zum Glück gelang es einem Freund des Schriftstellers, ein Exemplar des zweiten und dritten Bandes von Grossmans Roman »Für die gerechte Sache« vor der Beschlagnahme zu retten (der erste Teil war 1952 in der Zeitschrift »Nowyj mir« erschienen und auf heftige Kritik von seiten der Parteiideologen gestoßen), und so kann dieses schon verloren geglaubte Werk bald in die Hände der russischen Leser gelangen — dem KGB zum Trotz, der alles versucht hat, es für immer zu begraben.

 

Das Thema des Terrors beherrscht, wenngleich auf einer ganz anderen Ebene, auch die beiden Romane von Lydia Tschukowskaja »Sofja Petrowna (Opustelyj dorn)« (dt. Ein leeres Haus) und »Spusk pod wodu« (dt. Untertauchen). Sie erzählen von dem Leben der russischen Frauen, die zu Hause bleiben und in der Gesellschaft weiterleben mußten, nachdem man ihre Männer und Kinder ins KZ geschafft hatte. Lydia Tschukowskaja, die Tochter des berühmten Schriftstellers Kornej Tschukowskij, der als jungem Mädchen Erziehung und Bildung von den Besten der russischen Intelligenz zuteil wurde, ein Mensch von hoher Kultur, leuchtender Begabung und seltener Furchtlosigkeit, hat es vermocht, uns von innen heraus (als Frau) die Tragödie der russischen Frau in der Stalinzeit zu zeigen. Die mühelose Klarheit und Reinheit der Sprache, die wahrhaft weibliche Eleganz, das feine Gefühl für Maß, die Aufrichtigkeit der Trauer, all das verleiht ihren Büchern einen fesselnden Reiz. Man darf sie wohl als die gelungensten Beispiele einer »weiblichen« Literatur in Rußland bezeichnen.

Der Roman »Ein leeres Haus« wurde 1939-1940 geschrieben. »Ich hatte selbstverständlich keine Hoffnung, meine Erzählung je gedruckt zu sehen«, schreibt Lydia Tschukowskaja. 

»Ich wagte nicht einmal zu hoffen, daß das Schulheft, das meine Erzählung in Reinschrift enthielt, der Vernichtung entgehen und erhalten bleiben werde. Es war gefährlich, es in einem Fach meines Schreibtisches aufzubewahren; aber ich konnte mich nicht dazu entschließen, es zu verbrennen. Ich betrachtete meine Aufzeichnungen nicht so sehr als Erzählung denn als Zeugenaussage, die zu vernichten nicht zu verantworten gewesen wäre.«4)

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Fremde Menschen bewahrten das Manuskript lange Jahre bei sich auf, und in den sechziger Jahren wurde der Roman endlich zum Gemeinbesitz für die russischen Leser — er begann im Samisdat zu zirkulieren und fand dabei weiteste Verbreitung, da er auf große Zustimmung stieß. L. Tschukowskaja verzichtete darauf, irgend etwas zu korrigieren, sondern ließ den Roman so, wie er vor zwanzig Jahren geschrieben worden war. »Mein Bericht möge wie eine Stimme aus der Vergangenheit klingen«, schreibt sie, »wie die Aussagen eines Augenzeugen, der gewissenhaft versucht, trotz der ungeheueren Verstümmelung der Wahrheit klarzusehen und das aufzuzeichnen, was sich in seiner Gegenwart abgespielt hat.«  

Darin liegt ein bedeutsamer Unterschied zu anderen Samisdatwerken, die den Terror der dreißiger Jahre retrospektiv, von heute aus betrachten, in denen sich das unmittelbare Miterleben — das von der Zeit bereits getrübt ist — mit ihrem heutigen Wissen und ihren späteren Erfahrungen verbindet. Lydia Tschukowskajas Roman jedoch läßt ganz lebendig und unmittelbar die Atmosphäre jener Jahre wiedererstehen, den Optimismus und Enthusiasmus vieler einfacher Menschen, die damals noch an die nahe glückliche Zukunft des Landes, an den bevorstehenden unvermeidlichen Sieg des Sozialismus glaubten. 

Sofja Petrowna, ihr Sohn Kolja und sein Freund Alik gehen ganz in ihrer Arbeit auf, stellen ihre Kräfte freudig in den Dienst der großen Sache: Sofja Petrowna als Stenotypistin in einem großen Leningrader Verlag, Kolja und Alik in der Ural-Schwermaschinenfabrik, wo sie nach Beendigung des Maschinenbau-Technikums die Einführung neuer Technologien durchzusetzen bemüht sind. Doch allmählich ziehen sich drohende Wolken zusammen. Solange die Repressionen andere erfassen, sind Sofja Petrowna, Kolja und Alik entschlossen, dies nicht zur Kenntnis zu nehmen; die Gründe für das, was um sie herum geschieht, sind ihnen unbegreiflich, und deshalb bemühen sie sich gar nicht, darüber nachzudenken. 

Doch dann wird Kolja verhaftet, Sofja Petrowna verliert ihre Arbeit, und obgleich Stenotypistinnen überall gebraucht werden, wird sie nirgendwo mehr eingestellt. Allmählich gehen auch denen die Augen auf, die selbst nicht unmittelbar betroffen sind. Menschen, die der Sowjetmacht wirklich ergeben waren, die ihre Stützen hätten sein können (und das waren doch gerade solche Bürger wie Sofja Petrowna, Kolja und Alik, zwar unbedarfte, aber ehrliche und anständige Menschen), verlieren ihren Glauben, kapseln sich ab wie Sofja Petrowna, die von Furcht paralysiert ist, die vor allen Angst hat — vor den Nachbarn, dem Hausmeister, den Milizionären —, begehen Selbstmord wie Natascha Frolenko, Sofja Petrownas Mitbewohnerin, oder folgen bei der kleinsten Äußerung der Unzufriedenheit den anderen ins KZ wie Alik. 

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Der Roman berichtet vom Zusammenbruch des Optimismus. Er gibt keine Analyse der Ereignisse jener Jahre, sondern zeigt mit bewegender Eindringlichkeit, wie diese Ereignisse von einem einfachen Sowjet­menschen wahrgenommen wurden.

In der zweiten Hälfte des Buchs wird erzählt, wie Sofja Petrowna stunden- und tagelang in den Warteräumen des NKWD, im Gefängnis, in der Staatsanwalt­schaft Schlange steht, zusammen mit Tausenden von anderen ebenso unglücklichen Frauen, in der vergeblichen Hoffnung, irgend etwas über den verhafteten Sohn zu erfahren (wenigstens, wofür man ihn verhaftet hat); erzählt wird vom Schmerz und Leid Sofja Petrownas, von ihrer wachsenden Verzweiflung, die fast zur geistigen Verwirrung führt (als sie ihre Bekannten davon zu überzeugen versucht, ihr Sohn sei freigesprochen und aus der Haft entlassen worden, und allmählich selbst daran zu glauben beginnt)... Diese Kapitel sind von einer tiefen Tragik erfüllt, und die taktvoll verhaltene Erzählweise verstärkt diese Empfindung.

Auch der Roman »Untertauchen« behandelt das tragische Schicksal der russischen Frauen, die ihre Männer in den Stalinschen Säuberungen der dreißiger Jahre verloren, doch er spielt bereits in der Nachkriegszeit, als sich der Polizeistaat schon voll ausgebildet hatte, schon unverrückbar fest erstarrt war, in der drückenden Atmosphäre der völligen Ergebenheit und des Schweigens, der Lüge, der Angst, des Argwohns und Mißtrauens. 

Die Hauptfigur des Romans, Nina Sergejewna, Schriftstellerin und Übersetzerin, kommt in ein Erholungsheim für Kunstschaffende in der Nähe von Moskau, um auszuruhen und einmal in der Stille arbeiten zu können, vor allen Dingen aber, um für eine Weile allein zu sein, allein mit ihrem Schmerz, ihren Erinnerungen und ihren Träumen. Ein Traum verfolgt sie die ganze Zeit. »Aljoschas Tod beim Verhör« nennt sie für sich diesen Traum von Folter, Verhör und Tod ihres Mannes. Von seinem Tod ist sie indessen nicht überzeugt — ihr wurde mitgeteilt, daß ihr Mann zu zehn Jahren Lager ohne Recht auf Korrespondenz verurteilt worden sei, und seit dem Tag seiner Verhaftung hat sie von ihm keinerlei Nachricht, sie weiß nichts von seinem Schicksal, und gerade diese

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Ungewißheit ist das qualvollste; für sie ist das wie »ein Entsetzen, das keine Farbe, keinen Geruch hat«. Als sie deshalb erfährt, daß der Schriftsteller Bilibin, der im Speiseraum des Erholungsheims an ihrem Tisch sitzt, auch im KZ war (einer der in jenen Jahren höchst seltenen Fälle, wo es jemandem gelang, aus dem Lager entlassen zu werden), beginnt sie, ihn begierig über dieses ihr unbekannte Leben im Lager auszufragen, und bemüht sich, aus seinen vorsichtigen, spärlichen Sätzen das Richtige herauszuhören und sich eine Vorstellung davon zu machen, was ihr Mann durchlitten hat. 

Heute, nach Stalins Tod, wissen wir, daß das Urteil »zehn Jahre ohne Recht auf Korrespondenz« in Wahrheit bedeutete, daß der Verurteilte erschossen worden war. Seine Lagererfahrung läßt Bilibin ahnen, was es mit diesem Urteil wahrscheinlich auf sich hat, und er sagt das Nina Sergejewna auch offen. »Sie haben ihn also einfach ermordet. Und all das Schlangestehen in Leningrad und Moskau war völlig sinnlos«, denkt Nina Sergejewna. »Die Anträge. Und die Briefe. Und die Revisionsanträge. Alles zu spät. Als ich noch von einem Schalter zum anderen hastete, lag Aljoscha schon längst unter der Erde. Wo haben sie ihn begraben? Nachdem sie ihn ermordet hatten, haben sie mich noch jahrelang belogen.«5)

Ein zutiefst lyrischer Ton durchzieht das Buch; an manchen Stellen erreicht es die Höhe wahrhafter Poesie. Als Kontrast zu den in ihrer Trauer hochstehenden Empfindungen der Hauptfigur wird die niederträchtige und scheinheilige Welt der offiziellen Sowjetschriftsteller vorgeführt, die im Künstlerheim im Luxus leben, während das Volk Armut leidet, und für ihre Privilegien mit dem »Schreiben patentierter Lügen« zahlen.

Auch in diesem Roman beeindruckt das feine Gefühl für Sprache und Stil. (Lydia Tschukowskaja, die viele Jahre in Verlagen gearbeitet hat, gilt zu Recht als eine der besten Redakteurinnen für schöne Literatur in Rußland.)

In den letzten Jahren ist Lydia Tschukowskaja oftmals als Publizistin hervorgetreten; in ihren Artikeln und Offenen Briefen, die im Samisdat verbreitet werden, spricht sie die Wahrheit mit der gleichen Geradheit und Furchtlosigkeit aus wie in ihren Büchern. In ihrem Offenen Brief an Michail Scholochow entlarvt sie voller Empörung die schmachvolle Rolle, zu der sich Scholochow bei der Unterdrückung andersdenkender Schriftsteller hergegeben hat; in ihrem Artikel »Ne kasn, no mysl, no slowo« (Keine Hinrichtung, sondern Wort und Gedanke) 

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weist sie auf die Tendenzen zu einer Rückkehr zum Stalinismus hin, wie sie sich nach Chruschtschows Sturz wieder auszubreiten begannen; in den Artikeln »Otwetstwennost pissatelja i besotwetstwennost <Literaturnoj gasety>« (Die Verantwortlichkeit des Schriftstellers und die Unverantwortlichkeit der »Literaturnaja gaseta«) und »Gnew naroda« (Volkszorn) erhebt sie ihre Stimme gegen die Hetzjagd auf Alexander Solschenizyn, gegen die Lügen, die die sowjetische Presse auf den Namen Solschenizyn häufte. Wegen dieser beiden Artikel wurde Lydia Tschukowskaja im Januar 1974 aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Die Umstände und die Prozedur dieses Ausschlusses schildert sie in ihrem eindrucksvollen Buch »Prozess iskljutschenija. Otscherk literaturnych nrawow« (Ausschlußverfahren. Eine Skizze über literarische Sitten).

Erwähnung verdienen ebenfalls die sehr lesenswerten »Sapiski ob Anne Achmatowoj« (Aufzeichnungen über Anna Achmatowa), Aufzeichnungen, in denen Lydia Tschukowskaja im Laufe vieler Jahre immer aufs neue ihre frischen Eindrücke von ihren Begegnungen mit Anna Achmatowa festhielt. Sie bieten uns nicht nur unschätzbares Material für die Erforschung der russischen Lyrik, sondern geben auch eine lebendige Schilderung vom Leben der sowjetischen Intelligenz während der letzten Jahrzehnte.

 

Von einer ganz überraschenden und ungewöhnlichen Warte aus wird das Thema des Stalinismus in Alexander Beks Roman »Nowoje nasnatschenije« (dt. Die Ernennung)6 behandelt. Es ist ein Roman über die hochgestellten Mitarbeiter Stalins. Mit großer Überzeugungskraft und Sachkenntnis schildert Bek die Arbeit im Stalinschen Staatsapparat. Der Held des Romans ist der Vorsitzende des Staatlichen Komitees für Metallurgie und Brennstoffe beim Ministerrat der UdSSR, Aleksandr Leontjewitsch Onissimow; damit ist allem Anschein nach Stalins Minister für Schwarzmetallurgie Tewosjan gemeint — zur Tarnung (Bek hoffte auf eine Veröffentlichung des Romans in der Sowjetunion) wurde Tewosjans Name im Buch einer anderen Figur verliehen (hinter der sich möglicherweise Mikojan verbirgt); der Metallurge Bardin, Mitglied der Akademie der Wissenschaften, figuriert im Roman als Akademiemitglied Tschelyschew und der Schriftsteller Fadejew unter dem Namen Pyshow. 

Bek kennt die von ihm beschriebene Welt sehr gut; schon 1931 machte er sich — beauftragt von der Redaktion des Projekts »Geschichte der Fabriken und Werke« (unter Vorsitz von Maxim Gorkij) — daran, die Geschichte des Kusbass zu schreiben.

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Er behandelte dieses Thema über viele Jahre hinweg und verfaßte zahlreiche Kurzromane, Erzählungen und Skizzen über die sowjetische Metallurgie. An mehreren Stellen seines Romans treten Stalin und Berija auf, und man darf zu Recht behaupten, daß wir hier vermutlich die realistischste Darstellung Stalins in der ganzen russischen Literatur vor uns haben. Bei Solschenizyn ist Stalin satirisch verfremdet, in anderen Samisdatwerken ist er entweder ein Scheusal und Ungeheuer oder eine mit Macht ausgestattete Null, und nur hier bei Bek sehen wir den wirklichen, lebendigen Stalin: sein Verhalten, seine Worte, Posen, Gesten, Handlungen werden so geschildert, daß das Gefühl dokumentarischer Treue entsteht/''

Onissimow, wie ihn Bek darstellt, ist ein Mensch mit vielerlei positiven Eigenschaften: Er ist arbeitsam, ehrlich, prinzipientreu, seiner Sache ergeben, er widmet der Arbeit sein ganzes Leben; für ein Privatleben bleibt ihm praktisch keine Zeit — auf einer »Liste unbeendeter Vorhaben« steht nüchtern verzeichnet: »Zusammensein mit A.« (seinem Sohn Andrej). Und auch dafür nimmt er sich die Zeit nur, weil er ein Mensch der Pflicht ist und seine Verantwortung für die Erziehung des Jungen nicht ignorieren darf. 

Onissimow verfügt über außergewöhnliche Willenskraft und Selbstbeherrschung. Als sich herausstellt, daß das Werk »Elektrometall« mit der von der Regierung gestellten Aufgabe (der Schmelzung eines besonders hitzebeständigen Stahls für Düsenantriebe) nicht zurechtkommt, unterbricht er die Behandlung seiner Krankheit (Entangitis obliterans — Taubwerden der Füße), fährt zum Werk und steht Stunden auf der Arbeitsplattform des Ofens, »ohne sich zu gestatten, den Schmerz auch nur zu empfinden«

 

* Es ist aufschlußreich, die Beksche Darstellung Stalins mit der Stalincharakterisierung in der bekannten anonymen Novelle »Utro w maje 1947 goda« (Ein Morgen im Mai 1947) zu vergleichen. Hier frappiert ebenfalls die Kenntnis genauer Details seiner Lebensgewohnheiten und Wohnverhältnisse und der Personen seiner Umgebung (manche dieser Details kann man in den Memoiren Swetlana Allilujewas wiedertreffen). Doch entgegen seinem Verlangen, ein realistisches Porträt von Stalin zu zeichnen, ist dies dem Autor der Novelle nicht gelungen; das Original schlüpft ihm immer aus den Händen, Stalin gerät das eine Mal dümmer, das andere Mal simpler, mal naiver und mal wieder schwülstiger und redseliger, als er in Wirklichkeit war.

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Onissimow ist ein Mann aus Eisen, der typische positive Held der sowjetischen Literatur, wie wir sie zu Dutzenden in den Büchern der Stalinschen und nach-Stalinschen Zeit finden. Das hat einige Kritiker (wie W. Mort7) veranlaßt, Beks Roman als gewöhnliches »soz-realistisches« Werk und nachgerade als Apologie Stalins zu qualifizieren. Doch dieser Eindruck kann sich nur bei einer flüchtigen Durchsicht des Buches ergeben; man muß es nur aufmerksam genug lesen, um zu erkennen, daß darin ganz im Gegenteil die »Männer aus Eisen« ihres Nimbus entkleidet und die diktatorischen Methoden der Leitung von Sachen und Menschen verurteilt werden, daß die Ineffektivität solcher Methoden aufgedeckt wird, bei denen Disziplin und Befehl und Gehorsam die Selbständigkeit und Initiative und das Gefühl für Verantwortung ersetzen. 

Onissimow, der »Mann aus Eisen«, der sich im Umgang mit seinen Untergebenen nach den beiden Prinzipien »den Apparat unter Spannung halten« und »nichts für bare Münze nehmen« richtet und der gegenüber Stalin und anderen hochstehenden Führern nur widerspruchslose Unterordnung kennt (selbst wo es sich offenkundig um absurde Verfügungen handelt, wie bei der wissentlich ruinösen Anordnung Stalins, nach der vermeintlich innovativen, in Wirklichkeit undurchführbaren Methode des Ingenieurs Lesnych Hochöfen bauen zu lassen) — dieser »Soldat der Partei« hat mit seinen vierundfünfzig Jahren »die Gefäße und das Herz eines Siebzigjährigen«.

Der Arzt, der ihn behandelt, sieht darin eine Folge der häufigen »Fehler« (nach der Terminologie des Akademiemitglieds Pawlow), das heißt des Zusammenstoßens »zweier ineinander widersprechender, von der Großhirnrinde ausgesandter Impulse oder Befehle. Der innere Antrieb befiehlt Ihnen, sich so zu verhalten. Sie aber zwingen sich dazu, etwas Entgegengesetztes zu tun. Das passiert jedem im täglichen Leben, doch manchmal ist eine solche Kollision ungewöhnlich heftig. Und es entsteht eine Krankheit.« 

Diese Kollision zwischen Befehl und innerer Überzeugung, dieser innere Druck auf die Persönlichkeit führt nicht nur zur Krankheit, sondern auch zu schrecklichen moralischen Leiden. So entsteht jener neue Robotermensch, auf den sich im Grunde genommen alle totalitären Staaten stützen (gäbe es solche Menschen nicht, könnte der Totalitarismus nicht existieren). Das Schreckliche dabei ist, daß der Totalitarismus solche Menschen selber hervorzubringen vermag: Selbst aus einem so wertvollen und sympathischen Menschen wie Onissimow macht das System ein Monstrum.

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Meisterlich schildert uns Bek die Atmosphäre in den Kreisen der herrschenden Elite; der Leser atmet gleichsam die Luft der Kremlgemächer, der Empfangszimmer der Minister. Sehr anschaulich wird gezeigt, wie weit sich die führenden Funktionäre mit ihren Datschas, Autos, Spezialgeschäften und Spezialkantinen vom Leben der einfachen Menschen entfernt haben — unvergeßlich die Szene, wie Onissimow und sein erster Stellvertreter Golownja überraschend ohne Auto dastehen und gezwungen sind, mit der Metro durch Moskau zu fahren — und sie sich gleichsam wie Marsmenschen fühlen, hilflos und deplaziert in dieser unbekannten Welt des einfachen Volkes. 

Bek war jedoch nicht in der Lage (oder fürchtete sich), diesen neuen, vom sowjetischen System geschaffenen Typus von Menschen bis auf seinen letzten Grund zu analysieren — Menschen, die alles Menschliche in sich selber ausgebrannt und sich in exakt funktionierende Mechanismen verwandelt hatten, in »Rädchen und Schräubchen« (ein Lieblingsausdruck von Stalin) der Staatsmaschinerie (»Obwohl er Banalitäten vermeiden möchte, fühlt sich der Autor verpflichtet, hier die Binsenwahrheit zu wiederholen, daß es Leute dieses Schlages in der Geschichte bisher noch nicht gegeben hat«). 

Bek erkühnte sich seiner Kritik zu einem Zeitpunkt, da die sowjetische Führung selbst, beunruhigt durch die Ineffektivität des bestehenden Systems, davon zu sprechen begann, daß die Leitungsmethoden verändert werden müßten, und er überschritt mit seiner Kritik nicht die Grenze, die die sowjetische Führung ihr gezogen hatte. Daher auch die Widersprüche bei Bek: Er spricht zum Beispiel von »jenem leuchtenden Gestirn von Direktoren, das zu Beginn der dreißiger Jahre aufgegangen war und dann vor kurzem durch Stalin brutal vernichtet worden war«, vom Chaos und der Desorganisation in der Industrie, »nachdem alle Direktoren und viele ihrer Mitarbeiter verhaftet worden waren«, von der Verringerung der Arbeitsproduktivität; gleichzeitig jedoch spricht er vom »Wunder der ersten Fünfjahrpläne« — damit wiederholt er die widersprüchliche, verlogene und wenig plausible offizielle sowjetische Version des Stalinismus-Phänomens. 

Die Tatsache, daß selbst in dieser Form der Roman in der Sowjetunion nicht zum Druck zugelassen wurde, zeigt, wie unaufrichtig, widerstrebend und von außen bedingt die Kritik der Parteiführung am Stalinismus gewesen ist. Es ist schwer zu entscheiden, ob dieser Widerspruch zwischen der realistischen Schilderung der Welt der Sowjet-Elite und der Hilflosigkeit der Analyse bei Bek seiner individuellen Begrenztheit geschuldet ist oder eher der Vorsicht und dem Bemühen, die erlaubten Grenzen nicht zu überschreiten.

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Es muß hervorgehoben werden, daß derartige »Zwischenwerke« in der sowjetischen Literatur heute recht zahlreich geworden sind — das heißt Bücher, die von der Zensur als gefährlich und untragbar angesehen werden, auch wenn sie gar keine wirklich offene und kühne Kritik des Sowjetsystems enthalten.

Warum, zum Beispiel, wurde Anatolij Gladilins Roman »Prognos na sawtra« (dt. ... und morgen wechselnd wolkig)8 von der Zensur verboten? Gladilin hoffte offensichtlich auf die Veröffentlichung; davon zeugt der optimistische Schluß des Romans, wo sich alle Widersprüche glücklich auflösen: Der Held des Buches, der junge Physiker Wladimir Martynow, gewinnt nach qualvollem Suchen, nach Enttäuschungen und Erniedrigungen (eine Zeitlang arbeitet er sogar als Musiker in einem Restaurant) endlich Erfolg und Anerkennung auf einem Gebiet, das ihn interessiert — der langfristigen Wettervorhersage; das amouröse Dreieck löst sich, wie in der sowjetischen Literatur obligatorisch, mit einem Sieg der Pflicht über das Gefühl — Martynow trennt sich von seiner Geliebten und bleibt bei seiner Frau. 

Nach dem Ton, der das Buch durchzieht, und nach dem Ansatz, von dem aus hier versucht wird, zum Wesen der Erscheinungen vorzudringen (»auf der Ebene der Wahrheit« sozusagen), ist das ein typisch sowjetischer Roman von der Art, wie sie seinerzeit im »Nowyj mir« erschienen. Aber inzwischen darf man nicht einmal mehr dieses Körnchen Wahrheit aussprechen. Man darf nicht laut sagen, daß in einem sowjetischen Forschungsinstitut die Wissenschaftler, gefesselt von bürokratischen Vorschriften, von staatlichen Plänen und Direktiven, jeder Initiative und Experimentierfreiheit beraubt, faktisch den größeren Teil der Arbeitszeit unnütz herumsitzen. »Was für eine Lösung schlagen Sie vor? Arbeitslosigkeit?« wird Martynow gefragt. »Ja. Eine offizielle Arbeitslosigkeit ist besser als nichtoffizielles Nichtstun«, antwortet dieser (S.^164). Und das kann natürlich kein sowjetischer Zensor durchgehen lassen.

Schlamperei, Gleichgültigkeit, die Haltung des »Rutsch mir den Buckel runter« — Verhaltensweisen, die zu einer wahren Geißel für die sowjetische Gesellschaft geworden sind, wurden anfänglich, im Rahmen der Kampagne für die Beseitigung von »Mängeln«, in der sowjetischen Presse offen kritisiert, doch inzwischen ist auch dem letzten klargeworden, daß das keine »Mängel«, sondern grundlegende Fehler des Gesellschafts­systems sind,

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und sie zu erwähnen, ist heute nicht mehr möglich. So wie man auch nicht laut sagen darf, daß die Desorganisation des Alltags, der Warenmangel, die hohen Preise und niedrigen Löhne das Leben der einfachen Sowjet­menschen zur Qual und zum Horror werden lassen.

»Ein Mensch«, so überlegt der Held des Buchs, »der nach der Arbeit eine halbe Stunde um Tomaten ansteht (und sie gehen gerade vor ihm aus), dann noch eine halbe Stunde um Konserven (und auch sie verschwinden genau vor seiner Nase), dann zehn Minuten für Äpfel«, und die Verkäuferin gibt ihm den Einkaufsbon zurück, »weil er für eine andere Abteilung ausgestellt wurde (>Was soll ich mit dem Bon machen?< >Lassen Sie ihn von der Geschäftsführerin abzeichnend >Wo ist denn die Geschäftsführerin?< >Weggegangen!< >Wann kommt sie wieder?< > Bürger, Sie stören mich bei der Arbeit !<) — nun, ich möchte mit allem Verantwortungsbewußtsein behaupten, daß dieser Mensch eine soziale Gefahr darstellt: Er ist fähig, sich einfach in die Menge zu stürzen und um sich zu beißen.« (S. 163)

Und noch an anderer Stelle:

»Als ich mich noch für Literatur begeisterte, merkte ich, daß die Helden sowjetischer Autoren überhaupt nicht ans Geld denken (...) Ich gebe ehrlich zu, daß ich immer mehr ans Geld denke. Mir scheint, daß damit etwas Unerklärliches passiert. Früher, vor der Reform, fühlte ich mich, wenn ich einen Hunderter in der Hand hatte, als reicher Mann. Wenn ich heute in einen Laden gehe, ist gleich ein Zehnrubelschein weg. [Dabei behauptet doch die sowjetische Presse, daß es im Sozialismus Inflation nicht gibt und nicht geben kann — J. M.] (...) Ich bekomme ein anständiges Gehalt. Hundertfünfzig im Monat. Auf die Hand — 135 Rubel (...) Das, was wir früher gekauft haben, das kaufen wir auch heute. Ohne Luxus und irgendwelche Feten. Nur das Nötigste (...) Das macht elf Rubel für zwei Tage. Mit fünfzehn multiplizieren — macht 165 Rubel im Monat nur fürs Essen.« (S. 98)

Dieses Eingeständnis, daß ein sowjetischer Wissenschaftler ein Gehalt bezieht, das nicht einmal für die Ernährung seiner kleinen dreiköpfigen Familie — Mann, Frau und Töchterchen — ausreicht, kann natürlich gleichfalls kein Zensor durchlassen. Auch nicht die Wahrheit darüber, daß alle sowjetischen Neubaustädte monoton, phantasielos-standardisiert, gesichtslos, scheußlich und gleichförmig sind: »Hat man sich einmal an einer Stadt sattgesehen, möchte man in keine zweite mehr. Alles ist gleich. 

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Die Hauptstraße ist nach Lenin benannt. Parallel dazu liegen die Straße des Kommunismus, die Sowjet-Straße, die Straße der Roten Armee (...) An den Häusern sind Transparente und Aufschriften angebracht: >Es lebe der Kommunismus — die frohe Zukunft der ganzen Menschheit!<, >Das Werk Lenins wird siegen!<« (S. 154) Und daß der ausländische Tourist, sorgfältig abgeschirmt vom realen sowjetischen Leben durch Personal »mit eingeübtem Lächeln«, in besonderen Hotels untergebracht, auf ausgewählten Routen geführt, nicht die Wahrheit über unser Land erfahren kann — all das konnte die sowjetische Zensur ebenfalls nicht durchlassen.

Doch obgleich er sichtbar bemüht war, so wahrheitsgetreu wie möglich zu schreiben, gelang es Gladilin nicht, gewisse falsche Töne und ein unaufrichtiges Kokettieren mit dem Leser zu vermeiden. Wie er es auch anstellt, er vermag nie den richtigen Ton zu treffen; seinen Lesern traut er wenig zu — mal scheint er sie als dumme, unbedarfte Menschen zu betrachten, die man mit billigen Effekten beeindrucken müsse, mal hebt er plötzlich mit einer offenkundig fremden, unechten, angestrengten Stimme zu sprechen an, in der Hoffnung, daß der Leser das nicht merke oder es für einen verzeihlichen und unvermeidlichen Tribut an die Mächtigen dieser Welt halte; dann wieder will er uns von seiner Aufrichtigkeit überzeugen und setzt dabei an die Stelle der Aufrichtigkeit alle möglichen Anstrengungen, jene nachzuweisen, was bloß Argwohn hervorruft.

Anfang 1976 gelang Gladilin die Ausreise in den Westen. Hier hat er bereits mehrere seiner von der sowjetischen Zensur nicht genehmigten Texte veröffentlicht, in denen die Abhängigkeit von den Klischees des sowjetischen Denkens schon erheblich weniger spürbar ist. Da ist zum einen die Erzählung »Repetizija w pjatnizu« (dt. Probe am Freitag) — über die Rückkehr des Genossen Stalin (der nicht gestorben ist, sondern bloß für einige Zeit tiefgefroren war). Hier gibt es viele witzige Schlaglichter, anschaulich geschildert wird die Atmosphäre der Funktionärskreise, doch insgesamt überstieg sein Vorhaben — die Wurzeln des Stalinismus und seine Lebenskraft in der sowjetischen Gesellschaft aufzuzeigen — die Fähigkeiten des Autors.

Zum zweiten der Sowjet-Krimi »Domowoj ShEKa Nr. 13« (dt. Ein Kobold im Hausverwaltungskontor Nr. 13) — wo die Erbärmlichkeit des Verbrechens der Erbärmlichkeit der Lebensbedingungen entspricht.

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Zum dritten eine Reihe von Erzählungen, wie etwa »Wostotschnosibirskije donshuany« (Ostsibirische Don-Juans) und »Ofiziantka Faja« (dt. Kellnerin Faja), in denen der mühsame und dürftige sowjetische Alltag realistisch geschildert wird, oder »Bespokojnik« (dt. Der ruhelose Tote), eine moderne Version des »Bobok« von Dostojewskij.

Weiterhin die originelle Erzählung »Saporoshez na mokrom schösse« (dt. Ein »Saporoschetz« auf der nassen Chaussee). Die Hauptfigur ist ein Auto der Marke Saporoshez, die Handlung machen die Leiden aus, die das Auto und sein Besitzer durch die Tatsache auszustehen haben, daß in der Sowjetunion praktisch kein Service für Autos existiert (es fehlt an Ersatzteilen und Werkstätten; was man bekommt, ist von niedriger Qualität; Reparaturen sind nur durch Bestechung zu ermöglichen usw.).

Und schließlich die Erzählung »Konzert dlja truby s orkestrom« (dt. Konzert für Trompete und Orchester), Gladilins Meisterstück bisher. Die Hauptfigur — und Ich-Erzähler — ist der Trompeter Kotjonotschkin, Mitglied des Symphonieorchesters, ein bescheidener kleiner Mann, ein Nachfahre des Gogolschen Akakij Akakijewitsch (»Der Mantel«) und des armen Makar Dewuschkin aus Dostojewskijs »Armen Leuten«. Die Musik ist für ihn die einzige Zuflucht in seinem unglücklichen Leben. »Mein Leben ist ein Konzert. Was darüber hinaus mit mir geschieht, ist eine zu lang geratene Pause.« 

Die Katastrophe tritt ein, als Kotjonotschkin im Gespräch mit einem Musiker des gastierenden Cleveland-Orchesters ehrlich sagt, wieviel er verdient. Damit ist ihm der Weg zu einem Gastspiel im Ausland versperrt. Der Grundton seines Berichts ist das Gefühl der Erniedrigung, der Rechtlosigkeit, der Benachteiligung. Das alte Thema der sozialen Ungerechtigkeit gewinnt in einer Gesellschaft aufs neue scharfe Aktualität, die die Gleichheit und Brüderlichkeit aller Menschen auf ihre Fahnen geschrieben hat.

Doch auch diese Erzählungen haben auf einer tieferen Ebene, in der Methode, wie sich der Autor hier selbst darstellt, noch vieles mit seinen früheren sowjetischen Werken gemeinsam. 

Die Frage, wie weit ein Schriftsteller noch sowjetisch ist, läßt sich nicht so einfach beantworten, wie es scheint, weil dem Schriftsteller nicht nur die Furcht im Wege steht, sondern auch die tief in seinem Bewußtsein verwurzelten Gewohnheiten und Denkklischees, die ihm in der Sowjetunion anerzogen wurden, und die Selbstzensur, die jedem, der in der Sowjetunion schreibt, schon in Fleisch und Blut übergegangen ist.

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Die Selbstzensur, dieses unabsichtliche, im Unterbewußtsein vor sich gehende Langsamerwerden und Absterben bestimmter Impulse im Verlauf des Schaffens­prozesses, deformiert die Persönlichkeit des Schriftstellers und vernichtet bei ihm oft genug jede Fähigkeit, frei und aufrichtig zu schreiben.

Wichtiges und Zutreffendes über die Selbstzensur hat — nach seiner Flucht in den Westen — Anatolij Kusnezow geäußert.9 Er hat das Problem sehr nachdrücklich an sich selber erfahren, und sein Schicksal ist vielleicht das anschaulichste Beispiel dafür, wie ein Schriftsteller durch die ideologische Kontrolle in seinem Inneren versehrt und verkrüppelt wird und wie schwer es ihm fällt, davon wieder zu genesen. Wo ist die Grenze zwischen Aufrichtigkeit, halber Aufrichtigkeit, die gezwungenermaßen manches verschweigt, aber nicht lügt, und halber Aufrichtigkeit, die bereits die kleine Notlüge einschließt? 

Wie sehr muß sich der Schriftsteller selbst Gewalt antun, wenn er auf der Suche nach dieser Grenze ständig seine innere Stimme verstellen muß! Wo ist diese Grenze, was unterscheidet die erlaubte Wahrheit von der unerlaubten? Kusnezow veröffentlichte im Westen die ursprüngliche Fassung seines Romans »Babij Jar«10 und ließ die von der Zensur gestrichenen beziehungsweise umformulierten Stellen in Kursiv hervorheben — und wir sehen deutlich, wie schwer es manchmal fällt, überhaupt zu begreifen, von welchen Motiven sich die Zensoren leiten lassen und nach welchen Kriterien sie etwas für undruckbar erklären. Dieser zweischichtige Text des Romans bietet allen, die die Arbeit der sowjetischen Zensurbehörden näher untersuchen wollen, sehr instruktives Material. Das gleiche gilt für Kusnezows große Erzählung »Artist mimansa« (Das Mitglied des Theaterensembles), die im Westen gleichfalls in der vollständigen Originalfassung (und mit einem lesenswerten Nachwort des Verfassers versehen) erschienen ist.11)

Dabei ist jedoch zu beachten, daß Streichungen und Umformulierungen nur an solchen Texten vorgenommen werden, die bereits prinzipiell zum Druck freigegeben worden sind, die den augenblicklich gültigen Parteirichtlinien entsprechen, das heißt Texte, die schon zweimal die Zensur passiert haben: zum einen die vorhergehende Selbstzensur des Autors, der sehr genau weiß, was man zum Druck vorschlagen kann und was nicht, und zum anderen die Vorzensur des Erstredakteurs.

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Kusnezow ist der Überzeugung, daß die Selbstzensur mehr oder weniger ausgeprägt bei allen russischen Schriftstellern wirksam sei, selbst bei denen, die für den Samisdat schreiben; denn sobald er das Werk seinen Freunden zu lesen gibt oder es auch nur in seiner Schreibtischschublade deponiert, muß der Schriftsteller ständig daran denken, welches Strafmaß ihm für diese oder jene Äußerung droht, falls das Manuskript bei einer Haussuchung gefunden wird, und aus diesem Grunde enthält er sich in der Regel bestimmter Meinungen, die ihm zu gefährlich werden könnten. So ist also die Selbstzensur selbst bei Texten am Werk, die gar nicht für die offizielle Veröffentlichung bestimmt sind.

Nach seiner Flucht in den Westen hegte Kusnezow die Hoffnung, er könne nun ganz neu zu schreiben beginnen, geheilt von dem furchtbaren seelischen Trauma, dem gespenstischen Zustand entronnen, in dem er die letzten Jahre gelebt hatte. 

»In mir war alles erstarrt, meine Seele war gleichsam vereist von meinem eigenen inneren Zensor, ich fühlte mich wie in einem finsteren Verlies (...) Die Zensur verdirbt nicht nur die Bücher — indem sie die erzwungene Selbstzensur und den Gewissensschacher gebiert, verdirbt sie die Seele. Verdirbt die Künstler. Verdirbt die Menschen. Ich selbst bin auf diesem Weg der Kapitulation und des Untergangs an eine Grenze gekommen, hinter der, das fühlte ich, nur noch entweder der Selbstmord oder der Wahnsinn möglich ist.«12

Doch wie sich herausstellte, war es nicht so einfach, von diesem Trauma zu genesen. Es sind schon etliche Jahre seit Kusnezows Flucht in den Westen vergangen, doch seine angekündigten Bücher sind nicht erschienen. Andrej Amalrik, ein Mann von ganz anderer Mentalität, von seltener Willenskraft und außergewöhnlichem Mut, hat Kusnezow in einem offenen Brief vorgeworfen, er schätze die »innere Freiheit« zu gering und sei zu sehr von der äußeren Unfreiheit abhängig. Amalrik selbst opferte seine Gesundheit und hätte beinahe mit dem Leben bezahlt (er lag bereits bewußtlos, dem Tode nahe, im Gefängniskrankenhaus und überlebte nur durch ein Wunder), doch er ließ sich in seinem Inneren um keinen Grad krümmen und blieb mitten in der Unfreiheit ein freier Mann. 

Solche heldenhafte Kraft ist freilich nur wenigen gegeben. Nur wenige können einen solchen Weg gehen; die Mehrheit quält sich und leidet wie Anatolij Kusnezow.*

* Anatolij Kusnezow starb am 13. Juni 1979 in London, ohne seine Pläne verwirklicht zu haben. Nach seinem Tod erschienen einige Erzählungen, die er bereits im Westen geschrieben hatte (sie wurden in der Zeitschrift »22«, Nr. 11, veröffentlicht). Es sind: »Ledi Gamilton« (Lady Hamilton), die tragische Geschichte einer sowjetischen Prostituierten; die Lagergeschichte »Tschelowek, jesli ty otwashnyj, pridi ko mne« (Mensch, wenn du Mut hast, komm zu mir) und die bemerkenswerte, fast an Tschechow heranreichende Erzählung »Awgustowskij den« (Augusttag). 1972 veröffentlichte Kusnezow in dem Sammelband »Nowyj kolokol« (London) einen Auszug aus seinem Roman »Take five«; der Roman blieb jedoch unvollendet.

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Ein anderes heikles und verbotenes Thema greift Grigorij Swirskij in seinem »dokumentarischen Roman« »Saloshniki« (Die Geiseln) auf. Am Beispiel seiner eigenen Familie zeigt er, was der staatliche Antisemitismus in der Sowjetunion bedeutet und wie die Lage der sowjetischen Juden aussieht. Der Roman wurde 1967 geschrieben (1970 kam ein Epilog dazu); das Manuskript gelangte heimlich in den Westen und wurde dort nach Swirskijs Ausreise aus der Sowjetunion veröffentlicht. 

Swirskij verzichtete darauf, irgend etwas zu ändern, er ließ das Buch so, wie er es in Moskau geschrieben und seinen Freunden zu lesen gegeben hatte. »Ich käme gar nicht auf den Gedanken, meinen dokumentarischen Roman< noch nachträglich >zurechtzubessern<«, sagt er. »Es ist nun mal so — ein Wort zu wenig und das Lied ist kein Lied. Was da steht, steht da!«13) 

Er trug kein Verlangen, die Wahrheit zu korrigieren, denn gerade in ihrer Wahrheit liegt die Stärke und die übergreifende Bedeutung dieser Aufzeichnungen. »Alle darin aufgeführten Tatsachen und Namen sind authentisch und dokumentarisch bezeugt. Nichts wird hier beim Gerücht belassen. Ich schreibe ausschließlich von dem, was meine Familie erlebt und erlitten hat.«14 

Und erleiden mußte sie viel. Die Schrecken des Krieges, die Behinderungen von seiten der Sowjetbehörden, wenn sie als Juden studieren wollten, die Unmöglichkeit, nach dem Studium eine Arbeit zu finden (der berühmte »Punkt fünf« im Fragebogen: »Nationalität«), der Hunger, die Armut, die Verfolgungen, denen Swirskij nach einer mutigen Rede vor einer Schriftstellerversammlung in Moskau (1968) ausgesetzt war — all das ist ausführlich und eindringlich geschildert. 

Detailliert behandelt Swirskij die Judenhetze während der Kampagne gegen die »Kosmopoliten« und im Zusammenhang mit der Anklage gegen jüdische Ärzte als »Agenten der zionistischen Spionageorganisation Joint«; er berichtet anschaulich von seinem Zusammenstoß mit dem Schriftsteller Wassilij Smirnow (der in der Redaktion einer Zeitschrift tätig war, die — Ironie des Schicksals — den Namen »Völkerfreundschaft« trägt):

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Swirskij beschuldigte ihn des Antisemitismus, die Sache wurde vor der Kommission für Parteikontrolle beim Moskauer Stadtkomitee der KPdSU verhandelt (1966), wobei der Sekretär des Moskauer Parteikomitees, Jegorytschew, Smirnow in Schutz nahm. Swirskij geht auch auf die neue Generation sowjetischer Juden ein, spricht über die Wut, die Verzweiflung und den Haß gegen das sowjetische System, von denen die jungen Juden beherrscht sind, und über die »jüdische Explosion« der letzten Jahre in der Sowjetunion.

Den stärker gewordenen staatlichen Antisemitismus auf der einen Seite und den stärker gewordenen jüdischen Nationalismus auf der anderen (und es gibt ja nicht nur den jüdischen Nationalismus, sondern auch den der anderen kleinen Völker und sogar den russischen Nationalismus) erklärt Swirskij damit, daß »das Soziale (also die kommunistische Doktrin) Bankrott gemacht hat — jetzt muß man beim Nationalen Zuflucht suchen«

Hier wiederholt Swirskij eine Erkenntnis, die inzwischen Allgemeingut geworden ist und nichts Sensationelles mehr hat. Es bedarf wahrhaftig keines besonderen Scharfblicks, diesen Prozeß wahrzunehmen, der sich vor aller Augen heute in der Sowjetunion vollzieht: das Erstarken des Nationalismus (jeglicher Provenienz) und das Absterben der sozialen und politischen Ideologie.

Am Schluß des Romans wird der Prozeß dokumentiert, den die Internationale Liga gegen Antisemitismus und Rassismus im April 1973 gegen die von der sowjetischen Botschaft in Paris herausgegebene Zeitschrift »L'U.R.S.S.« angestrengt hatte: Die Zeitschrift wurde der Propaganda des Rassenhasses beschuldigt. Swirskij trat bei diesem Prozeß als Zeuge auf.

Erwähnenswert sind auch Swirskijs mit großem Realismus geschriebene »Poljarnyje rasskasy« (Polarerzählungen) und die Erzählung »Sadnjaja semlja« (Das Land dahinten)15, in denen ein düsteres Bild von den schweren Lebensbedingungen im hohen Norden gezeichnet wird.

 

Es ist nicht möglich, alle jene aufzuzählen, die aus dem Verlangen, die Wahrheit zu berichten, zu Schilderern des sowjetischen Lebens geworden sind und kurze realistische Skizzen verfaßt haben. Ihre Zahl ist nicht einmal annähernd zu bestimmen, weil viele dieser Erzählungen anonym zirkulieren. 

Wir finden hier Bilder vom mühevollen Leben des bettelarmen russischen Dorfes, vom öden, dumpfen Leben der Arbeitermassen, die das Gefühl der Leere und Freudlosigkeit im Wodka ertränken, von den Familien, die der Stalinterror versehrt hat, und von der neuen sowjetischen Jugend, die alle Ideale und Hoffnungen verloren hat, von Zynismus und Skepsis zersetzt wird, sich der Ausschweifung, dem Trinken und der Jagd nach Vergnügungen ergibt. Oft taucht auch das Thema des Glaubens auf — der saubere, idealistische Teil der Jugend nimmt beim Christentum Zuflucht.

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Wir wollen hier nur an das tragische Schicksal des jungen Schriftstellers Wladimir Bukowskij erinnern. Seine kurzen Erzählungen, die Anfang der sechziger Jahre im Samisdat zirkulierten, verrieten eine beachtliche Begabung; es war ihm jedoch nicht vergönnt, sie weiter zu entwickeln. Zum erstenmal verhaftete man ihn 1963, weil er das Buch <Die neue Klasse> von Milovan Djilas gelesen hatte; zum zweitenmal, weil er öffentlich für die verhafteten Schriftsteller Sinjawskij und Daniel eingetreten war (1965); zum drittenmal wegen seines Protests gegen die Verhaftung der Literaten Galanskow und Ginsburg (1967); und zum viertenmal wegen der Herausgabe einer Dokumentation über die Zwangspsychiatrisierung von Andersdenkenden in der Sowjetunion (1971).  

In dem Augenblick, da diese Zeilen geschrieben werden, ist Bukowskij daran, in einer kalten und dunklen Kasematte des Wladimir-Gefängnisses Hungers zu sterben.*

Einen tragischen Abbruch fand das Leben eines anderen Samisdat-Schriftstellers, der zu ebenso großen Hoffnungen berechtigt hatte: Anatolij Bachtyrew. Als Zwanzigjähriger wurde er verhaftet, weil er in einem Kreis von Studenten freimütige Reden geführt hatte, und verbrachte etwa fünf Jahre in Konzentrations­lagern, bis er nach Stalins Tod 1954 freigelassen und rehabilitiert wurde. Er arbeitete in der Fabrik, dann als Lastträger und als Hilfskraft bei Ausgrabungen (schon vor seiner Verhaftung hatte er noch als Halbwüchsiger bei der Eisenbahn als Schaffner zu arbeiten begonnen, weil er nach dem Tod der Mutter seine Ausbildung nicht fortsetzen konnte). Bachtyrew litt immer Not und lebte oft am Rande des Hungers.

* Im Dezember 1976 wurde Wladimir Bukowskij gegen den Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chiles, Luis Corvalan, ausgetauscht. Im Westen schrieb er die bemerkenswerte Autobiografie "Wind vor dem Eisgang".

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Obgleich Autodidakt, war Bachtyrew ein Mensch von großer Kultur; seine beeindruckende Persönlichkeit zog die Menschen an, er übte auf viele einen starken Einfluß aus; schon als Zwanzigjähriger war er der inspirierende Mittelpunkt einer Gruppe Gleichaltriger, die dann fast alle mit ihm zusammen verhaftet wurden. In den sechziger Jahren schrieb Bachtyrew Erzählungen von lakonischer Kürze, die gleichwohl eine Menge enthalten (»Ich teile mich in leicht komprimierter Form mit«, sagte er einmal). Diese Verdichtung erschwert oftmals das Verständnis: Den konzentrierten Inhalt und den komplexen, verknappten Stil aufzunehmen, verlangt vom Leser einige gedankliche Anstrengung. Bachtyrews Credo für sein Leben und seine Kunst: »Ich werde mich nicht beugen, weder um der Livree noch um der Verständlichkeit willen. Das Wort <sich erniedrigen> hat nur eine Bedeutung: sich erniedrigen.«

In seinen Erzählungen finden wir ausdrucksstarke, treffende Skizzen, nachdenkenswerte Betrachtungen, Erinnerungen an das Lagerleben, an das Heimatdorf, an die Fahrten kreuz und quer durch Rußland. Sie atmen den Drang zur letzten, nackten, nicht mehr anfechtbaren Wahrheit. »Es gibt keinen größeren Genuß als die Wahrheit. Aber diese Wahrheit... Wenn du sie kennst und noch am Leben bist, so ist das Heldenmut. Heldenmut aber ist ästhetisch«, schrieb Bachtyrew in sein Tagebuch. Diese Wahrheit ist nicht einfach Faktentreue, ist nicht Abschilderung, sondern so etwas wie ein oberstes moralisches und ästhetisches Prinzip. »Gibt es eine andere Form der Erkenntnis als das Mitgefühl und die Teilnahme?«

1968 starb Bachtyrew plötzlich unter merkwürdigen Umständen — sie lassen nur entweder einen Selbstmord vermuten (diese Version wird von einigen Tagebuchaufzeichnungen gestützt: »Ich denke ernsthaft an den Strick«; »Was soll ich nur tun?«; »Irgend etwas Gutes sehe ich für die Zukunft nicht«; »Aber verdammt, was kommt danach? Ich kann keinen Schritt mehr weiter tun. Ach, stiller Hafen einer einsamen Zelle in der Lubjanka«) — oder aber einen Mord (Vergiftung). Bachtyrews Freund P. Goldstein, der vor kurzem nach Israel emigrierte, hat einige Manuskripte von Bachtyrew gesammelt — leider fehlen etliche — und sie in Jerusalem veröffentlicht.16)

 

Zum Abschluß ist darauf hinzuweisen, daß der Realismus der erwähnten Schriftsteller, jener russischen Wahrheitssucher von heute, nicht einfach bloß die Traditionen der russischen realistischen Literatur der Vergangenheit fortsetzt, sondern der besonderen Situation der russischen Gesellschaft von heute entspringt: als eine Reaktion auf die offizielle Lüge, die das ganze Leben des Landes vergiftet, als das Bedürfnis, die Wahrheit zu den Menschen zu tragen — durch die reißenden Sturzbäche einer öden Staatsliteratur hindurch, die die Vergangenheit verfälscht und die Gegenwart entstellt; als das Bedürfnis, authentische Zeugnisse unserer Zeit und unseres Lebens zu erhalten.

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